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2. Diagnose: Dionysischer Hedonismus

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Nachdem ich meine einleitenden Worte zur üblichen Selbstbeweihräucherung endlich losgeworden bin, über all die anderen geklagt habe und meinem Ego erfolgreich schmeicheln konnte, will ich nun auch schon zur entscheidenden Frage vordringen: Gibt es einen kausalen Zusammenhang zwischen den anfangs beschriebenen Symptomen gesellschaftlicher Erkrankung? Gibt es einen einheitlichen Ansatzpunkt, der all diese, oder möglichst alle Missstände umfasst und rational erklärt?

Um diese Frage zu beantworten, muss man sich mit der aktuell vorherrschenden Gemütsverfassung beschäftigen, denn das Denken und Handeln der Menschen ist schon seit Urzeiten immer das Ergebnis vorhandener Prinzipien, Lebenseinstellungen und modischer Erscheinungen gewesen. Bei dieser genaueren Betrachtung wird man nun schließlich schnell herausfinden, dass es mitnichten so ist, wie leider oft fälschlich verbreitet, dass es in unserer fortschrittlichen, gereiften Zeit keine ideologisch-philosophische Vorprägung oder gar Grundstimmung gäbe, sondern nur gottgefälligen Pluralismus, und die Sachlichkeit und Wissenschaftlichkeit in allen Disziplinen öffentlichen Lebens restlos obsiegt hätte. Das ist ein Irrtum, ein Mythos, der seit den Anfängen der Geschichte immer wieder vertreten wird: Zu glauben, die Menschheit sei am Zenit ihrer Entwicklung angelangt und nun frei jeglicher Fremdsteuerung. Stattdessen kann man durchaus feststellen, wenn man seinen gesunden Menschenverstand benutzt, dass die westlich-zivilisierte Welt in ihrer Mehrheit seit einigen Jahrzehnten zweifellos urhedonistischen Bestrebungen nachgeht, in diesem Sinne also als hedonistische Kultur zu kategorisieren ist, nicht als atheistische oder gar „christlich-jüdische“, wie oft postuliert. Dies ist eine Tatsache, die offenbar noch nicht vollständig im gesellschaftlichen Kollektivgehirn verarbeitet wurde.

Hierbei definiere ich die Qualità dei Tempi,(2) um die Intellektuellen unter den Lesern zu saturieren, als einen fortgeschrittenen dionysischen Hedonismus im finalen Stadium. Meiner Definition liegt dabei folgende Subsumtion zugrunde:

Dionysisch bezieht sich auf Dionysos, den griechischen Gott des Rausches. Das Wort bezeichnet das rücksichtslose Ausleben eigenen Machthungers, eigener Gier, Genusssucht und Grausamkeit. Das ICH soll das Leben in seiner ganzen Fülle auskosten, sich selbst bejahend am Rande der Irrationalität den eigenen Trieben hingeben.

Hedonismus entstammt dem griechischen Wort hedone, also Lust. Hedonismus ist eine Philosophie, beziehungsweise Religion, die den Glückszustand als höchstes Ziel des menschlichen Verhaltens versteht, und deren Versprechungen bereits vor über zweitausend Jahren von den führenden griechischen Philosophen argumentativ widerlegt worden sind.(3) Im Hedonismus geht es nur um das Streben nach Genuss, Sinnesfreuden und Lustauslebung. Hierzu wird dem Anhänger eine ausschweifende und leichtlebige Lebensführung angeraten.

In der Synthese bedeutet dionysischer Hedonismus also rauschhaft übersteigerte Lustbefriedigung am Rande der Amoralität. Das ist zweifelsfrei die banale Wesenheit der Anfang des 21. Jahrhunderts dominanten Lebensphilosophie und Grundstimmung, vor allem in der Generation der nach 1970 Geborenen und ganz speziell im Milieu notorischer Konsumenten privater Fernsehprogramme: Ein ausgearteter, dionysischer Hedonismus mit morbidem Einschlag, der sich nicht wesentlich unterscheidet von der unsäglichen Phase römischer Dekadenz(4) oder der aristokratischen Gesellschaft Frankreichs vor der französischen Revolution.

Dionysischer Hedonismus

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