Читать книгу Das ewige Leben - Wolf Haas - Страница 7

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4 Ohne die Hupe hätten sie jetzt in Puntigam links einen schwierigen Patienten weniger gehabt. Einen Querulanten, der den Dr. Bonati beschimpft hat. Der dem Professor Hofstätter sein bestes Skalpell gestohlen hat. Und der sich in einem Zustand, wo ihn die Schwestern noch für jede einzelne Runde am Gang gelobt haben, am Faschingsdienstag unerlaubt aus der Klinik davongestohlen hat.

Aber nicht dass du glaubst, der Brenner hat es nicht ohne den großen Grazer Faschingsumzug ausgehalten. Im Gegenteil! Jetzt warum gerade an diesem Tag? Du musst wissen, Graz ist eine Faschingsstadt. Andere Städte haben vielleicht auch ihren Kinderfasching, ihren Seniorenfasching, ihren Firmenfasching, aber das ist nichts gegen Graz, wo am Faschingsdienstag ab Mittag alle Geschäfte geschlossen sind, weil Faschingsumzug.

Und der Brenner hat eben ganz richtig spekuliert, beim großen Klinikfasching in Puntigam links bestimmt großes Durcheinander, und da fällt es nicht auf, wenn ich ein paar Stunden weg bin. Ich glaube aber fast, ein bisschen Eitelkeit war auch dabei, weil mit der rasierten Schädelhälfte und dem Verband hätte er sich an einem normalen Tag vielleicht doch geniert. Und eine gewisse Rolle hat es bestimmt auch gespielt, dass sie damals ihren Ausflug auch am Faschingsdienstag gemacht haben, quasi heikles Datum, weil der Saarinen den Aschermittwoch ja dann nicht mehr erlebt

hat.

Wie er zum ersten Mal seit fast zwei Monaten wieder auf der Straße war, sehr eigenartiges Gefühl für den Brenner. Er ist sich vorgekommen wie ein Außerirdischer oder wie der einzige Überlebende nach einem Atomfasching. Puntigam vollkommen ausgestorben, weil alle beim Umzug in der Innenstadt. So hat der Brenner den Umzug auf seinem Weg ins Schwarzenegger-Stadion nur indirekt mitgekriegt, als Leere.

Taxi natürlich keine Chance, jetzt hat er sich zu Fuß auf den Weg gemacht, schön langsam, so ist es gegangen. Und so weit ist das Schwarzenegger-Stadion ja nicht entfernt vom Freud-Spital, weil da haben die Stadtplaner ganz richtig gesagt, alle Leute, die sich nicht benehmen können, auf eine Stadtseite, jetzt hat man in Graz Stadion und Nervenklinik und Zentralfriedhof ein bisschen in den Süden getan, sprich Puntigam und Liebenau, die sollen sich das untereinander ausmachen. Für die Innenstadt war das günstig und für den Brenner auch günstig, weil jetzt war er wenigstens schon auf der richtigen Stadtseite.

Im Grunde genommen nur über die Mur hinüber. Und in einer ausgestorbenen Stadt geht es sich ja viel leichter. Nach ein paar Minuten hat der Brenner auch seine gekrümmte Haltung aufgegeben, weil ihm ist auf einmal aufgefallen, es regnet ja gar nicht. Er war nur so nass, weil er schon wieder so wahnsinnig geschwitzt hat.

Dass es so was gibt, da verlässt einer nach zwei Monaten zum ersten Mal ein Krankenhaus, und möchte man meinen, er hält den Lärm fast nicht aus, und jetzt war es umgekehrt. Er hat die Stille fast nicht ausgehalten. Dabei war es in der Klinik auch immer sehr still, da darfst du dir nicht vorstellen, dass die Irren durch die Gegend brüllen. Weil die Medikamente.

Jetzt ist dem Brenner vorgekommen, die ganze Stadt hat ein Medikament bekommen, so ein stiller Hauch ist über den Straßen gelegen. Möchte man glauben, Fasching lautes Fest, aber das stimmt nicht. Fasching leises Fest, weil wenn du auf der falschen Stadtseite bist, lautes Fest immer leise. Von diesem Fasching ist eine Stille ausgegangen, unglaublich. Dem Brenner ist vorgekommen, er hat beim Davonstehlen aus der Klinik die Kliniktür zu lange offen gelassen und den Hauch mit in die Stadt hinausgenommen.

Jetzt warum hat er derartig geschwitzt? Zuerst einmal rein körperlich. Und dann natürlich die Todesangst. Weil ein Polizeifahrzeug hat ihn überholt, und wenn dir die Kripo einmal eine Kugel in den Kopf geschossen hat, dann kriegst du bei jedem Polizeifahrzeug Todesangst, das ist ganz normal.

Aber interessant. Obwohl die Polizisten sich gar nicht um ihn gekümmert haben, hat er dann, wie das Auto längst an ihm vorbei war, immer noch die Schweißausbrüche gehabt. Weil der Auspuff hat ihn wieder an die Walther vom Grazer Kripochef erinnert. Nach dem Polizeiwagen hat der Brenner sich auf einmal viel schwächer gefühlt. Jetzt hat er erst richtig bemerkt, was für ein Wahnsinn der Gewaltmarsch in seinem Zustand war.

Der Weg von Puntigam links zum Stadion hat sich so gezogen, dass der Brenner ein paarmal nahe am Aufgeben war. Das erste Mal wollte er schon beim Zentralfriedhof aufgeben, weil natürlich ansteckend, wenn so viele Leute faul herumliegen, und da hätte er sich wahnsinnig gern dazugelegt. Und auf dem Puchsteg war er dann so müde, dass er eineinhalb Stunden stehen geblieben ist und der Mur beim Fließen zugeschaut hat.

Es hat ihm gefallen, dass die Mur nicht mehr so dreckig war wie zu seiner Zeit, wo die Selbstmörder eine Zeit lang gar nicht mehr gesprungen sind, weil schon das Hinschauen genügt hat. Und jetzt das Hinschauen sogar eher heilsam, der Brenner hat es regelrecht gefühlt, wie das Wasser ihm langsam die Kraft zurückgibt, und ohne dass er es bemerkt hat, ist er auf dem Puchsteg ein bisschen mit dem Köck ins Gespräch gekommen.

»Wenn du mir nicht hilfst, bist du als nächster dran«, hat der Brenner auf dem Puchsteg geübt. Das ist ihm als das allerbeste Argument erschienen, sprich Drohung, weil der Köck war so ein Charakter, der hätte dir nie einfach so geholfen. Ich weiß auch nicht, es gibt so Menschen, manche helfen dir auch einmal einfach so, von sich aus, und andere würden das wieder nie tun. Das ist ein eigener Typus, da haben die Psychologen jahrzehntelang geforscht, bis sie diesen Charakter in den Griff bekommen haben, aber heute haben sie einen guten Namen für diesen Typus gefunden, pass auf: schlechter Charakter.

»Du wirst der nächste sein, wenn du mir nicht hilfst«, hat er immer wieder zum Köck gesagt, wie er schon weiter Richtung Schwarzenegger-Stadion gegangen ist. Manchmal hat der Brenner sich sogar eingeredet, ohne den Köck wäre die Sache damals gut ausgegangen und der Saarinen noch am Leben. Nur damit du verstehst, warum da ein bisschen Wut in der Stimme mitgeklungen ist, wie er auf den Köck eingeredet hat. »Du bist der einzige Zeuge außer mir.« Das hat er ihm ja auch in den letzten Tagen immer wieder auf den Anrufbeantworter hinaufgesagt. Aber zurückgerufen hat der Köck ihn trotzdem nicht, darum hat der Brenner es immer noch geübt: »Du bist außer mir der Einzige, der etwas davon weiß.«

Und hochinteressant! Nicht nur das Gehen gut für das Reden, sprich Denken, sondern umgekehrt ist er auch immer flotter unterwegs gewesen, seit er auf den Köck eingeredet hat. Da hat sich die ganze Beinmuskulatur wieder ein bisschen erinnert, wie sie gemeint war, während der Brenner gemurmelt hat: »Warum sollte der Kripochef mich heimdrehen und dich am Leben lassen?«

Rein von der Logik her muss man da sagen, gutes Zeichen für den Heilungsprozess im Kopf vom Brenner. Weil mehr als drei waren nicht mehr übrig von der alten Lausbubengeschichte. Der Saarinen tot, jetzt waren außer dem Grazer Kripochef nur mehr der Brenner und der Köck.

Mein Gott, sie waren damals jung. In der Polizeischule haben sie diese Sicherheitssysteme in den Banken gelernt, damals natürlich noch Steinzeit, aber der Gauner auch noch nicht am heutigen Stand, du musst dich insgesamt ein bisschen in die Steinzeit, sprich siebziger Jahre zurückversetzen, da hat noch nicht jeder Landbürgermeister das Schlafzimmer seiner Privatsekretärin mit Überwachungskameras zugepflastert, sondern damals alles noch sehr privat, Sekretärin und Bürgermeister nur Schreibtisch, und bei der Banküberwachung hat es gerade angefangen. Jetzt war das natürlich eine hochinteressante Pionierzeit.

»Weißt du noch den Prototnig«, hat der Brenner gesagt, während das Schwarzenegger-Stadion schon vor ihm aufgetaucht ist, silbern geglänzt hat es wie das reinste Ufo. Jetzt hat der Brenner zum Captain Köck gesagt, während er auf sein Ufo zugegangen ist: »Der Prototnig war eigentlich schuld an allem.«

Aber das war nur ein Scherz vom Brenner, so wollte er den Köck ein bisschen in eine positive Stimmung bringen. Und der silberne Glanz vom Schwarzenegger-Stadion, das jetzt regelrecht auf ihn zugeflogen ist, hat ihn irgendwie fast übermütig gemacht, sprich mitten in der Todesangst ein bisschen übermütig. Weil so eine Fröhlichkeit mitten in der Todesangst, das musst du dir vorstellen wie eine winzige Insel im Ozean oder wie das Schwarzenegger-Stadion mitten in Liebenau, genau so kann man oft mitten in einem wichtigen Chefgefühl ein winziges ganz anderes Gefühl haben, und kleiner Scherz: Der Prototnig ist an allem schuld.

Der Prototnig natürlich überhaupt nicht schuld daran. Schuld waren sie schon selber, junge Burschen, aber trotzdem schuld, dass sie am Faschingsdienstag 1973 diesen Blödsinn gemacht haben. So jung waren sie aber auch wieder nicht, weil keiner von ihnen mehr unter einundzwanzig, wo man damals sagen hätte können, noch nicht volljährig. Der Prototnig war damals schon ein alter Polizeischullehrer, und fanatisches Credo: praxisnahe Ausbildung. Der Prototnig hat sie die Sicherheitssysteme auf und ab geprüft, das kann sich ein heutiger Polizeischüler gar nicht mehr vorstellen. Das waren die gefürchtetsten Prüfungen, wenn du da ein winziges Drähtchen bei der Alarmanlage nicht gewusst hast, sofort auf Wiederschaun und nächste Woche noch einmal Alarmanlage.

Der Prototnig hat 120 Kilo gehabt, der ist dann sogar noch in ihrer Polizeischulzeit mitten in der Stunde an einem Herzinfarkt gestorben, da hat wieder die körpereigene Alarmanlage versagt. Und ich sage immer, garantiert wäre alles anders gekommen, wenn der Prototnig nur ein Jahr früher gestorben wäre, aber nein, so viel Zeit hat ihm der Herrgott noch geben müssen, dass er mit ihnen jedes einzelne Schlupfloch im Sicherheitssystem diskutiert hat.

Und Motto vom Prototnig immer: Ihr müsst euch in den Verbrecher hineindenken. Der hat dich bei der Prüfung durchfallen lassen, wenn du dich nicht sensibel genug in den Verbrecher hineingedacht hast, und ist ja im Grunde auch richtig so, ich sage, genau so gehört es. Aber natürlich die Folgen, wenn du als Polizeischüler zu sensibel gewesen bist.

Weil es gibt immer solche und solche. Viele nehmen es nicht ernst genug, da stimme ich dem Prototnig voll und ganz zu. Aber die vier haben es wieder zu ernst genommen. Am Anfang natürlich nur spielerisch, weil da haben sie einmal mit der ganzen Polizeischulklasse eine Exkursion in die Puntigamer Raiffeisenkasse gemacht. Der Köck und der Kripochef Aschenbrenner, also heute Kripochef, damals natürlich Polizeischüler Aschenbrenner, die haben rein spielerisch den Plan entwickelt, quasi Fleißaufgabe. Wie würde der Gauner es machen. Wie könnte man die Filiale der Raiffeisenkasse ausräumen, bevor sie in einem halben Jahr auf das neue Alarmsystem umgestellt wird. Zuerst nur der Plan, rein geistig. Ein paar kleinere Vorbereitungsarbeiten.

Ein bisschen Ernst ist erst in die Sache gekommen, wie der Köck auf einmal mit den vier Walther-Pistolen dahergekommen ist. Aber die Idee mit den Trachtenanzügen war vom Saarinen. Weil der Saarinen dann auch noch dabei, das war damals sogar der beste Freund vom Brenner, jetzt der Brenner natürlich auch dabei.

Der Saarinen hat gesagt, mit den Trachtenanzügen halten sie uns auf der Straße für verkleidet, aber in der Raiffeisenkasse halten sie uns für normal angezogen und auf der Flucht wieder für verkleidet, praktisch perfekte Tarnung. Das war ja damals nicht so wie heute, wo man mit dieser Verkleidung wieder auf die Straße geht, auch wenn kein Fasching ist. Aber eines war damals gleich, sie haben die Filiale am Faschingsdienstag schon früher zugesperrt, und wie die Angestellten geistig schon mehr beim Umzug als hinter dem Schalter waren, sind die vier Polizeischüler in ihren Trachtenanzügen hineinspaziert.

Der Brenner ist jetzt über die Straße zum Arnold-Schwarzenegger-Stadion hinüber und hat über seinen besten Freund nachgedacht, der seit dreißig Jahren tot war und den alle Saarinen genannt haben, weil er so von dem finnischen Motorradrennfahrer geschwärmt hat. Er hat sogar ein Poster von ihm im Polizeischulspind hängen gehabt, der Brenner ein Poster vom Jimi Hendrix, der ’71 an seinem Erbrochenen erstickt ist, der finnische Rennfahrer dann 1973 in Italien tödlich verunglückt, aber sein Fan aus der Grazer Polizeischule hat das nicht mehr erlebt, weil der ist ja schon drei Monate vor seinem Vorbild tödlich verunglückt, sprich zu schnell von der Raiffeisenkasse weggefahren.

»So ein Scheiß-Pech«, hat der Brenner geflucht, während er die gut versteckte Klingel für die Hausmeisterwohnung im Arnold-Schwarzenegger-Stadion gesucht hat. Weil was glaubst du, wenn so eine Stadionklingel nicht gut versteckt wäre, würden die Fußball-Rowdies dauernd läuten, da wirst du wahnsinnig als Köck. Aber der Brenner hätte es eigentlich vom letzten Mal wissen müssen, wo sie war. Dann hat er sich gefreut, wie es ihm doch wieder eingefallen ist. Aber die Freude darüber war nur eines von diesen kleineren Gefühlen mitten in einem ganz anderen Gefühl, weil ob du es glaubst oder nicht. Während er die Klingel gedrückt hat, sind ihm auf einmal die Tränen heruntergelaufen. Dass es so was gibt! Damals, wie sein Freund in der Rudersdorfer Straße verunglückt ist, hat er nicht geweint, beim Begräbnis am Zentralfriedhof auch nicht geweint, aber jetzt, dreißig Jahre später, kommen ihm auf einmal die Tränen, das ist bei Männern oft ein bisschen verspätet.

Dem Brenner war es direkt ein bisschen peinlich vor sich selber. Ich muss ganz ehrlich sagen, ich mag es auch nicht, wenn Männer weinen, es passt nicht recht, aber ich sage, wenn schon, dann bitte gleich und nicht dreißig Jahre nachher, das ist die schlechteste Version, und genau so machen es die meisten.

Beim Köck hat er dann wieder nicht geweint.

Jetzt müsste der Brenner schon dreiundachtzig Jahre alt werden, wenn er über den Köck auch erst mit dreißig Jahren Verspätung weinen will, weil mehr als einen halben Tag war der Köck bestimmt noch nicht tot.

Der Brenner hätte sogar eher getippt, dass er erst zwei, drei Stunden mit dem Loch im Kopf auf seinem hellgrünen Sofa gesessen ist. Aber nicht dass du dir jetzt Sorgen um den hellen Sofabezug machst, weil das Köck-Sofa war ja so hässlich, das wäre durch ein paar Liter Blut eher schöner geworden, aber so viel Blut war es gar nicht.

Das Loch in seiner linken Schläfe war ja nicht besonders groß. Heute haben sie bei der Polizei immerhin die Neun-Millimeter-Glock, die macht schon ein bisschen ein Loch. Aber die Sieben-fünfundsechziger Walther PP, die sie früher bei der Polizei gehabt haben, nur ein sehr kleines Loch. Im ersten Augenblick hat der Brenner das Loch in der linken Schläfe vom Köck gar nicht gesehen. Ob du es glaubst oder nicht, zuerst ist dem Brenner aufgefallen, dass der deutsche Trainer so wahnsinnig erschrocken von der Wand herunterglotzt.

Ihm ist vorgekommen, dass er noch nie so einen erschrockenen Blick gesehen hat wie von diesem Trainer, der seine blauen Augen derart aufgerissen hat, dass man glauben hätte können, seine roten Haare und sein roter Schnurrbart sind nicht von Natur aus rot, sondern vor Schreck. Weil der hat immer noch viele Haare gehabt, obwohl der Köck dem Brenner letztes Mal erzählt hat, dass der arme Mensch aus einem inneren Zwang heraus dauernd seine Haare den Drogentestern hinterherträgt.

Und wahrscheinlich war das auch der Grund, dass für den Brenner unter all den Fußballerfotos an der Wand ausgerechnet dieses eine so herausgestochen ist, weil der Köck im Stadion natürlich nicht nur Hausmeister, sondern eben auch ein bisschen Nebenverdienst, ein bisschen Haarwuchsmittel für Spieler, Trainer, Journalisten. Der Köck hat dem Brenner noch stolz erzählt, dass er den deutschen Trainer fast nach Graz gelockt hätte, aber in letzter Sekunde haben ihn dann doch noch die Wiener weggeschnappt, wahrscheinlich die dortigen Stadionwarte noch bessere Haarwuchsmittel.

Der Köck selber jetzt auch ein bisschen rote Haare, aber nur dort, wo das Blut sie verklebt hat, nicht viel, weil die Kugel ist ja nicht wieder ausgetreten, und dann tut sich nicht viel hinsichtlich Blut. Zwischen dem linken Ohr und dem linken Aug natürlich schon, ziemlich genau dort, wo auch der Brenner sein Loch gehabt hat. Jetzt hat der Brenner für einen Moment die Wahnvorstellung gehabt, es war gar keine Waffe im Spiel, es hat gar kein Kripochef Aschenbrenner mit seiner Walther geschossen, sondern der liebe Gott hat ihn und den Köck mit den Köpfen zusammengedroschen, so wie er im Jahr 1973 die beiden Motorradrennfahrer zusammengedroschen hat, Jarno Saarinen und Renzo Pasolini, beide auf der Stelle tot.

Obwohl sein Kopf jetzt so gedröhnt hat, als wären der Köck und er wirklich gerade mit je dreihundert Stundenkilometern, also zusammen sechshundert Stundenkilometern, mit ihren Köpfen zusammengefahren, hat der Brenner ganz leise hinter dem Dröhnen noch einen Gedanken wahrgenommen. Pass auf:

Ich muss die Kugel finden.

Weil die Kugel muss aus demselben Walther-Verbau stammen wie die Kugel, die der Professor Hofstätter ihm aus dem Kopf geholt hat. Sprich beschädigte Kugel, abgeflacht wie die reinste Weltkugel. Er hat gehofft, dass der Kripochef Aschenbrenner wenigstens einmal oder zweimal daneben geschossen hat, weil die tödliche Kugel selber ist ja nicht wieder aus dem Kopf ausgetreten, und die Hülse allein hat ihm nichts genützt.

Gefunden hat er dann alles Mögliche, nur keine Kugel. Er hat schnell begriffen, warum der Köck so angegeben hat, dass der deutsche Trainer nur seinetwegen fast zu Sturm Graz gekommen wäre. Weil kiloweise Haarwuchsmittel, da müssen die Wiener wirklich was zu bieten gehabt haben, dass sie den Trainer noch in letzter Sekunde von dieser Quelle losgeeist haben.

Aber das hat den Brenner nicht interessiert. Die Kugel hat ihn interessiert. Jeden Zentimeter Wand hat er abgesucht, jeden Sessel, jedes Sofa. Nichts. Die alte Walther vom Köck hat er im Schrank gefunden, mit der ist auch seit dreißig Jahren nicht mehr geschossen worden. Aber nirgendwo ist eine Kugel gesteckt. Den Boden hat er auf den Knien abgesucht, aber keine Kugel, nur ein altes Foto hat er gefunden, und wie er es umgedreht hat, war es ein Foto, von dem der Brenner sich sogar eingebildet hat, dass er es damals gemacht hat. Der Aschenbrenner war drauf, der Köck war drauf, der Saarinen war drauf, und die neue Freundin vom Saarinen war auch drauf, die Kellnerin aus dem Puntigamer Braugasthaus, die er erst ein paar Wochen vorher dem Aschenbrenner ausgespannt hat.

An ihren richtigen Namen hat der Brenner sich nicht mehr erinnert, nur mehr an den blöden Spitznamen, den der Saarinen aufgebracht hat, ob du es glaubst oder nicht: Maritschi. Weil wenn dich als junger Mensch ein Unfall aus dem Leben reißt, dann weißt du es ja am Vortag noch nicht, da drückst du dich deshalb nicht würdevoller aus, und du verwendest idiotische Namen wie Maritschi, wo du dich vielleicht ein bisschen gewählter ausdrücken würdest, wenn du eine Ahnung hättest, dass du morgen den Löffel abgibst.

Er hat sich geärgert, dass nicht sie das Foto gemacht hat, dann wäre er auch drauf gewesen. Eingesteckt hat er das Bild trotzdem. Und da sieht man wieder einmal, wie gut es ist, wenn man sich mit Nebensachen beschäftigt. Weil dann endlich die Kugel.

Die Kugel ist aber so tief drinnen gesteckt, dass er sie nicht und nicht herausgebracht hat. Mit dem gestohlenen Skalpell vom Professor Hofstätter hat er vorher das Schnappschloss an der Wohnungstür in einer Zehntelsekunde offen gehabt, aber die Kugel hat sich gewehrt. Das war eine Präzisionsarbeit, und der Brenner mit dem Feinmotorischen immer noch nicht gut. Und in dem Moment, wo er die Kugel schon fast hat greifen können, hört er ein feines metallisches Geräusch, das ihm durch und durch gegangen ist. Aber nicht dass du meinst, Skalpell und Kugel, quasi feines metallisches Geräusch.

Das Herz ist ihm fast stehen geblieben, weil es war dieses wahnsinnig feine Geräusch, das ein Schlüssel erzeugt, wenn er vorsichtig von draußen in ein Schloss geschoben wird.

Du wirst sagen, er hätte sich verstecken sollen. Aber du darfst nicht vergessen, wie dringend er die Kugel gebraucht hat. Darum hat er noch um die Kugel gekämpft, wie der Schlüssel sich schon im Schlüsselloch gedreht hat.

Jetzt natürlich große Frage, erwischt der Brenner die Kugel, oder erwischt der Besucher den Brenner. Oder dritte Möglichkeit, dass beides passiert, und der eine erwischt die Kugel, der andere den Brenner. Weil da haben die Leute oft eine wahnsinnige Freude mit dieser Entdeckung, und es muss nicht unbedingt so oder anders sein, sondern dritte Möglichkeit. Aber jetzt kann ich dir einmal etwas wirklich Interessantes sagen. Es muss auch nicht unbedingt die dritte Möglichkeit sein.

Weil vierte Möglichkeit. Weder hat der Brenner die Kugel erwischt, noch hat der Besucher den Brenner erwischt. Im letzten Augenblick hat der Brenner sich nämlich doch noch von der Kugel losgerissen. Und wie die Tür aufgegangen ist, war der Brenner schon hinter der Tür versteckt.

Es ist ja immer wieder interessant, wie so ein Mensch dann wirklich aussieht, zu dem man zuerst schon eine intensive Beziehung durch die Tür aufgebaut hat. Weil in dem Fall nicht vier, sondern tausend Möglichkeiten, und normalerweise ändert sich das Bild komplett, sobald die Tür aufgeht und du den Besucher zum ersten Mal siehst. Aber dass es so was gibt! Die Vorstellung vom Brenner wäre gar nicht so schlecht gewesen, da hat er sich vielleicht wegen dem feinen Schlüsselgeräusch auch einen eher schmalen, klein gewachsenen Mann erwartet, und so war es auch. Aber dann hat der Besuch, während er durch die Wohnung gegangen ist, sich noch einmal komplett verändert.

Sein Gesicht hat der Brenner zwar nicht sehen können, weil er ja hinter ihm gestanden ist. Aber ihm ist vorgekommen, dass der Besucher beim Anblick vom Köck noch einmal um einen Kopf kleiner wird. Richtig zusammengesunken ist der. Und ich muss sagen, das ist verständlich. Weil der Brenner hat natürlich keine Zeit mehr gehabt, dass er nach der Operation das Aug wieder einsetzt, jetzt der Köck kein schöner Anblick.

Wenn ich sage, der Brenner hat das Gesicht des Besuchers nicht gesehen, weil er hinter ihm gestanden ist, dann muss ich sagen, von vorn hätte er auch nicht viel Gesicht gesehen. Weil seine blaue Baseballkappe hat ein derart großes Schild gehabt, dass der Brenner sich gewundert hat, warum er nicht vornüberkippt. Aber vornübergekippt ist er natürlich erst, wie ihm der Brenner die Walther vom Köck derart über den Schädel gedroschen hat, dass die Baseballkappe sogar noch ein bisschen schneller auf den Boden gefallen ist als ihr glatzköpfiger Besitzer.

Über Schläge kann man natürlich viel diskutieren, pro, contra, dritte Möglichkeit und, und, und. Aber eines ist klar. Nicht nur das Einstecken tut weh, man kann sich auch beim Austeilen verletzen. Der eine verstaucht sich das Handgelenk, der andere bricht sich die Finger, das hängt dir noch nach, wenn die klaffende Schädelwunde vom Opfer schon längst tadellos verheilt ist.

Und der dritte übernimmt sich überhaupt komplett. Weil der Brenner ist nach dem Schlag so eingegangen, dass er an die Kugel nicht einmal mehr gedacht hat. Er hat auf einmal ganz andere Sorgen gehabt. Er hat sich gefragt, ob er seinen Zitteranfall überleben wird. Und er hat sich gefragt, wie er, falls er den Zitteranfall überlebt, mit seinen Gummiknien aus dem Stadion hinauskommen soll. Und er hat sich gefragt, wo er, falls er mit seinen Gummiknien aus dem Stadion hinauskommt, überhaupt hin soll.

Weil er hat sich überlegt, was für ihn gefährlicher ist. Wenn er sich nicht mehr in der Klinik blicken lässt, wird er spätestens morgen als Köck-Mörder gesucht. Und wenn er in die Klinik zurückgeht, wird er wahrscheinlich schon heute vom Köck-Mörder gesucht. Siehst du, da fällt dir auch keine dritte Möglichkeit ein. Weil Falle Hilfsausdruck.

Das ewige Leben

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