Читать книгу Symphonie der Toten - Abbas Maroufi - Страница 7
I
ОглавлениеUnter den Tonnengewölben und Kuppeln der Karawanserei* waberte ein schwacher Rauch und zog durch das Eingangstor ab. Tief drinnen hatten ein paar Lastträger in einem Blechkanister ein Holzfeuer entfacht, und wenn sie sich dazu überwinden konnten, die Hände unter der Decke hervorzuziehen, steckten sie sich auch ein paar Melonenkerne in den Mund und knackten sie auf. Hinter ihnen, in einem gruftartigen Gelass, rösteten drei Männer in großen Kupferkesseln Nüsse und Kerne. Der Dampf vermischte sich mit dem Rauch. Es hatte aufgehört zu schneien.
Alle Lichter leuchteten, sogar die Gaslampen, und die Karawanserei glich von ferne einem im Nebel liegenden Gehöft. Auf der rechten Seite der Passage, im Kontor der „Trockenfruchthandlung Ihres Vertrauens“, hatten es sich zwei Männer in der Wärme der auf dem Tisch stehenden Glühstrumpflampe gemütlich gemacht: Urhan Urkhani saß hinter dem Tisch, neben ihm der Wachtmeister Ayas.
Jeden Donnerstag kam Wachtmeister Ayas ins Kontor, setzte sich auf einen breit ausladenden Stuhl und stellte seine Füße auf einen Schemel. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn – sommers wie winters – und wenn der breite Stuhl nicht zur Hand war, hockte er sich auf einen Sack voller Kerne.
„Wie soll ich Riesenkerl auf so einem kleinen Stuhl sitzen? Wirklich!“, pflegte er dann zu sagen.
Hätte er es gewollt, dann hätte er sogar den Vater in all seiner respekteinflößenden Würde mit zwei Fingern hochheben und an die Haken an der Decke hängen können. Sein Gesicht war fleischig und großflächig, der Kopf eher klein; auf der linken Wange hatte die Leishmaniose ein Mal hinterlassen, das jetzt, wie das ganze Gesicht, voller Runzeln war. Er kaufte ein Ssir* Pistazien. Auf das drängende Angebot, sein Geld doch stecken zu lassen, ging er nicht ein. Er bezahlte dafür, löste die Pistazien aus den Schalen, legte sie nebeneinander auf den Tisch und warf sie sich dann alle zusammen in den Mund. Das war das Zeichen für Urhan, ihm ein Glas kaltes Wasser zu holen.
Der Vater hatte Ayas sehr gern gehabt. Einmal, weil er eben von alters her Wachtmeister in dieser Stadt war, dann aber auch, weil er so vieles wusste. Unbegrenzt war sein Wissen, von allem verstand er etwas.
„Das ist kein gewöhnlicher Mensch“, pflegte der Vater zu sagen und schickte ihm am Neujahrsabend wenigstens zehn Kilo Trockenfrüchte ins Haus. Und er hatte ihm Woche für Woche ein paar Geldscheine zugesteckt. Auch jetzt, nachdem der Vater schon lange Jahre tot war, hielt sich Urhan an diese Abmachung.
Auf der anderen Seite tuschelten leise zwei junge Arbeiter hinter dem Ladentisch, die Hände in den Hosentaschen, eine Wollmütze auf dem Kopf und den Mantelkragen bis zu den Ohren hochgeschlagen. Wie Urhan und Ayas hatten sie die Köpfe zusammengesteckt.
„Ich steh dir bei wie ein Löwe!“, sagte Ayas.
Urhan war unentschlossen, er wusste nicht, was er tun sollte.
„Dass das bloß nicht auf mich selbst zurückfällt!“, meinte er.
„Bring die Sache zu Ende!“
„Wenn aber irgendetwas durchsickert?“
„Das darf natürlich nicht sein. Du musst es eben schlau anfangen!“
Urhan dachte einen Augenblick nach, dann warf er Ayas einen kurzen Blick zu: „Wie bei Yussof?“
„Hat davon etwa jemand Wind bekommen? Jahre sind vergangen, und es hat keine Probleme gegeben.“
„Ich hab sie aber mit eigenen Ohren ›Brudermörder‹ sagen hören.“
„Scheißkerle!“, brüllte Ayas. Dann senkte er die Stimme: „Die Leute lästern sogar über den lieben Gott.“
„Mein lieber Ayas, das ist ein unergründliches Loch. Hoffentlich fall ich nicht kopfüber hinein.“
„Jetzt sag mal, war ich der Freund deines Vaters oder nicht?“
„Das ist schon richtig, aber ...“
„Du erinnerst mich an deinen Vater“, sagte Ayas, „das war auch so ein Angsthase.“
Urhan strich sich mit der Hand über den kahlen Schädel. Er näherte sein Gesicht noch mehr der Lampe und meinte: „Ich bin kein Angsthase! Ich trau mich alles.“
„Du hast mich gefragt, was du mit diesem liederlichen Frauenzimmer anfangen solltest. ‚Lass dich scheiden!‘, hab ich dir gesagt. Bist du schlecht dabei gefahren? Jetzt fragst du mich, was du mit diesem Kerl da tun sollst. Schaff ihn beiseite, sag ich dir. Wenn erst mal seine Tochter hier auftaucht, bist du nicht mehr Herr im Geschäft. Du wirst sehen, dass eines Tages ein Mädchen mit blondem Haar hereinspaziert kommt und fragt: ‚Mein Herr, ist hier der Laden meines Vaters?‘“
Urhan sagte nichts darauf.
„Wo es schon mal so weit gekommen ist“, meinte Ayas, „zögere nicht! Mach dich jetzt gleich auf den Weg!“
„Bei diesem Schnee? Wohin soll ich da gehen?“ Und er warf einen Blick nach draußen.
So viel Schnee hatte der Himmel auf die Erde abgeladen, dass man noch viele Jahre später sagen sollte: Dieses schwarze Jahr! Ein großer Teil der Bewohner hatte sich verkrochen, doch viele mussten wohl oder übel Schnee und Kälte trotzen, um für ihr Leben zu sorgen. Der Schnee hatte alles lahmgelegt. Straßen und Gassen lagen in ungewohnter Stille, die Wasserleitungen waren eingefroren, kein Auto fuhr, auf den Straßen waren Schneehaufen aufgetürmt. Die Händler hatten zwar die Gehwege geräumt, doch wieder bedeckte ein halber Meter Schnee, der in der letzten Nacht gefallen war, die Erde.
In den engen Gassen lag der Schnee mehr als türhoch; die Leute hatten Tunnel gegraben und konnten so in den miteinander verbundenen Kanälen sicher hin- und hergehen. War das eine Strafe Gottes? Vielleicht. Viele Winter waren doch übers Land gegangen, es hatte auch heftig geschneit, aber niemand konnte sich an solche Schneemassen erinnern. Die Raben hatten die Stadt erobert. Auf jedem Baum ein paar Raben.
Auch innerhalb der Anwesen waren sie zu finden. Gelassen hockten sie auf den Gartenmauern und auf den Geländern der Veranden und hüpften hin und her. Kalt und seelenlos lag da ein Haus mit hohen Mauern, mit Kreuzgesims und zweiflügligen Fenstern vergessen unter dem Schnee. In den Zimmern des oberen Stockwerks hatten sich die Decken gebogen, und im Erdgeschoss hing ein grauenhafter Gestank nach Verwesung aus vergangenen Jahren in der Luft. Keiner hielt sich dort auf, kein Licht brannte, nicht einmal der Schnee auf dem Dach war geräumt. Die Glasstürze der Windlichter über der Haustür waren zerbrochen.
Es war einmal eine Zeit, da gab es noch die Mutter, die Mehl aus der Tonne holte, Teig knetete und in dem Ofen in der Mitte der Küche Brot buk. Der nach Brot und Holz duftende Rauch stieg vom Ofen auf. Und nachdem die Mutter das Brot herausgeholt hatte, band sie sechs Fladen in ein Tuch und schickte es Onkel Ssaber. Aidin und Urhan fuhren in einer fünfspännigen Kutsche eilends zu dessen Haus. Und die Tante steckte ihnen Leckerbissen in die Tasche.
Es war einmal eine Zeit, da hielt sich der Vater, wenn er die Treppe hinaufstieg, an den Sprossen des Geländers fest und zählte sie: einundzwanzig. Oben nahm er den Hut ab, hängte ihn an die Garderobe, legte den Mantel ab, schüttelte ihn aus und hängte ihn daneben. Er wischte mit einem Tuch über die Hosen, hängte sie aber nicht auf, sondern legte sie unter die Matratze, so dass sie morgens, wenn er sie wieder anzog, messerscharfe Bügelfalten hatten.
Auch eine Schwester hatte es gegeben, Aida mit Namen. Irgendwo im Hintergrund, in der Küche oder in der Speisekammer, quälte sie sich mit ihren Rheumaschmerzen ab. Und ging fast zugrunde.
Und nun – Kälte und Stille hatten sich in den Zimmern festgesetzt – war Urhan nicht da, um unter die schmutz-verkrustete Decke zu kriechen in der trügerischen Hoffnung auf einen ruhigen Schlaf. Nein, nein! Alle waren sie gestorben. Und er war der Letzte.
„Auch dieser da muss noch weg! Egal wie!“, hatte er gesagt.
„Worauf wartest du dann noch?“, hatte Ayas gefragt.
„Wo ist er bloß?“
„Im Teehaus am Salzsee, wie immer.“
„Bei diesem Schnee?“
„Du bist doch kein Kind der arabischen Wüste. Die Kinder in Ardebil* kommen schon mit dem Schnee zur Welt. Und vielleicht ist er auch schon tot.“
„Nein, ich weiß, dass er am Leben ist.“
„Woher willst du das wissen? Wie sollte er nach zehn Tagen noch leben?“
„Aidin ist am Leben“, sagte Urhan voller Überzeugung. „Ich glaube nicht, dass er stirbt. Gestern habe ich erfahren, dass er eine fünfzehnjährige Tochter hat. Habe erfahren, dass die seinen Personalausweis in den Händen haben. Wenn er noch lebt, haben wir’s bald mit tausenderlei Forderungen zu tun, Ayas.“
„Dann geh schon! Wie ein Löwe werde ich dir beistehen. Überhaupt nichts wird passieren. Denk nicht daran, dass ich alt geworden bin! Ich bin immer noch der Wachtmeister Ayas ...“
Urhan lauschte dem Zischen der Lampe und dachte an das Mädchen, das fünfzehn Jahre alt war, blondes Haar hatte und eines Tages kommen würde.
Ayas neigte den Kopf und starrte Urhan ins Gesicht. „Beeil dich, Bruder!“
Urhan blieb stumm.
„Wenn ich an der Stelle deines Vaters gewesen wäre – Gott hab ihn selig“, meinte Ayas, „hätte ich Aidin gleich damals, als ihm der Kamm schwoll und er sich als Dichter aufgespielt hat, zur Grenze gebracht und ihn abgeschoben.“
„Der Vater. Immer der Vater“, sagte Urhan, „der Vater hatte Angst vor ihm.“
„Du hast auch Angst vor ihm.“
„Nein, ich hab keine Angst. Ich hab’s nur nicht übers Herz gebracht.“
„Wärst du letzte Woche gegangen, wärst du jetzt deine Sorgen los. Man muss ‚Wasser‘ sagen und trinken, muss ‚Atem‘ sagen und Luft holen. Anderenfalls ist’s aus mit einem.“
Er setzte seine Mütze auf, erhob sich, knöpfte seinen Mantel zu, von unten nach oben, glatt und ordentlich. Dann sagte er herrisch, als spräche er zu einem Untergebenen: „Was willst du also tun?“
Urhan erwachte aus seiner Geistesabwesenheit. Er hob den Kopf. „Ich geh!“, sagte er.
Ayas stampfte mit den Füßen auf. „So wie ich. Steh schon auf und geh!“
Und er machte sich davon. Dabei vergaß er ganz, seine wöchentliche Zuwendung einzustreichen. Vielleicht wollte er sie aber auch nicht nehmen. Er ließ Urhan in großer Verwirrung zurück. Was für eine Einsamkeit einen doch überfallen konnte, einen verhexte, erstarren ließ. Wie einen Berg. Aber konnte er denn bleiben?
Kurz danach, es war genau zwei Uhr nachmittags, brachte es Urhan nicht fertig, die Posten aus dem Grundbuch ins Hauptbuch zu übertragen, so sehr er sich auch bemühte, zu einem Abschluss zu kommen. Voll Unruhe zählte er die eingenommenen Geldscheine und steckte sie in die Hosentasche. Er legte die Bücher in den Rahmen des Rechenbretts, vergaß aber ganz, beides in die Schreibtischschublade zu stecken und diese abzuschließen. Die Mütze jedoch vergaß er nicht. Die trug er sommers wie winters. Während der Arbeit legte er sie auf den Tisch, beim Weggehen nahm er sie wieder an sich. Er nahm sie, setzte sie sich auf und knüpfte den Mantel zu. Er ließ den Blick durchs Kontor schweifen. Den Gehilfen gab er keine Aufgaben, sagte nur: „Ihr könnt gehen!“
Er wartete, bis sie ihr Essgeschirr zusammengepackt hatten und gingen. Plötzlich hatte er das Gefühl, etwas mitnehmen oder noch etwas erledigen zu müssen. Er sah um sich und dachte angestrengt nach, doch fiel ihm nichts ein. Nachdem er die Gaszufuhr der Glühstrumpflampe unterbrochen hatte, verließ er das Kontor. Er sperrte die Schlösser oben und unten an der Tür ab und warf noch einmal einen prüfenden Blick auf alles.
Dann ging er auf den Ausgang des Basars zu. Er drückte der Bettlerin Martha, die auf der Treppe an der Ecke der Passage saß, einen Fünf-Tuman-Schein* in die Hand und sagte: „Du zitterst ja wie Espenlaub, Martha!“
„Es ist schrecklich kalt geworden“, sagte die alte Frau.
„Gott segne dich!“
Urhan kehrte nochmals um. Hinten in der Karawanserei sah er die Lastenträger, die in ihrem Blechkanister ein Holzfeuer unterhielten. Überall lag Rauch in der Luft. Er deutete auf die unter den Gewölben aufgestapelten Säcke mit Pistazien und Sonnenblumenkernen und sagte zu Essma’il: „Ihr einfältigen Feueranbeter, ihr werdet diese Karawanserei noch einmal in Brand stecken.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er unter dem Gewölbe an einer Reihe von Säcken mit gerösteten Sonnenblumenkernen entlang, strich mit der Hand darüber und sagte, ohne sich direkt an Essma’il zu wenden: „Passt auch auf das Geschäft auf!“
Dann ging er auf die Pistaziensäcke zu, die auf der linken Seite bis hoch unter die Decke aufgestapelt waren und in den nächsten Tagen zu den Einzelhändlern geschafft werden sollten und ihm sicher noch vor Neujahr einiges an Gewinn einbringen würden. Er strich auch über die prallen Pistaziensäcke und warf nochmals einen Blick nach hinten. Die Lastträger hatten die Ohrenklappen ihrer Mützen heruntergezogen; sie nickten Urhan einen Gruß zu. Ihre Augen waren müde und tränten. Ganz langsam ging er die Passage des Basars entlang und hörte ein „Ssalam, Herr Urhan“.
Er wollte nicht aufsehen, erwiderte nur den Gruß, wer das auch immer gewesen sein mochte.
Er kannte diese Leute nicht, und er hatte auch nicht das Bedürfnis, sie zu kennen. Wie der Wind eilten sie nahe an einem vorbei.
„Wenn der Wind unter den Hutrand bläst, hebt er den Hut hoch und weht ihn weg. Pass auf!“, pflegte der Vater zu sagen.
Was waren das doch noch für angenehme Zeiten gewesen! Als Vater noch lebte, machte es unvorstellbar großen Spaß, auf der Terrasse des Hauses zu schlafen. Auch nachts war der Himmel blau. Und man hatte bunte Träume. Bis spät in die Nacht war aus der Küche das Klappern des Geschirrs zu hören, wenn Mutter und Aida abwuschen. Aidin wälzte sich so lange von einer Seite auf die andere, bis alle schliefen und er dann sein Buch öffnen und lesen konnte. Manchmal schien es mir, als ob er die Seiten des Buches geradezu fressen würde. Und am Ende waren’s auch die Bücher, die ihn zugrunde gerichtet haben. Aus dem Zimmer am Ende des Korridors war der Laut seines Lidschlags und seines Nachdenkens zu hören. Und die rolligen Katzen schrien auf den hohen Hofmauern.
„Was liest du denn da?“, fragte Vater.
Sicherlich bereitete er sich auf den Unterricht vor, denn er antwortete: „Ich mache Hausaufgaben, Vater.“
„Lern nur!“, meinte Vater. „Wir wollen doch sehen, was für große Leistungen du mal vorzuweisen hast.“
Er hatte die Straße erreicht und trat nun fester auf, damit der Schnee nicht an seinen Stiefeln hängen blieb. Im Straßengraben schaukelten verfaulte Orangen auf dem Wasser und gingen dann unter. Das Wasser schoss schnell vorbei. Der Himmel war ganz bedeckt von grauen, samtenen Wolken. Urhan blieb stehen und schaute nochmals hinüber zum rückwärtigen Teil der Karawanserei.
Er war unentschlossen, wusste nicht, was er tun sollte. Da war einerseits die Arbeit im Kontor, die Nachmittagskundschaft und die vielen Verpflichtungen; andererseits beunruhigte ihn auch die zehntägige Abwesenheit von Ssoudji*.
Seit dem frühen Morgen überlegte er hin und her, ob er gehen sollte oder nicht. Eigentlich schon seit dem vorigen Abend. Aber konnte er denn bleiben? Wenn er abends dieses große, kalte Haus betrat, richtete sich das Geraune weit zurückliegender Zeiten wie eine Mauer vor ihm auf und verstummte. Zu einer Kiefer mitten im Hof wurde es, wurde zur Tür, die verschlossen blieb. Dieses entfernte Geraune verdichtete sich zur Gestalt Yussofs, der, einem Stück Fleisch gleichend, mit ausdruckslosen Augen vor sich hinstarrte.
Wenn Aidin zu Haus festgehalten werden konnte, brauchte ich nur zu fragen: „Wo bist du, Ssoudji?“, und ein in einen langen Mantel gekleideter Mensch, mit einem Schal und Vaters altem Hut, kroch wie ein schwarzes Ungeheuer oben aus dem Loch und gab sich lautlos zu erkennen. „Kette mich doch nicht an, Urhan!“, bat er.
„Nicht Urhan“, entgegnete ich, „Herr Bruder!“ Und ich gab ihm eine hinter die Ohren. Der Hut flog ihm vom Kopf. Vaters alter Hut war der Grund dafür, dass ich mich zurückhalten konnte. Manchmal möchte ich ihm am liebsten eine runterhauen oder ihn oben an das Geländer der Veranda anketten. Aber sein lachendes Gesicht unter diesem alten, verblichenen Hut hält mich davon ab. Nichts zu machen.
Mutter sagte: „Du bist ganz ohne Gefühl.“
„Nein“, antwortete ich, „das bin ich nicht!“
Und ich bin’s wirklich nicht. Wenn du noch lebtest, Mutter, wäre dir das auch zu viel geworden. Auch du hättest dieses Haus nicht mehr betreten, wo das Wasser im Becken grün geworden ist, die Kiefernnadeln den Hof bedecken, die Kälte hinter den verstaubten Fenstern der Zimmer hockt und die Feuerstellen in der Küche unter Gerümpel verschwunden sind. Ein Kätzchen liegt schon seit zwei Monaten am anderen Ende des Hofes langgestreckt im Eis der Regenrinne und wird vom Eis immer weiter in die Länge gezogen. Wer hat Lust, jemanden zu rufen, um es herunterzuholen? Wer hat Lust, die Öfen anzuzünden? Die Decksteine oben auf der Mauer fallen herunter, einer nach dem anderen, das ganze Gebäude scheint erfroren zu sein. Niemand fegt, kein Gast kommt mehr. Die Gläser der Windlichter über der Haustür sind zerbrochen. Die leeren Zimmer erscheinen größer, und der Widerhall der Schritte hämmert auf das Hirn ein. Das Geräusch des Atems schallt. Man traut sich nicht mal mehr zu husten, es dröhnt im Schädel und quält einen. Von dem ganzen Umtrieb sind nur die Raben auf der Kiefer geblieben, die, dicker und älter geworden, auf den Ästen hin und her hüpfen und mit frecher Stimme ‚kalt, kalt‘ krächzen.
Er starrte auf die kahlen Bäume am Bürgersteig. Der Schnee hatte die Zweige heruntergebogen. Sicher würden sie beim nächsten Schneefall brechen. Auch die Menschen waren wie die Bäume: Immer lag schwerer Schnee auf ihren Schultern, seine Last war bis zum nächsten Frühjahr zu spüren. Das Schlimme war, dass die Menschen nur einmal starben. Doch was für eine schmerzhafte Plage dieses eine Mal doch war!
Er fasste in die Manteltasche, fühlte in deren Tiefe die Windungen des Stricks, den er schon morgens eingesteckt hatte, und mischte sich beruhigt unter die Leute. An der Ghanat-Kreuzung zog er seine silberne Taschenuhr heraus und warf gewohnheitsgemäß einen Blick darauf, ohne jedoch die angezeigte Zeit zu erfassen. Dann ließ er den Deckel zuschnappen und steckte die Uhr wieder ein. Mutter hatte immer gesagt, Aidin gehe zugrunde. Man müsse sich um ihn kümmern. Sie hatte mich sogar gefragt, wo denn dieses armenische Mädchen sei, vielleicht sei sie an allem Schuld.
„Nein, Mutter“, hatte ich geantwortet, „er ist nur müde. Ich bring ihn nach Villadarreh*; dort in der frischen Luft werden wir uns beide erholen.“
Als er am Geschäft des Uhrmachers Dorostkar vorbeiging, kam es ihm plötzlich in den Sinn, einen Moment stehenzubleiben und das Schaufenster anzuschauen. Sicher tausendmal war er im Laufe seines Lebens dort vorbeigekommen, doch diesmal betrachtete er mit besonderer Aufmerksamkeit die riesige runde Uhr von Herrn Dorostkar. Ihr Gehäuse war aus Kastanienholz, die Zeiger aus Erlenholz, das Zifferblatt war geschnitzt, und ihr rundes, gewölbtes Glas war gleichzeitig auch das Schaufenster. Zwischen Glas und Zifferblatt standen wie immer ein Dutzend Kaminuhren. Es war eine sehr schöne Uhr, die Herr Dorostkar da vor langer Zeit gebaut hatte. Sie war jedoch vor mehr als dreißig Jahren stehengeblieben, das hieß sie ging nicht mehr, seitdem auch das Herz von Herrn Dorostkar für einen Augenblick stehengeblieben war. Vielleicht hatte aber auch sein Herz ausgesetzt, als die Uhr aufgehört hatte zu laufen. Auf jeden Fall war beides zur selben Zeit geschehen, mit dem einzigen Unterschied, dass Herrn Dorostkars Herz langsam zu schlagen begonnen hatte und wieder klopfte, während die Uhr ein für alle Mal stehengeblieben war und Herr Dorostkar sie trotz all seiner Geschicklichkeit nicht mehr hatte zum Laufen bringen können.
Punkt halb sechs waren die Zeiger zum Stillstand gekommen. Um halb sechs Uhr nachmittags an einem heißen Sommertag im Jahre 1325 . Und jetzt, nach so vielen Jahren, standen sie immer noch. Herr Dorostkar machte sich hinter seinen Instrumenten am Werk einer Armbanduhr zu schaffen und dachte sicher an den einmal kommenden Tag, an dem er die Uhr wieder in Gang bringen würde. Dann würde er das wohltönende Schlagwerk zum Klingen bringen und so jedem beweisen, dass der Mensch alles vermag, was er will, vorausgesetzt, dass es nicht gegen die Natur ist. Das hatte der Vater zu Urhan gesagt, und Urhan pflegte es so den anderen weiterzugeben.
Wenn die Uhr wieder ginge, würde sich ein wunschlos glücklicher Herr Dorostkar auf dem Fußboden ausstrecken und sich dem Tode ergeben. Das hatte er im Laufe der letzten dreißig Jahre allen Einwohnern der Stadt gesagt.
„Auch das ist ein großes Unglück“, pflegte Vater zu sagen.
Doch Mutter meinte: „Sprecht nicht von diesem Verrückten.“
Jetzt, nachdem die Kraft der Jugend geschwunden ist, kann ich vieles nicht mehr ertragen. Ich brauche nur die Haustür aufzuschließen, und all die Menschen, die so voller Leben sind, voller Betriebsamkeit, fliehen. Eine entsetzliche Stille umfängt mich an der Tür, bringt mich die Treppe hoch und legt mich auf das aus allen Fugen geratene Holzbett und unter die vor Schmutz starrende Decke. Bis ich allmählich warm werde, ist es Mitternacht geworden; bei all dieser Müdigkeit und all diesen Grübeleien.
Wenn ich nachmittags wieder das Haus verließ, schaute ich immer bei Mutter vorbei. Mit ihr ging es zu Ende, sie war nichts als Haut und Knochen. Man hätte sie nur fest an der Nase zu packen brauchen, und schon wär’s aus gewesen mit ihr. In ihrem Zimmer, seit eh und je dem großen, dreitürigen im unteren Stock, roch es nach Knoblauch und abgestandener Luft, roch es wie nach dem Atem eines Schwindsüchtigen. Der Geschmack klebte an den Teegläsern und an den Untertassen und floss mit dem Tee die Gurgel hinab. Ich setzte mich an ihr Bett. Dabei war ich bemüht, ihr nicht in die Augen zu schauen.
Ich sagte: „Guten Tag, Mutter.“
Ich nahm ihre Hand und streichelte sie, ohne auch nur das Geringste dabei zu empfinden.
Mutters Augen waren starr an die Decke geheftet; sie lagen tief in den Höhlen, wie Schwalbennester am Stamm alter Bäume.
„Aidin, wo ist mein Aidin?“, fragte sie.
Meine Lider zuckten. Ich starrte auf das Blumenmuster des Teppichs, oder auch nirgendwohin, zwinkerte nur. Ich war doch auch ihr Urhan und war es doch nicht. Da war nichts zu machen. Ich hatte akzeptiert, es nicht zu sein.
Ich sagte nur: „Er muss irgendwo hier in der Nähe sein, Mutter.“
Mutter wandte einen Augenblick den Kopf. Sie entzog mir ihre Hand. Ihre weißen, knochigen Finger klammerten sich an den Bettrand.
„Bring ihn mir sofort her!“, sagte sie. „Verstanden?! Wenn du nicht auf ihn aufpassen kannst, dann binde ihn hier fest, vor meinen Augen!“
„Wo soll ich ihn denn suchen?“, fragte ich.
Mutter setzte sich auf. Immer wieder zeigte sie unwahrscheinliche Kräfte. Als ob sie sie gespeichert hätte; doch ich wusste nicht, wo.
„Hast du denn kein Gewissen?“, brüllte sie. Tränen kullerten über ihr bleiches Gesicht. „Nach wem bist du nur geraten?“
„Wo ist mein Aidin?“ Ihre Stimme erinnerte einen an das Zerreißen eines Stoffes.
„Mutter“, sagte ich, „reg dich nicht auf! Heute Abend noch find ich ihn. Ich versprech’s dir.“
„Kannst du denn nicht verstehen? Wo ist Aidin jetzt?“, entgegnete sie.
Er war hinter der Anushirawan-Schule. Dort spielte ein zwölf- oder dreizehnjähriges Kind auf einer Maultrommel, und er hörte zu. Der Speichel lief ihm aus dem Mund.
„Was tust du hier, du Ungeheuer?“, fragte ich.
„Ich bin nur einfach so hierhergekommen.“
„Was fällt dir bloß ein? Das war aber das letzte Mal! Los, komm schon!“, ereiferte ich mich.
Mutter war nervös und voller Unruhe. Zitterig und knochig. Sie packte mich fest am Jackenärmel.
„Wo ist er? Bist du denn taub?“
„Sicher läuft er einfach so herum, hinter der Schule, zum Teehaus, zum Akhawan-Garten“, meinte ich.
Das Weinen hatte sie ein wenig beruhigt, doch ihre Stimme bebte: „Er ist doch kein Kind mehr. Er ist neunundzwanzig Jahre.“
„Als ob ich meinem Bruder etwas Schlechtes wünschte!“, sagte ich. „Das tue ich doch nicht. Warum schiebst du mir immer an allem die Schuld zu?“
Sie streckte sich in ihrem Bett aus und zog das weiße Leintuch bis über die Brust hoch. So fest hatte sie das Tuch mit ihren Händen gepackt, als würde sie mich zerdrücken.
„Ich weiß nicht, was du ihm angetan hast“, sagte sie. „Auf jeden Fall aber befehl ich dir, gut auf ihn aufzupassen. Er verlangt doch nichts von dir. Nur ein Stückchen Brot und einen Platz zum Schlafen.“
„Mutter, um Gottes willen, sag das nicht! Sprich nicht immer so!“ Und ich weinte.
„Dann verkauf doch was. Nimm seinen Anteil und bring ihn irgendwohin!“
Am liebsten hätte ich Vaters Testament aus der Tasche gezogen und es ihr laut vorgelesen. Aber das ging natürlich nicht.
So sagte ich: „Mutter, ich versprech’s dir, ich bring ihn nach Teheran oder ins Ausland. Ich komm auch für die Unkosten auf. Ich muss nur noch einiges regeln, dann ..., ich versprech’s dir!“
Vater hatte in seinem Testament offiziell festgelegt, dass keiner seiner Erben das Recht habe, zu Lebzeiten den Besitz oder einen Teil des Besitzes an einen Dritten zu veräußern.
Abgesehen davon, was für eine Hinterlassenschaft war das schon? Einmal das Eigentum an einem Geschäft in der Passage des Basars der Trockenfruchthändler in der Karawanserei, ein Wohnhaus auf einem Grundstück von 480 m2 in der Lord-Gasse Nr. 3, einer Seitenstraße der Sheikh-Ssafiy-od-din Ardebili-Straße, und ein 1240 m2 großer Aprikosengarten nördlich von Sardab*. Und diesen Aprikosengarten hatte er auch noch Mutter überschrieben, um ihr nichts schuldig zu bleiben.
Mutter drückte ihr Taschentuch auf die Augen, wischte sich die feuchten Wangen ab und sagte: „Ich möchte nicht, dass er einsam und verlassen in den Bergen oder draußen in der Wildnis umkommt, nur das.“
„Sag so was nicht, Mutter!“
„Was wirst du ihm erst nach meinem Tode antun?“
Sie fing an zu schluchzen. Ich stand auf, drückte ihr ein Glas Wasser in die Hand und half ihr, sich aufzusetzen. Sie nahm einen Schluck und lehnte sich gegen die Rückenpolster. Ihr Schweigen konnte einen umbringen. Sie schaute einen nur an und zwinkerte mit den Augen. Man wusste nicht, sollte man bleiben oder gehen. Doch in ihren letzten Tagen war sie nicht mehr so rastlos wie früher. Nachdem nun fast ein Jahr verstrichen war, hatte sie das Unheil vergessen, hatte sich allmählich abgefunden.
Auch hatte sie weder die Kraft „Was hast du mit ihm angestellt, du Lump?“, zu brüllen noch die, sich zu widersetzen.
„Ich hab ihn doch nicht gehasst, Mutter“, sagte ich.
Sie jammerte, schlug sich mit der Faust an die Brust; stets hingen Tränen an ihren Wangen oder standen ihr in den Augen.
„Gott möge dich bestrafen!“, sagte sie.
„Fluch nicht, Mutter!“, beschwor ich sie.
“Wie sollte ich nicht fluchen, du Gottloser. Kann es mit dir ein gutes Ende nehmen? Du ...“
Nach und nach verschwand diese Trübsal verbreitende Stimmung, und als ich eines Tages mit Aidin aus der Karawanserei zurückkam, hatte sie für uns wunderbare gefüllte Weinblätter zubereitet. Wir aßen, und ich erzählte von einer Reise nach Astara*. Ich meinte, dass es nicht schlecht wäre, wenn Aidin und ich mal zusammen dorthin führen, um den Anblick der dichten Wälder zu genießen. Ich erzählte, dass die Wege dort von Brombeerhecken gesäumt seien; das Meer sei so klar, dass man bis zum Grund sehen könne, und dort gebe es eine neunzigjährige Jungfer, die Aidins Frau würde, wenn er sich nur etwas besser benähme. Aidin legte sich dann schwindlig und müde nieder. Mutter half mir, ihn in sein Souterrainzimmer zu schaffen.
„Aidin“, fragte sie, „möchtest du wieder dein früheres Zimmer haben, zusammen mit Urhan?“
„Was habt ihr da wieder ausgeheckt?“, meinte er nur.
Wir legten ihn aufs Bett.
Im Treppenhaus sagte Mutter: „Wenn er bloß nicht mehr erwachte. Ich kann ihn so nicht mehr sehen. All diese Würde, diese Vornehmheit, seine Güte, wo ist das nur geblieben?“ Wieder weinte sie und zog sich an den Stäben des Geländers die Treppe hinauf.
„Mutter“, sagte ich, „warum quälst du dich so? Glaubst du denn, dass er leidet? Bei Gott, er ist der zufriedenste Mensch auf der ganzen Welt. Er hat keinen Kummer und keine Sorgen, keine Tratten und keine Wechselschecks. Der hat’s doch gut.“
Sie ging zwei Stufen vor mir her. Doch als ich anfing zu lachen, drehte sie sich plötzlich um und haute mir eine runter, dass die Funken sprühten.
„Du Lump, über wen machst du dich lustig?“
Kalt und trocken, wie ein Befehl des Vaters, klang ihre Stimme. Mir schien, als ob die Wände Risse bekämen, Risse, die hinauf bis zur Decke liefen. Die ersten Anzeichen gehen bis in meine Kindheit zurück. Nach Aidas Tod ging unser Leben wie eine Lawine den Abhang zum Tal des Todes nieder, und keiner konnte oder wollte sie aufhalten. Es scheint mir von Kind an bestimmt zu sein, diesen heimtückischen, unverständigen Bruder auf den Rücken zu nehmen und ihn eine enge Passstraße hinauf zu schleppen. Doch er hat immer so getan, als wäre er völlig anspruchslos, und damit hat er nicht nur mich, sondern auch Vater zugrunde gerichtet.
Er ist an mein Blechauto gegangen, hat es ausgeweidet; nichts war ihm unmöglich, über alle machte er sich lustig. Und ich konnte es Vater nicht klarmachen, konnte es Mutter nicht klarmachen, dass sie ihm endlich Einhalt gebieten sollten. Was blieb mir da anderes übrig, als den Kopf gegen die Wand zu schlagen, so lange zu schlagen und zu brüllen, bis sich endlich einer um mich kümmerte? Eines Tages hatte er mein Fahrrad aus der Mauernische herausgeholt und fuhr um das Wasserbecken herum. Er drehte seine Runden so schnell, dass einem ganz schwindlig wurde. Wie einer Biene, die von einem lnsektenspray getroffen wurde. War es vielleicht meine Schuld, dass ihm Vater kein Fahrrad kaufte?
Von der Veranda brüllte ich zu ihm runter: „Steig von meinem Rad ab!“
Doch er drehte seine Runden nur noch schneller und lachte laut. Ich lief in den Hof, setzte mich in eine Ecke und schlug den Kopf so lange auf den Boden, bis ich ganz entkräftet zusammenbrach.
Vater saß auf der Veranda und aß Wassermelone. Bis ich meinen Kopf auf den Boden schlug, hatte er sich nicht gerührt, als aber mein Gesicht blutüberströmt war, kam er herunter, packte Aidin und schlug ihm so ins Genick, dass er drei Tage lang den Kopf nicht bewegen konnte. Mutter verfluchte uns, mich und Vater.
Diese liebevolle Mutter, deren Zuneigung ganz und gar Aidin galt, nicht ein einziges Mal hat sie gesagt: „Mein Urhan.“
Tagsüber schickte sie uns raus, und wir durften uns in der Nähe der Ventilatorenfabrik Lord herumtreiben. Wir gingen bis ans Ende der Gasse, wo die Fabrik in einer breiten, von Stacheldraht umzäunten Mulde lag. Eine zweiflüglige, hölzerne Tür schwang im Wind hin und her, und ein steiler Kiesweg führte bis zum eigentlichen Fabrikgelände hinab.
Nach alter Gewohnheit blieben wir da oben stehen und schauten von der Gasse aus runter. Die Fabrik dröhnte und produzierte in unwahrscheinlicher Geschwindigkeit Ventilatoren. Wir betrachteten die zerbrochenen Flügel, die in einer Ecke des Geländes aufgehäuft lagen.
„Los!“, rief ich.
„Wer zuerst dort ist!“, entgegnete er.
Wir rannten. Rannten den steilen Weg hinab. Die Taschen in unserer Hand waren schwer; sie pendelten vor und zurück und zogen uns hinter sich her. Der Lärm der Fabrik war so ohrenbetäubend, dass es einem Spaß machte zu brüllen. Wir konnten unser gegenseitiges Geschrei nicht hören. Mir war sehr heiß, und ich rannte schnell. Doch konnte ich Aidin nicht einholen. Seine Tasche schlenkerte vor meiner Brust. Ich wusste zwar, dass meine Beine durcheinandergeraten würden, aber ich vergaß alle Vorsicht, stürzte plötzlich kopfüber zu Boden und blieb der Länge nach liegen. Herr Farman kam aus seinem Glashäuschen heraus und stellte mich wieder auf die Beine. Mein Gesicht war blut- und tränenverschmiert, meine Beine schmerzten, und eine einschläfernde Trägheit war in meinem Körper. Nur mit Mühe konnte ich Aidin erkennen, der glücklich und zufrieden hübsche rote Ventilatorenflügel zusammenklaubte.
Vater schlug mit dem Gürtel auf ihn ein, Mutter versorgte meine Gesichtsverletzungen.
„Wie lange soll’s mit deinen Teufeleien noch weitergehen?“, fragte Vater. „Warum bist du nur so aufsässig?“ Und drosch weiter.
Mutter konnte an jenem Abend mein Nasenbluten nicht stillen. Vater zog Aidin am Ohr und rief: „Du hast ihm das Nasenbein gebrochen! Ist dir das klar?“
„Ich hab’s ihm nicht gebrochen“, antwortete Aidin. „Beschuldige mich nicht zu Unrecht!“
Vater ließ ihn nicht weiterreden und gab ihm eine saftige Ohrfeige.
„Es tut mir ja leid, dass er sich das Nasenbein gebrochen hat“, sagte Aidin, „aber was kann ich dafür?“
Tags darauf holte Vater einen Arzt, aber das half auch nichts; auch jetzt noch, mit vierzig Jahren, ist die eine Seite meiner Nase doppelt so dick wie die andere.
Er zog seine Taschenuhr heraus, warf einen Blick darauf, klappte sie zu und steckte sie wieder ein. Noch immer war er unentschlossen. Sollte er gehen oder nicht? Er fürchtete, in die Nacht zu kommen. Wie es seine Gewohnheit war, schlug er die offenstehenden Mantelseiten übereinander, ließ sie dann aber wieder los, ohne die Knöpfe zu schließen. Er fasste in die Tasche und befühlte die rauen Windungen des Stricks.
Eine heiße Erregung stieg ihm in den Kopf, und eine unvergleichliche Sicherheit strömte sanft durch seine Adern. Nein, er musste das unbedingt zu Ende führen. Dann würden sie ihn „Mörder“ nennen. Wer war das noch gewesen, der „Brudermörder“ gesagt hatte? Wo bist du jetzt nur, Mutter, um mich ungerechterweise zu beschuldigen und doch meine Sünden auf dich zu laden, mir einen Teil meiner Bürde abzunehmen? Aber ich schwör’s bei Gott, es ist nur zu seinem Besten. Er ist doch schon seit Jahren tot. Wo immer er sich aufhält, im Teehaus am Salzsee oder am Rande der Salzpfanne, er verströmt den Geruch des Todes, ist wie ein lebloses Denkmal seiner eigenen Vergangenheit.
Er schaute die Leute an. Jeder ging seiner Beschäftigung nach. Eine verhutzelte alte Frau wollte die Straße überqueren, war aber zu schwach dazu. Ein Junge steckte einem großen Schneemann zwei Kohlen als Augen ins Gesicht; manche hatten sich Plastiktüten über den Kopf gestülpt, und eine Frau im schwarzen Tshador* ging vorbei, die aussah wie die Spitze des Damawand*, so viel Schnee war auf sie gefallen. Sicher war sie aus einem der umliegenden Dörfer gekommen. Urhan ging immer weiter. Eine Kraft zog ihn aus der Stadt, zum Teehaus am Salzsee hin. Ganz langsam, in sich versunken, schritt er dahin, dass man glauben konnte, da stapfe einer müßig durch den Schnee, um seinen Speck ein bisschen zum Schmelzen zu bringen.
Ich konnte mich nicht mehr beherrschen, wollte nicht mehr wie üblich alles einfach in mich hineinfressen.
So brüllte ich: „Du Taugenichts, ich plag mich in diesem Sauladen seit zwölf Jahren ab, was verstehst du denn davon?“
„Bin ich vielleicht ein Niemand, dass ich tun soll, was du anordnest?“
„Ältere als du müssen meine Anordnungen befolgen, du Schreinerling!“
Er fuchtelte mit dem Zeigefinger, das war so seine Gewohnheit.
„Da bist einmal du, und da bin ich“ sagte er. „Schade, dass mir nichts anderes übrigbleibt. Schade, dass ich nicht all diesen Widerwärtigkeiten den Rücken kehren kann und mich um meine Schreinerei kümmern. Mein Gewissen ...“
„Sprich nicht von etwas, was du gar nicht hast!“, entgegnete ich.
Er sackte zusammen, schloss die Augen und setzte sich auf einen Stuhl. Ich wusste, wo ich ihn treffen konnte, um ihn außer Gefecht zu setzen.
„Vater wusste, was für ein Dreckskerl du bist. Nicht umsonst hat er dich Taugenichts genannt.“
„Wenn du glaubst, dass du mich mit solchen Beleidigungen dazu bringst, mich zurückzuziehen, hast du dich getäuscht. Wegen Vaters Testament muss ich wohl oder übel ins Kontor kommen. Und weder verkauf ich meinen Anteil, noch hab ich das Geld dafür, dir deinen abzukaufen.“
„Werd bloß nicht unverschämt! Ich werde dich schon Anstand lehren!“
Ich stand auf, wollte ihn schlagen, wollte ihm die Knochen brechen. Aber da kam Essma’il herein.
Er schloss die Tür hinter sich und sagte: „Liegt ihr euch schon wieder in den Haaren? Ja?“
Ich setzte mich hinter den Schreibtisch.
„Herr Urhan“, fuhr Essma’il fort, „sei’s, wie es wolle, aber er ist immer noch der Größere. Ja!“
Ich schlug auf den Tisch. „Ein Esel ist auch größer als ich. Muss ich ihn also ehren?“
„Schließlich seid ihr Brüder“, meinte Essma’il.
„Ich scheiß auf diesen Bruder!“
Dann bemerkte ich, dass Aidin das Kontor verließ. Er tat mir leid, aber ich konnte ihm nicht klarmachen, dass er ohne meine Erlaubnis nichts einkaufen sollte. Er hatte vierzig Sack Pistazien gekauft, die ich, hätte er nur abgewartet, fünf bis sieben, vielleicht sogar zehn Tuman pro Kilo billiger hätte kaufen können. Wenn es heiß wurde, im Hochsommer, da war für mich die richtige Zeit zum Einkaufen. Doch das kapierte er nicht.
Abends hatten wir in Mutters Beisein nochmals eine Auseinandersetzung.
„Schon gut“, sagte sie, „schon gut. Macht eine Rechnung auf und teilt alles, was ihr habt. Zwei Unternehmen, zwei Waagen, als ob’s zwei Läden wären. Jeder für sich.“
Ich schwieg, tat die ganze Nacht kein Auge zu und überlegte, wie ich die Sache wieder zurechtbiegen könnte. Mutter hatte alle Wege verbaut, hatte einfach gesagt: halbe-halbe, zwei Waagen, zwei Unternehmen. Wer würde da noch nach mir fragen? Obwohl unsere Kunden wussten, dass ich zwölf Jahre Erfahrung hatte, gingen sie doch geradewegs zum Bruder. Mich hielten sie für den Gehilfen. Am schlimmsten waren diese erbärmlichen Weiber, die ganz durcheinandergerieten, wenn sie ihn sahen.
Sie kamen im Tshador und mit einem Gesichtsschleier, aber sie brauchten ihn nur zu erblicken, da vergaßen sie alles, wurden ganz schwach: „Schade um Sie, dass Sie noch nicht verheiratet sind.“ Die hatten ja keine Ahnung von seiner Geliebten.
„Was willst du mit einer Armenierin?“, fragte ich ihn.
„Misch dich da nicht ein!“
Es war ein trüber Nachmittag. Ich ging auf den Friedhof, setzte mich an Vaters Grab und weinte.
„Vater“, rief ich, „woraus hast du mich gemacht, woraus ihn? Warum schauen mich die Frauen nicht an, warum zeigen sie mir höchstens ein böses Gesicht? Warum hat sich das schönste Mädchen der Welt in meinen Bruder verliebt? Wir sind doch Holz vom selben Stamm, oder nicht?“
Doch Vater schwieg, er konnte ja nicht einmal mehr husten. Die Raben hockten auf den Zweigen, und ein kräftiger Wind blies mir Staub in die Augen.
„Wie willst du sie zu deiner rechtmäßigen Ehefrau machen, du Muslim?“, fragte ich.
„Misch dich da nicht ein!“
Und er füllte die Handtasche des Mädchens mit Pistazien und klappte den Deckel zu.
„Du musst jetzt gehen, Ssurmeh.“ Beim Anblick ihrer honiggelben, bittenden Augen wurde mir ganz schwach. Nachts fand ich keinen Schlaf.
Er schwor: „Bei Gott, ich bring dich um, Bruder!“
Und nicht lange danach sagte Mutter: „Wo ist mein Aidin?“ Und meinte denselben Menschen, der einst einen maßgeschneiderten grünen Anzug trug, sich eine Krawatte umband, glatt rasiert war, nur mit einem dünnen Schnurrbart.
Voll Wohlwollen schaute ihn Mutter an und sagte lächelnd: „Da wird einem ganz warm ums Herz!“
Und jetzt fragte sie: „Wo ist mein Aidin?“
Wusstest du denn wirklich nicht, wo dein Aidin war? Er war doch immer entweder im Teehaus am Salzsee oder hinter der zerfallenen Mauer des Akhawan-Gartens. Manchmal auch ganz hinten in der Karawanserei, hockte mit den Lastträgem um einen Blechkanister herum und aß Melonenkerne, oder aber die aßen welche, und er gab Nachrichten aus dem Zweiten Weltkrieg zum Besten.
„Find ihn, egal wo er ist!“, sagte Mutter.
Jetzt aber gab es die Mutter nicht mehr. Im alten Stadtfriedhof schlummerte sie an der Seite des Vaters unter der schweren Last der Erde und des Schnees.
Die Straße war kalt und schmutzig. Über der ganzen Stadt lagen Nebel und Rauch. Urhan drehte sich einen Augenblick um und schaute zurück. Ihm schien, als stiege all der Rauch nur aus der Karawanserei auf und zöge durch den Eingang der Passage ab. Einen Moment spielte er mit dem Gedanken, umzukehren und denen zu sagen, sie sollten das Feuer löschen, es irgendwie unschädlich machen.
Gut, es ist Winter. Hier ist immer Winter. Sie sollen sich einen Kanonenofen kaufen, ein Abzugsrohr anbringen. Er wird das Geld dafür geben. Dann kümmerte er sich aber nicht mehr weiter darum und stapfte auf dem Gehweg stadtauswärts. Jetzt stieß er niemanden mehr an, und kein Handwagen stieß mehr gegen seine Beine; da flog auch kein von Kinderhand geworfener Schneeball mehr. Er zog zwar immer den Kopf ein, aber sein Körper war schwer, und wohl oder übel klebten die Schneebälle in seinem Nacken.
Es hatte kräftig geschneit, und es sah nach noch mehr Schnee aus. In der Hoffnung, eine Droschke oder ein Auto würde ihn mitnehmen, trat Urhan auf die Fahrbahn. Aber der Schnee hatte die ganze Stadt lahmgelegt. Kein Auto, kein Karren, überhaupt keine Gelegenheit, irgendwohin zu gelangen. Nur ein Polizei-Jeep mit Ketten durchpflügte den Schnee und hinterließ zwei parallel verlaufende Schlangenlinien.
Was sollte er jetzt tun? Bis zum Teehaus am Salzsee fuhr man eine halbe Stunde, aber würde er zu Fuß, zumal bei diesem Schnee, nicht in die Dunkelheit geraten, bis er dort ankam? Umso besser. Bei Dunkelheit würde der weniger leiden. Und keiner würde etwas davon bemerken. Und konnte er denn jetzt überhaupt noch umkehren? Wie, wenn er steckenbliebe? Nein, er würde rechtzeitig ankommen. Angenommen, die Nacht überraschte ihn; vielleicht würden ihn auch die Wölfe zerreißen. Zum Teufel! Jetzt hatte er das Ende der Sheikh-Ssafi-Straße erreicht, er bog nach links ab und ging weiter. Die trockene, eingerostete Stimme der Mutter, ihr schweratmiges Keuchen klangen ihm immer noch in den Ohren. Wenn er diesen Verrückten nicht fand, was dann? Nein, sicherlich würde er ihn finden, dort in dem Teehaus.
„Ich finde ihn, Mutter. Ich versprech’s dir!“ Diesmal hatte er sich das selbst versprochen. Zum allerletzten Mal.
Je weiter er sich von der Stadt entfernte, umso stärker wurde das Summen und Brummen in seinem Schädel. Und da war doch nichts. Keiner rannte durch den Schnee, da lag auch keiner lang ausgestreckt auf dem Boden. Nicht einmal Lastträger verbrannten da noch Holz in ihrem Blechkanister. Vor ihm lag nur die weiße Ebene, die kein Lebewesen zu durchqueren wagte. Der Himmel hatte dunkelblaue Flecken, und ein Rabe auf den Zweigen des vertrockneten letzten Baumes der Stadt krächzte ‚kalt, kalt‘.
Er hatte den Kragen hochgeschlagen. Wie eine alte Schildkröte kroch er durch die verschneite Ebene, schritt ganz ruhig aus, ohne Eile, wie es seine Gewohnheit war. Und er war mit dem Weg vertraut. Denn immer wieder war er ihn gegangen und hatte jenen im Teehaus am Salzsee aufgespürt.
„Du Ungeheuer“, sagte ich, „was treibst du hier?“
„Mein Herr“, sagte Aidin, „auch ich habe ein Herz. Ich hatte Lust auf einen Tee.“
„Halt’s Maul! Trink deinen Tee in der Karawanserei!“
Aidin faltete die Zeitung, die er in der Hand hielt, ordentlich zusammen und steckte sie sich in die Jackentasche.
Er sagte: „Man trinkt Tee, damit es sich nachher auch wirklich lohnt zu pissen.“
„Zum Henker mit dir! Ich bin’s wirklich müde.“
Es war ein sonniger Tag, auf den Hügeln gegenüber weideten die Schafe, und von ferne war der Lärm der Stadt zu hören. Ich hieß ihn mit einer Handbewegung in das Auto einsteigen.
„Nein“, sagte er.
„Was soll das heißen? Nein?“
„Komm, lass uns zu Fuß zurückschlendern, Herr Bruder. Im Auto dreht sich mir alles im Kopf. Ich krieg einen Anfall.“
„Zur Hölle!“, sagte ich und gab ihm eins hinter die Ohren. Das war das einzige, was wirkte. Er musste mich schließlich ernst nehmen. Und wie sollte ich ihn sonst unter diesen Umständen unter Kontrolle halten? Mashd Abbass, der Wirt des Teehauses, meinte, was immer auch sei, er sei doch ein Mensch und auf alle Fälle der Ältere. Da schlug ich nochmals zu. Er kroch auf den Rücksitz des Autos. Mit zitternden Händen und Schaum vor dem Mund. Vor der Karawanserei lud ich ihn ab. Seine Augen waren verdreht. Sie legten ihn in der Passage auf den Boden. Einer der Lastenträger, ich glaube, es war Essma’il, ritzte mit einer Ahle um seinen ganzen Körper herum eine Linie.
„Warum machst du das denn, mein Sohn?“, fragte ich ihn.
„Damit seine Krankheit da auf dem Boden zurückbleibt und sich nicht mehr erhebt.“
„Aha, wie meine Pilzkrankheit.“ Mir fiel der Hautpilz an meinem Hals ein. Ein trockener Pilz, ungefähr von der Größe eines Fünf-Rial-Stücks. Mit einem Blaustift hatten wir eine Linie ringsherum gezogen. Nach drei Tagen war er abgefallen und hatte sich nie wieder gezeigt.
Ein anderer Lastenträger wusch Aidin das Gesicht mit Wasser ab. Er hatte sich ihm auf die Beine gehockt. Nachdem sie ihm kaltes Wasser über den Kopf geschüttet hatten, richtete sich Aidin auf, als wäre er vom Schlaf erwacht.
Er zog aus dem Hosenbund eine alte Zeitung hervor und las: „Tags darauf brachte man die Nachricht, oh Prinz, dass Mah-Banu aus Schmerz darüber, dass du sie verlassen hast, alle Farbe aus dem Gesicht gewichen sei und dass sie wohl bald ihr Leben aushauchen werde. Komm und hab Mitleid mit den Unglücklichen! Da sprach er: ‚Befragt die Bitterorange, was ich tun soll!‘ Und sie befragten sie. Die Bitterorange öffnete sich, und jene Schöne im armseligen Gewand verankerte ihr Schiff in den Gewässern des Prinzen und stahl ihm sein Herz. Und Mah-Banu sprach: ‚Ich bin erlöst. Nur eine frische Weide kann das Pferd der Liebe zügeln. Es geziemt sich, dass diese Schöne das Land regiert, denn meine Herrschaft geht zu Ende ...‘“
Ich bemerkte, dass mich die Lastenträger spöttisch anschauten, als ob ich diesen Unsinn verzapft hätte.
„Schon gut, red nicht so viel“, sagte ich. „Iss ein paar Melonenkerne!“
„Melonenkerne, immer nur Melonenkerne! Bruder, warum dauern Tag und Nacht vierundzwanzig Stunden?“
Aus seinen Mundwinkeln tropfte immer noch Schaum, seine Kleider waren völlig durchnässt. Er zog eine andere Zeitung aus einem Hosenbein hervor und ging nach hinten in die Karawanserei. Er ging so, als ob er gerade einen Sieg über mich errungen hätte und ich nicht wüsste, warum Tag und Nacht zusammen vierundzwanzig Stunden dauern. Er dachte über viele solche Dinge nach, und seine Taschen waren voll von Papieren und Zeitungen. Sogar im Hosenbund hatte er welche stecken.
Er hielt die Zeitungen umgekehrt und gab Kriegsberichte haargenau wieder: „Gemäß der vorliegenden Statistik haben Tausende von Gefallenen und Vermissten Deutschland in den Untergang getrieben. Die Kriegsbeobachter sind davon überzeugt, dass in ganz Deutschland nur eine Person am Leben geblieben ist, Hitler. Aber das ist eine Lüge. Auch seine Geliebte weilt noch unter den Lebenden.“
Er las nicht wirklich, aber seine Augen schienen den Zeilen zu folgen. Und das mit vollem Ernst. Wer ihn nicht kannte, glaubte, er läse wirklich. Er sagte das aber einfach so, aus dem Gedächtnis. Sonst machte er keinen Ärger, keinen Verdruss, nicht mal Mühe. Still und verwirrt hatte er sich unter dem schweren Schild einer geheimnisvollen Welt verkrochen. Von früh bis spät war er mit einer Schüssel voll Joghurt-Suppe zufrieden.
„Ssoudji, deine Suppe ist kalt geworden“, sagten sie, „iss und lies später weiter!“
„Lasst mich doch! Was ich bisher vorgelesen habe, das stand nur auf dem Umschlag. Lasst mich euch erst mal den eigentlichen Brief vorlesen!“
Urhan war bis zu den Knien im Schnee eingesunken. Der Saum seiner Mantelschöße schleifte im Schnee. Was für eine seltsame Einsamkeit! Vater glaubte, man sei einsam, wenn man allein im Kontor saß. Er wusste nicht, dass man wirkliche Einsamkeit nur unter vielen empfinden konnte.
„Vater“, sagte ich, „ich habe mich jahrelang abgerackert. Wirf nicht alle in einen Topf! Ich hab diese Pistaziensäcke da auf meinem Rücken vierzig Stufen hinuntergeschleppt.“
„Ich will doch nur euer Bestes!“, entgegnete er.
Als Aidin das Abitur gemacht hatte, sagte Mutter: „Komm Urhan, iss auch von dem Kuchen, zu Ehren von Aidin!“
„Meine Güte“, sagte ich, „ich krieg von früh bis spät mehr als genug davon. Abgesehen davon, hat er denn den Gipfel des Damawand besiegt?“
„Warum hast du’s dann nicht geschafft?“
Nun gut, ich hab’s nicht geschafft. Und es war darauf nichts zu sagen.
Doch Vater meinte: „Urhan ist bis zur achten Klasse gegangen. Er kann lesen und schreiben, und mehr braucht es nicht.“ Und ich kann ja auch lesen und schreiben.
Jenes Jahr war das Jahr der Raben. Diese schwarzen Geschöpfe Gottes waren in die Stadt eingefallen. Jeden Tag fand Mutter ein paar Stück Seife. Sagte: „Das ist unrechtes Gut. Wer weiß, welchem Armen das gehört.“
Doch Vater meinte: „So was nennt man ein Geschenk des Himmels. Wasch nur damit, wasch!“
Die Laken leuchteten weiß an der Leine. Das stumpfe Wäscheblau hatte seine Spuren darauf hinterlassen. Bei Regenwetter, wenn die Sonne die Tücher nicht so schnell trocknete, würde die Farbe dann wieder ausgewaschen. Nein, nicht immer waren unsere Laken ganz weiß. Ein paar hellblaue Streifen zeigten sie oft. Aidin schlief am Fenster. Er hatte seine Geranien aufs Fensterbrett gestellt, hatte die Angewohnheit, das Wasser, das in seinem Trinkglas übrigblieb, an die Geranien zu gießen.
„Warum darf ich nicht an der Fensterseite schlafen?“, fragte ich.
„Du kannst doch auch von dort den Himmel sehen“, meinte Mutter.
Und ich konnte ihn sehen. Die Raben schlugen mit den Flügeln und hüpften auf den Zweigen der Kiefer und der Ahornbäume herum. Der Rauch unseres Ofens stieg zu ihnen auf. Und dann krächzten sie ‚kalt, kalt‘.
Als er sich ein gutes Stück von der Stadt entfernt hatte, überfiel ihn plötzlich große Unruhe.
Einen Augenblick sagte er sogar zu sich selbst: „Jetzt kehr ich um! Nein, doch nicht.“
Neuschnee lag über dem Alten. Urhan schaute zurück. Die Stadt war in Nebel und Kälte versunken. Wie eine alte Zeitung, die voll von Reden und Geschrei und Schweigen und Toten und Lebendigen ist, und die doch nichts davon preisgibt. Eine Zeitung, die zu lesen Urhan nie die Gelegenheit gehabt hatte. Er hatte sich nie darum gekümmert, und jetzt verlangte ihn danach. Mit dieser mehr als dürftigen Halbbildung, einem Haus, das einer Leichenwäscherei ähnelte, nur ein Unterschlupf war zum Schlafen, mit einem verrückten Bruder und all den Lieben auf dem Friedhof. Keine Frau mehr, kein Kind, keine Liebe. Der Teufel soll ihn doch holen!
Die Finger in den Taschen ächzten vor Kälte, die Fußsohlen empfanden schon gar nichts mehr. Er nahm die Mütze ab und legte sich die Hand auf die kahle Mitte seines Kopfes. Eine Welle von Kälte strömte über den warmen Kopf. Er blieb einen Moment stehen, betrachtete alles ganz genau.
Nun, da er außer den weißen Hängen der Hügel nichts mehr erkennen konnte, fühlte er sich noch einsamer. Wie gut er doch jetzt seinen Bruder Aidin verstehen konnte. Er wunderte sich darüber, wie sehr er ihn während der letzten zehn Tage vermisst hatte. Den verrückten Aidin, einen harmlosen Menschen, der niemandem etwas zuleide tat, der ihm aber auf die Nerven gegangen war. Er wusste nicht, was er mit ihm anfangen würde, wenn er ihn fände. Aber er wünschte sich, ihn zu sehen. Vielleicht war seine Anwesenheit dort hinten in der Karawanserei ein Trost für ihn gewesen. Wenn ich nachts oben im Zimmer schlief, wusste ich, dass da unten im Souterrain auch einer schlief. Ein Mensch mit einer Bildung, die nichts mehr wert war.
„Verrückt ist der, der einen Geldschein mitten durchreißt“, sagte er, und er hatte ganz vergessen, dass er einmal eine Persönlichkeit war, etwas darstellte.
Einer, dem tausend Augenpaare folgten. Er hatte sich mit der Tochter dieses armenischen Kaffeehändlers eingelassen. Ich weiß nicht, was für ein Verhältnis die miteinander hatten. Nachmittags strich er um die Kaffeehandlung „Ssuren“ herum. „Du bist wohl sehr in sie verknallt?“, fragte ich.
„In wen?“
„Sorg dafür, dass sie Muslima wird, und heirate sie“, meinte ich. „Ganz legal! Man sagt, Armenierinnen seien sehr temperamentvoll.“
Später merkte ich, dass er ganz toll vor Liebe war. Wenn er am späten Nachmittag nach Hause kam, beschäftigte er sich mit seinen Büchern, er las und schrieb bis spät in die Nacht. Vater wusste über alles Bescheid.
„Vater“, fragte ich, „was ist, wenn er sie wirklich heiratet?“
„Lass ihn wie Aida für immer und ewig in sein Unglück rennen. Die sind ja auch Zwillinge. Kein Wunder.“
Ich wusste, dass Armenierinnen sehr heißblütig sind. Und ich wusste, dass Aidin ihr eines Tages ein Kind machen würde. Aber ich hielt meine Zunge im Zaum und sagte nichts. Er parfümierte sich, zog sich schick an, frisierte sich, band sich eine Krawatte um und verschwand.
„Halfter der Zivilisation“, meinte Vater dazu.
Und nun hat Aidin all das vergessen. Jeder zweite Zahn ist ihm ausgefallen, immer in denselben ausgeblichenen Kleidern treibt er sich in der Karawanserei herum. War er da, war es ein Unglück. War er aber nicht da, war’s ein noch viel größeres Unglück. Und die Leute redeten vielerlei.
Nein, so hatte er es nicht gewollt. Hätte er plötzlich die Nachricht von Aidins Tod erhalten, dann hätte er ihn ehrenvoll bestattet, eine Trauerfeier für ihn veranstaltet, den siebten und den vierzigsten Todestag begangen und am Jahrestag seines Ablebens gedacht. Jahr für Jahr. Allen Leuten in der Stadt, bekannt oder unbekannt, hätte er ein Nachtmahl spendiert. Er hätte an der Moscheetür gestanden, ein Taschentuch an die Augen gedrückt und geschluchzt. So viele Tränen hätte er vergossen, dass allen klargeworden wäre, wie sehr er Aidin geliebt hatte.
Was sollte er tun? Er ging weiter. Bis zu den Knien sank er im Schnee ein. Lahm wie ein Maulesel. Er war nicht mehr jung, die Zeiten der Auflehnung waren vorbei. Er war vierzig und sah aus wie fünfzig. Ein Haus, ein Kontor auf dem Basar der Trockenfruchthändler, ein Aprikosengarten. Das war alles.
Vater pflegte zu sagen: „Wenn man es zu was gebracht hat, ganz egal in welchem Alter, dann fühlt man sich alt.“
Doch ich meinte: „Mannhaft fühlt man sich dann.“
Und nun lag so viel Schnee, dass nicht nur er, sondern die ganze Stadt zur Untätigkeit verdammt war. Die Gassen voller Schnee und Matsch. Das Wasser war über den Rand der Straßengräben getreten. Die Karawanserei lag verlassen und traurig. Die Stadt war unter dem Schnee gestorben.
Die Lastenträger hatten in ihrem Blechkanister ein Holzfeuer entfacht, hatten sich rund herum gesetzt und aßen Melonenkerne. Der Rauch von nassem und trockenem Holz erfüllte die Passage. Und Ssoudji hielt eine Zeitung in der Hand und las etwas vor. Er trug eine Mütze mit Ohrenklappen. Die Klappen hatte er über die Ohren gezogen und mit einem Band festgebunden. Mit seinem Tataren-Gesicht: hoch aufgeschossen, mit den schönen schwarzen Augen, trieb er sich bei den Lastträgern herum.
„Wo ist Aidin?“, fragte auch meine Frau.
Als Vater noch lebte, trug Aidin einen dunkelbraunen Anzug, er stutzte seinen Schnurrbart und hielt ein paar Bücher in der Hand.
Er sagte: „Vater, ich bin nicht hinter Euren Besitztümern her. Ich gehe.“
„Wenn der mal nicht zurückkommt und bittet und bettelt ...“, meinte Vater.
Beide waren sie starrsinnige Dickköpfe. Vater hatte besonders ihn unter moralischen Druck gesetzt.
Er hatte gefragt: „Aidin, warum hast du dein Gebet versäumt?“
„Ich war bis spät in die Nacht wach.“
„Warum, mein Sohn?“
„Ich habe Aufgaben gemacht.“
Da polterte Vater los: „Das Gebet fällt also deinen Sperenzchen zum Opfer!“
Seine Stimme klang kalt wie ein Peitschenknall. „Es ist Donnerstagabend. Führt die religiösen Waschungen durch und sprecht eine Sure aus dem Koran!“
Ich rannte schnell zum Waschbecken, führte die Waschungen aus und sprach laut und vernehmlich im Zimmer des Vaters mein Gebet.
„Wo ist dieser Tunichtgut hingegangen?“, fragte Vater.
„Er ist in seinem Zimmer“, sagte Mutter
Vater schaute böse drein. Er konnte einfach nicht ruhig sitzen bleiben, ging im Zimmer herum.
Er fragte: „Was tut er denn da?“
„Er wird wohl beten“, antwortete Mutter.
„Verflucht, warum betet er nicht hier?“
„Aidin stellt sich nicht gerne zur Schau!“
Da sagte ich: „Komisch, ich dachte immer, er betet nicht gern.“
„Was geht das dich denn an?“, erwiderte Mutter.
Und sie sprach das ‚geht – das – dich – an‘ so klar und deutlich aus, wie ich es bisher noch bei keinem gehört hatte. Vater lachte und stellte sich zum Gebet hin.
Mutter sagte zu mir: „Was auch immer sein mag, er ist auf jeden Fall älter als du. Schäm dich!“
Sie war aufgebracht. Mager und aufbrausend. Sie wusste, dass sich Vater auch beim Beten nichts entgehen ließ und alles beobachtete.
„Wenn euer Vater seiner Zunge freien Lauf lässt, was kann man da von dir erwarten?“, meinte sie.
Ich ging dann auf unser Zimmer. Aidin lag bäuchlings auf dem Bett und las „Vater Goriot“. Vater betrat eigentlich nie unser Zimmer, aber an jenem Abend kam er. Er klopfte ein paarmal an die Tür und trat dann ein.
„Was liest du da?“, fragte er.
Aidin sprang auf. Das Buch hielt er in der Hand. Die Arme vor der Brust verschränkt, stand er aufrecht da. Ich sah deutlich, wie seine Hand zitterte.
„Ich hab dich gefragt, was du da liest?“, wiederholte Vater. Er kniff die Augen zusammen und ließ den Blick durchs Zimmer wandern.
„Vater Goriot“, antwortete Aidin.
„Was ist das, dieser ‚Vater Goriot‘?“
Aidin hatte einen Finger in dem Buch stecken, die übrigen zitterten. „Es ist die Lebensgeschichte eines alten Mannes.“
„Und wer ist der?“
„Vater Goriot.“
Ich lachte.
„Halt’s Maul!“, herrschte mich Vater an. Und zu Aidin: „Was tut denn dieser Vater Soundso?“
„Er macht Pasta.“
„Was?“
„Pasta.“
„Was?“
„Er macht Nudeln.“
„Und was tust du eigentlich?“, fragte Vater.
Aidin schwieg.
Immer noch untersuchte Vater das Zimmer mit den Augen. Er war klein von Gestalt, und mit dieser runden Brille mit den Hornbügeln und mit der gefurchten Stirn wirkte er so respekteinflößend, dass man zu Eis erstarrte, das heißt, Aidin sagte immer, dass er eine Respektsperson sei.
„Man ist wie festgefroren“, meinte er. „Ich weiß auch nicht, warum ich vor Vater Angst habe. Hast du denn keine Angst vor ihm, Urhan?“
„Nein, der Vater ist der Vater. Da gibt’s nichts zu fürchten.“
Das hatte er gesagt, als wir im Süden der Stadt herumbummelten, dort, wo die Frauen zum Waschen hingehen.
„Hast du ihn je lachen sehen?“, fragte er.
„Im Geschäft macht er von früh bis spät Späße und lacht.“
„Ich hab ihn ja auch gern, aber ich fürchte mich vor ihm.“
Er schaute den Schwalben nach, die über uns hinwegflogen. Wie sollte er wissen, was diese hübschen, kleinen Vögel einem Menschen antun können? Als die Frauen mit der Wäsche fertig waren und weggingen, machten wir uns auf den Weg zur Stadt. Sie trugen die Wäsche auf dem Kopf, und wir schauten sorg- und gedankenlos zu.
Vater warf einen Blick auf die anderen Bücher im Regal und drehte sich dann plötzlich um.
„Hundesohn, liest du wieder solchen Quatsch?“
Er nahm ihm das Buch aus der Hand und riss den Umschlag ab. Dann riss er den Rücken durch und zerriss die Seiten in so kleine Fetzen, dass der ganze Boden davon bedeckt war. Er riss und ließ die Schnipsel flattern.
Und brüllte: „Bring mir bloß kein solches Gefasel mehr ins Haus!“
Als er rausging, warf er einen Blick auf Aidins dünnen Schnurrbart, der auf seiner Oberlippe spross, und fragte: „Wen willst du damit nur rumkriegen?“
Ich konnte deutlich sehen, wie es unter Aidins Lidern zuckte. Während ich die beiden beobachtete, klopfte ich mit den Fingerspitzen gegen die Zimmertür, wie es so meine Gewohnheit ist.
Vater deutete auf meine Hand, die hinter dem Rücken versteckt einen hübschen Rhythmus trommelte, und schrie: „Hör auf damit!“
Noch am selben Abend bekam Aidin ein anderes Zimmer.
„Jetzt sofort“, sagte Vater, „und keine Widerrede!“
„Warum?“, fragte Mutter.
„Weil man einen faulen Zahn ausreißen und wegwerfen muss, damit die gesunden Zähne gesund bleiben.“
Mutter fegte lustlos das Souterrain aus. Sie sagte: „Am Abend – das ist kein gutes Vorzeichen.“
„Kehre!“, sagte Vater. „Diskutier nicht!“
Mutter breitete einen Teppich aus, und wir schlugen Aidins Bett dort auf. Noch am selben Abend. Vom Hof führten sieben Stufen zu dem Zimmer hinunter. Es war dunkel und roch nach Essig und dem Saft von sauren Trauben.
Vater hatte gesagt: „Wenn sich eine Gelegenheit bietet, muss man sie wahrnehmen.“
Und deshalb schob ich auch noch am selben Abend mein Bett ans Fenster und war ganz versunken in den Anblick des unermesslichen Himmels. Die Sterne schienen sich vermehrt zu haben, der Rauch des Ofens ringelte sich in die Luft. Sicherlich würden morgen die Raben ihr ‚kalt, kalt‘ krächzen.
In jener Nacht träumte ich von einem Garten mit goldenen Bäumen. Unsere Gasse war breiter geworden, die Ventilatorenfabrik mit ihren roten Dächern hatte sich aus ihrer Mulde erhoben und lag nun auf einer Ebene mit der Umgebung. Und ich ging zur Schule. Dann sah ich, dass ich tot war.
Als ich morgens Mutter diesen Traum erzählte, meinte sie: „Du wirst ein langes Leben haben, mein Lieber.“
Der Schnee bestand aus zwei Schichten. Bei jedem Schritt sank er ein, aber darunter war der Schnee verharscht, hart wie Stein. Er hatte das Gefühl, als wären seine Füße nackt. Bis tief in sein Inneres fühlte er den Schmerz. Darum trat er auch nur leicht auf. Obwohl er vormittags in der Stadt nach Aidin gesucht, den Volksgarten und den alten Friedhof durchkämmt hatte, fühlte er keine Müdigkeit. Nur die eisigen Füße machten ihm zu schaffen.
Von dort, wo er gerade stand, brüllte er: „Ssoudji!“
Doch seine Stimme trug nicht, wurde vom Schnee verschluckt. Und er ging weiter.
Eines Tages hatte Vater einige von Aidins Büchern mit ins Kontor gebracht. Vom Morgen an zog es ihn immer wieder zu den Büchern, er blätterte darin, aber so viel er las, er konnte nichts verstehen. Er bewahrte die Bücher auf, bis Wachtmeister Ayas in die Kanzlei kam.
Der sagte: „Djaber, wo brennt’s denn? Hier bin ich!“
„Ich hab was Wichtiges“, sagte Vater, deutete auf die Bücher und bat: „Schau dir die mal an!“
Ayas nahm die Bücher in die Hand, warf einen Blick auf die Titel, wog alle drei, eins nach dem anderen, auf der flachen Hand und fragte dann: „Woher stammen die?“
Er kniff ein Auge zu und wartete ab.
„Frag nicht!“
„Lass mich mal sehen, was da steht!“ Und er buchstabierte laut die Titel: „O-d-y-s-s-e-e“.
Er schaute Vater an: „Woher hast du die?“
Dann entzifferte er den zweiten Titel: „Der Garten des Epi...kur“. Den dritten las er schon gar nicht mehr. Fragte nur: „Wem gehören die?“
„Aidin.“
„Deinem Aidin?“
Ganz besorgt erwiderte Vater: „Ja, meinem eigenen Aidin.“
„Um Gottes willen! Um Gottes willen!“, stöhnte Ayas.
„Ich wollte aus ihm einen beispielhaften Menschen machen. Doch daraus ist nichts geworden.“
Vater rieb sich die Hände und fragte: „Wo ist denn der Garten des Epikur?“
„Da liegt der Hase im Pfeffer!“
„Wo also?“
„Schlechte Zeiten!“, sagte Ayas. Er verstummte einen Augenblick. Dann neigte er den Kopf dem Vater zu. „Du hast doch davon gehört, dass die Kommunisten einen Park angelegt haben und dort unsere Jugend mit ihren Ideen verführen!“
Er steckte die Bücher in eine Tüte und ging, ohne wie sonst Pistazien zu essen, wutentbrannt weg. Sagte, dass er sie mitnähme, um sie zu vernichten, meinte, wir sollten gut auf Aidin aufpassen.
Und Vater sagte: „Gott möge dich uns lange erhalten.“
An der Tür drehte sich Ayas um und sagte kopfschüttelnd: „Wenn’s auch meinen Kopf kostet, dann war’s für unsere Freundschaft, Bruder.“
„Was täten wir nur ohne Ayas?“
Vater setzte sich einen Moment an den Schreibtisch, senkte den Kopf. „Komm, Urhan!“, rief er dann.
„Wohin?“
„Wir wollen zu Hause vorbeischauen.“
Er gab den Lehrlingen eine Aufgabe und ermahnte sie, gut aufzupassen.
Dann setzte er den Hut auf, und wir machten uns auf den Weg. Niemals ging Vater um diese Zeit nach Hause. Es war zehn Uhr vormittags. Wir schritten eilends aus. Ich wusste nicht, was er vorhatte.
Als wir daheim angekommen waren, fragte er Aida: „Wo ist Aidin?“
Aida erblasste. Mit zitternden Lippen sagte sie, sie wisse es nicht. Vater schob sie zur Seite und ging auf das Souterrain zu. Er blieb oben an der Treppe stehen.
„Urhan!“ Ich sprang vor. „Hol alles rauf, was an Büchern und Heften und Geschreibsel da ist!“
Ich stieg ins Souterrain hinab. Die Bücher in den Regalen, die Hefte und Bücher und Manuskripte, die unter dem Bett lagen, alles holte ich rauf, nahm es unter den Arm und warf es dort neben dem Wasserbecken zu Boden, wo Vater stand und wohin er mit dem Finger deutete. Aida stand weinend und hilflos am Küchenfenster. Und Vater war so in Rage, dass Mutter sich nicht zu zeigen wagte. Sicher beobachtete sie uns von irgendwoher.
„Ist das alles?“, fragte Vater.
„Ja!“
Vater schüttete Petroleum darüber, und ich zündete ein Streichholz an. Wie die Flammen züngelten, und wie sich die Seiten krümmten! Wie ein Mensch in letzten Todesqualen. Sie bogen sich und wendeten sich, leuchteten golden auf, verfärbten sich braun und wurden schließlich schwarz.
Vater starrte in das Feuer, schaute ein bisschen genauer hin und sagte: „‚Vater Goriot‘. Urhan, ist das nicht ‚Vater Goriot‘?“
Ich sah, wie das Buch gerade aufloderte.
„Doch“, sagte ich.
„Hab ich’s denn damals nicht zerrissen?“
„Er hat es sich noch mal gekauft.“
„Und ich vernichte es noch einmal!“
Als dann die Flammen in sich zusammengesackt waren, wuschen wir die Asche weg und gingen wieder ins Kontor. Auf den viereckigen Klinkern, mit denen der Hof gepflastert war, blieb aber ein schwarzer Fleck zurück, als ob man dort ein schwarzes Tier mit einer Schaufel plattgedrückt hätte. Aida stand hinter dem Fenster, und ich wusste nicht, was jetzt passieren würde.
Vater sagte nur: „Jetzt komme, was da wolle.“
Als Aidin am Abend den Fleck neben dem Wasserbecken sah, blieb er einen Moment dort stehen. Dann ging er voll Angst und Bangen auf das Souterrain zu. Und an jenem Abend kam er nicht wie sonst zum Abendessen herauf. Ich hatte von oben zugeschaut. Er war in sein Zimmer gegangen und hatte sofort wieder das Licht ausgelöscht. Vermutlich hatte er sich schlafen gelegt. Und beim Abendbrot wünschte sich keiner, dass Aidin mit dabei wäre.
In der Feme erblickte er den grünen Salzsee, und sein Herz fing an zu klopfen. Er wusste nicht, wie ihm diesmal beim Anblick Aidins zumute sein würde. Die Erregung über dieses Wiedersehen und der Schmerz in den eisigen Füßen machten ihn ganz unruhig. Nach ein paar Schritten sah er die Salzpfanne tot und erstarrt unter dem Schnee liegen. Auch der steinerne Sitz an deren Saum war vom Schnee bedeckt. Kein Aidin.
Der hatte gesagt: „Wie sehr wünschte ich mir, dass sich diese Zugvögel hier am Strande niederließen!“
„An welchem Strand?“, fragte ich.
„Siehst du nicht die Meeresvögel?“ Er saß auf seinem steinernen Thron und schaute zum Himmel.
„Welche Vögel?“
„Der da mit dem schwarzen Streifen am Hals, das ist der Friedensvogel.“ Über das ganze Gesicht strahlend verfolgte er eine Linie am Himmel.
Mir war die Lust vergangen. Auch hatte ich das Kontor einfach nur Gottes Schutz anbefohlen.
„Schon gut“, sagte ich, „steh auf, wir wollen gehen!“
„Sieh doch, Urhan, voll Inbrunst schlagen sie mit den Flügeln!“
Langsam ging er mir auf die Nerven. Wenn ich ihn gelassen hätte, hätte er bis zum Abend seinen Hirngespinsten nachgehangen.
„Hör schon auf, du Vieh!“, sagte ich.
Seine Miene verfinsterte sich. Er warf mir einen Blick zu.
„Ich bin ein Mensch, mein Lieber.“
„Ja, du bist ein Mensch. Ganz recht. Aber jetzt steh auf!“
Da schaute er nochmals zum Salzsee zurück.
„Was ich noch sagen wollte, wärst du damit einverstanden, wenn wir ins Wasser gingen?“
„Schau dir doch die Sonne an! Sie geht bald unter. Wir müssen zurück, bevor es dunkel wird.“
Damals kam mir die Zeit in den Sinn, als Vater noch lebte und wir frei und ledig nachmittags baden gingen.
Aidin pflegte zu sagen: „Schau, Urhan, kein Tierchen, kein Insekt. Dieses Wasser stößt alles Überflüssige ab. Sieh dort drüben! Der ganze Abfall, die Blätter, alles was unnütz ist, wird von den kleinen Wellen ans Ufer geschwemmt.“ Er tauchte im Wasser unter und redete. Seine glatten schwarzen Haare hingen ihm in die Stirn. Mit jedem seiner kräftigen Stöße glitt er weit hinaus. Das Wasser war salzig und bitter, und wir spuckten immer wieder aus.
„Mir wird’s allmählich kalt“, sagte ich. „Sieh doch die Sonne an!“ Ich wollte, dass wir nach Hause zurückkehrten. Doch Aidin konnte sich nie losreißen und schwamm nochmals in den Salzsee hinaus.
Er schaute um sich und erblickte das aus gestampftem Lehm errichtete Gebäude des über dem Salzsee gelegenen Teehauses. Er zweifelte nicht daran, dass Aidin dort war und mit seinen Zeitungen und Papieren auf der Holzbank saß. Seine Zähne sind verfault, er kann nur noch mit Mühe sprechen. Vor mir hat er höllische Angst, und er gehorcht meinen Befehlen wie ein friedfertiges Lamm.
Damals stand ich vor den angelaufenen Fensterscheiben des Teehauses. Es war Herbst, und ein kalter Wind wehte. Drinnen sah ich Aidin mit gekreuzten Beinen auf einer Holzbank sitzen und in einer Zeitung lesen. Er war ganz ins Lesen vertieft und fuchtelte mit dem Zeigefinger in der Luft herum. Vor ihm stand ein leeres Teeglas. Als ich die Tür öffnete, fuhr er zusammen.
„Was tust du hier, Junge?“, fragte ich.
„Vater, ich bin hierhergekommen, um die neuesten Nachrichten vorzulesen.“
Ganz deutlich sah ich das Zittern seiner Hände und das Zucken in seinem Gesicht.
„Ich bin doch Urhan“, sagte ich lachend.
„Versuch nicht, mich reinzulegen, Vater!“
„Wozu bist du hierhergekommen?“
„Mir war’s so schwer ums Herz. Hab an Aida gedacht. Ich weiß nicht, was aus ihrem Ssohrab geworden ist. So schwer war’s mir ums Herz, Vater!“
Dann kniff er plötzlich die Augen zusammen und fragte: „Glaubst du wirklich, dass sich Aida selbst verbrannt hat?“
„Du darfst nicht alles vor den andern ausposaunen“, sagte ich, „und du hättest nicht herkommen sollen.“
Mashd Abbass, der Wirt dort, meinte: „Herr Urhan, wenn er halt herkommen will, lassen Sie ihn doch. Was stört Sie das?“
„Die Mühe mit ihm habe ich! Er kommt von alleine nicht mehr zurück. Sooft er hierherkommt, muss ich hinter ihm herlaufen.“
„Wohin gehen wir jetzt?“, wollte Aidin wissen.
„Mutter fragt unentwegt: Wo ist mein Aidin? Du weißt doch, dass es ihr nicht gutgeht. Warum quälst du sie da? Warum quälst du mich?“
„Letztendlich haben diese Zuhälter nicht zugelassen, dass unser Volk eine Nationalregierung bekommt. Verstehst du, Herr Bruder?“
„Ja, ich versteh‘s“, antwortete ich. „Steh auf und lass uns gehen.“ Und wir machten uns auf den Weg. Damals war Aidin in seinen Dreißigern, aber die Haare an den Schläfen waren ergraut.
„Ist das nicht seltsam?“, meinte Mutter. „Ist das nicht ungewöhnlich für sein Alter?“
Draußen wehte ein kalter Wind. Auf dem ganzen Weg zur Stadt zurück redete er ununterbrochen, und ich fragte mich, wann er das alles gelernt hatte. Er hatte ein erstaunliches Gedächtnis und kannte wunderschöne Märchen.
Aber im nächsten Moment konnte er sagen: „Herr Bruder, ich habe gehört, dass es hier im Schnee viele Rebhühner gibt. Hättest du einen Sack mitgebracht, hätte ich dir hundert gefangen.“
„Jetzt gibt’s doch keinen Schnee!“, meinte ich. „Bis zum Winter ist’s noch lange hin.“
„Doch, doch. Da ist doch welcher. Du siehst ihn nur nicht. Voll von Rebhühnern. Dort auf dem Berg da!“
„Meinetwegen“, sagte ich. „Was willst du damit anfangen?“
„Weiß ich nicht!“ Und er blieb stehen, in den Anblick der Berge versunken, die die untergehende Sonne violett gefärbt hatte. Langsam ging er mir auf die Nerven. Auch war ich schrecklich hungrig.
„Red nicht so viel!“, sagte ich. „Komm schon, sonst hau ich...“
Darauf sprach er kein Wort mehr. Wie ein Kind lief er hinter mir drein. Und wir ließen den eingesunkenen Lehmbau des Teehauses hinter uns.
Die Dämmerung war hereingebrochen. Er freute sich schon darauf, sich im Teehaus aufzuwärmen. Wie er so darauf zuging, rieb er sich die Hände. Er versuchte, mit den Füßen auf den Boden zu stampfen und in die Hände zu hauchen, aber all das nützte nichts. Er musste dorthin gelangen; in der angenehmen Wärme neben dem Samowar* würde er es sich bei zwei Glas Tee mit Zucker wohl sein lassen und Kälte und Müdigkeit vergessen. Er stapfte weiter. Bei jedem Schritt sank er ein. Vor der Tür des Teehauses blieb er stehen.
„Komisch!“, sagte er leise.
Die Fensterscheiben waren zerbrochen, und bis halb in die Teestube hinein lag Schnee. Kein Samowar, keine Sitzbänke, auch nicht das geringste Anzeichen von Leben. Nichts! Es war wie eine verlassene Leichenwäscherei, wo die Aasfresser sich wegen des Geruchs, der noch an den Mauern hing, niedergelassen hatten. Die Wände waren mit Kohle bekritzelt. Über einer Plattform im Hintergrund der Teestube zogen sich die schwarzen Rauchspuren eines großen Brandes bis hinauf unter die Decke. Auf der rechten Seite häuften sich die Trümmer der eingestürzten Decke. Auf dem Sockel für den Samowar lag das Skelett eines Tieres und machte klar, dass Raubtiere bei ihrem Fraß dort oben gestanden hatten. Vielleicht hatte ein Wolf im Winter vor den hungrigen Augen seiner Jungen jenes Tier gerissen und dann dort oben in aller Ruhe die Knochen so abgenagt, dass man hätte meinen können, sie seien mit einer Feile bearbeitet worden.
Urhan sah sich um. Nein, keine Spur von Aasfressern. Er wandte den Kopf. Wozu also war er hierhergekommen? Was sollte er jetzt tun? Plötzlich hörte er einen Ton. Er lauschte; etwas bewegte sich. Er hörte noch genauer hin. Es war das Geräusch eines Tieres. Von Angst erfüllt ging er leise um das Teehaus herum. Jetzt hörte er deutlich ein Pferd wiehern. Quietschend öffnete sich die Stalltür, und da erschien ein verhutzelter alter Mann, der eine Pelzmütze trug. Wie auf einem altertümlichen Gemälde. Ganz mechanisch nahm Urhan die Mütze ab und hielt sie zwischen den Händen. Er fühlte, dass etwas Geisterähnliches seine Beine heraufkroch, seinen ganzen Körper durchzog und ihn durch den Kopf wieder verließ. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt, die Knie wurden ihm weich, sein Blick war wie gebannt, bis sich der Alte bewegte. Jetzt spürte er das schnelle Schlagen seines Herzens.
Er fragte: „Wer bist du?“
„Dieser Schnee hat uns alle untergekriegt“, meinte der Alte.
Urhan trat einen Schritt vor.
„Man muss wirklich zäh wie Leder sein.“ Und er musterte den Alten von oben bis unten. Er trug einen Stutzer und an den Beinen schwarze, bis zu den Knien reichende wollene Wickelgamaschen.
„Wir sitzen hier fest“, sagte der Alte und trat zur Seite.
Urhan ging in den Stall hinein. Noch vor der Tür stampfte er kräftig auf. Der Schnee fiel von seinen Füßen und von seinen Mantelschößen ab.
„Feuer“, sagte er, „hast du denn kein Feuer angemacht?“ Er schaute überall herum. Es war dunkel, und es roch nach Tieren.
„Hast du keins angezündet?“
Ganz verwundert schaute ihn der Alte an. „Womit?“
Urhan zitterte. Die Beine schmerzten ihn und die Feuchtigkeit war ihm unter die Kleider gekrochen. Er hatte Mühe, seine Gedanken zusammenzuhalten.
Er sagte: „Hier war doch ein Teehaus. Oder nicht?“
Der Alte setzte sich auf einen Saumsattel. „Ich weiß es nicht.“
„Doch! Hier war ein Teehaus. Nachdem Mashd Abbass krank geworden war, ging es immer weiter bergab damit. Wer war noch der Pächter?“
Er schaute sich um. Da hinten standen ein Pferd und zwei Esel dicht aneinandergedrängt; die Köpfe hatten sie in einen Futtersack gesteckt. Der Alte hatte einem Esel den Saumsattel abgenommen, sich daraufgesetzt, und zündete eine Zigarette an der anderen an.
„Gehst du zur Stadt?“, fragte Urhan.
„Nein“, antwortete der Alte mit rauer Stimme. „Wohin dann?“
„Nach Ram-Assbi.“
„Aber doch nicht jetzt!“
„Jetzt käme ich in die Nacht. Ich warte, bis es wieder hell wird. Dann breche ich auf.“
Urhan schwieg. Er wollte nicht alleine bleiben und fürchtete, der Alte könnte seine Meinung ändern.
Er sagte: „Zu dieser Jahreszeit kennen die Wölfe keine Gnade.“
Der Alte zündete sich wieder eine Zigarette an.
„Die Wölfe kennen zu keiner Zeit Gnade. Im Dorf haben sie bei helllichtem Tag drei Menschen aufgefressen.“
Er erhob sich, nahm auch dem anderen Esel den Sattel ab und warf ihn dem anderen gegenüber auf die Erde. Urhan, der bisher im Stall hin- und hergegangen war und immer wieder mal fest aufgestampft hatte, setzte sich und schaute nach draußen. Weiß war es und kalt. Er rieb sich die Hände, löste die Schnürsenkel seiner Stiefel, zog die Füße heraus, schlüpfte aus den Socken und umklammerte die Füße mit den Händen.
„Ich bin Urhan“, sagte er.
„Urhan? Welcher Urhan?“, fragte der Alte.
„Der Bruder von Ssoudji.“
Der Alte warf ihm einen prüfenden Blick zu.
„Der Brudermörder?“
Urhan spürte etwas Kaltes, Spitzes im Rücken. Aber was nützte es, zu widersprechen, zu schreien? So schüttelte er nur wehrlos den Kopf. Dann stöhnte er auf und drückte mit den Händen gegen die Zehenspitzen.
„Ich handle jetzt mit Trockenfrüchten.“
„Melonenkerne?“
„Ja, Trockenfrüchte. - Wie kalt es hier doch ist.“
Er hatte das Gefühl, als ob die Zehen an den Gelenken auseinanderfielen.
„Zieh dir den Mantel aus“, meinte der Alte, „und wickle deine Füße ein!“
„Nein, nein! Ich bin sehr kälteempfindlich und hol mir noch ‘ne Lungenentzündung.“ Der Schmerz war in all seinen Knochen. Er fragte: „Tee hast du wohl auch keinen?“
Der Alte rauchte schweigend weiter.
„Gibt’s denn hier gar nichts, womit man ein Feuer anzünden könnte?“, wollte Urhan wissen.
Wieder gab der Alte keine Antwort. Er steckte sich nochmals eine Zigarette an und zertrat den Stummel der letzten mit dem Fuß.
„Ich bin jetzt ein Gefangener von Ssoudji“, sagte Urhan. „Den kennst du doch sicher!“
„Bind ihn doch an!“
Er konnte die Füße einfach nicht warm bekommen, nicht einmal die Knochenschmerzen lindern, und stöhnte: „Jetzt sind’s dann schon vierzehn Jahre, dass er mich zu seinem Gefangenen gemacht hat. Man kann ihn auch nicht einfach anketten, er ist doch kein Kind, ist zweiundvierzig Jahre alt.“
„Wirf ihn in ein Zimmer, stell ihm Brot und Wasser rein und schon bist du frei!“
„Genau das hab ich vor, wenn ich ihn finde. Aber mein Verrückter ist wie ein Vogel: Im Käfig stirbt er, ist er draußen, fliegt er weg. Er ist kein gefährlicher Irrer, tut niemandem was zuleide. Doch zur Welt ist er nur gekommen, um mich zu plagen.“
Urhan hatte Lust zu reden, war aber nicht sicher, ob ihm der Alte zuhörte. Er fühlte sich erniedrigt und gedemütigt.
Eine Zeit lang war es uns beiden zur Gewohnheit geworden, dass er weglief, wenn er niedergeschlagen war, und zwei, drei Tage verschwunden blieb. Kam er dann wieder zurück, fragte ich ihn: „Wo warst du denn, mein Freundchen?“
„Ich war in Mashad*, hab unserem Imam Reza die Füße geküsst.“
„Was hast du mir als Reisepräsent mitgebracht?“
„Da gab’s nichts Gescheites, nur Sonnenblumenkerne und diese schlechte Sorte von Aprikosen.“
„Schon gut. Geh in die Karawanserei! Und treib dich nicht so viel herum, du bringst mich noch um meinen guten Ruf!“
„Herr Bruder, nach zwei Glas Tee bei Mashd Abbass geht einem wirklich das Herz auf. Kannst du das nicht verstehen?“
Er füllte sich die Taschen mit Melonenkernen und machte sich davon. Seine Anwesenheit bedeutete mir nichts, aber seine Abwesenheit machte mir großen Kummer. Nachts, wenn er da unten im Souterrain schlief, war ich oben allein. Aber ich wusste, dass er da war. Dass da einer war, dass da unten einer atmete. Insbesondere in diesem Haus, das immer noch nach Vaters regenfeuchter Jacke, nach Mutters schwerem Atem und sogar nach Aida roch. Das alles ertrug ich zwei, drei Tage lang, denn ich wusste, er würde wiederkommen.
„Wo bist du gewesen, mein Freundchen?“, fragte ich ihn dann mit gerunzelter Stirn und tadelnder Stimme.
„Ich war in Moskau.“
„Was war dort los?“
„Wohin man auch kam, überall wurde gekämpft. Und bei all dem Frost brannte es lichterloh.“
„Hast du auch mitgekämpft?“, fragte ich
Er starrte auf die Leute draußen vor dem Kontor. Teils eilends, teils gemächlich schoben sie sich vorbei.
„Was denkst du“, fragte er mich, „wo kriegen die alle Löffel her?“
„Gut also“, meinte ich, „was gibt’s Neues vom Krieg? Wie viele hast du umgebracht, wie viele verwundet?“
„Wir haben eine Frau gefangengenommen. Nachher stellte sich heraus, dass sie eine Hure war. Martha heißt sie. Recht hübsch und nicht ohne! Ich glaube, sie stammt aus Jugoslawien.“
„Auf welcher Seite hast du denn gestanden?“, fragte ich. „Herr Bruder“, sagte er da, „die haben mich fertiggemacht!“ Er war ganz niedergeschlagen.
Die beiden Männer starrten stumm nach draußen. Es war, als ob sie jemanden erwarteten.
„Frierst du denn nicht?“, fragte Urhan.
„Ich kann es aushalten“, entgegnete der Alte. Er hielt einen Augenblick inne und fragte dann: „Wie bist du denn hergekommen?“
„Zu Fuß! Hast du keine Zigarette für mich?“
Die Kälte presste ihm Tränen aus den Augen, und die liefen ihm dann über die Backen. Plötzlich hatte er Lust auf eine Zigarette.
Er fragte nochmals: „Hast du keine Zigarette übrig?“
Der Alte öffnete sein Zigarettenetui und hielt es ihm hin.
„Das hilft gegen das Zittern“, meinte er, und er wartete, bis Urhan sich in diesem ungewissen Dämmerlicht bediente. Während er ein Streichholz anriss, schaute er ihn sich genauer an und bemerkte, dass er ganz gerötete Füße hatte.
„Bist du nur Ssoudjis wegen hierhergekommen?“, wollte er wissen.
Die Schmerzen in den Füßen ließen Urhan aufstöhnen, und er nickte nur bejahend mit dem Kopf und war sehr zufrieden, dass er dem Alten so zeigen konnte, wie gern er seinen Bruder hatte. Doch sein Inneres war ganz aufgewühlt. Wie oft war er diesen Weg schon gegangen, in Kälte und Hitze, wie oft hatte er sich in Gefahr begeben, um Aidin zurückzuholen. Aber jetzt hatte er einen endgültigen Entschluss gefasst: Koste es, was es wolle, er musste die Sache zu Ende bringen. Voll leidenschaftlichen Zorns blies er den Rauch aus. Er merkte nicht, was er da rauchte und dass es schlecht schmeckte.
Er stand auf, schloss die Stalltür und schaute dann durch die zerbrochenen Flügel hinaus und sagte: „Wir sind hier festgenagelt.“
Der Alte schwieg. Das schneebedeckte Land lag jetzt in Dunkelheit. Er hatte nicht damit gerechnet, hier festgehalten zu werden.
„Wo mag er nur geblieben sein, dieser Bruder?“
Auch darauf entgegnete der Alte nichts.
Vater hatte gesagt: „Es ist doch egal, wo er hingegangen ist.“
„Man kann nicht immer so, wie man möchte“, meinte ich. „Mutter fragt von morgens bis abends nach ihrem Aidin. Sie möchte ihn zurückholen. Ab und zu geht sie ihn auch besuchen.“
„Was fällt ihr ein!“, knurrte Vater. „Wer hat ihr das erlaubt?“
Seit Aidin von zu Hause weggegangen war, war ein Jahr vergangen. Oben am Fluss, in Ram-Assbi, arbeitete er in einem Holzsägewerk. Er war mager geworden, war sehr gealtert, aß nichts Gescheites, hatte sich aber in den Kopf gesetzt, unabhängig zu sein und nicht mehr in sein Elternhaus zurückzukehren. Jener Brand hatte ihn sehr getroffen. Als hätte man ihn selbst verbrannt. Und er war auch wie ausgebrannt. Er durch den Fluch des Vaters und Vater durch den Fluch der Natur.
Am Tage nach jenem Ereignis stand in der Zeitung, der „Sonne des Orients“, folgendes geschrieben: „Gestern gegen 12:30 Uhr verfinsterte sich die Sonne plötzlich so, als hätte eine Riesenhand ihr Gesicht bedeckt.“ Dieser Satz blieb in unserem Gedächtnis haften.
An jenem Tag war die Sonnenscheibe total verfinstert, und es war Nacht geworden. Vater, der noch nicht zu Mittag gegessen hatte, glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er einen Blick auf die Uhr warf und die Zeiger an der zu erwartenden Stelle sah. Angstvoll fragte er: „Urhan, ist es denn schon Abend?“
Ich wusste nicht, was da vor sich ging. „Oh heiliger Abu-l-fasl!“, stieß ich hervor und rannte hinaus. Es wurde immer noch dunkler, und da ertönten auch schon die Sirenen der Ventilatorenfabrik Lord, die das Ende der Arbeitszeit ankündigten. Jetzt war ich ganz sicher, dass die Nacht angebrochen war, denn die Ventilatorenfabrik Lord hatte sogar während des Krieges niemals die Arbeit unterbrochen, nicht einmal in der Zeit nach dem Shahriwar* 1320 , wo sich die Leute wegen eines Stücks Brot gegenseitig umbrachten. Aber jetzt kündeten die Sirenen das Ende der Arbeitszeit an. Von den Straßen und Gassen her hörte man das Getümmel der Leute, und einige fingen damit an, auf den Dächern gegen Kupferkessel zu trommeln.
Auch Vater war in den Hof herausgekommen und stand nun neben mir und Mutter. Ohne die Augen mit der Hand abzuschirmen, schauten wir in die Sonne. Mutter weinte. Wie des Öfteren gab sie vor, sich nach Aida zu sehnen, die in Abadan lebte, und vergoss so ihre Tränen.
Die Sonne war zu einer blutigroten Scheibe geworden, und schwarzer Dunst bedeckte ihre Umgebung. Damals sah ich zum ersten Male Angst bei Vater. Alles war nun in Finsternis getaucht. Von draußen drang ein entsetzliches Gelärme an unser Ohr.
Mutter murmelte Gebete und weinte betrübt vor sich hin. Benommen und verdrossen betrachtete ich den Himmel, der plötzlich mit Sternen übersät war. Noch nie hatte ich nachts so viele Sterne gesehen.
Noch einmal rief ich aus: „Oh Abu-l-fasl!“
Vater unterbrach sein Gebet: „Das ist eine Strafe Gottes! Wisst ihr, was das bedeutet?“
Er drehte seine Handflächen nach oben, „Klebt denn Blut an unseren Händen?“, fragte er mit fiebriger Stimme.
„Gott behüte uns!“, murmelte die Mutter.
„Das ist unser Werk“, sagte Vater, „unseres und das unserer Kinder. Oh Gott, lass das nicht zu! Lass das nicht zu!“
Kurz darauf verstummte der Lärm auf den Straßen, und Finsternis und Stille senkten sich über die Stadt, als wäre sie seit Jahren ausgestorben. Als hätte die Stadt nie existiert. Mutter zündete die Petroleumlampe an und stellte sie im Zimmer auf den Sims. Keiner von uns wagte es, den Raum zu verlassen.
„Wo ist bloß Aidin?“, fragte Mutter.
„Der soll bleiben, wo er ist!“, brummte Vater.
Mutter machte sich Sorgen. Als es kurz danach im ganzen Haus nach angebranntem Essen roch, schlug sie sich auf die Knie und rief: „Das ist meine Schuld!“
Sie rannte in die Küche, Vater mit der Lampe in der Hand hinterher. Er stand in der Küchentür und sagte: „Das ist der Lohn unserer Taten. Was haben wir nur getan?“
Ich sah, dass seine Hände zitterten und sein Gesicht tränenüberströmt war. Ich nahm ihm die Lampe aus der Hand.
„Wir leben jetzt an einem Ort“, sagte Vater, „wo sich direkt unter unseren Füßen ein Lager ketzerischer Bücher befindet. Unser eigener Sohn hat jedes gotteslästerliche Buch, das er auftreiben konnte, in das Souterrain geschleppt. Dichter ist er auch geworden. Es fehlt nur noch, dass er sich ein Musikinstrument unter den Arm klemmt und zum Straßenmusiker wird. Aber das werde ich nicht so einfach hinnehmen.“
Er krempelte sich die Ärmel hoch. „Wir müssen das Gebet zur Abwehr von Naturkatastrophen sprechen.“
Wir gingen ins Zimmer zurück und beteten.
Die Finsternis dauerte anderthalb Stunden. Und wir zitterten diese ganzen anderthalb Stunden. Dann dämmerte es. So wie nach Sonnenuntergang oder vor Sonnenaufgang. Die Sonne begann wieder zu strahlen, und es wurde heller Tag. Mit einer Kopfbewegung bedeutete mir Vater, ihm zu folgen. Wir traten auf den Hof. Mutter stand auf der Veranda, ebenso verwundert wie ich.
„Warum geht ihr nicht ins Kontor?“, fragte sie. „Ihr seid wohl ganz aus dem Häuschen?“
Weil Vater schwieg und es immer noch nach angebranntem Essen roch, zog Mutter es vor, sich mit irgendetwas zu beschäftigen und sich unsichtbar zu machen.
„Hol den Teppich und die Kleider aus dem Zimmer raus!“, befahl Vater.
Ich rollte den Teppich zusammen und schleppte ihn herauf. Dann warf ich Aidins Kleider auf die Veranda und wollte noch schnell das Bettzeug herausholen, aber Vater meinte, es müsse auch noch etwas da sein, was brenne. Allerdings hatte er gar nicht gesehen, was es da gab. Nachdem wir das letzte Mal die Bücher verbrannt hatten, war es jetzt wieder überall voll von Büchern und Heften: unter dem Bett, auf dem Wandbrett, neben der Treppe und in den Ecken. Aidin schrieb Gedichte und stand in Verbindung mit anderen Dichtern.
„Gieß Petroleum darüber!“, ordnete Vater an.
Ich holte die Kanne raus und übergoss alles sorgfältig. Dann versuchte ich noch schnell, das Bett herauszuziehen, doch Vater ließ das nicht zu.
„Zünd ein Streichholz an!“, sagte er. Und ich hab‘s getan.
Als Mutter herauskam, war es schon zu spät. Zur Tür und zum Fenster des Souterrains schlugen die Flammen heraus. Und irgendetwas verbrannte unter schrecklichem Getöse. Mutter wollte noch was unternehmen, sie fuchtelte mit den Händen herum, brachte aber kein Wort mehr heraus.
„Es ist die Seele des Teufels, die da brennt!“, sagte Vater.
Wirklich, auch die Seele des Teufels hätte beim Brennen nicht so viel Krach und Rauch machen können. Die Hitze war auch noch jenseits des Wasserbeckens zu spüren, und der Qualm stieg zum Himmel. Ein paar Nachbarn klopften an unserer Tür und fragten, was es mit dem Rauch auf sich habe.
„Wir kochen Tomatenmark ein“, sagte Vater.
Ich hatte gedacht, Aidin würde auf der Stelle einen Herzschlag kriegen, wenn er das sehen würde. Aber ihm passierte gar nichts. Gegen Abend kam er zurück. Das Haus lag in kummervollem Schweigen versunken. Als ob jemand gestorben wäre und alle das Geheimnis dieses Todes voreinander verbargen. Aidin legte ein Paket Bücher, das er in der Hand trug, auf den Treppensims und wollte sich im Wasserbecken die Hände waschen. Doch nach ein paar Schritten sah er das Souterrain, grauenhaft dunkel und schwarz. Der Brandgeruch lag noch in der Luft. Wir schauten alle drei von oben zu. Aidin ging auf sein Zimmer zu, doch an der Treppe angekommen, konnte er sich nicht mehr aufrecht halten. Arme und Beine zitterten ihm, und ein Schauer lief über seinen ganzen Körper. Dann ging er weg, ohne ein Wort zu sagen und ohne jemanden sehen zu wollen.
Vater stand stumm. Er hatte nicht geglaubt, dass es so weit kommen würde. Nachdenklich ging er im Zimmer umher.
„War es das, was du wolltest?“, fragte Mutter und weinte.
„Was ist denn schon passiert?“, meinte Vater. „Ich hab’s doch seinetwegen getan. Du siehst doch, in was für schrecklichen Zeiten wir leben. Wegen nichts und wieder nichts verhaften sie die jungen Leute und lochen sie ein.“
In jener Nacht kriegte Vater einen solchen Durchfall, dass er ganz kraft- und saftlos und ohne Willen war. Er konnte weder sitzen oder ruhig an einem Platz stehen bleiben, noch konnte er sich hinlegen. Entweder war er auf dem Weg zur Toilette, oder er ging auf und ab.
„Ist es das, was du gewollt hast?“, fragte Mutter nochmals.
„Lass ein paar Tage vergehen, der Hunger wird ihn schon wieder hertreiben.“
„Entweder du suchst ihn noch heute Abend und bringst ihn zurück, oder ich gehe von hier weg.“
„Ist er denn nicht auch mein Kind?“, meinte Vater. „Glaubst du, er tut mir nicht leid? Wenn du mich nur lässt, werd ich ihn schon noch zur Vernunft bringen.“
So sehr hatte Aidin jener Brand zugesetzt, dass er sich nicht sehen ließ, als Vater und ich ihn ein paar Tage später aufsuchten. Mutter flehte Vater an, ihn zurückzuholen, und wir machten uns wieder auf den Weg nach Ram-Assbi. Die Sägerei lag an einem Engpass. Unten floss ein Bach durch, oben hantierten die Arbeiter.
Schließlich überwand Vater seinen Stolz, und als Aidin gerade einen Baumstamm durchsägte, stellte er sich vor ihn hin und sagte: „Aidin, vergiss, was geschehen ist!“
Doch Aidin antwortete nur, ohne den Kopf zu heben: „Vergiss du mich, Vater!“
Und wir kehrten um; Vater voller Wut und Hass, aber auch voller Hochachtung. Von da an sprach er Aidins Namen auf eine ganz besondere Art und Weise aus.
Aidin arbeitete ungefähr ein Jahr lang dort. Mutter erkundigte sich immer wieder nach ihm, und ich besuchte ihn ab und zu. Doch er nahm nichts an. Ich überbrachte ihm Essen und Kleidung, er wies es zurück. Ich brachte ihm Bücher, er wies sie zurück. Sogar was die Mutter ihm schickte, nahm er nicht an.
Wenn ich ihn drängte, sagte er nur: „Meine Schulzeugnisse, die Bücher, meine eigenen Gedichte ...“, und Tränen schossen ihm in die Augen.
Allmählich verlor er sein fröhliches Wesen ganz. Er war wie ausgebrannt. Auch finanziell ging es ihm wohl nicht gut. Ich hatte bemerkt, dass seine einfachen schwarzen Schuhe ganz zerrissen waren. Er trug immer diesen langen schwarzen Mantel und die schwarze Tuchhose. Ein Bein auf den Stamm gestellt sägte er, sägte, bis das Holz rauchte und auseinanderbrach. Dann wischte er sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und machte sich an die nächste Bohle. Ich stand dabei und wartete, bis er mit der Arbeit fertig war. Dann zogen wir zusammen los Richtung Salzsee. Seine schwarzen Schuhe waren zerfetzt, er konnte nur mit Mühe gehen.
„Aidin“, fragte ich ihn, „kriegst du denn keinen Lohn?“
Er war ganz verstört. Er glaubte wohl, ich wollte etwas von ihm leihen, und antwortete: „Ich hab schon Geld, brauchst du was?“
Er wollte schon mit der Hand in die Hosentasche fahren, um das Geld herauszuholen, als ich fragte: „Warum kaufst du dir dann keine Schuhe?“
Er warf einen Blick auf sein Schuhwerk und meinte: „Jetzt regnet und schneit’s noch nicht. Ich hab auch schon dran gedacht. Lass es erst mal Herbst werden, dann ...“
Von den Höhen der Hügel aus betrachtete er die Salzpfanne und den Salzsee.
„Wie sehr ich doch den Salzsee liebe!“, rief er aus.
Drüben lag die Salzpfanne mit ihrem welligen, mit Salzkrusten bedeckten Boden. Und diese Wellen schienen zu jeder Jahreszeit ihre Form zu verändern.
„Genau wie das Meer“, meinte Aidin.
Und wieder standen wir auf den Hügeln in der Nähe des Salzsees, eine sanfte Brise wehte, und unbeweglich lag unter uns das Gewässer mit seinem von weither sichtbaren Schilfgürtel. Auf einer Seite des Sees wuchsen dort, wo Hügel und Wasser sich trafen, hohe Schilfrohre mit spitzen Blättern.
Ganz in diesen Anblick versunken sagte Aidin mit leuchtenden Augen: „Wie das UNO-Gebäude!“
„Wo denn?“, fragte ich. Er zeigte mit der Hand hinüber.
„Wieso?“
„Diese Schilfrohre erinnern mich an die Fahnenmasten vor dem UNO-Gebäude.“
Früher einmal hatte Vater gesagt: „Ihr solltet den Salzsee zu schätzen wissen! Nach vielen Jahren wird auch hier nur noch eine Salzpfanne sein, ein wertloser, bitterer Salzsumpf.“
Wir waren damals noch bartlose Buben. Ich nahm den roten Eimer in die Hand, Aidin den grünen. Vater ging hinter uns her. Am Salzsee angekommen, zog er sich aus und sprang ins Wasser. Im Wasser sah er viel älter aus. Wir zogen uns auch aus und tauchten kopfüber in den See. Die Sonne schien warm, das Wasser schmeckte salzig und bitter. Schwärme von Wiedehopfen strichen über uns hinweg und verloren sich in der Ferne. Vater hatte die Arme weit ausgebreitet, nur sein dünn behaarter Kopf war noch zu sehen.
„Geht ein bisschen weiter rein und holt Schlamm rauf!“, sagte er zu uns.
Die Russen pumpten damals den Schlamm aus dem See und fuhren ihn tankerweise ab.
Vater pflegte zu sagen: „Dieser Schlamm da ist die beste Medizin gegen Rheumatismus.“
Er rieb sich mit den Händen ab, stieg aus dem Wasser und streckte sich am Ufer in der Sonne aus. Die stark behaarten, mageren Beine schlug er übereinander, stützte sich auf die Unterarme und schaute um sich.
„Bringt mir schnell ein bisschen Schlamm“, rief er, „bevor mir kalt wird.“
Aidin atmete tief ein, öffnete den Mund und tauchte unter. Kleine Luftbläschen stiegen hinter ihm auf. Dann tauchte er wieder über der Wasseroberfläche auf. Den Eimer hatte er zur Hälfte mit Schlamm gefüllt.
„Nimm!“, rief er und schwamm auf mich zu.
Ich nahm ihm den Eimer ab und brachte ihn Vater, der sich jetzt lang auf dem Boden ausgestreckt hatte. Wartend stand ich da. Aidin war wieder in der Tiefe des Sees verschwunden.
„Gut gemacht, mein Sohn“, sagte da Vater. „Reib mich ein, das tut gut!“
Ein mildes Lüftchen wehte und ließ die Schilfrohre drüben auf der anderen Seite tanzen. Ich beschmierte Vater mit einer Handvoll Schlamm nach der anderen. An den Beinen fing ich an.
„Schrubb mich nur tüchtig!“, sagte Vater.
Er war jetzt von oben bis unten schwarz. Als ob man eine Figur aus Teer von ihm angefertigt hätte. So verharrte er, dass der Schlamm auf seinem Körper antrocknen konnte. Wir rieben uns nur die Beine ein, setzten uns hin, bis die Schmiere erstarrte, und sprangen dann ins Wasser und wuschen uns ab.
„Nehmt auch was für Yussof mit!“, meinte Vater.
Yussof hatte sich nach seinem Sturz damals in ein nutzloses Stück Fleisch verwandelt, das von morgens bis abends pausenlos aß und sich entleerte. Er lag in einer Ecke in dem Zimmer unten, bewegungslos und stumm, den starren Blick auf die Tür gerichtet, immer etwas kauend. Es stank dort bestialisch und Mutter war stets damit beschäftigt, im Hof seine Laken zu waschen.
Aida hatte gesagt: „Wenn ihr im Hof einen Verschlag für ihn baut, haben wir alle unsere Ruhe.“
Aber keiner hörte auf sie. Um dem Durst vorzubeugen, biss Vater in eine Gurke. Es war ein schöner Sommer, und die Sonne brannte heiß. Der Schlamm auf Vaters Körper war jetzt getrocknet, und ein paar große Ameisen liefen über seinen Bauch.
Da stand er auf, sprang ins Wasser, wusch sich ab und rief: „Da seht ihr, wie die Medizin wirkt!“ Seine ganze Haut hatte sich gerötet. „Das macht Durst!“, sagte er und biss wieder in die Gurke.
Ganz gedankenlos hatte sich Urhan eine zweite Zigarette von dem Alten genommen und sie an der Glut der ersten angesteckt. Er nahm tiefe Züge. Seine Bein- und Armknochen ächzten unter unsäglichen Schmerzen.
„Was soll ich denn jetzt nur tun?“, fragte er. Er schaute sich um, von irgendwoher in der Dunkelheit kam ein monotones Geräusch. So wie das Ticken von Mutters Uhr auf dem Wandbrett.
„Woher kommt dieses Geräusch?“, wollte er wissen.
„Da tropft Wasser“, sagte der Alte und zeigte auf eine Stelle über den Lasttieren. Stumm betrachtete Urhan die Decke.
„Reg dich nicht auf, du wirst ihn schon finden!“, fuhr der Alte fort. Als Urhan immer noch schwieg, meinte er: „Er läuft wohl weg, nicht wahr?“
Urhan senkte den Kopf. Er wollte nicht hören, was der Alte da sagte.
„Vater“, fragte ich, „vor wem ist denn Aidin weggelaufen?“
„Lauf du doch auch weg“, sagte er. „Geh schon! Geht doch alle zum Teufel!“
„Ich will nicht weglaufen, ich bin nicht so wie Aidin und Aida. Heute ist doch Freitag. Ich möchte nur mit meiner Clique zum Salzsee!“
„Und wer soll sich um die Abrechnungen im Kontor kümmern?“
„Lass ihn doch gehen!“, sagte Mutter. „Es ist ja nicht Aidin oder Aida, die einfach den Mund nicht mehr aufmachen. Mit dem wirst du ja noch fertig!“
„Die sind doch alle aus dem gleichen schlechten Holz geschnitzt“, meinte Vater.
Mutter nahm Vater die Pfeife weg und legte sie aufs Wandbrett. „Was immer auch sein mag, dieser da ist dir nachgeraten. Außerdem – man raucht doch nicht von früh bis spät!“
Dann stemmte sie die Hände in die Hüften, oben im Zimmer war’s, und sagte ganz aufgebracht zu mir: „Geh schon! Worauf wartest du denn noch?“
Wir fuhren in einem Kombiwagen mit hölzernem Aufbau. Die Leute hier in der Stadt erinnern sich auch heute noch an dieses schreckliche Jahr. Wir waren vierzig. Ein paar der Kumpels waren Soldaten. Wir sangen und klatschten in die Hände. Zuerst stimmten wir die Fahnenhymne an, dann „Draußen in dunkler Winternacht“. Unterwegs, in einer Straße ganz am Rande der Stadt, hatte ein Haus Feuer gefangen. Qualmende Flammen schlugen aus den Fenstern heraus. Unser Fahrer hielt an, und wir sprangen alle aus dem Wagen heraus. Der Eigentümer des brennenden Hauses war ein alter, weißhaariger Herr, der sich mit beiden Händen auf den Kopf schlug und brüllte. Mal stand er vor dem Haus, mal setzte er sich hin, dann rannte er hin und her, kam wieder zurück, starrte in die Flammen und schlug sich auf den Kopf. Später erfuhren wir, dass er weder Frau noch Kinder hatte. Er hat sich aber fast umgebracht. Acht Wasserschläuche waren von allen Seiten auf das Haus gerichtet, und die Straße war ganz von schwarzem Schlamm bedeckt. Das Feuer hatte sich so schnell vorgefressen, dass nichts mehr von dem Haus übrigblieb. Als dann das Dach einbrach, erlosch auch das Feuer.
Auch das Mal zuvor, bei jenem großen Brand, hatte niemand den Flammen Einhalt gebieten können. Ein irrsinniges Feuer hatte einen Teil des Basars ergriffen, und eine schwarze Rauchsäule stieg gen Himmel. Alle Bewohner der Stadt starrten auf den Qualm, und niemand konnte etwas unternehmen. Der Strom war ausgefallen, und die Nachtwächter im Basar schossen mit Platzpatronen in die Luft, um Hilfe herbeizuholen. Laut schreiend rannten Leute umher. In jener Nacht floss in den Straßengräben nicht wie sonst Wasser. Soweit man sehen konnte, waren die Straßen voll von Leuten, die mit Laternen zum Basar strömten.
Vater war voller Angst. Er zitterte, nahm Aidin und mich fest an der Hand und betete ohne Unterlass. Der Wind hatte das Feuer zwar nicht bis zur Karawanserei vorgetrieben, es breitete sich jedoch im Basar weiter aus und war nicht mehr zu bändigen. Wir standen an einer Ecke des „Neuen Platzes“ und schauten nur zu – genau wie all die anderen. Damals hatte die Stadtverwaltung keinerlei Möglichkeiten zur Brandbekämpfung, und der Wind trieb die Flammen immer weiter.
So brannte der Basar bis zum Morgen. Und bis zum folgenden Abend loderten immer wieder neue Brandherde auf. Der ganze Teil des Basars, wo sich meist Konfiserien und Konditoreien, aber auch zwei Zuckerfabriken befanden, war abgebrannt. Als schließlich die Mauern einstürzten und so viele wirtschaftlich ruiniert waren, erlosch das Feuer allmählich ganz von selbst. Aber noch nach drei Tagen lag dunkler Rauch über der Stadt, der so dicht war, dass ihn der Wind nicht wegblasen konnte. Tags darauf fiel süßer Regen, und die Leute stellten Schüsseln und Wannen auf, um ihn aufzufangen. Als wir davon hörten, hatte der Regen schon aufgehört. Unsere Haare und Kleider waren klebrig, und was wir anfassten, blieb an unseren Händen haften. Vater schleckte sich die Hände ab und meinte: „Sharbatt*!“
Eine ganze Weile floss aus den Hydranten Sharbatt statt Wasser. „Ich möchte Wasser!“, bat ich.
Ich hatte entsetzlichen Durst, doch soviel ich auch von diesem Zuckerwasser trank, er ließ sich nicht stillen.
„Trink Sharbatt!“, sagte Vater, „Woher soll ich denn Wasser nehmen?“
„Von irgendwoher wirst du’s doch besorgen können!“
„Was sagst du da bloß?“, meinte Vater. „Jetzt pissen sogar alle süß!“
Dann verlor das Wasser seine Süße, Aida verbrannte sich selbst, Vater war gestorben und Aidin erledigt. Nur ich war übriggeblieben – und die Mutter, die in ihren weißen Betttüchern lag und röchelte, in einem fort röchelte. Sie hatte Asthma. Oft meinte ich mitten in der Nacht, jemand feile da an etwas Hartem herum. Aidin hatte den Kopf gegen die Wand gelehnt, in den Adern an Hals und Schläfen pochte es schnell, und unter den Augen sah ich es zucken.
„Sag mal, mein Lieber“, fragte die Mutter, „wer hat dir das angetan?“
Und Aidin entgegnete: „Das Feuer des Krieges ist in der Kälte von Moskau erstickt.“
Wie Recht er doch hatte! All die Brände mit ihren Flammen und ihrem Rauch, den Menschenopfern und Sachschäden sind schließlich ganz von selbst erloschen. Aber sie haben lauter Ruinen zurückgelassen. Alle erinnern sich daran, dass wir vierzig waren und dass ein paar der Kumpels Soldaten waren. Nachdem das Feuer gelöscht war, stiegen wir wieder in den Kombiwagen mit seinem hölzernen Aufbau und den hölzernen Sitzen, der uns auf der schlechten Schotterstraße schlimm durcheinanderrüttelte. Gerade als wir abfuhren, kam laut hupend ein roter Feuerwehrwagen an. Doch da war es zu spät: Von dem Haus war nur ein Häufchen Asche übriggeblieben.
Singend und in die Hände klatschend machten wir uns auf den Weg. Noch einmal stimmten wir die Fahnenhymne an. Am Ufer des Salzsees stellten wir uns nach altem Brauch in Reih und Glied auf, und als ich „drei“ rief, sprangen wir alle gemeinsam von den Klippen mit einem Kopfsprung ins Wasser. In den Kleidern. Wir schwammen einmal bis zu dem Schilfgürtel und zurück. Das Wasser war kühl, und es wehte eine leichte Brise. Dann erblickten wir das Schiff, das von Osten auf uns zugefahren kam. Es war leer bis auf einen Mann in einem schmutzigweißen Unterhemd, der vorne am Steuer stand. Er schien gleichzeitig auf uns und auf das Tuckern des Schiffes zu achten.
Als er das Ufer erreichte, rief er uns zu: „Wollt ihr nicht mitfahren?“
Wir brüllten wie aus einem Mund: „Hurra!“, und hängten uns von allen Seiten an den hölzernen Schiffsrumpf. Es roch nach Lack und Farbe. Bei jeder Bewegung knarrte es, als ob die Flanken auseinanderbrechen wollten. Wir freuten uns darüber, dass es nun auf dem Salzsee auch ein Schiff gab, und beschlossen: Jede Woche zum Salzsee. Hurra! Doch hatte keiner von uns bisher das Schiff gesehen und keiner kannte den Eigentümer. Niemand wusste, wann und woher er gekommen war. Es war ein älterer Mann mit einem unsicheren Lachen. Wie einer, der zum ersten Mal hinter dem Steuer sitzt.
„Ich habe vier Kinder“, sagte er, „das Leben ist teuer.“ Jetzt lachte er, strahlte von einem Ohr bis zum anderen.
Nachdem wir uns alle aus dem Wasser in das Boot hochgezogen hatten, tuckerte es los und entfernte sich vom Ufer. „Kommt nur jeden Tag!“, meinte der Schiffer.
„Wir kommen jeden Tag“, antwortete ich. „Gib Gas!“
Es war das erste Mal, dass ich auf einem Schiff fuhr. Meine Kleider waren völlig durchnässt. Das Schiff schlingerte ganz seltsam und als wir die Mitte des Sees erreicht hatten, fühlte ich es sinken. Die Jungs brüllten und drängelten hinaus. Jetzt tauchte das Schiff auf der Motorseite unter und überschlug sich. Wie ein Berg wölbte es sich über uns und ging, so umgekippt, unter.
Wir brüllten dort unten im Wasser und versuchten hochzukommen. Doch der schwere Schiffsrumpf schlug gegen unsere Köpfe, und wir wurden wieder nach unten gedrückt. Ich schaute nach oben. Es war dunkel. Ich musste unbedingt unter dieser Überdachung da hervorkommen. Mit beiden Armen durchpflügte ich in der Tiefe das Wasser und versuchte, mich von dem Schlamm fernzuhalten. Als es heller wurde, arbeitete ich mich nach oben. Auf dem Grund sah ich den Schiffer, der bis zur Hüfte im Sumpf steckte. Seine Augen waren aus den Höhlen getreten und er versuchte zu schreien. Mit den Fingern zeigte er eine Vier, und es war mir klar, dass er das Schiff für viertausend Tuman gekauft hatte.
„Vergiss es!“, dachte ich und bemühte mich hochzukommen.
Doch einer schien mich am Hosenbein festzuhalten. Da sah ich ihn im Wasser: Es war Djamshid der Besenstiel, einer der Soldaten. Er schluckte Wasser und zog an mir. Bis zu den Schultern war er im Schlamm versunken. Seine goldenen Schulterklappen glänzten. Er zog und ich wehrte mich. Plötzlich kam mir die Idee, den Gürtel zu öffnen. Ich öffnete ihn und war frei.
Damals war ich zwanzig Jahre alt. In einer violetten Unterhose kam ich nach Hause zurück. Es war ein schrecklicher Tag und noch eine ganze Zeit lang hatte ich den bittersalzigen Geschmack des Wassers im Mund. Auch heute noch erinnern sich die Leute daran, dass wir vierzig waren. Die Mutter von Djamshid Besenstiel sagte zu mir: „Du bist zwar am Leben geblieben, aber Glück wird dir das nicht bringen!“ Der Fahrer des Kombiwagens dagegen meinte: „Auf diesem Urhan liegt Gottes Segen. Den müsst ihr zu schätzen wissen!“
Und Mutter sagte: „Komm, damit du vor zukünftigem Unheil geschützt bist!“ Sie holte einen neuen, noch nicht gewaschenen Stoff, führte ihn von meinen Füßen an meinem Körper entlang nach oben, dann über den Kopf und auf der anderen Seite wieder hinab. Dann schnitt sie dieses Stück ab und schenkte es einem Bettler. Es war eine schlimme Zeit. In allen Gassen nur Trauer und Totenfeiern. Froschmänner aus Astara durchsuchten drei Tage lang den Schlamm auf dem Grunde des Salzsees. Das Wrack des Schiffes konnten sie bergen, aber von den Ertrunkenen fanden sie keine Spur.
„Hast du Fieber?“, fragte der Alte. Er legte Urhan die Hand auf die Stirn. „Du bist heiß, aber Fieber hast du nicht. Pass auf dich auf!“
Er zündete zwei Zigaretten an und gab eine Urhan in die Hand. „Wenn wir bis zum Morgen nicht erfrieren, sterben wir nie mehr!“
„Ja“, sagte Urhan nur.
„Warum bist du bloß so spät aufgebrochen, dass dich die Dunkelheit überrascht hat?“
Die beiden konnten einander nicht sehen. Nur zwei glühende Zigaretten kreisten in der Luft und leuchteten ab und zu auf.
„Wenn Ssoudji nicht zu Hause ist, kommt man fast um vor Einsamkeit!“
„Ich hab deinen Namen schon früher gehört. Brudermörder!“, sagte da der Alte.
Urhan schwieg. Der Alte war jetzt richtig in Fahrt gekommen. „Hast du denn deinen Bruder umgebracht?“, fragte er.
„Die Leute sagen so vieles!“ Urhan wollte jetzt nichts mehr hören. Er zertrat die erst zur Hälfte gerauchte Zigarette und steckte den Kopf zwischen die Beine.
Wenn ich später darüber nachdachte, fiel mir immer ein, dass jener magere und lang aufgeschossene Soldat Djamshid war, den wir „Besenstiel“ nannten. Er hatte sich an meinen Hosenbeinen festgeklammert und wollte mich mit sich nehmen. Er war doch mein Freund gewesen, und ich weiß nicht, warum er mir das antun wollte. An einem Freitagnachmittag, als das Kontor geschlossen war, waren wir zum Akhawan-Garten gegangen. Das war ein Garten ohne Tür und Tor, den ein paar Jahre später der Staat vereinnahmte; sie pflanzten neue Bäume, fällten die alten Kiefern und Platanen, legten einen Rasen an, stellten ein paar Rutschbahnen, Schaukeln und Wippen für die Kinder auf, zogen elektrische Leitungen und nannten das ganze „Volkspark“. Damals aber war der Akhawan-Garten noch der Akhawan-Garten gewesen, mit eingestürzten Mauern, deren Ziegelsteine geklaut wurden. Mit Bergen von Abfall und Myriaden von Mücken und Fliegen.
Wir waren noch keine vierzehn Jahre alt, lungerten an der Gartenmauer herum und statteten den Eisverkäufern und Flötenschnitzern einen Besuch ab. In der Dämmerung fielen Scharen von Raben ein und stürzten sich auf die mit stinkendem Unrat gefüllten Mülltonnen. Und wir strolchten herum. Ich kratzte mit dem Absatz über den Boden und wirbelte Staub auf. „Warum gibst du denn keine Ruhe, Kleiner?“, fragte Aidin. Aber ich scharrte weiter. Da kam plötzlich eine schwarz angelaufene Münze zum Vorschein. Ich stieß sie mit dem Fuß weg, sie rollte ein Stückchen und blieb dann im Schatten einer Weide liegen. Djamshid sprang vor und hob sie auf. Wir lachten.
„Wer möchte diese Münze?“, fragte er.
Wir wollten sie nicht haben. Wir hatten noch keine solche Not kennengelernt, dass uns eine schwarz angelaufene Münze gekümmert hätte.
„Ich glaube, es ist ein Zwei-Rial*-Stück“, meinte Djamshid.
„Warum steckst du es dir nicht einfach in die Tasche?“, fragte ich.
„Bei uns zu Hause liegen noch größere Geldstücke rum, keiner nimmt sie.“
„Bei uns zu Hause liegt zwar kein Geld rum“, sagte ich, „aber Gottes Segen möge immer auf Vaters Verdienst liegen!“
Aidin schaute uns an und lachte. Er freute sich über meine Schlagfertigkeit. Er sagte immer: „Es gefällt mir, dass du dir nichts gefallen lässt!“
„So reich ihr auch sein mögt“, meinte Djamshid, „ich glaube nicht, dass ihr es mit uns aufnehmen könnt.“
Er warf die Münze in die Luft, ich schnappte sie mir und spielte damit herum. Sie fühlte sich dicker an als ein Zwei-Rial-Stück. Ich wusch sie an einem zementierten Hydranten, der immer lief, doch sie ließ sich nicht säubern. Ich scheuerte sie auf der Erde und hielt sie wieder unter das Wasser.
„Wir haben drei Gärten“, erklärte jetzt Djamshid. „Du brauchst drei Tage, um ans andere Ende zu kommen.“
Ich war ganz mit der Münze beschäftigt und sah nun, dass sie golden glänzte. Es war ein Pahlawi*. Ich fasste sie mit zwei Fingern und zeigte sie Djamshid und Aidin.
„Ist das Gold?“, fragte Aidin.
„Die gehört mir!“, rief nun Djamshid.
Er war lang aufgeschossen und mager. Mit einer gebogenen Nase und einem Mund, der immer gespitzt war, als wollte er „du“ sagen. Und wir nannten ihn „Djamshid Besenstiel“.
Wie eine Giraffe sprang er vor: „Ich hab sie zuerst aufgehoben.“
„Hättest sie halt eingesteckt!“, sagte ich.
„Die gehört mir!“
„Was dir gehört, ist in deiner Hose drin!“
„Ich hab sie gefunden!“
„Hättest du sie halt behalten!“
Wir fielen übereinander her. Doch wohin ich auch schlug, ich traf nur auf Knochen.
„Man streitet doch nicht um Geld!“, mischte sich Aidin ein. „Teilt‘s euch doch!“
„Warum das?“, meinte ich. „Dem werde ich einen Dreck geben!“, und wir kehrten nach Hause zurück. Abends traf ich Djamshid, der sich in der Umgebung der Ventilatorenfabrik Lord nach unserem Haus erkundigte.
„Was suchst du hier, Besenstiel?“, fragte ich ihn.
„Ich wollte nur sagen – gib mir doch die Münze!“
„Und warum?“
„Weil wir arme Leute sind. Mein Vater ist vor ein paar Jahren gestorben, und meine Mutter arbeitet in einer Bonbonfabrik.“
„Na ja, dann verkauft doch euren Garten und lebt von dem Erlös!“
„Gut also, wir haben keinen Garten.“
Ich war zu klein, um ihm ins Gesicht schlagen zu können, und boxte ihn in den Bauch. Als er zusammensackte, gab ich ihm noch ein paar Ohrfeigen. Seine Augen hatten allen Glanz verloren und er begann zu weinen.
„Warum haust du mich denn?“, fragte er.
„Du Schweinekerl, warum hast du gelogen?“
Daraufhin kam er öfter zu uns, und wir gingen zusammen weg. Nach der Münze aber fragte er nicht mehr. Später wurde er eingezogen und an jenem Freitag fuhren wir zusammen zum Salzsee. Bei dem Schwimmwettbewerb war er unter vierzig der letzte und nachher versuchte er, auf diesem ganz und gar untauglichen Schiff auf das Kajütendach zu klettern. Und die Froschmänner von Astara konnten ihn nicht finden.
Djamshid war mein einziger Freund. Zur Trauerfeier für seinen Onkel Ezat hatten sich nur siebzehn Personen eingefunden. Ich war der achtzehnte. Kurz nach meiner Ankunft sprachen sie schon die Schlussgebete, und dann kam natürlich keiner mehr.
„Warum kommen denn deine Verwandten nicht?“, wollte ich wissen.
„Wir haben nicht mehr. Nur diese da.“
„Und die Nachbarn?“ Da sah ich Aidin in einer Ecke der Moschee sitzen. „He, Djamshid, siehst du meinen Bruder?“
„Ja“, sagte er.
„Warum habt ihr die Trauerfeier nicht in der Moschee in eurem eigenen Viertel abgehalten?“
„Die ist zum einen sehr groß und zum andern auch viel zu teuer. Und die hier da ist eben sehr abgelegen.“
Djamshid Besenstiels Onkel war Straßenhändler gewesen, mit einem Handkarren. Im Winter verkaufte er gekochte rote Bete und dicke Bohnen, im Sommer frisches Obst. Ich hatte ihn öfter getroffen. Wenn ich mit Djamshid unterwegs war, aßen wir meistens was bei Onkel Ezat. Er nahm von uns kein Geld an.
„Hat dein Onkel denn kein Testament gemacht?“, fragte ich.
„Testament?“ Er lächelte säuerlich. „Er hatte nicht so viel Schulden, dass die Gläubiger jetzt dahinter her wären.“
„Wem hat er dann sein Hab und Gut vermacht?“
„Niemandem! Seinen Karren kann keiner gebrauchen. Bis sein Sohn alt genug dafür ist, vergehen zehn Jahre, und bis dahin ist der Wagen in Schnee und Regen verwittert.“
Der Alte stand auf, öffnete die Stalltür und betrachtete den Himmel. Frische Kälte strömte herein. Eine beißende, tödliche Kälte.
„Mach zu! Mach zu!“, rief Urhan, und der Alte schloss schnell und behände die Tür. „Der Himmel bezieht sich wieder!“, sagte er.
Urhan fielen die Augen zu. „Wie sollen wir denn hier schlafen?“, fragte er.
„Ich bleib nur hier, bis es hell wird. Dann brech ich auf“, entgegnete der Alte.
Er riss ein Streichholz an und schaute sich suchend um. Nochmals strich er ein Zündholz an und hielt es über die Futterkrippe. „Da kannst du dich zum Schlafen hinlegen!“, meinte er.
Urhan drängte sich zwischen den Lasttieren durch. Er spürte eine wohlige Wärme in der eiskalten Luft.
„Zünd ein Streichholz an!“, bat er.
Er schaute sich die Krippe an. Sie war mit Kies gefüllt. „Hier?“, fragte er.
„Ja, leg dich nur hin! Keine Angst!“
Urhan stieg auf die Krippe und setzte sich hin. Dann streckte er die Beine aus, sagte: „Eine Decke, irgendetwas …“, und er versuchte, die Dunkelheit mit seinem Blick zu durchdringen. Der Alte lachte trocken auf und Urhan zog die Beine wieder an.
„Womit soll ich mich denn zudecken?“
„Wenn dir‘s nichts ausmacht, es gibt zwei Packsättel.“
Zitternd steckte sich Urhan die Hände unter den Kragen.
„Machst du’s jetzt wie alle Schuldner?“, hatte ich ihn gefragt. Er glaubte wohl, wenn er den Kopf zur Seite drehte, würde ich ihn nicht sehen
Da sagte er: „Grüß dich, Urhan!“
Er war jetzt beim Militär. Sie hatten ihm die Haare abrasiert, und seine Augen lagen tief in den Höhlen.
„Djamshid ist bei den Soldaten!“, hatte Wachtmeister Ayas gesagt. „So langsam wird doch noch was aus ihm!“
Er war kein übler Mensch. Ich weiß nicht, von woher er plötzlich aufgetaucht war, nur um dann still und lautlos wieder aus dieser Welt zu verschwinden. Und warum er mein Freund war. Wenn er in seiner ganzen Länge vor unserem Haus wartete, fragte ich mich oft, warum er die Geduld nicht verlor. Da stand er, ein Bein gegen die Mauer gestemmt, bis ich herauskam. „Wenn du willst, dass ich mitkomme, musst du warten, bis ich gebadet habe“, sagte ich.
Er kratzte sich am Kopf und verzog den Mund. „Gebadet? Kannst du das nicht lassen?“
„Ich war ‘ne ganze Woche nicht mehr im Bad.“
„Wie lange dauert’s denn?“
„Eine Stunde. Vielleicht auch zwei.“
„Gut, ich warte. Aber beeil dich um Gottes willen!“
Und Djamshid wusste nicht – oder vielleicht wusste er es auch, und es war ihm nur egal –, dass ich im Bad in dem heißen Wasserdampf die Zeit vertrödelte und mich immer wieder abseifte, bis meine Haut ganz rot war. Ich trank Wasser, mir wurde heiß, und wenn ich dann schließlich rauskam, wartete Besenstiel vor der Haustür, genau wie vorher, ein Bein gegen die Mauer gestemmt.
„So, Besenstiel, wollen wir jetzt zu Martha gehen?“, fragte ich dann.
Urhan lauschte auf die Stille des Schnees. Er wusste nicht, wie es weitergehen sollte, ob er schließlich Aidin finden würde. Er war sicher, dass der noch lebte, und jetzt, wo er endgültig seinen Entschluss gefasst hatte, wollte er auch bis zum Ende gehen, die Sache in Ordnung bringen und sich dann ohne die Sorge um Aidin seiner eigenen Misere zuwenden. Er wusste, dass er ihn ganz einfach irgendwo festbinden konnte und ihn dem Schnee überlassen – ohne ihn zu erwürgen, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen; er bräuchte ihm nicht einmal einen Faustschlag zu versetzen. Gleich hier an diesem Türgerüst konnte er ihn festbinden. Er konnte ihn auch von den Klippen in den See hinabstürzen, damit seine Seele früher ihren Frieden fände, denn der Vater hatte immer gesagt: „Je kühler die Ruhestatt der Toten, desto weniger müssen sie leiden.“
Wir gossen Wasser auf Aidas Grab. Mutter hielt eine Flasche Rosenwasser in der Hand, und ich wartete darauf, dass sich der Duft verbreitete. Da sagte Aidin: „Alles, was ihr nicht hätte zustoßen dürfen, ist ihr zugestoßen. Jetzt ist es zu spät.“ Er stand zu Häupten des Grabes und schaute gen Himmel. An jenem Tag trug er einen dunkelblauen Anzug, und unter seinen Rockaufschlägen schaute bis zu den Knöpfen ein feiner Schal hervor. Vater, der gerade ein Gebet sprach, hob den Kopf und warf ihm einen schrägen Blick zu. Dann flüsterte er mir ins Ohr: „Schau dir diesen Nichtsnutz an!“
Ebenso leise entgegnete ich: „Was kümmert dich das!“
Vater meinte nur kopfschüttelnd: „Sicher will er um vier Uhr wieder ins Armenierviertel gehen!“ Und Aidin hatte noch immer den Blick zum Himmel gerichtet, als ob er einen imaginären Fallschirm herabschweben sähe.
Als wir noch Kinder waren, waren wir immer gleichfarbig und gleichartig gekleidet. Die Mutter drückte uns zwei Plätzchen in die Hand und sagte: „Geht spielen!“
Wir hatten gelernt, uns an der Hand zu fassen, wenn wir irgendwohin gingen. Manchmal schickte uns Mutter auch ein paar Knöpfe, ein Stück Spitze, irgendeine Kleinigkeit kaufen, und manchmal gingen wir auch zu der Ventilatorenfabrik Lord hinüber, und Aidin und ich liefen Hand in Hand den abschüssigen Weg zum Werk hinab. Da unten dröhnte es aus der Fabrik, und die Arbeiter in uniformer gelber Kleidung packten die Ventilatoren in Kartons und luden sie auf dem Platz vor den Hallen auf die kleinen James-Lastwagen. Solange ich noch zur Schule ging, gingen wir immer zusammen. Wir waren ungezogener als die anderen Kinder. Ich brauchte Aidin nur freche Kinder zu zeigen, und schon drückte er sie gegen die Wand. Er schlug ihnen ein paar hinter die Ohren und sagte: „Vergiss nie, Urhan ist mein Bruder!“
Als ich die Masern kriegte, nahm er mich auf den Rücken und schleppte mich von der Schule nach Hause. Aber unsere Tage verliefen nicht immer gleich: Mal gab’s gute Zeiten, mal schlechte. Und je älter wir wurden, umso schlechter wurden sie.
„Bevor wir dreißig sind“, meinte Aidin, „werden wir in diesem Land zugrunde gehen. Du auf deine Art, ich auf meine, und Aida wieder auf eine andere.“
„Die Lizenz für das Geschäft muss auf meinen Namen sein!“, bestimmte ich.
„Macht nichts“, entgegnete er, „die kann ruhig auf dich laufen.“
„Dazu ist das notarielle Einverständnis des Partners erforderlich. Aber wir sind ja keine Partner, wir sind Brüder.“
Und ich ließ die Lizenz auf meinen Namen ausstellen. Der Wachtmeister Ayas meinte: „Dadurch bist du einen Riesenschritt weitergekommen. Jetzt ...“
Mutter aber sagte: „Was fällt dir eigentlich ein?! Soll dein Vater nicht einmal im Grabe Ruhe finden? Halbe-halbe!“
Wohl oder übel ließ ich dann die Grundbücher und Besitzurkunden so, wie sie waren, und kümmerte mich nicht darum. Wenn ich nachts in meinem Zimmer vom Fenster aus den Himmel betrachtete, vermeinte ich, den Laut seines Lidschlags und seines Nachdenkens zu hören. Und wenn ich die Augen schloss, sah ich ihn mit einem Messer meine schöne rote Wassermelone in der Mitte durchschneiden. Ganz deutlich sah ich ihn vor mir, inmitten einer Helligkeit. Ich erinnerte mich daran, wie ich die Pistaziensäcke vierzig Stufen hinunter- und dann wieder heraufgeschleppt hatte. Das war nicht gerecht. Zur selben Zeit hatte sich Aidin herumgetrieben und war zur Schule gegangen. Und ich war derjenige gewesen, der im Kontor geschuftet hatte. „Der eine schuftet, der andere steckt den Lohn dafür ein“, meinte Vater nur. Nein, recht war das nicht. So viel Mühe all die Jahre!
„Mutter“, sagte ich, „hätte ich denn nicht auch weiter zur Schule gehen können?“
„Wie oft hab ich dir das gesagt!“, entgegnete sie. „Wärst halt gegangen!“
Das Leben war bitter. Vergiftet und bitter. Nachts glühte ich, tags litt ich. Mein Gott, dachte ich, wo bleibt da die Gerechtigkeit? Halbe-halbe? Und vom Fenster aus sah ich den Rauch meines Ofens zu den Raben aufsteigen. Zu den Ästen der Kiefer stieg er auf, um die Raben daran zu erinnern, morgens früh bei Sonnenaufgang ihr ‚kalt, kalt‘ zu krächzen.
Jetzt bin ich mir ganz sicher, dass er noch lebt. Er wird ja auch nie krank. Nur seine Zähne sind verfault, und er kann nicht mehr Brot mit Walnüssen essen. Auch andere Speisen kriegt er nicht mehr runter. Meist schlürft er eine Suppe. Er sieht aus wie ein verbrauchter, arbeitsunfähiger alter Mann, nur eben völlig ruhelos. Vom ersten Hahnenschrei an bis spät in die Nacht ist er wach. Und ich weiß nicht, wonach er sucht.
„Was suchst du denn?“, hatte ihn Vater gefragt.
Seine Antwort: „Mich selbst!“
Anfänglich glaubte ich, er müsse noch ein anderes Ich haben, das ihn so quälte, mir kam sogar der Gedanke, dass er von Geistern besessen sei. Aber nichts dergleichen! Ich merkte, dass er sich nur selber quälte und immer tiefer sank. Bei ihm war alles anders. Sogar seine Verliebtheit war nicht die eines normalen Menschenkinds. Er war in Liebe zu einer blondhaarigen Armenierin namens Ssurmeh entbrannt. Jahrelang hatte er in einer Holzsägerei gearbeitet, hatte alles, was er verdiente, für Bücher ausgegeben und sich eingebildet, ein Dichter zu sein.
„Was suchst du denn?“, hatte ihn Vater gefragt.
Und er hatte geantwortet: „Mich selbst!“
Von einem, der sich selbst sucht und darüber verrückt wird, kann man nicht mehr erwarten. Er ist ein Verrückter, der niemandem etwas zuleide tut und der doch nicht zu ertragen ist. Hinten in der Karawanserei verbrachte er unter den Lastträgern seine Tage, abends lief er hinter mir her, grüßte jeden auf dem ganzen Weg nach Hause, fragte dies oder das oder zählte einfach die Holzmasten der elektrischen Leitungen.
„Weißt du was, Herr Bruder“, meinte er, „jetzt schneit es schon seit zwei Wochen.“ Durch den Lichtschacht in der Kuppel der Karawanserei betrachtete er den Himmel.
„Der hat uns so viel Schnee geschickt, dass er sich jetzt vor den Leuten schämt. Er erledigt seine Aufgabe nun nachts, wenn alle schlafen.“
Der Schnee hatte jedes Maß überschritten. Dieser verfluchte Schnee, der uns allen zu schaffen machte. Tagsüber war der Himmel bewölkt, die ganze Nacht durch schneite es ohne Unterlass.
„Stimmt etwa nicht, was ich sage, Herr Bruder?“, fragte er.
„Du bist frei!“, antwortete ich lachend. „Sag, was du willst!“
Er kam ins Kontor. Steckte sich eine Handvoll Melonenkerne in die Tasche und setzte sich auf einen vollen Sack.
„Herr Bruder“, meinte er, „gib mir Geld, ich möchte ins Badehaus gehen.“
Ich stand vor der Tür und wies einen der Gehilfen an, ihm einen Zwei-Tuman-Schein zu geben.
„Herr Bruder“, hat Aidin, „sag ihm, er soll mir mehr geben! Ich möchte auch noch Tee trinken.“
„Tee gibt’s hier!“
Doch er entgegnete: „Tee schmeckt nur im Teehaus am Salzsee.“ Und er stellte sich neben mich.
Er wirkte recht müde und seine Stimme klang klagend, als er sagte: „Bruder, es ist Zeit, das Bündel zu schnüren und Abschied zu nehmen. Die Schlechtigkeit der Welt hat jedes Maß überschritten.“
„Wohin soll’s denn in Gottes Namen gehen?“, fragte ich.
„Nach Ssabol* oder auch nach Kabul.“
„Mach das! Das ist eine gute Idee. Und vergiss nicht, mir ein Reisepräsent mitzubringen!“
Wie sollte ich denn ahnen, dass er weggehen und nicht wiederkommen würde?
Als wir damals aus Villadarreh zurückgekommen waren, wurde ihm übel.
„Steck den Finger in den Hals!“, sagte Mutter. „Vielleicht kannst du dich dann erleichtern.“ Und er steckte sich den Mittelfinger in den Schlund, konnte aber nicht erbrechen.
„Was habt ihr denn gegessen?“, fragte mich Mutter.
„Kebab und Buttermilch und Joghurt, was man halt so isst.“
„Aber dir fehlt doch nichts?“
„Nein“, antwortete ich.
„Warum geht’s dann Aidin so schlecht?“
„Weiß ich nicht!“
„Bring ihn zum Arzt!“
Es ging ihm wirklich sehr schlecht, schlechter als einem, der eine Lebensmittelvergiftung hat. Ich brachte ihn zu Doktor Naidanoff. Wir setzten uns ins Wartezimmer.
„In meinem Kopf dröhnt es wie im Basar der Kupferschmiede“, sagte er.
Von oben kam der Geruch nach geröstetem Knoblauch. „Jetzt lass uns erst mal an die Reihe kommen!“, meinte ich.
„Mir ist, als ob etwas in meinem Bauch herumrumpelt.“
„Du musst dich ein paar Tage ausruhen!“
Ohne irgendeinen Grund zitterten mir Hände und Beine, und ich fühlte eine komische Schlaffheit in meinen Gliedern. Mein Herz schlug wie wild.
„Das sind nur deine Nerven!“, sagte ich zu ihm.
„Es reißt und zieht in meinen Beinen!“
„Bist du jetzt endlich erledigt?“, frohlockte ich in meinem Innern. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und wiegte sich hin und her, ganz ruhelos. An jenem Tag war er schon vom Morgen an bedrückt und müde gewesen. Als wir an der Reihe waren, traten wir in das Sprechzimmer. Doktor Naidanoff war noch dicker geworden, so wie ich jetzt. Er saß hinter seinem braunen hölzernen Schreibtisch. Er trug einen Spitzbart, und seine Stirn war tief gefurcht. „Welcher von euch ist denn der Patient?“, fragte er. Ich zeigte auf Aidin und setzte mich.
„Was fehlt ihm denn?“
„In seinem Kopf dröhnt es wie im Basar der Kupferschmiede, in seinem Bauch rumpelt’s herum, und in seinen Beinen reißt und zieht es.“
„Dann bring ihn ins Irrenhaus!“, sagte der Arzt, untersuchte ihn und schrieb ein Rezept.
Wir kehrten nach Hause zurück. Was ich auf dem Heimweg auch sagte, er redete einfach so vor sich hin.
Er sagte: „Mach die Lampe über meinem Kopf aus!“
„Du hast sicher Fieber!“
Er murmelte etwas vor sich hin und schüttelte den Kopf. Die Augen konnte er nur noch mit Mühe offenhalten, er machte große Schritte, schlenkerte mit den Armen und kannte offensichtlich den Weg nicht mehr.
„Ein Erdbeben!“, sagte er plötzlich.
„Wo denn?“, fragte ich.
„Ich bin kürzlich draufgekommen, dass es ein furchtbares Erdbeben gibt, wenn ein Land Krieg führt. Du fragst warum? Nun, das ist klar: Nachher, wenn aus der ganzen Stadt Rauch aufsteigt, wirst du’s verstehen.“
Manchmal rezitierte er Gedichte, sagte Dinge, die ich bislang nie aus seinem Mund gehört hatte. Und Mutter fragte: „Was hast du ihm bloß auf den Kopf geschlagen?“
„Ich?“ Doch ganz unwillkürlich zog es mich zum Haus der Geistheilerin, und ich brachte sie her. Aber auch jetzt konnte ich Mutter nicht davon überzeugen, dass mich keine Schuld traf.
Die Geistheilerin riet uns: „Gebt den Armen etwas! Wenn ich mehr als das sage, geht eure ganze Sippe zugrunde.“
Mutter war ganz und gar aus dem Häuschen, ruhelos, und sie konnte doch nichts tun.
„Vielleicht war’s ein anderer!“, vermutete sie.
„Dankt Gott“, sagte die Geistheilerin, „dass es nicht noch schlimmer gekommen ist!“
„Mutter“, warf ich da ein, „frag ihn doch selbst! Du vermutest doch, dass ihm jemand irgendwas auf den Kopf geschlagen hat.“
Die Geistheilerin aber meinte: „So wie es aussieht, hat er sich das selbst angetan.“
„Was weiß ich“, sagte Mutter und weinte. Sie stieg die Treppe hinunter, kam wieder herauf, öffnete ein Fenster und schloss es wieder. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Wir legten Aidin auf mein Bett, er blieb aber nicht liegen. Da brachten wir ihn runter in seine eigene Höhle. Doch auch dort stand er gleich wieder auf und redete dummes Zeug.
„Hol einen anderen Arzt!“, befahl mir die Mutter.
„Seit wann ist er denn so?“, fragte Doktor Shushanik.
„Schon seit einigen Tagen benimmt er sich nicht mehr normal, aber seit heute ist er völlig durcheinander“, erklärte ich.
„Wo wart ihr nur? Was habt ihr gegessen?“, fragte Mutter wieder.
„Wir waren in Villadarreh, haben Kebab gegessen und sind wieder zurückgekommen“, antwortete ich.
Doch der Arzt meinte: „Das kann keine Vergiftung sein. Das ist ein Schock!“ Und er nahm Aidin Blut für eine Untersuchung ab.
Aidin konnte nicht mehr richtig sprechen. Seine Lippen bewegten sich schnell, er stammelte uns Unverständliches, ging ruhelos hin und her. Doktor Shushanik brachte ihn mit einer starken Spritze zur Ruhe. Und ging. Mutter wusch Aidin die Füße und weinte. Sie glaubte wohl, er habe Fieber. Ich stand draußen vor der Tür auf der Treppe. Mutter warf mir einen hasserfüllten Blick zu, unter dem ich fast zerging.
„Hast du endlich dein Ziel erreicht?“, sagte sie, legte den Kopf auf den Rand von Aidins Bett und weinte bitterlich.
Ach, wäre sie doch noch am Leben und sähe, was ich erdulden muss! Wenn sie sehen könnte, dass mich dieser Mensch so weit gebracht hat, dass ich ihn an den Gitterstäben der Veranda oben anketten musste, würde sie auch um mich weinen.