Читать книгу Brezensalzer. Eine Bayernkomödie - A. A. Reichelt - Страница 7

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Alte Freunde

Ein kleiner Umweg tat ihm gut. Der von seinem Schatz erteilte Auftrag, Semmeln und Brezen zu kaufen, hatte ihm den Fußmarsch durch das ›Glasscherbenviertel‹ Pfarrkirchens erspart, das sich leider zwischen seinem Haus und der neuen Betriebsstätte befand. Durch die Altstadt zu schlendern fühlte sich an wie eine Rückschau auf sein früheres Leben. Einige der Geschäfte, die sein damaliges Konsumverhalten geprägt hatten, existierten sogar noch: Der kleine Schreibwarenladen, in dem alljährlich die neuen Schulsachen gekauft wurden. Gab es etwas Schöneres, als einen neuen Malkasten? Oder der Buchladen, den jüngst ein alter Schulfreund übernommen hatte. Beinahe konnte er den Duft von Druckerschwärze riechen. Und die Bäckerei, die damals das allseits beliebte ›Zehnerl-Eis‹ führte. Mittlerweile müsste es allerdings ›Fünfundreißigerl-Eis‹ heißen. Wucher!

Seine Stammbäckerei betretend, sog er zunächst mit geschlossenen Augen den Wohlgeruch frischer Back­waren ein. Zu diesen kulinarischen Genüssen gesellten sich optische Verzückungen, als er sich schließlich umsah. Mohnschnecke, Bienenstich und Croissant. Käsebreze, Pizzastangerl und Weltmeistersemmel. All diese wun­dervollen Meisterstücke althergebrachter Hand­werkskunst.

»Was darf’s denn sein?«, fragte eine junge Bä­ckereifachverkäuferin.

Als er seinen Mund zur Antwort öffnen wollte, lief ihm ein Schwall eigenen Speichels aus dem Mundwinkel, streifte sein Kinn und landete anschließend auf seinem Hemd. Schnell schluckte er, entschuldigte sich und wischte sich das Hemd mit dem Handrücken ab.

»Kein Problem. Letzte Woche ham’s eana aa scho voigsabbert1.«

Gott sei Dank befand sich niemand sonst in Hörweite.

Hungrig einzukaufen schien keine gute Idee zu sein, insbesondere, da er seinen Speichelfluss noch nie so recht hatte kontrollieren können.

Nachdem die nette Frau hinter dem Tresen die dritte große Papiertüte vollgepackt hatte, wurde ihm klar, dass er seit geraumer Zeit dabei war, das Missverhältnis zwischen ›Augengröße‹ und ›Magengröße‹ zu korrigieren. Bald würden die Augen nämlich nicht mehr größer sein als sein Bauch, wie es ihm seine Mutter als Kind immer vor­geworfen hatte, wenn er nicht aufessen konnte. Darin unterschied sich ein All-inclusive-Buffet von den Kochkünsten seiner Mutter. Bei ihr durfte er bis heute nicht selbst entscheiden, wann er satt war.

Gerade als er bezahlen wollte, sah er den Bäckereihelfer im hinteren Teil des Verkaufsraumes ein Blech voller Brezenteiglinge salzen. Ob man dafür eine Ausbildung brauchte? Seit Jahren dachte er über die Frage nach, warum die Gesellschaft manche Berufe hoch, andere niedrig bewertete. Beispielsweise werden Manager horrend be­zahlt. Oder Fußballprofis. Männer, die einen Lederball in ein Netz treten können! Und die im Privatleben oft nur durch Skandale oder fehlende Manieren auffielen. Wohingegen Menschen, die andere pflegen, schlecht entlohnt werden. Oder Reinigungskräfte in Kliniken und Schulen. Deren Arbeit liefert einen in allerhöchstem Maß wertvollen Beitrag für die Gesellschaft. Und doch können sie von ihrem Gehalt kaum leben. Jüngst hatte er ein Interview mit einem Fußballer gelesen, der sich beklagte, zwei Spiele pro Woche zu bestreiten zu haben. »Beschweren kann er sich, wenn er mal vierzig Stunden im Schichtbetrieb spielen muss und dann nicht weiß, wie er seine Miete zusammenkratzen soll!«, hatte er damals wütend mit der Zeitung in der Hand gepoltert. »Irgendetwas stimmt heute ganz gewaltig nicht mehr«, war seine gedankliche Quintessenz. Oder eben der werte ›Brezensalzer‹, der seinen liebsten Backwaren gerade den letzten Schliff verpasste. Er selbst hatte vor einem Jahr beim Aufbacken tiefgefrorener Brezenteiglinge vergessen, diese mit dem dazugehörigen Salz zu versehen. Mit fatalen Folgen. Sie schmeckten einfach nicht. Gut, er war bei bayerischen Speisen wirklich empfindlich. Brezen waren neben Weißwürsten und Weißbier so etwas wie sein Grundnahrungsmittel. Eben deswegen schien ihm das Aufbacken und Perfektionieren von Lebensmitteln eine durchaus ehrenwerte und wichtige Berufstätigkeit. Doch die Menschheit im Allgemeinen teilte diese Haltung wohl nicht.

Bei all diesen Gedanken fiel ihm auf, dass der Mann, der nun das Brezenblech in den Backofen schob, nicht einmal eine Uniform der Bäckerei erhalten hatte. Die Verkäuferinnen zierten einheitliche Textilien. Doch jener arme Tropf musste sich seine Arbeitskleidung wahrscheinlich auch noch selbst bezahlen.

Als sich der Mann zu ihm umdrehte, erkannte er in ihm einen alten Schulfreund. Wieder einmal machte sich sein schlechtes Namensgedächtnis bemerkbar. Sepp, Xaver, Hans, Franzi? Damit könnte er neunzig Prozent eines baye­rischen Stammtisches abdecken, aber der richtige Name schien noch nicht dabei gewesen zu sein. Er versuchte es mit einem neutralen ortsüblichen Gruß: »Griasdi!«

»Servus!«

»Arbeitest du hier?« Nachdem er die Frage gestellt hatte, erschien sie ihm nicht sehr intelligent.

»Ja, siehst du doch. Und du, was machst du so?« Er sprach hochdeutsch.

»Ich mache gerade eine neue Praxis für Osteopathie auf. Hier in Pfarrkirchen«, antwortete er und ärgerte sich sofort darüber, dass er auch selbst immer ins Hoch­deutsche abrutschte, sobald er mit einem ›Preußen‹ sprach.

»Ich orientiere mich gerade neu. Deshalb salze ich den ganzen Tag über Brezen.«

Sein alter Freund schien sich dafür rechtfertigen zu wollen.

»Eh cool, oder? Ich liebe Brezen. Sorg nur schön für reichlich Nachschub. Mich ham’ s schon in der Schule immer Brezen-Sepp genannt, obwohl ich gar nicht Sepp heiße.«

Beim Gedanken an den alten Schulkiosk im Pfarr­kirchener Gymnasium erinnerte er sich auch an den Namen seines Freundes. Er wollte ihn sogleich benutzen, damit er ihm nicht wieder abhandenkommen konnte.

»Du Fredl, das Salz, das du da benutzt, ist das ein besonderes Salz? Weil, wenn ich daheim Brezen aufbacke, dann schmecken die immer a bisserl, wie sag ich das jetzt, unterwürzt.«

Eine blödere Frage schien ihm nicht einzufallen.

»Ja, genau. Das lassen wir direkt für uns in einer Spezial­körnung liefern. Warte, ich bringe dir ein Säckchen voll.«

»Na na, des basst scho… «, wollte er dies noch verhindern, doch Fredl war bereits in der Backstube verschwunden. Mit einem kleinen Papiertütchen des Würzmittels kam er zurück und überreichte es ihm.

»Vergelt’s Gott!« Er nahm es entgegen und steckte es in seine Jackentasche.

»Wenn das jetzt einer gesehen hat, dann heißt es wieder, wir Bayern leben hinterm Mond. Als ob wir noch mit Salz zahlen würden.«

Sie mussten beide lachen.

»Servus!«

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, verließ er den Laden und freute sich auf die bevorstehende Brotzeit.

»Da Fredl, magst es eh net glauben …«, brummelte er noch vor sich hin. »Der alte Casanova. Schenkt er mir Salz. Schade, dass er nicht beim Metzger arbeitet.«

Beim Abendessen erzählte er von seiner Begegnung in der Bäckerei.

»Heute habe ich einen alten Schulfreund getroffen. Der macht jetzt so einen Hilfsjob. Bäckt Brezen auf und sowas. Als ich ihn vor ein paar Jahren mal getroffen habe, hat er noch in der Bank gearbeitet.«

Seine Frau saß ihm mit einem Salatteller gegenüber. Wie sie dem Geruch seines Leberkäses standzuhalten vermochte, würde er nie verstehen.

»Du sagst doch immer, dass jeder Job ehrenwert ist, der die Familie ernährt. Dass es keine schlechten Arbeits­stellen gibt.«

Diese Argumentation hatte er tatsächlich schon oft angeführt.

»Ja schon. Hast vollkommen recht.«

»Und letztens hast dich über die Banker beschwert. Dass es anrüchig ist, mit Geld Geld zu verdienen.«

Seine Frau war einfach eine zu gute Zuhörerin.

»Ja, da hab ich halt gerade die Zinsabrechnung bekommen. Ist ja auch egal.«

Den Abend verbrachten sie vor dem Fernsehgerät, die Füße auf dem Tisch und die Augen geschlossen. Keiner der beiden sah mehr als zehn Minuten des Beitrags über die Einwanderung einer giftigen Spinnenart aus Südeuropa, bevor sie im Sitzen eingeschlafen waren, den Kopf über der Rückenlehne in den Nacken gelegt. Selbst die Boxerhündin Inara lag auf dem Rücken. Alle drei schnarchten sie im Takt.

Alt.

Sie wurden wohl alle langsam alt. Zumindest die humanoiden Anwesenden.

1 Zu Hochdeutsch: Letzte Woche haben sie sich auch schon vollgesabbert.

Brezensalzer. Eine Bayernkomödie

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