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Jonathan war eine einsame Ratte und lebte in einem alten Schloss in Frankreich. Er hatte schon eine ganze Menge Abenteuer hinter sich und war weiter in der Welt herumgekommen als viele seiner Artgenossen. Aber er hatte diese Abenteuer nie geplant. Er war in sie hineingeraten und nichts an ihnen verlief so, wie es anfangs schien. Er hatte stets in der Nähe von Menschen gelebt, obwohl sie ihn überhaupt nicht mochten, und das lag einfach daran, dass er als Ratte auf die Welt gekommen war.

Jonathan war ein kluges und sensibles Wesen. Aber sein Geschmacksempfinden war nicht besonders ausgeprägt. Er liebte die Köstlichkeiten der französischen Küche, hatte sich aber auch schon mit Krähen um ein schimmliges Stück Brot auf der Straße gebalgt.

In seinem Versteck hockend plante Jonathan seine Tage nie strategisch genau. Es hätte auch überhaupt keinen Zweck gehabt, denn es konnte durchaus passieren, dass er sich nicht nach draußen wagte, weil sich eine faule Katze schon am Morgen vor seinem Bau niederließ und dann den Tag in der Sonne verdöste.

Jedenfalls verließ Jonathan seine Behausung nie ohne eine sorgfältige Morgentoilette. Auf den Hinterpfoten sitzend leckte er so lange sein Fell, bis es wieder ordentlich glänzte, und wusch sich dann mit den angefeuchteten Vorderpfoten das Gesicht und die Ohren. Jonathan war also eine sehr ordentliche Ratte. Er lief nie mit struppigem Fell oder Speiseresten in den Barthaaren herum und abgesehen von seinem Schwanz, der vielleicht ein wenig zu lang geraten war, sah er wesentlich attraktiver aus als manches Kuscheltier. Doch die Menschen fanden an ihm nichts Liebenswürdiges und er flößte ihnen eigentlich nur Angst und Abscheu ein.

Im Schloss wohnten außer Jonathan, der hier seit längerem seinen festen Wohnsitz hatte, nur noch der Colonel, dem das Anwesen gehörte, und eine gewisse Madame Lasalle, die dem Colonel den Haushalt führte. Beide waren schon sehr alt und in ihrem Wesen so verschieden, wie man sich das kaum vorstellen kann. Der Colonel erschien jeden Morgen in seiner Paradeuniform zum Frühstück und daran glitzerten die goldenen Knöpfe und Epauletten neben den Medaillen, die man ihm im Krieg verliehen hatte, wie Christbaumschmuck. Madame Lasalle war klein und spindeldürr und wirkte neben dem Colonel in ihrem schlichten Kleid wie eine graue Maus. Der Colonel liebte es, Befehle oder Anweisungen zu erteilen, und alle hatten ihm in früheren Jahren gehorcht: seine Soldaten, Madame Lasalle, seine Frau und sein Sohn. Seine Frau war inzwischen gestorben und sein Sohn hatte ihn verlassen, als er erwachsen war. Nur Madame Lasalle war bei ihm geblieben, und es war eine Grundstimmung ihres Lebens, jemandem die Treue zu halten, dem sie sich – aus welchen Gründen auch immer – verpflichtet fühlte.

Der Colonel hatte einen weißen Bart, der seine ganze Brust bedeckte, und wenn er in seiner tadellos aufgebügelten Uniform im Salon saß, wirkte er wie ein lebendes Inventar inmitten der stilvollen Möbel, Teppiche und Ölgemälde.


Er stand jeden Morgen genau um sechs Uhr auf und nahm pünktlich um acht sein Frühstück ein.

Er saß dann allein an einem großen Tisch, an dem es Platz für ein Dutzend Leute gab, und Madame Lasalle stand neben ihm und goss ihm den Kaffee ein.

Während der Colonel eine weiße Serviette aus einem Silberring zog, erkundigte er sich bei Madame Lasalle: „Erwarten wir heute Besuch?“

„Nein, Monsieur, es hat sich niemand bei uns angemeldet.“

„Das ist gut“, sagte der Colonel. „Dann kann ich mich in Ruhe meinen Aufgaben widmen.“

„Natürlich, Monsieur“, sagte Madame Lasalle. „Es wartet gewiss eine Menge Arbeit auf Sie.“

Dieser Dialog zwischen ihnen wiederholte sich an jedem Morgen, und er war eigentlich überflüssig, weil es Besuche im Schloss schon seit langem nicht mehr gab. Der Colonel hatte alle Besucher mit seinen Kriegsgeschichten aus vergangenen Zeiten vertrieben und selbst Madame Lasalle brachte nicht mehr die Geduld auf, ihm zuzuhören, wenn er damit anfing. Sie behauptete, sie habe noch irgendwelche wichtigen Dinge zu erledigen, und zog sich schnell in die Küche zurück.

Madame Lasalle war ein besonderer Mensch, obwohl sie das niemals für sich in Anspruch genommen hätte. Sie geriet nie in Zorn, wenn ihr etwas Unrechtes geschah, und betrachtete die Welt und die Menschen voller Wohlwollen. Auch die Launen und Marotten des Colonels ertrug sie klaglos, denn sie wusste, die besten Jahre seines Lebens lagen hinter ihm und er hatte in ihnen vieles versäumt, was er heute bereute. Er hatte seinen Sohn nicht aufwachsen sehen und als seine Frau ihn gebraucht hätte, war er nicht da gewesen, denn er führte Kriege in Algerien oder anderen fremden Ländern. Wenn er einmal nach Hause kam, hatten sie ihm einen neuen Orden an die Brust geheftet und er berichtete von seinen Heldentaten. Dass Kriege auch etwas Abscheuliches waren und viel Leid über die Menschen brachten, wusste natürlich auch der Colonel, denn er war ein intelligenter Mensch. Aber durch seine Erziehung und Begriffe wie Vaterlandsliebe, Ehre, Gerechtigkeit, Disziplin oder dergleichen, die ihm ständig im Kopf herumschwirrten, wurden solche Gedanken sofort im Keim erstickt.

Jonathan

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