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3. Sozialarbeiter wursteln sich durch! Ein Kind hat noch keine Kinderrechte?!

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Wenn wir uns rückwirkend die Aktivitäten unserer Sozialarbeiter betrachten, können wir zunächst - wenn auch noch etwas oberflächlich - nur feststellen, dass sie sich mehr oder weniger erfolgreich durchgewurstelt haben.

Jedes Kind, das vom Büroschreibtisch in die „Aktenablage“ wandert, ist „versorgt“. Sollten unerwarteterweise die Pflegeeltern vorsprechen, ist die alte Akte schnell wieder griffbereit, nur um ggf. noch einmal drauf hinzuweisen, wie verhaltensgestört ja das Kind war und auch noch ist usw. Vielleicht wird abschließend noch einmal deutlich gemacht, dass es halt so seine Zeit braucht, bis sich das Kind „in den Griff bekommt“ und es war ja auch das Beste von den vielen, die noch in Heimen sind. Die Pflegeeltern sind erst mal ruhiggestellt, die Sozialarbeiter können sich nochmal eine „Verschnaufpause“ gönnen und sich schon mal mit dem Gedanken vertraut machen, wohin das Kind kommt, wenn es dann gar nicht klappt.

Sicherlich kein leichter Job, doch auch dieser Job als Sozialarbeiter/in in Jugendämtern wird zur Routine, härtet ab, macht betriebsblind, macht gefühlskalt. Eigenschaften, die der Welt eines Kindes fremd sind und genau das Gegenteil darstellen: ein Kind ist gefühlsbetont, sensibel, spontan. Eigenschaften, die ein Kind kennzeichnen und die von Behörden „verachtet“ werden. Ein Kind hat sich danach anzupassen, muss noch lernen, muss gehorchen, darf keine Gefühlsausbrüche haben (im Beamtendeutsch: jähzornig) usw.

Ein Kind ist definiert wie ein „Maßanzug von der Stange“.

Obwohl doch in jedem psychologischen Lehrbuch darauf hingewiesen wird, wie individuell jedes Lebewesen ist. Freilich scheint die Individualität durch den Verlust der Eltern kaum mehr gegeben. Bei der Vielzahl der Kinder wäre es auch nicht zu schaffen, diese individuell zu betreuen. Bleibt nur ein „Massenprodukt“, herzurichten in einer Anstalt mit einem „wohlgeordneten Chaos“, den Nachwuchsanstalten für Klöster und Kirchen. Doch es gibt auch noch Alternativen, denn es bewerben sich mehr Eltern um Pflegekinder, als Kinder in Heimen sind. Außerdem

„Ungewollt kinderlos sind in der Bundesrepublik mehr als 1,2 Millionen Paare“

(pro familia Heft 6/90 S. 25).

Welches unerschöpfliche Potential, um beispielsweise 100.000 Heimkinder unterzubringen.

Doch so einfach wie sich dies der „Laie“ wohl denken mag, kann es natürlich nicht gemacht werden. Schließlich stehen da etliche Heimeinrichtungen von Kindern zur Verfügung. Die kann man doch nicht alle leermachen. Dann muss natürlich genau das Vorleben der potentiellen Eltern ausgefragt werden. Nicht dass da jemand dabei ist, der aus niederen Motivlagen heraus ein Kind zu sich nehmen will. Schließlich ist es scheinbar auch bedeutsam zu wissen, ob die Eltern auch ohne Kinder leben können. Vielleicht steckt da auch die Angst dahinter, dass Pflege- bzw. Adoptivkind könnte von den sexuellen Aktivitäten der Eltern etwas mitbekommen. Da ist es dann besser, Eltern zu haben, die sich ein „weiteres“ Leben auch ohne Nachwuchs vorstellen können, die zum Beispiel getreu der katholischen Lehre auf sexuelle Aktivitäten verzichten. Ob die Eltern es dann tatsächlich machen, ist eine Angelegenheit, die nicht nachweisbar ist. Eigentlich sollte das Sexualleben ja niemanden etwas angehen. Und die Frage, ob man sich ein Leben ohne Kinder vorstellen könne, betrifft nun einmal - wenn auch sehr indirekt ausgedrückt - aber doch präzise genug, das Sexualleben der potentiellen Eltern. Ich denke, da haben wir leider auch heute noch Verhältnisse wie im 3. Reich. Die Frage, ob ein Leben ohne Kinder vorstellbar ist, stellt eine behördliche Arroganz dar und zeugt zugleich von immensem Dilettantismus. Auch hier muss ich den Eltern wieder zustimmen, die sich bezüglich solcher Amtsanmaßungen lieber für 15000 Euro und mehr ein Kind aus der dritten Welt holen.

Die aufgezeigte Frage, die wohl nicht von allen Behörden gestellt wird, sollte exemplarisch aufzeigen, welches Missverhältnis in der Behördenlandschaft existiert. Ich will da nicht wissen, was sich mancher „Behördenguru“ noch alles so herausnimmt, um an die „wahre“ Motivlage von Eltern zu kommen. Ich habe mir Anfang der 1990er Jahre selbst noch einmal bei einer beliebigen Behörde Aufklärung verschafft: das Gespräch habe ich in aller Freundlichkeit vorzeitig beendet, dies den Sozialarbeiter jedoch nicht spüren lassen. Es ist zwar nun lange her, doch die grundsätzlichen Aspekte sind nach wie vor akut. Folgende Aspekte wurden sinngemäß besprochen:

Ich interessiere mich für ein Pflegekind, da ich selbst eines war und möchte heute auch meinen Beitrag leisten, einem Kind zu einem Startsprung zu verhelfen. Ich bin bei einem Onkel groß geworden, da meine Eltern früh verstarben (dies war leider gelogen, aber ich wollte nicht meine wirkliche Lebensgeschichte erzählen – ich wäre dann auch nicht so zügig mit meinem Anliegen vorangekommen). Leider, sagte ich weiter, bin ich ein vielbeschäftigter Mann, sodass ich wenig Zeit für den Sprössling hätte, aber das besorgt meine Frau, zur Zeit zwei eigene Kinder. Mein monatliches Einkommen ist überdurchschnittlich, habe ein eigenes Haus und interessiere mich für ein Arbeiterkind.

Der letzte Satz brachte den Sozialarbeiter in Stimmung. „Um Gottes willen, ein Arbeiterkind bei ihrem Einkommen und einem eigenen Haus – unmöglich!“. Das Arbeiterkind würde mit Lebensumständen konfrontiert, die es selbst nie erreichen würde. Sollte das Kind dann wieder zu seinen Eltern zurückmüssen, wären die Probleme vorprogrammiert.

Ich musste mich bei diesen Worten arg zurückhalten und dachte nur an den „dummen“, naiven Sozialarbeiter, den ich vor mir hatte. Ich fragte etwas hilfesuchend, woher er denn diese Weisheiten hätte, die er da von sich gebe. Nun, er hätte an einer Fachhochschule Sozialarbeit studiert und wisse dies aus den inzwischen vorliegenden Erfahrungen auch einzuschätzen. Bei diesen Erfahrungen sind natürlich die Meinungen der übrigen Behördenmenschen mit einbezogen. Ich erwiderte mit meinen Studienkenntnissen und verwies auf den Schwerpunkt Verhaltenswissenschaft, wonach es inzwischen eindeutig ist, das menschliches Verhalten letztlich nicht vorhersagbar ist und es in der Erziehung auch keine Patentrezepte gibt. Ich fragte, ob er mir keinen behördlichen Psychologen benennen könnte, der meines Erachtens die Sachlage etwas treffender beurteilen könnte. Nein, das wäre nicht nötig, schließlich besuche er an einer Erziehungswissenschaftlichen Hochschule einschlägige Veranstaltungen. Er empfehle mir ein Kind eines Lehrerehepaares, das diese Lebensumstände gewöhnt wäre und dann auch recht problemlos ist.

Ein problemloses Kind? Wo gibt es denn sowas, fragte ich mich. Nun beließ ich ihn in dem Glauben und fragte, wie ich denn dann schnell zu dem Kind käme, da ich wenig Zeit hätte. Zeit müsste ich schon mitbringen. Wie sollten wir sonst ihre Glaubwürdigkeit feststellen? Ich wiederholte nochmal meine Motivlage. Doch es war nichts zu machen. Er meinte dann auch, wenn potentielle Pflegeeltern nicht häufig vorsprechen, haben sie kaum eine Chance. Sie müssen zwar nicht jeden Tag hier vorbeikommen, aber eben oft. Wie oft, ließ er natürlich offen. Irgendwann klappt es halt dann.

Welche tolle Marschrichtung, dachte ich. Schade, dass auf diese Art dann doch vielen potentiellen Pflegekindern der Weg in eine bessere Zukunft verschlossen ist. Ist da möglicherweise auch der Neid zu spüren gewesen? Ein Arbeiterkind, das später mal besser dastehen könnte, wie der Sozialarbeiter?

Ich erinnerte mich an die Aussagen meiner Pflegemutter, die von der Leiterin des Jugendamtes informiert wurde, mich nicht auf die weiterführende Schule zu schicken und eine Lehre machen zu lassen, denn sie (die Pflegefamilie) habe eh schon zu viel für mich getan. Glücklicherweise traf ich auf Lehrer, die ihren Bildungsauftrag unabhängig vom Schicksal eines Kindes gesehen haben und bei denen Neid kein Handlungsmotiv war.

Hätte ich dem Sozialarbeiter meine wahre Geschichte erzählt, hätte er sie womöglich nicht geglaubt. So war die Diskussion auf etwas gehobenem Niveau verlaufen. Freilich kann ich auch hier wieder nun nicht alle Behördensozialarbeiter gleichsetzen.

Auch hier wieder eine exemplarische Geschichte, die sich leider doch allzu häufig wiederholen würde:

Ein Arbeiterkind in einer Akademikerfamilie –

wohl unmöglich?

Aber auch der umgekehrte Fall –

ein Akademikerkind in einer Arbeiterfamilie -

wohl auch unmöglich?

Welche einfallslose Behördenwelt?

Nun wäre es trotz der sehr eingeschränkten Kenntnislage vieler Sozialarbeiter in Jugendämtern wenig hilfreich, diese darauf hinzuweisen. Denn was Behördenmenschen kaum hinnehmen können, ist die einfache Tatsache, dass sie auf dem Irrweg sind. Es kann dann aussichtslos werden, zu einem Kind zu kommen. Viele potentielle Pflegeeltern geben dann nach und sagen schließlich zu allem Ja und Amen. Sie akzeptieren bedingungslos. Der Behördenmensch freut sich insgeheim, dass seine Pseudoweisheiten, die er natürlich zum Besten gibt, auf Widerhall stoßen und prüft dann wohlwollend die Angelegenheit. Es haben halt nur wenige 15.000 Euro und mehr, um ein Kind woanders her zu holen. Doch da gibt es inzwischen auch Vereine, an die sich Pflegeeltern wenden können, sog. Pflegekindervereine, in der Regel Zusammenschlüsse von Pflegeeltern. Es ist sicherlich empfehlenswert, erst einmal dort nachzufragen. Vielleicht entfällt dann der Behördenmarathon.

Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass es sicherlich Sozialarbeiter in Behörden gibt, die erkannt haben, welche originäre Aufgabe Ersatzeltern zukommt. Wäre da nicht noch ein Pferdefuß? Ja, unsere Gesetzeslage. Solange nämlich Eltern ihr Kind nicht freigeben, besteht zumindest immer die Aussicht, das Kind eines Tages zurückgeben zu müssen. Solcherlei Entscheidungen sind dann oft beim Behördenleiter angesiedelt, der zumeist am allerwenigsten von fundamentalen kindlichen Bedürfnissen versteht. Behördenleiter, die vornehmlich aus der juristischen Laufbahn kommen und so viel von Psychologie verstehen wie mein Nachbar um die Ecke, das heißt vielleicht hat der Behördenleiter Verständnis, wahrscheinlich aber nicht. Der Gipfel besteht dann darin, eine „Galionsfigur“ voranzustellen:

„Oberbürgermeister … stellte sich schützend vor seine Beamten, … “

(Schröder 1991 S. 9).

Juristisch Ausgebildete wissen wohl am besten was es heißt, nicht gesetzestreu zu sein. Sie haben nicht erst durch ihre Ausbildung vermittelt bekommen, was es bedeutet, konservativ zu sein. In aller Regel trifft man bei Juristen auf sehr anpassungswillige und -fähige Mitmenschen, die gerade kein Verständnis für unangepasste Menschen haben. Was anderes sind Heimkinder? Wem will man diese zumuten?

Gäbe es da nicht Mitmenschen, die das „Abenteuer“ auf sich nehmen wollten? Nun, warum nicht? Aber im Grundgesetz ist das Elternrecht fixiert. Ein Kind hat danach keine Rechte, bestenfalls Pflichten. Da jedoch auch ein Kind schon denken kann, wird es halt in einem bestimmten Alter befragt und man kann ja so tun, als könnte es nochmal zu seinen Eltern zurück, auch wenn schon lange feststeht, dass dies nicht mehr möglich ist.

Sollte das Kind zu seinen Eltern zurückwollen, wird es kritisch betrachtet bezüglich seiner „Familienfähigkeit“. Auch dieser Begriff ist ein juristisches Konstrukt, das davon ausgeht, Kinder zu haben, die nicht familienfähig sind. Juristen und sonstige Fachleute, die dies postulieren, sind abartig und seelische Verbrecher. Allein der Gedanke daran, Kinder seien möglicherweise nicht familienfähig, ist absurd. Leider dürfte das Konstrukt „Familienfähigkeit“ auch darauf hinweisen, weshalb es noch so viele geschlossene Einrichtungen gibt. Es wird ja gerne damit argumentiert, dass bei den Kindern erst die Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um sie in eine Pflegefamilie zu geben. Welche abartige Welt?

Kinder werden nicht dadurch familienfähig, wenn sie einer Familie ferngehalten werden. Glücklicherweise erkannte in meinem Fall das Jugendamt, mich nun im 15. Lebensjahr in eine Pflegefamilie gehen zu lassen statt in eines dieser kindesverachtenden Erziehungsheime mein Dasein fristen zu müssen. Doch es bedurfte einer immensen Anpassungsleistung und Disziplin meinerseits, um dem drohenden Damoklesschwert zu entgehen. Ich konnte dies nur meiner Eigenliebe verdanken und dem dadurch möglichen Vertrauensvorschuss an mögliche liebende Pflegeeltern, die ihrem Pflegekind ihre ganze Wertschätzung entgegenbrachten.

Sind die Kinder dann in einer Pflegefamilie untergebracht, sollten sie dort bleiben. Die Eltern, die es zulassen, dass Kinder in Heimen und zu Pflegeeltern hin- und hergeschoben werden, haben ihr Elternrecht verwirkt. Dem Kind ist das nicht verständlich zu machen. Dies versteht es erst als Erwachsener, sofern es sich mit dem gesellschaftlichen Normensystem vertraut gemacht hat. Geschwisterkinder sollten zudem zusammenbleiben. Die Gewähr dafür bieten wohl nur die sogenannten Kinderdörfer.

Ich habe heute als Erwachsener Verständnis dafür, dass man nicht vier Geschwister gleichzeitig zu Pflegeeltern geben kann, habe jedoch kein Verständnis dafür, Geschwister auseinanderzureißen. Sie hätten ihren Platz in einem Kinderdorf, sei es ein SOS- oder Albert-Schweitzer-Kinderdorf. Skandalös war es für mich, als ich als Erwachsener erfuhr, dass es noch ein Geschwisterkind gibt, zu dem keinerlei Kontakte existieren. Hierbei fällt mir dann nur noch ein: Denn sie (die Sozialarbeiter) wissen nicht was sie tun! Sie gehen den Weg des geringsten Widerstandes. Sie wursteln sich durch. Gott möge ihnen vergeben; ich habe meinen Frieden damit gefunden.

Entfremdung und Heimkehr

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