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Оглавление«Uns fehlt die Leidenschaft.»
Drei Tage vor den Europameisterschaften der Strandsegler in St. Peter-Ording sagte sie es mir. Ich verstand sie nicht, war befremdet. Eine überbrückende Phrase fiel mir nicht ein. Ich schwieg. Ihr strenger Gesichtsausdruck verunsicherte mich. Ich löste meinen Blick von ihr, sah durch das Wohnzimmerfenster, suchte mit meinen Augen einen Halt. Das Licht der Nachmittagssonne schminkte die weiße, stuckverzierte Fassade des gegenüberliegenden Hauses aus der Gründerzeit gelblich. Die Pflanzen und Blumen auf meiner Dachterrasse zitterten im Wind.
Claudia atmete übertrieben laut durch die Nase aus.
«Daran hapert es doch bei uns. Deswegen kommen wir nicht weiter», sagte sie. Es hörte sich an, als fällte sie ein Urteil.
«Was soll das? Damit kann ich nichts anfangen», antwortete ich und sah wieder zu ihr hin. Ihr Mund wurde schmal, ihr Blick taxierend.
«Nichts?», fragte sie.
«Nichts», antwortete ich bestimmt.
«Uns fehlt wirklich die Leidenschaft», behauptete sie und zog ihre Stirn hoch, auf der sich zwei symmetrisch verlaufende Wellenlinien deutlich abzeichneten.
«Du wiederholst dich», sagte ich, den Faltenwurf ihrer Stirn weiter musternd.
«Ich würde es dir zu gern noch ein dutzend Mal sagen.»
«Besser nicht.»
Ein gespanntes Schweigen schob sich zwischen uns. Mir schien, als wären wir plötzlich zu Gegnern geworden, die sich gereizt belauerten. Ihre etwas zu klein geratenen Augen blitzten, ihr weit geschwungener Mund wirkte energisch. Sie sah jetzt schöner aus als sonst. Mit einem großen Schluck leerte sie die Kaffeetasse und stellte sie ebenso hart wie laut auf die Untertasse.
«Du willst mich nicht verstehen.»
«Doch. Aber es fällt mir schwer.»
Ich versuchte, ein überlegenes Lächeln aufzusetzen, spürte aber, wie es verrutschte.
«Du hältst dich zurück. Immer mehr. Warum, das weiß ich nicht. Ich dachte, du würdest dich steigern.»
Ich kam mir angeschlagen vor, mein Puls beschleunigte sich.
«Reklamationen bitte nur schriftlich», sagte ich so ruhig wie möglich.
Schnell, als wollte sie vor etwas fliehen, stand sie auf, ging zum Fenster, vor dem sie mit verschränkten Armen stehen blieb. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Wir schwiegen uns an.
Je länger ich ihre von mir abgewandte Gestalt betrachtete, desto stärker fühlte ich mich zu ihr hingezogen. Ich bildete mir noch ein, dass uns mehr verband als trennte.
Ich stand auf, wollte sie umarmen, eher ein Reflex, blieb aber sofort stehen, als sie sich umdrehte und ich ihr verschlossenes Gesicht sah. Ihre Augen musterten mich abschätzig.
«Wir machen einfach zu wenig aus unserer», sie stockte, wohl eine kalkulierte Pause, «Beziehung», fuhr sie fort. «Wir machen es uns einfach zu bequem. Es kommt mir so vor, als wäre alles bei uns nur noch eine Liebelei. Angenehm und pflegeleicht. Doch damit gebe ich mich nicht mehr zufrieden.»
«Du bist also mit mir, beziehungsweise mit uns unzufrieden», folgerte ich.
«Ja, es ist alles so mittelmäßig geworden.»
«Alles?», fragte ich erstaunt.
«Was willst du denn jetzt von mir hören?»
«Nur die Wahrheit. Mehr nicht.»
«Mehr nicht? Sehr bescheiden.» Sie lächelte eisig. Ich setzte mich wieder, schenkte mir eine Tasse Kaffee ein. Claudia wirkte ebenso vorwurfsvoll wie unversöhnlich.
«Vermisst du etwa nichts bei uns?»
«Ehrlich gesagt, nein. Ich vermisse wirklich nichts bei uns, Claudia.»
«Aber ich. Ich vermisse bei uns –»
«Die Leidenschaft», beendete ich ihren Satz.
«Genau. Wir lassen immer mehr nach. Als wären wir schon ein altes Paar. Dabei sind wir erst seit zwei Jahren zusammen.»
«Immerhin. Das ist doch alles andere als kurz. Wenn man die üblichen Verfallszeiten berücksichtigt, dann sind wir schon relativ lange zusammen.»
«Relativ.»
Sie ging langsam auf mich zu, schien sich neben mich auf die Couch setzen zu wollen, blieb aber dann vor dem Couchtisch stehen. Sie begann an ihrer Unterlippe zu knabbern.
«Komm, setz dich zu mir, Claudia», sagte ich, eine Hand einladend neben mich auf die Couch legend. Warum ich diesen Rettungsversuch noch startete, wusste ich nicht. Einerseits befremdete sie mich, andererseits wollte ich nicht glauben, dass bei uns alles zu kippen schien.
«Ich gehe jetzt besser.»
«Warum das denn?», rief ich erstaunt aus. «Ich verstehe dich nicht.»
«Das weiß ich», sagte sie mit einem knappen Nicken und setzte sich mir gegenüber in den Sessel. Ich sah ihr an, dass sie die Situation auskostete. Sie spielte mit mir, kein Zweifel. Ich kam mir wie ihre Marionette vor.
«Dieses Spiel gefällt mir nicht. Ist mir zu albern.»
«Das ist alles andere als ein Spiel. Du hast überhaupt nichts begriffen. Dass du so unsensibel bist, hätte ich nicht gedacht.»
«Vor Überraschungen ist man eben nicht sicher.»
Sie sah mich abwartend an, schien sich in einem eingebildeten Gefühl der Überlegenheit zu sonnen. Ich hatte den Verdacht, dass sie einer Taktik folgte, die sie sich vorher zurechtgelegt hatte. Ich verspürte aufsteigende Wut, wollte sie mit Worten ohrfeigen.
«Wir haben schwer nachgelassen», meinte sie bedeutungsvoll und sah mich lauernd an.
«Vielleicht brauchen wir ja ein Dopingmittel», giftete ich.
«Du bist ... gemein», stieß sie hervor. Ihr Blick flatterte nervös durch den Raum.
«Und du verdreht.»
«Nett. Tja, schade. Eigentlich habe ich mich darauf gefreut. Aber es hat keinen Zweck. Ich werde nicht mit dir nach St. Peter-Ording fahren.»
«Musst du wissen. Deine Entscheidung.»
Ich versuchte, möglichst gleichgültig zu erscheinen, obwohl ich mich in diesem Augenblick von ihr verlassen fühlte. Damit konnte ich nicht rechnen. Ich hatte mich gut in Form gefühlt. Es war ein Einschnitt, der mich von meinem gewohnten Kurs abweichen ließ. Sie hatte die Richtung geändert, ohne Vorwarnung; kurz vor den Europameisterschaften hatte ich mein Gleichgewicht verloren. Ich musste jetzt dagegensteuern, um mich wieder in den Griff zu bekommen.
«Wir brauchen eine Pause. Ein paar Tage Abstand.»
«Eine Pause, um uns zu begutachten.»
«Ja. So ungefähr.» Sie schwieg einige Augenblicke. «Weißt du, was ich glaube?», fragte sie und sah mich taxierend an.
«Wie sollte ich? Ich verstehe wahrscheinlich noch nicht einmal, was du weißt.»
Mit einer ärgerlichen Handbewegung wischte sie meine Bemerkung beiseite. Sie schlug langsam und geziert die Beine übereinander, was ich mit einem beobachtenden Blick verfolgte. Das schien ihr zu gefallen. Sie lächelte erst wissend, setzte dann eine ernste Miene auf.
«Also, ich glaube, dass ich für dich gar nicht so wichtig bin. Nein, du brauchst nicht zu protestieren», sagte sie, als ich meinen Mund öffnete, um ihr irgendeine hingeschwindelte Nettigkeit zu sagen, die mir aber nicht einfiel.
«Wenn wir nicht zusammen sind, vermisst du mich nicht. Für dich ist ja alles sowieso nicht so wichtig. Bis aufs Strandsegeln.»
«Das ist für mich wirklich wichtig», sagte ich sehr betont und musste an die Europameisterschaften denken, die für mich der Höhepunkt des Jahres waren.
«Thomas, ich bin davon überzeugt, dass du, wenn du wählen müsstest, zwischen mir und dem Strandsegeln, dann würdest du dich fürs Strandsegeln entscheiden. Stimmt's?», fragte sie und sah mich forschend an. Sie machte ein Gesicht wie eine Untersuchungsrichterin.
Ich hätte am liebsten laut aufgelacht, beherrschte mich aber. Was für eine Frage! Daran hatte ich vorher nie gedacht. Claudia konkurrierte mit dem Strandsegeln. Ich überlegte kurz, ja, ich würde mich für das Strandsegeln entscheiden, kein Zweifel. Aber das wollte ich ihr jetzt doch nicht sagen.
«Wie kommst du bloß auf so eine alberne Frage?», wich ich aus. «Ich habe wirklich keine Lust, dir darauf zu antworten.»
«Schade, ich hätte es aber gern gewusst. Fehlt dir für eine ehrliche Antwort etwa die Courage?»
Ich spürte, wie mich diese Frau, die ich gestern noch lustvoll in den Armen gehalten hatte, mit einem Mal abstieß. Sie spielte sich vor mir auf. Ich suchte nach einer passenden Gemeinheit, fand sie.
«Wenn mein Strandsegler so gut vögeln könnte wie du, dann würde ich mich sicherlich für ihn entscheiden.»
«Jetzt hast du es mir aber gegeben», sagte sie sichtlich verärgert. «Wenn wir so weitermachen, werden wir uns noch streiten.»
«Streiten wir uns nicht schon? Ein Streit kann manchmal klärend und reinigend sein.»
«Kommt ganz darauf an.» Sie kippte ihren Kopf etwas zu Seite und blickte mich lauernd an. Ihre linke Hand strich mehrmals über die Armlehne, verharrte dann, als sie bemerkte, dass ich ihr dabei zusah und ein amüsiertes Lächeln aufsetzte. Sie umfasste mit der Hand die Lehne, als wollte sie sich daran festhalten.
«Du sagtest, Claudia, dass wir beide stark nachgelassen haben. Oder so ähnlich. Eine Art Kursrutsch in unserer Beziehung. Jetzt kommt die fällige Neubewertung. Eine Korrektur.» Ich schwieg einen Moment. «Du hast uns anscheinend genau analysiert. Wie viele Sterne könntest du uns noch geben?», fragte ich.
«Sterne? Na ja. Dazu sage ich besser nichts.»
«Zwei Sterne? Einen? Oder gar keinen mehr?»
«Ach, lass doch jetzt das Spekulieren.»
«Fällt mir schwer. Ist eine Berufskrankheit.»
«Das glaube ich auch.» Sie furchte die Stirn, sah mich missbilligend an, stand abrupt auf.
«Na schön. Ich gehe jetzt. Wir sehen uns. Melde dich, wenn du zurück bist. Mast- und Schotbruch. Also bis dann.»
«Bis bald, Claudia.»
«Ja. Bis bald.» Sie zögerte kurz, beugte sich schnell zu mir hinunter, küsste mich flüchtig auf die Lippen. Ich konnte sie nur noch lose umarmen, dann hatte sie sich wieder aufgerichtet. Sie sah mich kurz an, wie jemanden, von dem man enttäuscht ist, drehte sich dann um und ging durch die offene Wohnzimmertür in die Diele. Mir fiel wieder auf, dass sich ihr Gang verändert hatte, sie kleinere, geschmeidigere Schritte machte. Ihr Gang sah jetzt etwas gewollt aus, als würde sie ihn noch einüben. Ihre Absätze hämmerten kurz über den Steinboden, dann öffnete sie die Haustür und zog sie erstaunlich behutsam hinter sich zu.
Eine starke Performance, dachte ich. Sie hatte ihren Auftritt gehabt, fühlte sich jetzt wohl glänzend. Das kannte ich von ihr. Was ich gerade mit ihr erlebt hatte, war eine weitere Kostprobe ihres schauspielerischen Talents auf der Alltagsbühne, dieses Mal jedoch für mich alles andere als amüsant. Davon musste ich mich erholen, so schnell wie möglich. Ich spürte bereits eine Ernüchterung, die Claudias Kurswert fallen ließ. Was für eine unechte Frau! Sie neigte dazu, sich zu inszenieren und davon mitreißen zu lassen. Sie brauchte hin und wieder ihre kleinen Siege, die ich ihr bislang gern gelassen hatte. Das erzeugte meistens eine beschwingte Stimmung, die den Tag polierte. Vor allem unser Sex bekam auf diese Weise mehr Glanz. Sie drehte dann mächtig auf, sehr reizvoll, auch wenn sie dabei übertourte. Wirkung war für sie wichtiger als Wahrheit. Es konnte lästig sein, aber meistens bot sie ein interessantes Schauspiel. Regisseurin und Schauspielerin zugleich. Und heute? Sie hatte sich selbst übertroffen. Sie hatte alle Fäden in der Hand gehabt, aus mir eine Marionette gemacht. Ich konnte nur reagieren.
Uns fehlt die Leidenschaft. Was für ein Satz! Verändert alles. Ein Satz wie Gift. Wir würden uns davon nicht mehr erholen. Das begriff ich schon. Aber ich verstand nicht, was Claudia mit ihrem Verhalten bezweckt hatte. Es wirkte unpassend, gekünstelt. Als hätte sie etwas zu verbergen. Was sie mir aufgetischt hatte, war überwürzt. Das gehörte zu ihrem Charakter. Sie überwürzte gern. Ihre Bedeutung für mich hatte ich nie überschätzt. Aber ich hatte mich an sie gewöhnt, ihre Vorzüge genossen und ihre Fehler bagatellisiert. Was war schon geschehen? Alles andere als ein Drama. Noch wirkte sie nach. Eine gewisse Dosis Zeit brauchte ich noch, das spürte ich. Aber dann wäre ich kuriert. Claudia müsste schon bald ganz aus meinem Leben verschwunden sein. Nur noch Geschichte. Verflüchtigt. Der übliche Verlauf.
Ich stand auf, ging langsam durchs Wohnzimmer, nahm eine Wirtschaftszeitschrift vom Tisch, blätterte darin, legte sie wieder zurück und setzte mich in den Sessel, in dem kurz vorher noch Claudia gesessen hatte. Für einen Moment schien es mir, als würde ich ihr Parfum riechen, doch es war nur eine Täuschung. Ich musste an die Performance der beiden Fonds denken, für die ich als Fondsmanager bei der Select-Kapitalgesellschaft zuständig war. Verglichen mit unserem abrupten Kursrutsch vorhin, ging es ihnen glänzend. Glücklicherweise.
Ich managte damals zusammen mit einem Kollegen einen reinen Deutschlandfonds und einen europäischen Fonds, der sich auf kleinere, aufstrebende Unternehmen spezialisiert hatte. Die Marktdaten waren heute im Vorfeld der Zinsentscheidung der US-Notenbank von Zurückhaltung geprägt gewesen. Das Klima an den Finanzmärkten würde wohl in den nächsten Tagen gemäßigt bleiben. Heftige Verwerfungen waren nicht zu befürchten. An die beiden Fonds konnte ich aber nicht länger denken. Ich klebte mit meinen Gefühlen noch zu sehr an Claudia. Es war eindeutig ein Kursrutsch. Oder sogar ein Crash. Heute war unser schwarzer Mittwoch. Knapp zwei Jahre hatten wir uns aneinander gewöhnt und uns dabei auch zurechtgemacht. Würde man es als Kurve darstellen, dann wäre es ein Chart ohne große Ausschläge im Koordinatensystem der Zweisamkeit. Ein paar Spitzenwerte gab es natürlich zu Beginn, aber das mäßigte sich bald wieder. Über uns hatte ich mir nie Illusionen gemacht. Nichts Besonderes, aber doch erfreulich genug. Verglichen mit dem Standard, schnitten wir besser ab. Gäbe es einen Index für Paarbeziehungen, wir hätten ihn wohl geschlagen. Claudia wollte immer mehr, als ihr die Gegenwart bot, stellte hohe Ansprüche, auch an sich selbst. Sie versuchte sich zu veredeln, bildete sich gezielt, um zu brillieren. Wie sie ihren Gang auf geschmeidig trimmte! Und diese zum Spott reizenden Attitüden! Sie hatte ein Faible für Frankreich, was sie oft betonte. Manches schien sie direkt aus französischen Filmen übernommen zu haben. Sie lippizzanerte und französelte, dachte ich. Eine Definition, die mir jetzt dabei half, mich weiter von ihr zu lösen. Ich würde ihr sicherlich nicht nachtrauern.
Nach kurzem Zögern entschloss ich mich, doch zu dem spanischen Restaurant zu fahren, wo ich gestern einen Tisch für uns bestellt hatte. Mir fiel keine bessere Ablenkung ein. Warum sollte ich dort jetzt nicht alleine essen?
Das am Alsterufer gelegene Restaurant war für mich schnell zu erreichen, die Küche hielt, was die strenge Exklusivität der Einrichtung versprach. Ich wählte das Menü des Tages, ein Lammgericht, das mir der Kellner empfohlen hatte. Durchgebraten und anstatt der Bohnen, bitte einen Salat. Während ich auf das Essen wartete, bemerkte ich eine verloren wirkende Frau, die ein Fischgericht aß und mich zwei Tische entfernt mit verstohlenen Blicken musterte. Sie war wohl mehr als ein halbes Jahrhundert alt, ein Gesicht, das früher einmal schön war, aber jetzt die Konturen verlor. Mit einer zu jugendlichen Aufmachung und einer zu augenfälligen Schminke versuchte sie zu retten, was nicht mehr zu retten war. Sie hatte schon bessere Tage gesehen. Sie erinnerte mich an ein ramponiertes altes Seebad. Tristesse hatte ihr Gesicht gezeichnet. Vielleicht gehörte sie zu denen, die mit dem Leben kollidiert waren, einen Frontalzusammenstoß erlitten hatten. Doch dann fiel mir auf, dass ihr Blick noch wach wirkte, etwas Gieriges hatte. Als gäbe es in ihr noch einen Rest Lebenshunger, der darauf wartete, gefüttert zu werden. Sie war jetzt in dem Alter, in dem man daran leidet, dass man nicht gemacht hat, was man machen wollte, als man noch jung war. Sie kam mir wie eine Mahnung vor.
Neben ihr saß eine vierköpfige, etwas aufgeregte Familie, die mich genauso wenig interessierte wie das gegen das Schweigen ankämpfende ältere Paar am Tisch vor mir oder der mit seinem Handy beschäftigte Mann in der Nähe des Eingangs.
Das Essen schmeckte ausgezeichnet. Ich überlegte, wie ich den Abend ausklingen lassen sollte. Mir fiel nichts Besseres ein, als in den Film zu gehen, den ich mir zusammen mit Claudia hatte ansehen wollen. Nicht auszuschließen, dass ich sie dann sogar treffen würde. Vielleicht zusammen mit ihrer Freundin Sigrid, von der sie gern cineastische Versatzstücke übernahm. Es war mir egal, ob ich sie sehen würde oder nicht.
Ich zahlte, gab dem Kellner ein übertrieben großes Trinkgeld, ohne zu wissen, warum. Er versuchte, seine Überraschung zu verbergen, was ihm jedoch nicht gelang. Sein Danke fiel atemlos aus und sein zunächst beherrschtes Lächeln verrutschte, bekam, als hätte ich ihm ein Spielzeug geschenkt, etwas Kindliches. Lakaienhaft hielt er mir die Tür auf, als ich das Restaurant verließ.
Vor der Kinokasse hatte sich eine lange Schlange gebildet. Ich wollte mich dort nicht einreihen, so wichtig war der Film für mich nicht, beschloss, zu meinem Wagen zurückzugehen. Doch dann erblickte ich sie, mitten in der Schlange. Sie trug einen neuen Trenchcoat, hatte ihr Haar hochgesteckt. Neben ihr stand ein sehr gepflegt aussehender Mann, vielleicht Anfang vierzig. Sie hatte sich bei ihm eingehakt, unterhielt sich mit ihm, küsste ihn kurz auf die Wange, sah mich nicht, als ich entschlossen auf sie zuging. Ich wollte nicht ausweichen, suchte die Konfrontation. Ich spürte ihr gegenüber eine Kälte wie nie zuvor.
«Grüß dich, Claudia. Ich hatte gar nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen würden.»
Mit einem «Ach!» drehte sie sich ruckartig um, sah mich kurz erstaunt, dann böse an. Sie fasste sich schnell, löste sich von ihrem Begleiter, der nicht wusste, wohin er blicken sollte. Sie vergrub die Hände in ihrem Trenchcoat.
«Ich auch nicht», sagte sie gepresst.
Ich kostete die für sie sichtlich peinliche Situation aus. Ich kam mir vor wie in einem Boulevardstück. Der Mann neben ihr war ansehnlich, hatte wohl ein gewisses Niveau und tanzte bestimmt nach ihrer Pfeife, froh, mit ihr zusammen zu sein.
«Der Film soll sich wirklich lohnen», sagte ich freundlich lächelnd und blickte zu ihm hin. «Guten Abend.»
«Guten Abend», antwortete er, meinem Blick ausweichend.
«Ziemlich voll hier», stieß Claudia hervor und machte ein paar Schritte, um die größer gewordene Lücke vor ihr zu schließen. Der Mann folgte ihr hastig. Er verblasste neben ihr. Er kam mir wie eine Zugabe vor.
«Übrigens, Claudia, du hast heute deinen Pyjama bei mir liegen lassen.»
Sie öffnete ihren Mund, verzog ihn dabei. Das machte sie immer, wenn sie sich aufregte und ihre Emotionen zu dämpfen versuchte. Sie war offensichtlich sprachlos, was ich genoss. Sie sagte sekundenlang nichts, starrte mich von der Seite wie einen Feind an. Sie wirkte verblüfft, aber auch kampfbereit.
«Tatsächlich?», stieß sie schließlich hervor.
Ich sah sie so abschätzig wie möglich an, sagte nichts mehr und ging. Ich wollte mit ihr nicht weiterspielen. Es reichte. Die Revanche war mir sofort gelungen. Dieses Boulevardstück war für mich jetzt zu Ende. Ich spürte Zufriedenheit, als ich mich von dem Kino weiter entfernte. Ich hatte es ihr gezeigt. Ziemlich gemein, aber es war auch nötig, Balsam für mich. Claudia würde wohl noch weiter daran würgen. Dass sie allem Anschein nach schon länger einen Liebhaber hatte, ernüchterte mich, ließ meine Gefühle für sie schneller erkalten. Ihr Pyjama! Ich lachte kurz auf. Was sie für ein Gesicht gemacht hatte! Sie konnte ihn gar nicht bei mir vergessen haben, weil sie nie einen Pyjama trug. Ein passender Einfall von mir, um sie bloßzustellen, ihr eins auszuwischen. Das hatte ich gebraucht. Ich war fertig mit ihr. Warum sollte ich ihr auch nachtrauern angesichts der Tatsache, dass sie mich an der Nase herumgeführt hatte? Und das geschickt, ich hatte nämlich nichts geahnt, was mich jetzt ärgerte. Wie konnte ich nur so naiv gewesen sein, hatte ich es mir mit ihr zu bequem gemacht? Nicht so wichtig. Sie war es jedenfalls nicht wert, dass ich ihretwegen Trübsal blies. Eine längere Episode war vorbei. Claudia konnte ich jetzt abschreiben. Sie zu ersetzen, würde nicht schwierig sein.
Ich ging noch nicht zu meinem Wagen zurück, blieb in dem Viertel, ließ mich ziellos treiben, betrachtete Passanten, sah in Geschäfte und Lokale. In den letzten Jahren hatte sich das Gesicht des Viertels stark verändert. Die Gosse war verschwunden. Geschickte Investitionen hatten das vormals Schäbige und Abweisende verdrängt. Was ich sah, zeugte von geschäftlichem Optimismus, der zum Geldausgeben einlud. Ich ging an einem kleinen Hotel vorbei, dessen Fassade aus der Gründerzeit aufwendig restauriert worden war und mit dem benachbarten italienischen Restaurant eine Einheit bildete. Zwei Paare kamen schwungvoll aus dem angesagt wirkenden Restaurant, gingen zu einem wartenden Taxi. Eine der beiden Frauen machte große, hüftsteife Schritte, bei denen sie etwas in den Knien einknickte. Ein rustikaler Gang. Ich musste an Claudias Gang denken. Damit verglichen, schwebte sie geradezu übers Trottoir. Ihr geschmeidiger, aber auch antrainierter Gang. Als würde sie an einem Spiegel vorbeilaufen und sich dabei zuschauen. Jetzt saß sie bestimmt aufgewühlt neben ihrem Liebhaber, der sich betrogen fühlen musste, sie mit anderen Augen sah. Den Film über eine französische Widerstandskämpferin würde sie wohl nicht genießen können. Sie schwärmte von Frankreich, wäre am liebsten Französin gewesen. Aber was interessierte mich das noch. Eine Frau, die mich getäuscht und ernüchtert hatte, mit der mich nichts mehr verband. Sie lippizzanert und französelt. Ich merkte, wie mich diese Definition stärkte, alles transparenter machte, mich von Gefühlsballast befreite. Eine reinigende Wirkung. Ich konnte sie nicht mehr ernst nehmen, durchschaute sie. Es war ein Temperatursturz meiner Gefühle für sie innerhalb kürzester Zeit. Vielleicht war es wirklich nicht mehr als eine Liebelei, die ihre Verfallszeit sowieso schon längst überschritten hatte, nur von der Gewohnheit verlängert worden war. Nicht so wichtig, eine Episode, die bald von der Vergangenheit geschluckt würde. Ich würde mein Leben sicherlich auch ohne sie genießen. Meine Stimmung hellte sich immer mehr auf.
Ich ging an einem Friseur und einer Weinhandlung vorbei, blickte kurz in ein Geschäft, das im Stil einer alten Apotheke eingerichtet war, eine riesige Anzahl von Tees, Kräutern und Naturkosmetika anbot. Neben der Glastür prangte ein zu großes Messingschild mit der Aufschrift: Dr. phil Bastian Rotrup, Psychotherapie, Naturheilverfahren. Das belustigte mich. Wohl ein verkrachter Geisteswissenschaftler, der hier eine lukrative Marktlücke entdeckt hatte. Eine Art Großstadt-Schamane. Heilte mit duftenden Kräutern, salbungsvollen Phrasen und einem vor Freundlichkeit triefenden Gesicht. Ließ sich seine Bluffs wohl gut bezahlen. Vielleicht jemand, der bekiffte Augen hatte und Designer-Jeans trug. Ich überquerte die Straße, ging an einem Secondhand-Laden vorbei, betrachtete flüchtig mich wenig ansprechende Abstraktionen, die in einer Galerie ausgestellt waren, und beschleunigte meinen Schritt, als ich meinen Wagen erblickte.
Ich fuhr durch Barmbek, ein heftiger Regenschauer überschwemmte die Straßen, die im Scheinwerferlicht glänzten. Ich überlegte, ob ich noch Konrad Behrens besuchen sollte, entschied mich dagegen. Ich wollte heute Abend alleine sein. Konrad würde ich sowieso morgen in St. Peter-Ording treffen. Was ich mit Claudia erlebt hatte, würde ihn in seiner von Anfang an kritischen Einstellung ihr gegenüber bestätigen. Vermutlich würde er alles mit Fuzzy-Logik würzen, mit der er sich als Mathematik-Professor seit Jahren beschäftigte.
Vor einer Ampel sah ich, wie sich Regenwasser, Blätter und Abfall vor einem Gully stauten, sich eine große Pfütze bildete, die nicht in die Kanalisation abfließen konnte. Das marode Kanalnetz Hamburgs fiel mir ein, als ich anfuhr. Die Eingeweide der Stadt, die ihren Unrat ausschied. Unter dem Asphalt flossen durch undichte Rohrleitungen die Abwässer der Stadt, versickerten im Untergrund, belasteten Grundwasser und Boden. Zig Millionen mussten in das Abwassersystem gepumpt werden, ein großes Geschäft für die Firmen, die sich darauf spezialisiert hatten. Deswegen hatte ich vor knapp einem Jahr ein großes Aktienpaket von einer Firma gekauft, die zu den größten der Branche zählte. Eine Investition, die sich schon ausgezahlt hatte, weil der Börsenkurs von Cleanova sich nach einer Umsatzsteigerung von 25 Prozent fast verdoppelt hatte. Dieses glänzend aufgestellte Unternehmen würde auch weiterhin zu meinen klaren Favoriten zählen, nichts deutete auf einen Abschwung hin, im Gegenteil, es lud zu viel Kursfantasie ein. Um Risse und Lecks zu finden und zu reparieren, setzte es sogar einen mit einer Videokamera ausgestatteten Roboter ein, der dann verwertbare Dokumentationen über den stinkenden Untergrund der Städte lieferte. Der Roboter hatte auch Hamburg unter dem Asphalt genau inspiziert. Die Kanalnetze der meisten deutschen Städte waren veraltet, defekt; überall leckte es aus undichten Stellen, Modernisierungsmaßnahmen waren dringend notwendig. Für die Wasserwirtschaft ein bombiges, zukunftssicheres Geschäft. Ein gut funktionierendes Abwassersystem war ein Muss für die Städte, auf die hohe Ausgaben zukamen, damit die hygienische Grundversorgung ihrer Bürger gesichert werden konnte. Die menschliche Kloake wird immer Probleme bereiten, dachte ich, als ich über regennasse Straßen, unter denen die Abwasser Hamburgs auf die Klärwerke zuströmten, zurück nach Hause fuhr. Wo viele Menschen zusammenleben, da muss auch vieles geklärt werden.
Der menschliche Dreck. Unmassen davon wurden schlecht gefiltert in die Elbe geleitet und dann weiter in die Nordsee transportiert. Vermischte sich dort mit dem Dreck anderer Flüsse, trieb entlang der Küste gen Norden. Unaufhaltsam.
Das Telefon klingelte. Im Display sah ich die Nummer von Claudia. Ich überlegte kurz, nahm dann den Hörer nicht ab. Als der Anrufbeantworter sich einschaltete, legte sie auf. Auseinandersetzungen mit ihr wollte ich jetzt vermeiden. Von ihr würde ich mir auf keinen Fall die Europameisterschaften verderben lassen. Dagegen war ich vielleicht schon immun. Ich fühlte mich noch immer gut in Form, freute mich auf die Rennen, rechnete mir bessere Chancen aus als beim letzten Mal in Berck sur mer. Eine gebrochene Läuferplanke hatte mich nach einer Kollision mit dem viel zu riskant fahrenden Nigel Connally den schon sicher geglaubten 5. Platz gekostet.
Ich ging in mein Arbeitszimmer, setzte mich an den Schreibtisch, schaltete den Computer ein. Ich wollte noch wissen, was sich auf dem Finanzmarkt abgespielt hatte.
Nach einem schwachen Start hatten die Kurse an den europäischen Börsen doch noch zugelegt. Für freundliche Stimmung sorgten positive Überraschungen aus der beginnenden Berichtssaison. Investoren witterten sofort ihre Chance, deckten sich renditegläubig ein. Im Branchenvergleich zählten besonders Technologie- und Konsumgütertitel zu den Gewinnern. Der Dow Jones hatte nach ruhigem Verlauf kaum verändert geschlossen. Die aktuellen Konjunkturdaten ließen die Wachstumsaussichten für die amerikanische Wirtschaft als stabil erscheinen. Der Optimismus wurde jedoch gebremst von der Konfliktlage im Nahen Osten und dem wieder anziehenden Ölpreis.
Die Tagesperformance der beiden Fonds, die ich managte, bot ein zufriedenstellendes Bild. Zwar hatten die Kurse eines Hoch- und Tiefbau Unternehmens und einer Biotech-Firma nachgegeben, doch diese kleinen Verluste gehörten zu der einkalkulierten Schwankungsbreite. Der mit deutschen Aktien bestückte Fonds lag mit 0,7 Prozent im Plus, der andere, im gesamten Euroraum spekulierende sogar mit 1,2 Prozent. Für beide Fonds erwartete ich in den nächsten Monaten deutliche Kurssteigerungen. Mit seriösen Wirtschaftsprognosen hatte ich meine Strategie abgesichert. Den Index würden sie wohl auch in diesem Jahr deutlich schlagen. Das allein wäre schon ein Erfolg.
Ich schaltete den Computer aus. Ich wollte mich nicht länger mit den hektischen Zuckungen des dauernd überdrehten Kapitalmarktes beschäftigen. Dieser ganze spekulative Krampf, der mein Leben seit Jahren bestimmte. Zwar verdiente ich glänzend, konnte mir auch keinen für mich geeigneteren Beruf vorstellen, aber ich merkte, wie mein Unbehagen wuchs. Ich kam mir wie ein Schauspieler in einer Rolle vor, die ihm immer fremder wurde. Es war eine Tätigkeit, die mich lange Zeit gefesselt hatte, ihren Reiz jedoch mehr und mehr verlor. Ich versuchte, mich anfangs dagegen zu wehren, aber dann gab ich nach. Bei mir nistete sich das Gefühl ein, auf einem Kurs unterwegs zu sein, der mich von mir selbst entfernte. Auch jetzt wieder. Was für ein Tag! Mein Leben befremdete mich.
Das Telefon klingelte. Es war Claudia, die wieder auflegte, als der Anrufbeantworter sich einschaltete. Ich fühlte mich von ihr gestört. Ich nahm das Telefon, öffnete das Adressbuch und löschte ihre Nummern. Warum sollte ich sie noch länger speichern? Wir waren gekentert, es war vorbei.
Uns fehlt die Leidenschaft. Was für ein Satz! Vielleicht hatte sie ihn irgendwo gelesen und dann auf uns gemünzt. Als würde sie nach einer Mängelanzeige Bilanz ziehen. Egal. Für mich waren die Europameisterschaften wichtiger. Das Strandsegeln war eine große Leidenschaft von mir und ihr würde ich mich bestimmt weiter hingeben.
Ich war am Meer aufgewachsen. Ich hatte im Meer schwimmen gelernt. Ich war Strandsegler geworden.
Morgen, dachte ich, werde ich wieder in meinem Strandsegler sitzen. Ich sah zu dem großen Ölgemälde, das über dem Sofa an der Wand hing. Es stellte einen Strandsegler dar, der meernah über eine Sandbank raste. Das verwischt Impressionistische des Bildes glich einer fotografischen Momentaufnahme, bei der die Geschwindigkeit mit einer scheinbar bewegten Unschärfe betont wird. Es war mein Lieblingsbild, auch wenn es nicht zu den abstrakten Bildern in meinem Wohnzimmer passte, sich deutlich davon abgrenzte. Es erzeugte für mich eine ganz persönliche Wirkung. Jedes Mal, wenn ich es betrachtete, fand ich mich darin wieder.
Ich stand auf, öffnete die Tür, betrat die regennasse Dachterrasse, atmete tief die wie von einem Riesenfächer herangewehte frische Luft ein. Es hatte aufgehört zu regnen, von den gestutzten Sträuchern und Bäumen fielen noch Tropfen auf die Natursteinplatten, die im Licht der Außenlampen matt schimmerten. Ich genoss den Anblick meines Dachgartens, dieses von gärtnerischem Geschick begrünte und von mir leicht zu pflegende Stück Natur. Es ließ die Stadt zurückweichen, machte mein Penthouse exklusiver und privater.
Mein außergewöhnliches Zuhause in bevorzugter Lage hatte einen hohen Stellenwert für mich. Ich spiegelte mich darin, nährte so meinen Stolz, der mich in Hamburg auf eine einfältige Weise begleitete. Ich hatte es zu etwas gebracht. Mit diesem Bewusstsein kostümierte ich mich. Es half mir, mich selbst zu überreden, mein Leben hier schöner zu finden, als es war.
War ich in Hamburg, sehnte ich mich schon bald nach dem Meer, war ich jedoch am Meer, und dann meistens in St. Peter-Ording, fehlte mir nach ein paar Tagen Hamburg, das gewohnte Metropolenleben. Dann wunderte ich mich über mich selbst, wusste es aber nicht zu ändern.
Der Tag schien mir schon vorbei zu sein. Was sollte ich mit ihm noch anfangen? Was passiert war, hatte mich zuerst getroffen, dann aber schnell ernüchtert. Eine Liebelei von mir war verunglückt, nichts weiter. Ich fühlte mich mehr träge als müde. Ich griff zum Hochglanz-Magazin auf dem Glastisch vor mir, schlug das heutige Fernsehprogramm auf, suchte skeptisch darin, fand nichts, reine Zeitverschwendung, blätterte weiter. Ein Artikel über Gesichtsgymnastik hätte Claudia wohl interessiert, die sich mit beträchtlichem Aufwand von Kopf bis Fuß trimmte. Ich las darin, fragte mich, ob die Übungen auch für mich nützlich sein könnten.
Ein Kussmund macht die Lippen schön. Nicht nur der Körper braucht Training, um wohlgeformt und geschmeidig zu bleiben, sondern auch das Gesicht. Deswegen sollten Sie formende Übungen regelmäßig durchführen: Für eine schöne und volle Lippenpartie machen Sie mit den Lippen einen Kussmund und spannen sie einige Sekunden fest an. Für straffe Wangen und optimistisch wirkende Mundwinkel ziehen Sie mit dem Daumen die Mundwinkel in Richtung äußeres Jochbein. Halten Sie die Spannung mindestens sechs Sekunden an. Um dabei die Bildung von Falten zu vermeiden, legen Sie die Zeigefinger direkt neben die Augenhöhlen.
Nein, nichts für mich. Ich käme mir lächerlich vor. Ich legte das Magazin zurück auf den Tisch. Von unten hörte ich leise Stimmen, dann wurde eine Autotür zugeschlagen, ein Wagen fuhr davon. Der Irish Setter der vertrocknet aussehenden Ärztin, der die Parterre-Wohnung gehörte, bellte kurz, verstummte. Ich sah über die Dächer der Nachbarhäuser bis hin zu den Baumschemen des kleinen Parks, über dem sich ein tiefschwarzer Himmel spannte. Ich schloss die Terrassentür, blieb einen Moment unschlüssig im Wohnzimmer stehen, ging dann ins Schlafzimmer, um zu packen. Ich wollte morgen so früh wie möglich losfahren, verspürte Lust, ein paar Tage länger als vorgesehen in St. Peter-Ording zu bleiben. Wie lange, das würde ich erst später entscheiden. So viel stand fest: Ich brauchte Abstand von Hamburg. Ich vermisste das Meer. Ich hätte es jetzt gern gesehen.
Als ich mir die Sachen auf dem Bett zurechtlegte, wurde mir bewusst, dass ich die heutige Nacht und vermutlich auch die nächsten alleine verbringen würde. Das könnte nachteilig für meine innere Balance und meine Form sein. Mein Blick fiel auf ein kleines Ölgemälde über dem Bett, das eine Gitarre darstellte, die auch ein klassisch-schöner Frauenkörper war. Die stöhnende Gitarre dachte ich und lächelte versonnen.
Agnes Ahrens hatte mir dieses Bild geschenkt, wenige Wochen, nachdem sie das in meinem Wohnzimmer hängende Strandsegler-Bild beendet hatte. Ich war von diesem farbintensiven Bild, das mich an eine Sturmfahrt in unmittelbarer Nähe des Meeres denken ließ, begeistert. Sie wollte dafür nur 500 Euro, doch ich konnte sie dazu überreden, die 2000 Euro, die ich ihr in einem Kuvert überreichte, anzunehmen. Sie lebte damals im Niemandsland zwischen Misserfolg und Hoffnung, musste verkraften, dass ihre erste Ausstellung ein Debakel war, nur wenige sie schätzten. Sie sah sich schon als ein dauernder Geheimtipp unter Kollegen. Sie war erst 26 Jahre alt, aber die Zeit schien sie zu hetzen. Ich genoss ihre Emotionalität und ihre mitreißende Sprunghaftigkeit. Ich lebte für sie in einer völlig anderen Welt, die sie trotz aller Fremdheit anzulocken schien. Bei dir fühle ich mich manchmal wie eine Entdeckerin, sagte sie. Was wir an und in uns entdeckten, reichte uns für ein halbes Jahr. Wir erlebten uns ohne romantische Verklärung, ohne Zukunftsfantasie, dafür aber schöpften wir unsere gemeinsame Gegenwart aus, unbeschwert, voller Schwung und manchmal überdreht. Ihre Sinnlichkeit war atemberaubend. Ich bedauerte, dass sie jetzt nicht bei mir war. Ich setzte mich auf das Bett, betrachtete das von ihr gemalte Bild.
«Die stöhnende Gitarre», hatte sie mir gesagt, freudestrahlend, «ich schenke es dir.» Ihre kleine Zweizimmerwohnung inmitten eines Arbeiterviertels war auch ihr Atelier. Die improvisierte Einrichtung, die überall verteilten Bilder und der Geruch der Farben übten einen eigenartigen Reiz auf mich aus. Ich war mit ihr dort gern zusammen, genoss die von Freiheit gesättigte Atmosphäre.
Zuerst klang es wie ein etwas dumpfer Ton, der vom Straßenverkehr erzeugt wurde, von außen in ihr Schlafzimmer zu dringen schien. Doch nach ein paar Tagen merkte ich, dass es nur dann im Bett zu hören war, wenn wir uns liebten, Agnes stöhnte. Und sie stöhnte laut, hingebungsvoll. Es war eine Art Echo, leise zwar, aber nicht zu überhören. Ihr Stöhnen fing sich in ihrer Gitarre, die in der Nähe ihres Bettes neben dem Bücherregal stand. Eine Resonanz. Es kam mir so vor, als würde die Gitarre ihr antworten, auch stöhnen. Sie konnte es nicht hören. «Hat meine Gitarre wieder gestöhnt?», fragte sie manchmal und sah mich dabei mit ihren mandelförmigen Augen versonnen lächelnd an.
Fünf Jahre waren seitdem vergangen, wo und wie sie heute lebte, wusste ich nicht, wir hatten uns nach dem schmerzfreien Ende unserer Beziehung nicht wiedergesehen. In letzter Zeit bedauerte ich es, dass wir uns aus den Augen verloren hatten. Wir hätten versuchen sollen, miteinander befreundet zu bleiben. Wahrscheinlich hatten wir uns unterschätzt.
Agnes zählte zu meinen schönen Erinnerungen, die hin und wieder mein Älterwerden mit einem Anflug gut erträglicher Melancholie begleiteten. Ich dachte heute kaum noch an Claudia, dafür aber mehr an Agnes.
Als ich mich gegen Mitternacht schlaffertig machte, begutachtete ich mich vor dem Spiegel. Ich sah mich ernst an, frontal und im Halbprofil, lächelte mir dann aufmunternd zu.
Mit meinen 38 Jahren konnte ich mich noch sehen lassen. Oder? Doch, doch, noch ganz passabel. Aber mein Kopfhaar begann sich bereits zu lichten. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass ich weniger wurde, unaufhaltsam, da machte ich mir nichts vor. Ich verlor zusehends, was mich schmückte. Mein Verfall bereitete sich nicht mehr vor, er entfaltete sich schon. Ein anderer Frühling. Das war nur natürlich. Warum sollte ich auch deswegen lamentieren? Ich musste versuchen, mich darauf einzustellen, mit allen Tricks, die ich mir im Laufe der Zeit angeeignet hatte. Ich könnte mir ja eine neue Frisur zulegen, mein Haar kürzer tragen, ein kaschierender Schnitt. Was für ein komisches Leben! Es kann ganz schön haarig sein.
Die Wettervorhersage war vielversprechend. 17 Grad an der Nordseeküste, aufgelockerte Bewölkung, keine Niederschläge, starker Wind aus Nordnordwest mit zum Teil heftigen Böen.
Fabelhaft. Wind genug. Kein Flauten-Tag. Mein Strandsegler wartet schon.
Reisefertig, von einem Koffer und einer großen Reisetasche flankiert, ging ich an diesem Morgen durchs Wohnzimmer. Ich hatte es eilig, seitdem ich aufgestanden war, hetzte ich mich, ohne dass es nötig gewesen wäre. Als hätte ich keine Zeit zu verlieren. Ich spürte eine Spannung, die nicht mehr von mir wich. Ich freute mich auf St. Peter-Ording, auf die Europameisterschaften im besten Strandsegel-Revier der Welt. Alles andere war für mich unwichtig geworden.
Als ich die Wohnzimmertür hinter mir schließen wollte, klingelte das Telefon. Ich verharrte, die Hand am Türgriff. Claudia? Gut möglich. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Es war Hendrik Holtrop, der Fondsmanager, mit dem ich am engsten zusammenarbeitete.
«Grüß dich, Thomas. Schläfst du etwa noch oder bist du schon weggesegelt? Wenn nicht, dann ruf mich an. Aber presto. Es ist nämlich wegen der Novotel-Aktien, die wir im Visier haben. Weißt du schon, dass –»
Ich fühlte mich gestört, schloss schnell die Tür, Hendriks Stimme verstummte. Ich wollte meinen Kopf jetzt nicht von den Aktien eines Küchenherstellers besetzen lassen. Dagegen hatte ich mich erfolgreich gewehrt. Für mich war es ein Akt der Freiheit.