Читать книгу Der Körpervirtuose - Achim Balters - Страница 3

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g = 9,81 m/sec².

Newton‘s Fallgesetz, das für alle Körper gilt, die sich erdwärts bewegen, kommt Wiegand jetzt in den Sinn. Er bezieht es auf sich. Es wird heute Nachmittag auch auf ihn einwirken. Bei seinem Sprung aus 55 Metern Höhe wird er fallen, wie er fallen muss. Die Schwerkraft der Erde wird seinen Körper mit einer Beschleunigung von 9,81 m/sec² anziehen. Unwiderstehlich. Ein überall herrschendes Naturgesetz. In freiem Fall zurück zu Mutter Erde.

Wiegand schwitzt. In jeder Hand hält er eine fünf Kilogramm schwere Eisenhantel, die er beide gleichzeitig hebt und senkt. Diese Hantelübungen gehören zu seinem heutigen Körpertraining, mit dem er sich auf seinen Sprung vorbereitet, den er um vier Uhr in dem bayerischen Vergnügungspark »Eldorado« wagen wird.

5000 Euro warten auf mich. Kein schlechter Sekundenlohn. Wenn ich meinen Sprung überlebe. Salto mortale.

Bei diesem Gedanken gerät er aus dem Rhythmus. Er trainiert nicht mehr weiter. Er lässt seine ausgestreckten Arme hinuntersinken und bleibt eine Zeit lang regungslos im Wohnzimmer stehen, die beiden Hanteln dicht neben seinem Körper haltend, der nur mit einer gelben Turnhose bekleidet ist. Dann legt er sie auf den Teppichboden und wischt sich mit beiden Händen Schweiß aus seinem Gesicht. Flüchtig trocknet er sie an der Turnhose ab. Er schüttelt irritiert den Kopf. Schon wieder hat er seinen Sprung mit dem Tod verbunden. Er fragt sich, warum er heute Morgen so denkt, der Tod als Möglichkeit erneut in sein Bewusstsein gedrungen ist, findet aber keine Antwort.

Nervös darf ich jetzt nicht werden. Kaum möglich, dass etwas passiert. Warum sollte es mein Todessprung werden? Ich müsste schon am Luftsack vorbeispringen, oder er müsste platzen. Damit brauche ich nicht zu rechnen. Alles ist durchgetestet worden. Eigentlich kein Risiko für mich.

Er schiebt auf jede Hantelstange eine zusätzliche, ein Kilogramm schwere Gewichtsscheibe aus Gusseisen, schraubt sie fest, nimmt beide Hanteln wieder in die Hände und setzt sein Trainingsprogramm fort. Erst hebt und senkt er sie, dann lässt er sie mit ausgestreckten Armen kleine Kreisläufe ausführen, die er abwechselnd beschleunigt und verlangsamt. Er genießt die Anspannung seiner Muskeln, seine gegen die Erdanziehung wirkende Kraft.

Ich werde es schaffen. Zum ersten Mal ein Doppelsalto aus dieser Höhe. Ein erstklassiger Kunstsprung. Ziemlich gewagt. Aber das Risiko kann ich eingehen. Kein extrem hoher Schwierigkeitsgrad.

Er stellt sich die einzelnen Sprungphasen vor. Mehrmals wiederholt er den kurzen Gedankenfilm, in dem er, in einem Transportcontainer stehend, von einem Autokran in eine Höhe von 55 Metern befördert wird, von wo aus er abspringt, erst einen gekonnten Doppelsalto ausführt, dann kopfüber mit flügelartig ausgebreiteten Armen und stark durchgedrücktem Körper dem Luftsack entgegenfällt, in bester Sturzflughaltung, so lange, bis er kurz vor dem Aufprall seinen Körper eindreht, in Rückenlage schlägt er auf, genau in der Mitte des Luftsacks, versinkt in ihm, klettert dann von ihm herunter und bekommt einen Scheck von 5000 Euro überreicht.

Er legt die Hanteln dicht nebeneinander in das unterste Fach des bis zur Zimmerdecke reichenden Allzweckregals aus schwarz lackiertem Stahlblech. Nach einigen Lockerungsübungen beginnt er mit der Gymnastik, dem letzten Teil seines Körpertrainings, das er ganz auf seinen Sprung zugeschnitten hat. Er winkelt sein linkes Bein an. Stehe hier wie ein Flamingo, denkt er. Zuerst macht er zwölf einbeinige Kniebeugen rechts, dann verlagert er das Gewicht auf sein linkes Bein, winkelt sein rechtes an und lässt zwölf einbeinige Kniebeugen links folgen. Er erinnert sich an die rosafarbenen Flamingos, die er im Frühjahr in Südfrankreich während der Dreharbeiten zu dem Actionfilm »Treibjagd« gesehen hat, wie sie stelzbeinig am Ufer eines kleinen Sees standen, auffallend viele nur auf einem Bein, das andere hoch gewinkelt. Passen mit ihrem rosafarbenen Federkleid gut nach Hollywood, schön kitschiges Hollywoodrosa, komische Viecher, sehen auch irgendwie misslungen aus, hatte er zu Nadine gesagt, die von den Flamingos begeistert war, sie einfach atemberaubend schön fand und kurz streifen seine Gedanken noch ihren sich an den Flamingos entzündenden Streit, der für sie beide symptomatisch war, das bevorstehende Ende ihrer erst bei den Dreharbeiten begonnenen Liebelei ankündigte.

Juckender Schweiß rinnt über sein unrasiertes Gesicht. Er schwitzt stark. Als Unsinn verwirft er sofort die Frage, ob er etwa eine unterschwellige Angst mit ausschwitzt. Ich bewege mich und ich schwitze dabei entsprechend, was sonst. Schnell wischt er sich mit seiner linken Hand über sein schweißnasses Gesicht, während er seinen Rumpf weiterkreisen lässt.

Eine knappe Viertelstunde später turnt er sechsmal hintereinander die Standwaage, die Abschlussübung seiner aus insgesamt zehn Trainingseinheiten bestehenden Gymnastik. Bei jeder Standwaage hält er seinen Körper, der mehrere Sekunden lang waagerecht zum Standbein gestreckt bleibt, mühelos im Gleichgewicht. Sein Bewegungsapparat funktioniert tadellos. Er ist mit sich zufrieden. Seine Form stimmt. Alles spricht dafür, dass ihm sein Sprung gelingen wird.

Gewagte Sprünge gehören zu Wiegands körperbetontem Leben. Sie sind eine Spezialität von ihm und eine brauchbare, wenn auch nur unregelmäßig sprudelnde Einnahmequelle. Um sein Risiko in vertretbaren Grenzen zu halten, plant er sie immer mit einem Höchstmaß an Präzision. So oft er bisher für ein bestimmtes Honorar gesprungen ist, so oft ist er auch unverletzt geblieben. Er bringt seinen Körper ins Spiel, ohne ihn, sein oberster Grundsatz, aufs Spiel zu setzen. Das gilt für seine Sprünge ebenso wie für seine Stürze und andere Körpereinsätze, die mit einem gewissen Risiko verbunden sind.

Geld verdient er ähnlich wie ein Gelegenheitsarbeiter. Er steht öfter zur Verfügung, als er eingesetzt wird. An sein regelmäßig schwankendes Einkommen hat er sich gewöhnt. Es gibt Phasen, in denen er recht magere Summen erhält, der Normalfall bei ihm, solche, in denen er überdurchschnittlich viel einnimmt und dann wieder solche, in denen er überhaupt nichts verdient. Sein Jahreseinkommen zählt zu den finanziellen Niederungen. Offiziell nennt er sich Stuntman, eine Berufsbezeichnung, die ihm angemessener erscheint als Sensationsdarsteller oder Schauspieler. Genau genommen hat er keinen Beruf. Eine Tatsache, die ihm gefällt. In seinen Augen ist er jemand, der seine körperlichen Qualitäten vermietet. Was er macht, sind Gelegenheitsarbeiten, die zu ihm passen und mit denen er auf eine ihm angenehme Weise das nötige Geld verdient. Seinen Lebensstandard hat er seinem Einkommen angepasst. Er ist fast schuldenfrei.

Im Film- und Fernsehgeschäft bieten sich ihm die meisten Chancen, um seine Fähigkeiten zu verwerten. Wenn er engagiert wird, erwartet man von ihm, dass er seinen Körper gekonnt in Szene setzt. Dann leistet er seinen Beitrag zur Zuschauerunterhaltung, dann hat er seine mehr oder minder riskanten, aber immer gut abgesicherten Auftritte, dann passiert etwas, gerät Leben in Gefahr, soll der Reiz des Spektakulären wirken, in den Bann ziehen, dann kommt es zu den spannenden Handlungshöhepunkten, wie sie nervkitzelnde Verfolgungsjagden, wüste Schießereien, verbissene Kämpfe, halsbrecherische Klettereien, tollkühne Sprünge und schwere Stürze liefern.

Seine Darbietungen dauern nicht lange. Man braucht ihn zwar, aber er spielt nur für kurze, aktionsgeladene Szenen eine Rolle. Er gehört zu den nützlichen Randfiguren, die wenig kosten. Er fühlt sich unterbezahlt. Vor allem die Summen, die er als Double verdient, erscheinen ihm oft als lächerlich gering angesichts der Tatsache, dass er dabei ein Risiko auf sich nimmt, das dem Schauspieler nicht zugemutet wird, er eine bemerkenswerte Leistung darstellt und vortäuscht, die den Anschein erwecken soll, als würde sie von dem gedoubelten Schauspieler vollbracht.

Je nach Gelegenheit schauspielert er auch selbst in kleinen Nebenrollen, die er problemlos bewältigt, weil in ihnen das Körperliche eindeutig im Vordergrund steht. In letzter Zeit mehren sich derartige Engagements. Aber er fühlt sich deswegen nicht als Schauspieler. Er macht bei Dreharbeiten mit, bringt seinen Körper ins Spiel, zeigt, was er kann. Dafür bekommt er Geld. Das ist alles. Bisher hat ihm noch kein Film gefallen, in dem er in einer Nebenrolle mitgespielt hat.

Seinen Lebensunterhalt verdient er auch in Vergnügungsparks, bei Firmenfeiern und auf Werbeveranstaltungen, wo er alleine oder mit anderen zusammen publikumswirksam auftritt, für Sprünge, Stürze, Kampfsportdemonstrationen und Showeinlagen bezahlt wird.

Vom herb-frischen Duft des Eau de Toilette umströmt, das er sich nach dem Duschen auf die athletische Brust gesprüht hat, steht Wiegand vor dem aufgeklappten Wohnzimmerfenster und blickt auf die Bäume am Straßenrand. Sie zeigen ihm an, dass nur ein leichter Wind weht. Eine Windstärke, die für seinen Sprung nicht ins Gewicht fällt. Erst ab Windstärke sechs würde er nicht springen. Wie von den Meteorologen vorhergesagt: Temperaturen bis zu 25 Grad, schwacher Wind aus Südost, gegen Mittag aufkommende Bewölkung. Er sieht einer Amsel zu, wie sie reife Beeren von den Zweigen einer Esche schnäbelt und frisst. Einige Beeren fallen auf den Bürgersteig, der menschenleer ist. An den am Straßenrand geparkten Wagen fährt ein Schulbus vorbei. Die Jalousien der Bäckerei sind heruntergelassen. Im Haus gegenüber döst vor dem weit geöffneten Fenster eine massige Frau in einem ärmellosen Kittel, ihre Brüste über ihre aufgestützten Arme knautschend. Neben ihr putzt sich ein Stubentiger. Ein Fahrrad lehnt an der Mauer des Uhrengeschäfts, dessen Schaufenster vergittert ist. Die allgemeine Mittagsstarre in Alsbach widert ihn an. Nur der Briefkasten hat jetzt geöffnet, denkt er. Und das katholische Klubhaus. Jeden Tag durchgehend. Der liebe Gott macht keine Mittagspause. Wie konnte ich nur in dieses dumpfe Nest ziehen? Seit vier Monaten wohnt er in Alsbach und fast genauso lange weiß er auch, dass es ein Fehler war, dieses 42 Kilometer von München entfernte und an den bajuwarischen Einheitsstil angepasste Dorf als Wohnort zu wählen. Seine anfänglichen Bedenken missachtend, hatte er der Verlockung, hier preiswert und gesund leben zu können, nachgegeben. Heute eine Torheit ohnegleichen für ihn. Er hätte sich nicht über Tatsachen hinwegtäuschen dürfen. Die Ruhe und Langsamkeit hier, die bäuerlich genormte Landschaft und die langen Fahrzeiten nach München fielen ihm schon bald auf die Nerven. In seiner Wohnung fühlte er sich nie zu Hause. Vorige Woche hat er sie fristgemäß gekündigt. Er gehört nach München, den ganzen Tag. Da herrscht die Atmosphäre, die er braucht, da fühlt er sich mitten im Leben. Eine neue Wohnung hat er noch nicht gefunden.

Das Telefon läutet. Vielleicht ist es Ingrid. Er sieht nicht zu dem Telefon, das sich in Griffweite neben ihm befindet, zögert kurz, entschließt sich dann, sich nicht zu melden. Er will jetzt mit niemandem sprechen. Wiegand wendet sich vom Fenster ab und geht zu einem der Polstersessel, die aus verschiedenen Sitzgruppen stammen. Er stellt sich mit dem Rücken zum Sessel, legt die Hände auf die abgenutzten Lehnen, stützt sich ab, hebt seine Beine hoch, streckt sie parallel zum Boden aus, zieht sie an und streckt sie wieder. Das wiederholt er mehrere Male. Danach lässt er sich in den Sessel fallen.

Er trägt eine schwarze Baumwollhose und ein weit geschnittenes, olivgrünes Seidenhemd; seine unbestrumpften Füße werden von mokassinartigen, dunkelbraunen Schuhen flach umschlossen. Prüfend atmet er tief durch die Nase ein. Der Duft ist schon merklich schwächer geworden. Er hat sich doch nicht zu stark parfümiert. Bald wird der Duft so weit verflogen sein, dass man ihn nur noch in seiner unmittelbaren Nähe wahrnehmen kann. Er lächelt versonnen. Ingrid mag's, und ich habe mich daran gewöhnt. Vor zwei Wochen hat sie es mir geschenkt. Ein raffiniert zurückhaltender Duft, ich habe ziemlich lange nach einem besonderen Eau de Toilette für dich gesucht, hat sie gesagt und es mir sofort auf den Nacken getupft. Manchmal nimmt sie es auch. Gestern hat sie sich damit ihre Brüste parfümiert. Roch gut. Kenne keine Frau, die eine so empfindliche Nase hat wie sie. Die meisten Männer riechen genauso schlecht wie Pferde, meint sie. Beschnüffelt mich genüsslich, seitdem ich das Eau de Toilette nehme. Frauen haben ja von Natur aus eine feinere Nase als Männer. Trotzdem werden Parfüms meistens von Männern ausgetüftelt. Für Ingrid ein Skandal. Sollen gut dabei verdienen. Bestimmt besser als ich. Auch ein Beruf. Männer mit einer hoch dotierten Nase. Verdammt! Wiegand schlägt mit der Faust auf die Sessellehne, aus der Staubpartikel wirbeln. Ich habe mich von Mander einschüchtern lassen. Wie der mich abgespeist hat. 5000 Euro sind einfach zu wenig für meinen Sprung. Gerissener Kerl, der Mander. Muss sich gewundert haben, dass ich so schnell nachgab und nicht mehr mit ihm weiterfeilschen wollte. Habe mich bluffen lassen und dadurch mindestens 2000 Euro verloren. Ich hätte mehr herausschlagen müssen. Das sagen alle. Vorbei. Eine Lehre für mich. Die 5000 kann ich gut gebrauchen. Der Umzug nach München wird mich einiges kosten. Habe mit einem Sprung noch nie so viel verdient. Trotz allem, ein fabelhafter Sekundenlohn.

Wiegand streckt seine rechte Hand aus, dreht sie zweimal schnell aus dem Handgelenk und lässt sie nach unten fallen. Er sieht zu der Plexiglasuhr, eine Werbeprämie, die in einem Fach des zimmerhohen Allzweckregals steht. Sie zeigt ihm sechs Minuten nach eins an. Noch knapp drei Stunden. G gleich neun Komma acht eins Meter pro Sekunde zum Quadrat, denkt Wiegand, während er sich ein Glas Mineralwasser einschenkt. Noch einmal wiederholt er das Fallgesetz, das für alle zur Erde fallende Körper gilt: g gleich neun Komma acht eins Meter pro Sekunde zum Quadrat. Er sagt es sich wie eine Beschwörungsformel auf. Eine Angewohnheit, die bis in die Zeit zurückreicht, in der er sich als Kunstturner bei Wettkämpfen konzentrierte. Physikalische Gegebenheiten interessieren ihn im Grunde nicht, aber diese eine Formel schätzt er über alle Maßen, weil in dem g = 9,81 m/sec² die ununterbrochene Wirkung der Erdanziehung zum Ausdruck kommt, eine Wirkung, die in seinem körperbetonten Leben eine äußerst bedeutsame Rolle spielt. Besonders dann, wenn er auf Honorarbasis riskante Sprünge oder Stürze wagt. Es vergeht selten ein Tag, an dem die Formel nicht mindestens einmal kurz seine Gedanken angezogen hätte. Heute kommt sie ihm oft in den Sinn. Diesem Fallgesetz wird er um vier Uhr folgen müssen. Es ist übermächtig, denkt er. Nicht auszuschalten. Ich habe meinen Sprung bestens geplant. Man müsste fliegen können.

Er hebt die Arme über den Kopf und streckt sich mit einem wohligen Aufstöhnen so weit, wie es sein Bewegungsapparat zulässt. In dieser Stellung verharrt er einige Sekunden. Dann steht er auf, geht in die Küche, stellt den Backofen auf 200 Grad ein, holt den Gemüseauflauf aus dem Kühlschrank, bestreut ihn mit Oregano und schiebt ihn in den Backofen. Aufgewärmter Gemüseauflauf, denkt er, das letzte Mittagessen des Kurt Wiegand.

Er merkt, dass er jetzt mit seinem möglichen Tod nur noch tändelt. Von Todesgedanken fühlt er sich nicht mehr ernsthaft berührt. Sie haben ihn heute schon genug belästigt. Am unangenehmsten war es für ihn am Morgen, direkt beim Aufwachen, als er seinen Arm ausstreckte, aber ins Leere fasste, weil Ingrid nicht neben ihm lag und ihm schlagartig bewusst wurde, dass es sein letzter Morgen werden könnte. Todesgedanken nisteten sich bei ihm immer wieder von Neuem ein und versetzten ihn in eine bislang unbekannte Gefühlslage. Eine Art Abschiedsstimmung, die er völlig überzogen fand, die ihn aber trotzdem beeinflusste. Vieles nahm er intensiver als sonst wahr und schien ihm von einer eigenartigen Wichtigkeit zu sein. Sogar das Schnüren seiner Sportschuhe wurde für ihn zu einer außergewöhnlichen Handlung. Erst als er mit dem Training begann und auf dem 5000-Meter-Lauf sich körperlich forderte, änderte sich seine Stimmung, und er wurde gelöster. Er weiß jetzt, wie wichtig das heutige Körpertraining für ihn gewesen ist. Der Lauf, die Arbeit an der Kraftmaschine, die Hantelübungen und die Gymnastik haben ihn von verqueren Anwandlungen wegbewegt. Für seinen Sprung fühlt er sich körperlich und seelisch gut eingestellt. Er zweifelt nicht mehr daran, dass sein Entschluss richtig war, den Tag bis zu seinem Sprung alleine zu verbringen.

Als er ins Wohnzimmer zurückgeht, fällt sein Blick auf das Foto seiner Großeltern, das in der Mitte der linken Wand hängt. Er ist schon unter der Erde, sie ist noch auf der Erde. Und ich, er überlegt kurz, und ich bin heute Nachmittag für ein paar Sekunden zwischen Himmel und Erde. Ich werde es schaffen. Er sieht auf seine Uhr, wundert sich, wie früh es noch ist. Er geht in die Knie und lässt seine Augen zunächst unschlüssig über seine CD-Sammlung gleiten. Dann wählt er französische Chansons aus, mit denen er die noch verbleibende Zeit überbrücken wird.

Ich bin eine Art Hure, denkt Wiegand von sich, ich prostituiere meinen Körper. Eine Selbsteinschätzung, mit der er gut zurechtkommt. Denn um Geld zu verdienen, stellt er seinen Körper gern zur Verfügung. Es gibt für ihn keine passendere Tätigkeit. Wie er eine fremdbestimmte Kopfarbeit innerhalb einer streng geregelten Bürozeit aushalten könnte, entzieht sich seiner Vorstellung. Zweifellos würde er jede Büroarbeit als Tortur empfinden und daran erkranken. Allein schon aus Gesundheitsgründen will er nicht sitzend seinen Lebensunterhalt verdienen. Er lebt sehr gesundheitsbewusst. Er besitzt nur diesen einen Körper. Für ihn gibt es nichts Wertvolleres. Mit seinen 28 Jahren sieht er sich auf dem Höhepunkt seiner körperlichen Leistungsfähigkeit angelangt. Danach lebt er. Er weiß, dass dieses Hoch befristet ist, die Zeit dagegen arbeitet. Nun kommt es für ihn darauf an, das Können und die Form seines Körpers zu bewahren. Er hat etwas aus seinem Körper gemacht. Er misst sich an ihm. Er trainiert ihn weiter, damit er nicht nachlässt. Es war und ist eine freiwillige Dressur. Er beherrscht seinen Körper. Auf ihn kann er sich verlassen. Was er leistet, liegt weiter über dem Durchschnitt. Sein Körper zeichnet ihn aus. Dafür gibt es eindeutige Bewertungen. Seine Körperkultur hält er für weitaus wichtiger als seine Hirnkultur. Die lässt sich ohne Weiteres aufschieben, seine Körperkultur jedoch nicht, deren größter Gegner ja die Zeit ist. Erst dann will er sich um seine Weiterbildung bemühen, wenn er seinen körperlichen Zenit überschritten hat, es spürt und seine geistigen Bedürfnisse stärker geworden sind, vielleicht ab dreißig. Einige Meter Bücher wird er dann wohl, so schätzt er, bewältigen müssen, um sich eine gewisse Hirnkultur anzutrainieren. Doch das kann er aufschieben. Alles zu seiner Zeit. Noch thront sein Körper. Die Selbstsicherheit und die Genüsse, die er ihm vermittelt, prägen sein Leben. Er neigt zum Körperfanatismus, was er auskostet.

Von der Natur fühlt sich Wiegand bevorzugt behandelt. Sein Äußeres wertet er als außergewöhnlich gut gelungen. Es zieht an. Ein großes Plus für ihn. Aber er hat auch das Seine dazu beigetragen. Systematisch hat er seinen Körper ausgebildet, ihn dabei geformt, seine heutige Gestalt mitbestimmt. Sein Körper ist auch sein Werk. Wenn er sich nackt vor dem Spiegel betrachtet und den Panoramablick auf sich selbst genießt, dann fühlt er sich gestärkt.

Seine Maße: 188 Zentimeter groß, 84 Kilogramm schwer, 116 Zentimeter Brustumfang, 83 Taille, 86 Hüfte; Zentralglied: 12,3 Zentimeter ruhend und 18,5 Zentimeter stehend. Sein Körper funktioniert auf eine ihn beglückende Weise. Für Mediziner ist er bestimmt eine Provokation. An ihm können sie ja nichts verdienen. Für sie ist er zu gesund. Die Werte, die er bei regelmäßigen Gesundheitschecks erzielt, sind hervorragend.

Er ist stolz auf seinen Körper. Als er noch das Kunstturnen als Leistungssport betrieb, war sein Körper zwar muskulöser, leistete kräftemäßig mehr, dafür aber ist er heute geschmeidiger und besser proportioniert, was er höher bewertet. Sein Körper charakterisiert ihn. Er gleicht dem eines Zirkusartisten. Zufrieden kann er auch mit seinem Gesicht sein, vor allem mit seinem Profil, das, wie man ihm wiederholt versichert hat, sehr ebenmäßig geschnitten ist. Seine blaugrauen, mittelgroßen Augen, die von dunklen Wimpern umgeben sind, scheinen ihm widerzuspiegeln, dass er gern lebt. Sein Blick ist offen, Sympathie fördernd. Beinahe faltenlos erhebt sich über seiner Augenpartie seine kantige Stirn. Eine energisch wirkende Falte beginnt sich senkrecht zwischen seinen Augenbrauen einzukerben, Ausdruck seiner jahrelangen, oft großen körperlichen Anstrengungen. Seine gerade Nase verbreitert sich zur Spitze hin, die von schön geformten Nasenflügeln betont wird. Seine Lippen sind voll, haben eine ausgeprägte Linienführung. Hin und wieder fragt er sich, ob sein Gesicht nicht zu gleichmäßig geschnitten ist, ihm eigenwilligere Züge doch besser gefallen würden. Eine mehr spielerische Frage, die er offen lässt. Sein Gesicht stärkt sein Selbstbewusstsein.

Eine Einheit bilden für ihn sein Äußeres und das Leben, das er führt und auch weiterhin führen will. Er hofft, dass sich daran noch lange nichts ändern wird. Bis sein Körper nachlässt und sein Verfall beginnt. Irgendwann einmal wird es geschehen. Das empfindet er als die größte Bedrohung seines Lebens. Sein Verfall wird unvermeidlich sein, auch wenn er sich gezielt dagegen wehren wird. Zwar natürlich, aber schwer erträglich. Glücklicherweise liegt solch eine Zukunft für ihn noch in weiter Ferne.

Wiegand hat sowohl eine enge Beziehung zu seinem Körper als auch zu sich selbst. Er nimmt sich wichtig. Diese Grundeinstellung verleugnet er weder vor sich noch vor anderen. Es ist für ihn naheliegend seine eigene Wichtigkeit zu bejahen. Eine Selbstverständlichkeit. Schließlich bin ich lebenslang mit mir zusammen. Bis dass der Tod mich scheidet. Er fühlt sich tief in sich verwurzelt. Seine wirkliche Heimat. Um für sich durchschaubar zu sein und zu bleiben, denkt er oft über sich nach. Er möchte nicht von sich selbst überrascht werden. Je besser er sich kennenlernt, desto mehr hat er von sich. Eine einfache Kalkulation für ihn. Er schiebt sich nicht auf. Das kann er sich nicht erlauben. Seine Zeitform ist die Gegenwart. Er will sich auf seine eigene Art ausleben. Nichts erscheint ihm wichtiger. Was er für sich braucht, das besitzt er. Seine Einstellung zum Leben ist sportlich. Man muss es gut trainieren, dann gelingt es.

Eldorado kurz nach vier Uhr Mitteleuropäischer Zeit:

Der Luftdruck beträgt 1029 Hektopascal, die Luftfeuchtigkeit 71 Prozent, die Temperatur liegt bei 23 Grad, ein schwacher Wind weht aus südöstlicher Richtung und ein wolkenüberwucherter Himmel schirmt die Sonne ab.

Die Sprungbedingungen sind günstig. Noch steht Wiegand auf dem Rasen des Freizeitparks. Er trägt einen orangefarbenen Overall, auf dessen Brust- und Rückenseite »10 Jahre Eldorado« halbkreisförmig und mehrfarbig aufgedruckt ist. Wenige Meter hinter ihm liegt ein riesiger, dunkelblauer Luftsack, eine Spezialanfertigung, deren Zuverlässigkeit Tests bestätigt haben. Auf dieser mit der Luft Bayerns gefüllten 11 Meter langen, 9 Meter breiten und 3 Meter hohen Synthetik-Masse wird aller Voraussicht nach sein Körper gleich aufschlagen und sein Sprung enden.

Wiegand wird jetzt von Mander, dem Geschäftsführer des Freizeitparks, den dicht gedrängt stehenden Schaulustigen präsentiert.

»Wir kommen nun, liebe Freunde von Eldorado, zu einem weiteren Höhepunkt in unserem Programm, wenn nicht sogar zu dem absoluten Top-Ereignis unserer Jubiläumsveranstaltung, mit der wir das zehnjährige Bestehen dieses größten bayerischen Vergnügungsparks gebührend feiern wollen. Kurt Wiegand, einer der besten deutschen Sensationsdarsteller, bekannt durch seine tollkühnen Auftritte in Film und Fernsehen, wird Ihnen nun etwas Einmaliges, ja, etwas wirklich Atemberaubendes vorführen. Mithilfe dieses Autokrans, den uns freundlicherweise die Firma Dettinger & Riedel zur Verfügung gestellt hat, wird er in Kürze auf die luftige Höhe von 55 Metern transportiert werden und von dort aus einen doppelten Salto springen. Eine riskante Sache. Er wird dabei tief fallen. Wie sie sich alle sicherlich leicht vorstellen können, muss er nach seinem Sprung unbedingt auf diesem Luftsack landen. Sonst ... aber darüber möchte ich jetzt lieber nicht reden. Sowohl für deutsche Verhältnisse als auch international gesehen, stellt solch ein Sprung eine Sensation dar. Ich bitte Sie, doch nur einmal zu bedenken, wie einfach es sich dagegen die weltberühmten Klippenspringer von Acapulco machen, die sich bloß kopfüber nach unten stürzen und dazu noch einen ganzen Ozean voller Wasser unter sich haben. Nun, die Geschäftsleitung von Eldorado weiß den Sprung, den Kurt Weigand jetzt gleich wagen wird, richtig einzuschätzen. Deswegen und gewissermaßen auch als eine Art Jubiläumsprämie haben wir für diese Sprung-Sensation das sensationelle Honorar von 5000 Euro vorgesehen. Nach seinem, das hoffen wir doch alle, geglückten Sprung wird Kurt Wiegand diesen Scheck aus meiner Hand in Empfang nehmen können. Es geht hier also auch um eine Menge Geld. Eine Bitte habe ich noch an Sie, liebe Freunde von Eldorado: Übertreten Sie bitte nicht die Markierungslinien auf dem Rasen. Der Sicherheitsabstand zum Luftsack muss unbedingt eingehalten werden. Vielen Dank für ihr Verständnis. Und nun wünsche ich Ihnen allen eine gehörige Portion Nervenkitzel und Ihnen, lieber Kurt Wiegand, Hals- und Beinbruch.«

Mit einer gezierten Armbewegung und einem komplizenhaften Lächeln wendet er sich Wiegand zu.

Was für ein Lackaffe! Endlich ist er fertig. Wie der über die 5000 geschwafelt hat. Als wäre es eine Super-Gage. Sollte in die Politik gehen. Trägt einen viel zu engen Anzug. Fetter Bürokratenhintern. Hat mindestens 5 Kilo Übergewicht, denkt Wiegand. Er versucht, seinem Gesicht einen freundlichen Ausdruck zu geben, blickt um sich, die Menschen nur als Menge wahrnehmend und hebt seine Hand zu einem knappen Gruß. Der lächelnde Geschäftsführer und die unruhige Menschenmenge, die ihm voller Sensationsgier zu sein scheint, stoßen ihn ab. Plötzlich befällt ihn ein Gefühl, als würde sich sein Körper ihm entziehen. Seine Atmung wird flacher. Ich muss mich jetzt sofort bewegen. Das wird helfen. Ich darf nicht die Kontrolle verlieren. Er dreht sich um und geht mit ihm steif erscheinenden Schritten zu dem Luftsack. Ich darf keine Angst bekommen. Ich will die 5000 Euro. Langsam umkreist er den Luftsack, bleibt dabei mehrmals stehen, drückt an verschiedenen Stellen gegen die nachgiebige Masse, so, als wollte er noch einmal überprüfen, ob sie seinen Aufprall aushalten würde. Er atmet bewusst und tief, merkt, wie seine Verkrampfung nachlässt, und er sich zu entspannen beginnt. Es ist vorbei. Er sieht zu dem Mann im Kranwagen und winkt ihm auffordernd zu.

Der Kranarm schwenkt den an einer Seite offenen Transportcontainer zu ihm hin, setzt ihn mit einem blechernen Klang auf dem Boden auf. Entschlossen, ohne auf seine Umgebung zu achten, geht er einige Meter, steigt dann mit einem großen Schritt in den Transportcontainer, stellt sich in die Mitte, winkelt seine Arme ab und umfasst die beiden hüfthohen Seitenwände aus dickem Blech. Ein kurzer Ruck erst, dann wird er pathetisch-langsam wie eine Nationalflagge hochgezogen. Die damit verbundenen Geräusche, das leichte Zittern im Blech und auch der kühlende Luftzug sind ihm seit den Proben vertraut. Er sieht nicht mehr nach unten. Es könnte ihn ablenken. Er sieht nicht, wie die beiden mitlaufenden Stabilisierungsseile aus zentimeterdickem Draht ihre Bogenspannung immer mehr verlieren, linearer und straffer werden, je höher er gezogen wird, nicht, dass die Zuschauerköpfe unter ihm in der Kathedralenhaltung verharren, nicht aufgeregtes Zeigefinger-Da-Da, sieht nicht Ingrid, die ihre Lippen aufeinander presst und auch nicht Hermann neben ihr, der ihn filmt, nimmt auf seinem Weg nach oben überhaupt nichts mehr von dem wahr, was im Vergnügungspark unter ihm geschieht. Sein Blick ist auf den wolkenverhangenen Himmel gerichtet. Er fühlt sich dem normalen Leben entrückt. Ein feierliches Angespanntsein. Als wäre er auf einem einmaligen Fest. Es gibt jetzt nur noch ihn und seinen unmittelbar bevorstehenden Sprung. Ein leichter Stoß, wie bei einem alten Aufzug, der Transportcontainer ist stehen geblieben. Der Höhenmesser zeigt 55 Meter an. Die Zugvorrichtung des Kranarms wird eingerastet, was ein schepperndes Geräusch verursacht. Mithilfe einer automatischen Seilwinde, die an der Hinterwand angebracht ist, vergrößert Wiegand die Spannung der beiden Stabilisierungsseile. Dadurch ist der Transportcontainer gut abgesichert und wird aller Voraussicht nach nur wenig bei seinem Absprung ins Schwanken geraten. Es ist so weit.

Er stellt sich an die offene Seite des Transportcontainers, knapp an den Rand, von wo aus er in wenigen Augenblicken abspringen wird. Er konzentriert sich. G gleich neun Komma acht eins Meter pro Sekunde zum Quadrat, denkt er. Er hebt seine Arme und streckt sie horizontal aus, wobei sich seine Hände berühren. In dieser Haltung verharrt er. Seine Augen sind auf einen weit vor ihm liegenden imaginären Punkt gerichtet. Er denkt an nichts mehr. Es gibt nur noch seinen Körper. Seine Atmung ist gleichmäßig. Ein Gefühl großer Gelassenheit durchströmt ihn. Er ist sprungbereit. Er hebt die Arme über den Kopf. Er hat den Eindruck, als würde er sich selbst zusehen. Er ist ganz Körper, der in diesem Augenblick zum Sprung ansetzt.

55 Meter über dem Rasen von Eldorado und 52 Meter über dem dunkelblauen Luftsack, auf den er höchstwahrscheinlich in wenigen Sekunden fallen wird, spannen sich Wiegands Muskeln zu einem Sprung, den er zum ersten Mal wagt. Auf Probesprünge vor seiner jetzt beginnenden Sprungpremiere hat er verzichtet; denn:

Die Möglichkeit, einen Fehler zu machen, hätte sich mit der Anzahl der Sprünge vergrößert. Jeder Sprung ist anders. Nach einem geglückten Probesprung hätte ein verunglückter folgen können. Das war nicht auszuschließen. Ein Kunstsprung aus dieser Höhe birgt immer ein Restrisiko. Jeder Doppelsalto könnte ihm gelingen und auch misslingen, der erste ebenso wie der zwölfte. Allein schon deswegen schien es ihm sinnvoll, nur einmal zu springen. Entweder würde ihm sein Doppelsalto sofort beim ersten Versuch gelingen, oder er würde patzen, eventuell schwerwiegend. Ein kleineres Risiko als bei einem einzigen Sprung gibt es für ihn nicht. Außer, wenn er nicht springen würde.

Je öfter er gesprungen wäre, desto stärker wäre der Luftsack strapaziert worden. Tests haben einen Belastungswert ergeben, der ihm eine große Haltbarkeit bescheinigt, Materialfehler sind jedoch nicht auszuschließen. Kein Luftsack kann eine hundertprozentige Sicherheit garantieren. Wiegand kennt Sprungtragödien, bei denen ein Luftsack trotz guter Testergebnisse nicht hielt und für den auf ihn Fallenden zum Totenbett wurde. Indem er sich auf einen Sprung beschränkte, traf er eine zusätzliche, nur von ihm selbst zu verwirklichende Sicherheitsvorkehrung. Von möglichen Materialfehlern am Luftsack wird er deswegen weniger gefährdet.

Warum sollte er auch einen Sprung einüben, bei dem es lediglich darauf ankommt, dass er ihn wagt, nicht, wie gut er ihn ausführt? Vertraglich festgelegt sind 5000 Euro für einen Doppelsalto aus 55 Metern Höhe. An seine Haltung beim Sprung sind keine Bedingungen geknüpft worden. Ob er einen technisch guten oder mäßigen Sprung absolviert, zählt nicht. Davon ist seine Prämie gänzlich unabhängig. Einen Schönheitspreis gibt es nicht. Erwartet wird von ihm nur, dass er den Zuschauern das Jubiläums-Sprung-Spekatakel bietet, das auf dem Programm steht. Mehr nicht. Wiederum kann er sich auch keinen laschen Sprung leisten, weil er dann ins Trudeln geraten könnte, was weniger bedeutsam für die Sprungtechnik als für seine Gesundheit wäre. Er hat sich auf einen für ihn tatsächlich einmaligen Sprung eingestellt, den er nur aus Sicherheitsgründen so präzise wie möglich ausführen wird.

Während Wiegand am Rand des Transportcontainers in noch vertikaler Stellung leicht in den Knien einknickt, das Gewicht seines Körpers nach vorne verlagert, ihn wie ein Kunstspringer spannt, der im Begriff ist, vom Turm eines Schwimmbads abzuspringen, steht Ingrid Keydel 55 Meter unter ihm auf dem Eldorado-Rasen, regungslos, in einem figurumspielenden Sommerkleid, die Arme ineinander verschränkt und an den Körper gedrückt, den Blick auf ihn geheftet. Eine Frau, die er seit drei Monaten kennt, deren Körper ihm vertrauter ist als ihr Charakter. Der übliche Verlauf bei ihm. Dem umgekehrten kann er nichts abgewinnen. Er mutet sich keine Lustversäumnisse zu, keine lange geschlechtliche Anlaufs- und Ausfallszeit. Was für eine Torheit, die altväterliche Tour zu bevorzugen! Was für ein Vabanquespiel! Wie viele dabei schon leer ausgegangen sind und noch immer leer ausgehen. Komische Helden. Nach fleißiger Minne nicht erhört. Unbefriedigt. Sexologische Forschungsergebnisse, wonach häufige sexuelle Aktivität psychische Stabilität erzeugt, die Frequenz der Orgasmen den Harmoniestatus der Persönlichkeit prägt, gehören für ihn seit seiner Studentenzeit zu den unumstößlichen Wahrheiten. Sie decken sich mit seinen Erfahrungen, bestätigen ihn in seinem Kurs. Wo Lust, kein Frust.

Nur über ihren Körper lernt er eine Frau kennen, mehr oder weniger, je nachdem. Nicht selten bleibt eine Frau eine Fremde, nachdem er mit ihr Körpererfahrungen ausgetauscht hat, Persönliches nicht weiter lockt, wieder einmal eine Episode vorbei ist. Wann begreift man schon das Wesen einer Frau richtig? Wie viel Zeit erfordert es, wie viel Nerven, wie viel größere und kleinere Tricks, jahrelang womöglich. Und selbst dann irrt man noch. Man braucht sich nur umzusehen: Ein Liebesschwank jagt den anderen. Zum Lachen reizende Missverhältnisse. Dafür hat er kein Talent. Er lässt sich vom Körper leiten, richtet sich danach, dass er frühzeitiger und leichter erschlossen werden kann als der Charakter und meistens hält, was er verspricht. Hierzu besitzt er genügend Erfahrungswerte. Frühere Liebesirrtümer, die wohl unvermeidlich waren, zählt er zu seiner Lehrzeit. Heute lebt er in einer befriedigenden Balance von Angebot und Nachfrage. Einladenden Zufällen folgt er aus Abenteuerlust. Er fraut mehr nach Gefühl als nach Taktik, probiert, amüsiert sich. Liebeleien vorwiegend, Zwischenspiele, Experimente.

Ingrid setzt die Reihe fort, aber ungewöhnlich, eine Variante oder sogar etwas ganz anderes. Zuneigungsschübe haben ihn überrascht und erfreut. Er wartet ab, möchte nichts überstürzen. Ist er mit ihr zusammen, genießt er es, ist sie nicht da, verblasst sie. Wohin ihre gemeinsame Reise noch gehen wird, verliert sich für ihn im Vagen.

Ihr Körper: Ein Natur-Kunstwerk, dessen Vorzüge sie sehr geschickt ins Spiel bringt, und auf das sie wie auf eine besondere Leistung stolz ist. Als hätte sie es selbst gemacht. Sie neigt dazu, ihren Körper auszustellen, was er versteht und gerne sieht. Du bist deine eigene Galeristin, sagte er ihr einmal. Sie war geschmeichelt. Sie lud ihn sofort zur intimen Vernissage ein. Seitdem haben die Worte Galerie und Vernissage für sie beide eine erotische Bedeutung und Verwendung bekommen.

Ihr Gesicht: Nicht schön, jedoch eine ausdrucksvolle Mischung von ebenmäßigen und weniger gelungenen Zügen, deren Eigenart ihm erst nach einer kurzen Verzögerungszeit auffiel. Den Blickfang in ihrem Gesicht bildet zweifellos ihr Mund, übergroß und auftrumpfend, ihre feine Nase und ihre pastellblauen, etwas puppenhaften Augen zurückdrängend. Lippen, deren Formschwünge ihn ungemein anziehen; ein Versprechen, das ihr Körper hält.

Ihr Charakter: Trotz einiger Aufschlüsse noch ein Fragezeichen für ihn, das ihn kaum beschäftigt. Mehr Ansichten als Einblicke. Damit gibt er sich zufrieden. Er verspürt noch keinen Anreiz, bei ihr in die Tiefe zu schürfen. Ihre Oberfläche reicht ihm. Nicht ausgeschlossen, dass sie auch oberflächlich ist, vielleicht der Grund für die ihm angenehme Leichtigkeit ihrer Beziehung. Sie selbst scheint nicht gewillt zu sein, dass er schon ihr inneres Geflecht begreift. Keine Frau, die ihn nach den ersten Duos mit Selbstbekenntnissen überrascht, die dann wie zu früh gegebene Versprechen durch die nächsten Tage geistern. Sie ist direkt, aber nicht offen, bietet sich an, hält sich aber auch bedeckt. Sie geht auf ihn zu, lässt ihn aber auch kommen. Sie gibt sich in Raten preis. Gut dosiert. Köder, die sie auslegt, um ihn wohl näher an sie heranzulocken. Manchmal hat er den Eindruck, als traute sie sich noch nicht die zu sein, die sie schon ist. Ihren Charakter vermag er nicht anders als skizzenhaft zu erfassen. Er wartet ab. Es wird sich schon zeigen. Gebildeter als er sicherlich, vielleicht auch intelligenter, eine Vermutung, die ihn eher beeindruckt als stört. An Luxus, der bei ihr später als bei ihm beginnt, gewöhnt, was sie bagatellisiert, nicht zugeben will, als befürchtete sie deswegen Missklänge. Wenig überzeugend versuchte sie neulich, ihren aufwendigen Lebensstil vor ihm herunterzuspielen, überflüssigerweise; denn die weitaus höhere Einkommenskategorie ihres Mannes lässt ihn ebenso kalt wie ihre damit verbundenen Vorteile. Das sagte er ihr dann auch ohne Verpackung. Frau und Geld seien für ihn nicht miteinander verkoppelt. Eine Frau sei weder ein Luxusartikel noch eine Gebührenempfängerin. Warum sollte er eine mehr oder weniger verschleierte Nutzungsgebühr fürs andere Geschlecht bezahlen? Er finanziere nur sich selbst und das schaffe er lediglich mit bescheidenem Erfolg. Er müsse sein Geld zusammenhalten. Frauen seien für ihn gratis. Und umgekehrt. Mit Geld und Prestige könne und wolle er nicht balzen, eine erbärmliche, altbewährte Masche, um Frauen anzulocken und zu vereinnahmen.

»Ich habe schon verstanden«, erwiderte sie mit säuerlicher Miene, »darüber brauchst du mir keinen langen Vortrag zu halten. Glaubst du etwa, dein kaum vorhandenes Kapital hätte für unser Verhältnis, nennen wir es einmal so, irgendeine Bedeutung? Das Gegenteil müsste ich dir doch schon bewiesen haben, oder? Du bezweifelst anscheinend, dass ich meinen ach so luxuriösen Lebensstil ohne Schwierigkeiten aufgeben könnte?«

Sie erhitzte sich darüber. Ein aufregender Anblick für ihn. Er sagte nur wenig, als sie, angefeuert von ihrem Temperament und wohl auch ihrer Absicht, immer mehr in Fahrt geriet, ihr Gesicht, ihren Körper und ihre Stimme wirkungsvoll dabei einsetzte.

»Glaube mir, ich brauche diesen ganzen Krempel nicht. Darauf könnte ich ohne Weiteres verzichten. Mit Leichtigkeit sogar. Man kann mich nicht kaufen ... Sehr freundlich von dir, Kurt. Du scheinst mich doch zu kennen. Dein Statement vorhin hast du ja wohl nicht auf mich gemünzt. Ich jedenfalls bin keine dieser Ehenutten, die sich von ihrem Mann als Luxusgeschöpf an die Leine legen lassen und das richtig genießen. München ist voll von solchen Paaren ... In der Tat. Etwas Ähnliches hat auch meinem Mann vorgeschwebt, aber dabei ist er an die Falsche geraten. Ich bin doch nicht seine Trophäe. Das habe ich ihm schnell ausgetrieben. Und einiges andere auch. Er wirkt dominant, ist aber zutiefst unsicher. Eigentlich macht er, was ich will, ohne dass er es merkt. Kommt mir manchmal wie ein apportierendes Hündchen vor. Mit der Zeit wird's langweilig. Es gibt nichts Spannendes mehr zwischen uns ... Was soll ich mit einem Geld scheffelnden Langweiler? Dass ich ihn geheiratet habe, war ein Blackout von mir. Ich werde mich von ihm scheiden lassen ... Nein, ich werde nichts überstürzen. Finanziell werde ich gut abgesichert sein, sehr gut sogar. Ich habe es bereits überschlagen. Ich werde auch wieder arbeiten. Vielleicht bei meinem Vater. Einschränkungen wird es für mich sicherlich geben. Aber ich werde nichts vermissen, das kannst du mir ruhig abnehmen. Ihn sowieso nicht. Das Beste an ihm ist sein Spürsinn für Geschäfte. Ist bei ihm ganz besonders ausgeprägt. Erstaunlich potent beim Geldverdienen, das muss man ihm schon lassen. Als hätte er eine Wünschelrute zwischen den Beinen, die bei jeder Geldquelle ausschlägt. Übrigens, was ich dich noch fragen wollte: Stört es dich eigentlich, dass ich mit meinem legalisierten Begatter noch schlafe? … Na schön. Sehr großzügig. Aber ich nehme ihn sowieso nur als Vorspeise oder Dessert. Dafür ist er ganz brauchbar. Solange ich mit ihm noch unter einem Dach lebe, die beste Lösung. Ich werde aber nicht mehr lange so weitermachen. Es passiert immer öfter, dass er mich stört. In jeder Beziehung. Allein schon die Tatsache, dass er da ist. Er riecht auch schlechter als früher. Vielleicht Ausdünstungen des Alters. Obwohl er sich für seine 43 Jahre noch ganz gut gehalten hat. Ich überlege ernsthaft, ob ich noch in diesem Jahr die Scheidung einreichen soll. Was meinst du dazu? … Etwas anderes fällt dir nicht ein? Nur egal? … Du hältst dich da also heraus. Auch eine Taktik. Du lässt lieber alles offen. Das habe ich schon gemerkt. Über Sweetheart Marion möchte ich jetzt besser nicht reden. Mir egal, so, wie dir mein Mann egal ist. So schnell werde ich nicht eifersüchtig. Du sollst ruhig deinen Spaß haben. Ihr scheint euch ja noch immer sehr zu mögen. Marion, die große Ausnahme ... Reizend. Soso. Beinah wie bei Bruder und Schwester. Aber sie ist nicht deine Schwester und du bist nicht ihr Bruder. Wenn du mit ihr auf der Matratze bist, passiert wohl bei euch eine höhere Art von Inzest ... Sehr witzig ... Ach, nur weil ihr so gut aufeinander eingespielt seid, treibt ihr es noch miteinander? Ehrlich gesagt, ich müsste dir reichen. Wir sollten öfter zusammen sein. Dann wirst du keine Marion mehr brauchen, das garantiere ich dir … Jawohl und nochmals jawohl. Wir sehen uns zu wenig. Durchschnittlich dreimal pro Woche. Was ist denn das? Als wärst du ein Fernfahrer und ich dein Liebchen … Lach nicht. Ich meine es ernst. Ich bin auf den Geschmack gekommen. Ich will mehr von uns haben ... Das ist lieb von dir, Kurt ... Ja, zum Teufel, was interessiert mich denn noch mein Mann! Ich richte mich doch nicht nach einem Terminkalender. Das wäre das Letzte. Dieser Langweiler wittert sowieso schon etwas. Soll er doch. Ich mache jetzt, was ich will und ich werde noch mehr wollen, verstehst du? Ich will nur noch nach meiner Fasson leben. Rigoros. Ich musste wohl erst 31 Jahre alt werden, um diese Kraft zu spüren. Das wurde höchste Zeit. Ich habe einiges nachzuholen. Mit dir zusammen fällt es mir leichter. Ich habe mich vorher selbst gehemmt. Jetzt kennen wir uns noch nicht einmal drei Monate. Es kommt mir viel länger vor ... Mag sein. Und doch ist es erst der Anfang. Findest du nicht auch, dass so manches zwischen uns noch in der Schwebe ist?«

Er bejahte es. Eine noch offene Geschichte. Dieses In-der-Schwebe-sein bei ihnen gefällt ihm außerordentlich, gibt ihrer Beziehung einen ganz besonderen Reiz. So wenig bislang entschieden ist, so viel scheint noch möglich zu sein.

Dass sie wegen seines Sprungs, zu dem er in diesem Moment ansetzt, und dem sie 55 Meter unter ihm wie versteinert zusieht, äußerst beunruhigt sei, die Gefahr, in die er sich begebe, nicht länger verdrängen könne, sagte sie ihm gestern Abend, als sie sich in einer horizontalen Position befanden, sie beide während einer Lustpause nackt in seinem Bett lagen. Ihr Gesicht schien von einem melancholischen Muskelspiel verändert, sie sprach nur noch mit leiser Stimme, glanzlose Seitenblicke, müdes Lächeln.

Er wunderte sich, hatte er doch angenommen, sein Sprung würde ihr genauso wenig zu schaffen machen wie andere Körpereinsätze von ihm, deren Planung und Ausführung sie schon miterlebt hatte. Bisher hatte sie sich dabei erstaunlich abgeklärt gezeigt und ihn nicht mit Sorge- und Angsttiraden belästigt.

Sie ist eine Frau, die mich nicht beammen will, hatte er sich gesagt. Ein Charakterzug von ihr, den er zu schätzen wusste; denn wiederholt hatte er miterleben müssen, wie eine Frau wegen seiner Körpereinsätze zu einem Nervenbündel wurde, so weit in Sorge und Angst abdriftete, wie sie ihn gefährdet sah, in eine lästige Ammenrolle verfiel und ihn mit Tu's-nicht bedrängte. Etwas Ähnliches baute sich anscheinend jetzt in Ingrid zum ersten Mal auf.

»Es ist halb so wild, Ingrid. Mehr eine Frage des Willens. Ich habe schon Sprünge aus größerer Höhe und mit schwierigerem Bewegungsablauf geschafft, die allesamt riskanter waren«, sagte er betont beiläufig.

»Ich weiß. Dieses Argument kenne ich bereits. Du willst mich damit doch nur beruhigen«, erwiderte sie.

»Du solltest dich jetzt nicht verkrampfen. Mach dir keine Sorgen. Ich dachte, du hättest meinen Sprung schon längst abgehakt.«

»Das dachte ich auch. Aber gestern Mittag ist mir urplötzlich klar geworden, worauf du sich da einlässt. Ich war viel zu naiv, habe einfach deine Worte übernommen, nur ans Gelingen gedacht. Jetzt fantasiere ich darüber, was dir alles passieren könnte. Nicht gerade angenehm für mich. Ich bekomme es nicht aus meinem Kopf. Ich mache mir Sorgen um dich. Wenn du das nicht verstehen kannst.«

»Ingrid, ich gehe kein großes Risiko ein. Dafür lebe ich zu gerne.«

»Diesen Sprung hast du doch noch nie zuvor gewagt, Kurt. Aus 55 Metern Höhe. Das ist schon nicht mehr gewagt, das ist purer Leichtsinn. Dein Jubiläumssprung könnte dein letzter Hüpfer sein«, sagte sie mit lauter werdender Stimme. Mit einer nervösen Geste fährt sie sich durchs zerzauste Haar.

»Ziemlich unwahrscheinlich«, erwiderte er noch gelassen. »Mehr konnte für meine Sicherheit nicht getan werden. Kamikaze liegt mir überhaupt nicht.«

»Das ist ein sehr gesunder Standpunkt von dir«, sagte sie, wobei sie mehrmals übertrieben mit dem Kopf nickte.

»Morgen u m diese Zeit ist alles vorbei.«

»Ja. So oder so.«

»Es wird mir nichts passieren.«

»Kurt, morgen geht es für dich nicht um das Goldene Sport-abzeichen.«

»Da hast du zweifellos recht.«

»Warum springst du eigentlich? Etwa nur wegen des Geldes?«, fragte sie und brachte ihren Körper in eine Knieellenbogenlage, von der aus sie ihn forschend ansah. Ihre Miene hatte sich wieder aufgehellt. Er genoss kurz den Anblick ihrer appetitlichen Brüste, die vor ihm in Griffweite nach unten kurvten, dann sagte er:

»Ja, vor allem deswegen. Natürlich reizt mich der Sprung auch. Eine Art Abenteuer für mich.«

»Kurt, der Abenteurer. Bin ich für dich auch eine Art Abenteuer? Schon gut, die Frage brauchst du mir nicht zu beantworten. Nicht so wichtig«, sagte sie, ihren Kopf auf eine Hand stützend.

Wiegand lächelte unsicher.

»Ingrid, ich kann mir 5000 Euro erspringen. Mit einem einzigen Sprung. Und meine Arbeitszeit dabei ist schon kürzer als kurz, oder?«

»Sicherlich. Aber tot bist du ein bisschen länger. Wenn du Pech hast. Für lumpige 5000 Euro begibst du dich in Lebensgefahr.«

Wiegand richtete sich jäh auf, spürte Zorn, dämliches Gequatsche, wollte ihr einen heftigen Satz entgegenschleudern, besann sich jedoch frühzeitig, schwieg einige Herzschläge lang.

»Ich wäre doch ein Narr«, sagte er schließlich, »wenn ich es nicht machen würde. Leicht verdientes Geld und dazu noch eine super Werbung für mich. Gut möglich, dass ich deswegen besser ins Geschäft komme. Wenn Norbert mir nicht so früh den Tipp gegeben hätte, wäre aus meinem Sprung vielleicht gar nichts geworden. Ich bin leider nicht konkurrenzlos. Schön wär’s. Spektakuläre Sprünge haben auch andere anzubieten. Auch Frauen. Übrigens, jeder Tag kann für einen tödlich werden. Jede Autofahrt. Sogar ein Essen. In den USA verschlucken sich jährlich über 4000 Menschen beim Essen tödlich.«

»So? Lassen sich wohl keine Zeit zum Durchkauen. Gieriges Geschlinge sieht man ja überall. Für manche eben tödlich. Das ist mir völlig egal. Dein Sprung nicht. Das dürfte dich nicht überraschen. Mir wäre wohler, wenn ein anderer als du engagiert worden wäre.«

»Mir nicht.«

»Lass uns jetzt besser das Thema Sprung beenden, Kurt«, sagte sie nach einem kurzen Schweigen, sonst werde ich noch nervöser als ich es schon bin. Dein Entschluss zu springen, steht ja sowieso fest.«

»Ja, seitdem ich das Angebot angenommen habe. Und das war vor etwa einem Monat.«

»Sollte ich es mit der Angst zu tun bekommen, werde ich versuchen, mannhaft dagegen anzugehen. Ich will jetzt nichts dramatisieren. Vielleicht spielt auch der Föhn eine Rolle. Dann bin ich immer ganz kribbelig.«

»31 Jahre alt, 176 weibliche Zentimeter groß, 61 Kilogramm schwer, Maße: 90 mal 60 mal 86, besondere Kennzeichen: kribbelig bei Föhn.«

Sie lachte kurz auf.

»Wie viel du doch von mir weißt«, sagte sie und drängte sich enger an ihn. »Ich hoffe, du kennst noch andere Qualitäten von mir.«

»Ich denke schon. Willst du noch einen Kaffee?«, fragte er. Seine rechte Hand fuhr leicht über die Innenseite ihrer Oberschenkel.

»Ja«, antwortete sie, kurz ihre Augen schließend. »Und dich«. Sie setzte sich in den Schneidersitz.

»Reicht dir nicht erst einmal der Kaffee?«, fragte er, während er ihr aus der Warmhaltekanne einschenkte.

»Nein. Wieso fragst du? So schlapp?« Sie sah prüfend zu seinem ruhenden Zentralglied, hob es kurz an, ließ es dann wieder in seine vorherige Lage zurückfallen.

»Das wohl nicht. Aber ich kann nicht den ganzen Tag mit dir im Bett verbringen. Morgen muss ich fit sein. Ein paar Trainingseinheiten brauche ich heute noch.«

»Willst du jetzt etwa trainieren? Nimm mich doch. Unser Bettsport müsste dich eigentlich genug auf Touren bringen. Wie wär's mit einem Marathonmatch? Bist du gerne mit mir in der Horizontalen?", fragte sie und bewegte sich so, dass ihre vollen Brüste über seinen Oberkörper langsam hin und her glitten.

»Liebend gern, Ingrid«, antwortete er, umfasste ihre Hüften und zog sie an sich. Trainieren konnte er ja noch immer. Seine Hände umfuhren mehrmals genießerisch ihren reizvoll geformten Körper, den sie eng an ihn schmiegte. Sie stöhnte leise auf, biss ihn sanft in die Oberlippe, löste sich langsam von ihm, wobei sie sich auf den Rücken drehte, lächelte ihn an und öffnete einladend ihre Beine. Er küsste sie von Nord nach Süd, kam dabei in ihre verschiedenen Duftzonen, die für sie als Stimulanz einfach dazugehören, weil, ihre feste Überzeugung, Sinnlichkeit sich immer auch über die Nase entfaltet. Ihr Gesicht duftete wieder nach »Flair«, die Marke, die sie bevorzugt, ihre Brüste hatte sie mit dem Eau de Toilette betupft, das sie ihm geschenkt hatte und ihr schwarz gekraustes Dreieck, vor dem er züngelnd verweilte, verströmte einen schweren, bislang unbekannten Duft, der ihn an Zimt erinnerte. Eine Zeit lang ließ er sie noch in Kitzlerwonnen treiben, dann richtete er seinen Oberkörper auf, seine Hände folgten seinen Augen, wanderten von ihren festen halbkugelförmigen Brüsten über ihre Hüften zu ihrem nassen Zentrum, das eine starke Signalwirkung auslöste, ihn steifwillig anzog.

»Jetzt bekommst du bestimmt genügend Bewegungseinheiten, du Bewegungsfanati ... ah ... ja!«

»Ist's so gut?«

»Jaaah, hmh, weiter so, Mara ... hmh ... Marathon«, sagte sie noch. Danach begleitete ein zweistimmiger Stöhngesang aus sehr einfachen Rhythmen ihr eingespieltes Mannfrau. Es wurde für ihn erneut eines dieser fabelhaften Lusthappenings, die Ingrid zur Nummer 1 unter den Frauen machen, mit denen er bisher in der Horizontalen zusammen war.

Der jetzt 55 Meter hoch über dem Eldorado-Rasen stehende Wiegand wird etwa noch einen Herzschlag lang seinen Körper in dieser Absprungposition ausgerichtet halten, dann wird er ihn vom Rand des Transportcontainers abdrücken und zum Doppelsalto eindrehen. Den Bewegungsablauf eines Doppelsaltos beherrscht er perfekt. Wenn er ihn ausführt, ob am Boden, auf dem Trampolin oder vom Schwimmbad-Turm, sich nach dem Absprung einrollt, in der Luft zweimal schnell um die eigene Körperachse dreht und wieder erdwärts streckt, dann verspürt er so viel Bewegungslust wie bei keinem anderen Sprung. Eigentlich kein Spitzenklassensprung, technisch nur mittelschwer, zwar spektakulär, aber nicht wenige können ihn, kaum zu vergleichen mit jenen komplizierteren und gewagteren Sprüngen, die, wenn sie ihm gelingen, jedes Mal das befriedigende Gefühl vermitteln, etwas Außergewöhnliches geschafft zu haben. Doch nur beim Doppelsalto, seitdem er ihn als jugendlicher Leistungssportler einübte und zu einem sicheren Bestandteil seiner Bodenkür bei Turn-Wettkämpfen machte, verspürt er diese eigenartige Bewegungslust. Warum, das kann er sich nicht erklären. Es ist eben so. Eine reine Gefühlssache.

Als er gestern Morgen bei den letzten Proben auf dem Transportcontainer stand, ebenfalls in 55 Metern Höhe, jedoch nicht so nah am Rand wie jetzt, sich mit beiden Händen an den hüfthohen Seitenwänden aus massivem Blech festhielt und leicht vorgebeugt nach unten blickte, streifte ihn flüchtig der Gedanke, dass gerade der Sprung, den er seit Jahren am liebsten ausführt, sein Todessprung werden könnte. Die 55 Meter Höhe bergen ein Risiko, das er bei einem anderen Doppelsalto noch nie eingegangen ist. Der Luftsack könnte vielleicht doch platzen. Nicht völlig auszuschließen. Das würde ich genauso wenig überleben, wie wenn ich ihn verfehlen würde. Dann würde das Grün des Rasens blutrot. Ich würde im Rasen stecken. Wie eine Rübe im Acker. Er verspürte einen Lachreiz, unterdrückte ihn aber. Ist ziemlich unwahrscheinlich. Unsinn, daran weiter zu denken. Wäre ich mir nicht sicher, ich würde es nicht machen. Er räusperte sich, verfolgte kurz den Flug eines Bussards, der sich über Baumwipfeln hochschraubte, dann beugte er sich etwas weiter vor und musterte den blauen, 11 Meter langen, 9 Meter breiten und 3 Meter hohen Luftsack unter ihm, der wie eine Wasserfläche aussah.

Wasser kann aus dieser Höhe verdammt hart werden, wenn man nicht richtig eintaucht. Der Luftsack ist weicher. So oder so. Ich muss ihn nicht unbedingt in der Mitte treffen. Werde es aber. Es reicht schon, wenn ich den Doppelsalto einigermaßen sauber springe und die Kontrolle über meinen Körper behalte. Ich darf mich nicht überstrecken. Ich werde auf ihm sicher landen. Er wird halten. Das Material ist erstklassig. Alles wird so ablaufen, wie wir es durchgespielt haben.

Wiegand war zufrieden. Besser konnte er sich nicht vorbereiten. Morgen Nachmittag würde er wieder hier oben stehen, aber dann wäre es kurz vor seinem Absprung. Er würde bei seinem Salto mortale so etwas wie ein Artist in einem Freiluft-Zirkus sein. Über ihm die Himmelskuppel, unter ihm die Arena mit dem Luftsack in der Mitte und den halbkreisförmig gruppierten Zuschauern. Open Air. Ein entspanntes Lächeln erschien in seinem Gesicht. Er hatte seinen Sprung gut im Gefühl. Dafür waren die Proben mit dem Kranwagen unersetzlich gewesen. Mehrmals hatte er am Rand des Transportcontainers gestanden, von dort aus nach allen Seiten geblickt, nach oben, nach unten und hatte sich seine Gedanken ge-macht, die jedes Mal verschieden strömten, aber immer in der Gewissheit mündeten, dass ihm sein Sprung gelingen würde. Mit einer fallenden Armbewegung gab er dem Mann im Kranwagen unter ihm das Abwärts-Zeichen. Wie bei den Proben zuvor spürte er wieder das leichte Vibrieren im Blech, hörte er wieder das gleichmäßige Arbeiten der Zugautomatik, als sich der Transportcontainer zum letzten Mal mit ihm zu Boden senkte. Er machte einen großen Schritt, betrat wieder die Rasenfläche des Vergnügungsparks. Die Proben waren zu Ende.

»Das wär's also. Mehr konnte ich für dich nicht tun, Kurt. Du brauchst jetzt nur noch zu springen«, sagte Norbert Seifert zu ihm, als sie nach den Proben vor dem Kranwagen standen und sich verabschiedeten.

»Dann kann ja nichts mehr schiefgehen«, erwiderte Wiegand.

»Eigentlich nicht. Außer, du hast in der Luft eine schicksalhafte Begegnung mit einem dieser perversen Tiefflieger oder mit einem verliebten Jungvogel, der träumt und dich zu spät kommen sieht.«

Wiegand schnaubte amüsiert durch die Nase.

»Vielleicht sollte ich, bevor ich springe einen Warnschrei ausstoßen«, sagte er.

»Schaden kann's nicht, nutzen aber auch nicht. Im Ernst, Kurt, ich habe alles genau berechnet. Du bist wirklich gut abgesichert«, sagte er sehr bestimmt.

»Ich weiß, Norbert. Du hast meinen Sprung bestens vorbereitet. Morgen müsste ich es problemlos schaffen.«

»Worauf du bei diesem Sprung besonders achten musst, wirst du ja wohl nicht vergessen.«

»Auf keinen Fall. Eher vergesse ich, wie ich heiße. Ich werde mich bestimmt nicht zu stark abdrücken, und ich werde auch ziemlich nahe am Transportcontainer vorbeispringen und so spät wie möglich meinen Körper in die Rückenlage drehen. Ich habe meinen Sprung intus, Norbert.«

»Davon bin ich überzeugt. Jammerschade, dass ich morgen nicht dabei sein kann. Ich muss aber heute Abend unbedingt noch nach London fliegen. Kann es nicht verschieben. Hermann filmt dich ja. Was hältst du davon, wenn wir uns deinen Sprung später zusammen bei Hermann ansehen?«

»Gute Idee.«

»Also dann.«

»Also dann.«

Seifert legte leicht seine rechte Hand auf Wiegands Schulter, lächelte freundschaftlich, nickte mit dem Kopf, wobei er die Augen schloss, drehte sich um und ging. Wiegands Blick folgte ihm so lange, bis er den großen Parkplatz am Rand des Vergnügungsparks erreicht hatte.

Wirklich netter Kerl, der Norbert, dachte er. Hätte nichts dagegen, wenn wir uns öfter sehen würden. Ist kaum noch in München. Sagte, dass er mindestens 33 Tage im Monat unterwegs ist. Dick im Geschäft. Einer der Besten seines Fachs. Dass ich mir noch keinen Knochen gebrochen habe, geht sicherlich auch auf sein Konto. Was er macht, das macht er hundertprozentig. Auch jetzt wieder. Fast eine Sicherheitsgarantie. Arbeite gern mit ihm zusammen. Ich bringe meinen Körper ins Spiel, er sein Wissen. Alles perfekt vorbereitet. Brauche eigentlich nur noch zu springen.

Gemeinsam hatten sie seinen Sprung bis in jede Einzelheit, die berücksichtigt werden musste, durchgespielt. Dabei hatte Wiegand sich vor allem nach den in seiner bisherigen Körper-Praxis gesammelten Erfahrungen gerichtet, während Seifert, ein Ingenieur, der als Fachmann für Spezialeffekte hauptsächlich im Filmgeschäft arbeitet, wissenschaftlich verankerten Leitlinien gefolgt war. Sie hatten sich wieder gut ergänzt, so wie es schon einige Male der Fall gewesen war, wenn sie beide zusammen an spektakulären Filmszenen und Showeinlagen gearbeitet hatten. Was Wiegand mit seinem Körper machen wollte, wozu er sich fähig fühlte, das war von Seifert mit geradezu mathematischer Genauigkeit auf seine Verwirk-lichung hin getestet worden. Berechnungen, die für den Doppelsalto die Grundlage bedeuteten. Zentimetergenau hatte er den Standort des Kranwagens, die Lage des Luftsacks und die Absprungstelle bestimmt, hatte den Schwankungsgrad des Transportcontainers und Windverhältnisse bis zu Stärke 6 berücksichtigt und auch Aufpralltoleranzen errechnet, die angaben, wie weit von der Luftsackmitte entfernt Wiegands fallender Körper noch gefahrlos auftreffen würde.

Wenn etwas passieren würde, darüber war sich Wiegand im Klaren, dann würde es mit ihm selbst und dem Sprungverlauf zusammenhängen oder mit der Qualität des Luftsacks, nicht mit Seifert, der seinem Ruf, ein Perfektionist zu sein, erneut bestätigt hatte. Die Genauigkeit, mit der Seifert vorgegangen war, wie er den Sprung gedanklich vorweggenommen und das Risiko verringert hatte, davon fühlte sich Wiegand stark beeindruckt.

»Die Sicherheit stelle ich natürlich über den Effekt«, hatte Seifert gestern zu Beginn der letzten Probenarbeit gesagt. »Ich bin dafür verantwortlich, dass nichts passiert, würde mich schuldig fühlen, wenn jemand deswegen verunglückt, weil ich nicht gut genug gearbeitet habe. Könnte es wohl nur schwer ertragen. So präzise wie möglich zu arbeiten, das ist mein Ethos. Das einzige, das ich habe. Also, wenn du keinen Schnitzer machst, dann wirst du mitten auf dem Luftsack aufkommen. Eine punktgenaue und butterweiche Landung, so viel steht fest«, hatte er ihm versichert und zum Beweis mit dem Zeigefinger auf eine dick unterstrichene Gleichung auf einem seiner großformatigen Arbeitspapiere getippt, die auf dem Eldorado-Rasen lagen und mit Zahlen, Zeichen und Skizzen übersät waren, die geistige Basis für sein jetzt beginnendes Körper-Kunststück.

Ein Doppelsalto aus 55 Metern Höhe mit anschließendem Hecht ist ein erstklassiger Kunstsprung. Für Wiegand bestand in den vergangenen Tagen kein Zweifel darüber, wie er seinen Sprung einzuschätzen hatte. Er zählte nicht zu seinen Filmsprüngen, die oft auch Stürze darstellten, war keiner dieser gewagten Körpereinsätze, die in irgendeine Geschichte eingebaut waren, sondern er war ein ganz auf ihn selbst bezogener Kunstsprung vor Publikum. Ihm würde damit eine sportliche Spitzenleistung gelingen. Es würde ein körperliches Kunststück sein. Sicherlich, es war kein Supersprung, und er war nicht der Einzige, der dazu fähig war, so zu springen, aber es gab wiederum nur wenige, die ihm das hätten nachmachen können. Mit seinem Sprung würde er bestimmt Aufsehen erregen. Er würde auf diese Weise besser ins Geschäft kommen. Sein Sprung war auch seine Idee. Vermutlich hatte noch niemand vor ihm so etwas gezeigt. Weder hatte er davon erfahren, noch ließ es sich herausfinden. Für 5000 Euro musste er schon Außergewöhnliches bieten. Ein einfacher Hechtsprung oder ein Doppelsalto aus nur 20 Metern Höhe wäre zu wenig gewesen. Erst die Verbindung von Bewegungsablauf und Fallhöhe machten seinen Sprung zu dem, was er auch sein sollte, nämlich eine Vergnügungspark-Attraktion. Sein Sprung könnte der Höhepunkt der Jubiläumsveranstaltung zum zehnjährigen Bestehen von Eldorado sein.

Wenn er ihn mit den anderen angekündigten Attraktionen verglich, schien ihm das gut möglich. Ein sensationeller Salto mortale. Kein anderer würde so weit vom Boden entfernt ein Körper-Kunststück ausführen, und kein anderer würde von der Gravitationskraft der Erde derart spektakulär angezogen werden wie er. Auf jeden Fall konnte er sich mit seinem Sprung sehen lassen.

Es standen noch auf dem Programm: ein Wettkampf zwischen Original-Rodeo-Reitern aus Texas um den eigens dafür gestifteten Eldorado-Pokal; ein mit Wiegand flüchtig bekannter Motorradartist aus Augsburg, der auf seiner Maschine einen Riesensatz über aufgereihte Autos hinweg durch einen Feuerreifen wagen wollte; ein dusseliger Gedächtnis-Akrobat aus Basel, der die Bibel auswendig gelernt hatte; ein Berliner Dompteur, der mit seinen Raubkatzen spielen würde; eine Kunstschützin aus Dublin, die zielsicher Gewehr und Armbrust gebrauchen und ihre Schussleistungen mit einer Art Wilhelm-Tell-Nummer krönen würde; eine Western-Show voll wohlbekannter, aktionsreicher Handlungen; eine Lido-Show, aufgeführt von Original-Pariser Nachtklubtänzerinnen, die mit ihren ausgesucht schönen Körpern dem deutschen Normalverbraucher in einem gesitteten Rahmen prickelnde Unterhaltung bieten würden; ein vom Moskauer Staatszirkus ausgeliehenes Akrobatenkollektiv, das vor allem wegen seiner Trapeznummern zur Spitzenklasse zählte; ein Wiener Zauberkünstler mit verblüffend großer Trickkiste, der sogar sich selbst halbieren oder schrumpfen lassen konnte. Aber nur er würde als Körpervirtuose etwas Atemberaubendes zeigen, bei dem ein Höchstmaß an Körperbeherrschung und Sicherheit überlebenswichtig ist.

Ob das Publikum mehr von ihm oder von anderen beeindruckt sein würde, war für Wiegand im Grunde genommen unwichtig. Was hatte er schon mit Vergnügungspark-Besuchern zu schaffen? Sie würden bloß für kurze Zeit als sensationslüsterne Randfiguren einen Zuschauerplatz in seinem Leben einnehmen und dann spurlos daraus verschwinden. Nicht um Fremde nervkitzelnd zu unterhalten, würde er springen, sondern nur um 5000 Euro zu kassieren und Eigenwerbung zu betreiben. Das war die Hauptsache. Nichts anderes.

Der Vergnügungspark hatte für ihn nur als Kurzzeit-Arbeitsplatz einen Wert. Nach seinem Auftritt würde er ihn nicht wieder aufsuchen, es sei denn wegen eines neuen Engagements. Er konnte diesem in der Publikumsgunst seit 10 Jahren ganz oben stehenden Eldorado nichts abgewinnen.

Ein sich über mehrere Hektar erstreckender alberner Mischmasch, der hauptsächlich auf Gaudi getrimmt war, diejenigen als Zielgruppe anlockend, die genügend Einfalt mitbrachten, um sich hier gut amüsieren zu können. Diese Freizeitfirma bot eine für ihn unbrauchbare Ware an, wirkte langweilig und kitschig. Warum sollte er in ein mit schalen Überraschungseffekten vollgestopftes Spukschloss aus Pappmaché gehen, warum in Pseudo-Wikingerbooten mitrudern, was konnten ihm schon läppische Achterbahn-Loopings geben, was interessierten ihn brüllende und Rauch speiende Kunststoffungeheuer, was reizten ihn zahme Revuen, warum sollte er puppenstubenähnliche Folterkammern besichtigen, was hatte er von künstlichen, familienfreundlichen Wildwasserfahrten, warum sollte er an verschnörkelten Altstadtkulissen aus Kunststoff vorbeischlendern?

Das Jubiläumsprogramm stand für ihn auf einem anderen Blatt. Bis auf jenen närrischen Gedächtniskünstler aus Basel, der die Bibel auswendig gelernt hatte, kreuz und quer herunterleiern konnte, schätzte Wiegand alle anderen, die mit ihm die Glanzlichter des Tages setzen sollten als Unterhaltungskünstler ein, die ein beachtliches Können verkörperten. Kollegen, gewissermaßen. Klasseleistungen würden sie zeigen, virtuose Kunststücke, Sehenswertes. Eine Ausnahmeveranstaltung, die auch international bestehen könnte und mit dem Normalbetrieb von Eldorado wenig gemeinsam hatte.

Als Wiegand vorgestern während einer Probenpause in einem der Eldorado-Lokale vor einer Tasse Kaffee saß, fiel sein Blick auf ein großes Wiener Schnitzel, das über den Teller eines Familienvaters lappte. Die Panade macht's, dachte er. Sieht deswegen nach mehr aus. Weniger Fleisch als Panade. Wie kann man nur so etwas essen. Scheint ihm aber zu schmecken. Menü zum Sonderpreis. Ist eher Körperverletzung als Nahrung. Wie alles, was hier auf der Speisekarte steht. Angewidert blickte er weg. Das Wiener Schnitzel erschien ihm passend zum Vergnügungspark: viel Panade und viel Pappmaché. Aber das störte ihn nicht weiter. Hauptsache, er konnte hier auftreten. Panade und Pappmaché ließen sich für ihn leicht auf andere Bereiche übertragen. Panade und Pappmaché allerorten. Wenn man genauer hinsieht. Wie viel davon vor allem im Film- und Fernsehgeschäft gebraucht wurde, das hatte er schon zur Genüge erfahren. Sein Sprung jedenfalls gehörte nicht dazu. Der war durch und durch echt, unverfälscht, genau das, wonach er auch aussah. Ein Anflug von Stolz streifte ihn. Er brauchte keine Panade, kein Pappmaché. Sein Körper reichte. Ein Instrument, das er gut beherrschte. In der Tat, mit seinem Sprung würde ihm eine ehrliche und beachtenswerte Leistung gelingen. Er holte das Röhrchen mit den Vitamintabletten aus seiner Jackentasche, fingerte eine heraus und ließ die nach Zitrone schmeckende Tablette in seinem Mund zergehen.

55 Meter unter dem jetzt absprungbereiten, nur noch für Sekundenbruchteile am Rand des Transportcontainers stehenden Wiegand, hält Hermann Berns eine Filmkamera auf ihn gerichtet. In verwacklungssicherer Aufnahmehaltung, breitbeinig und mit zurückgebogenem Rücken, steht er neben Ingrid Keydel auf dem Eldorado-Rasen, die wie gebannt nach oben blickt.

Wiegand ist seit Jahren mit ihm eng befreundet. Einer der wenigen Menschen, die er vermissen würde, wenn sie aus seinem Leben gestrichen wären. Je länger ihre Freundschaft dauert, desto ungewöhnlicher erscheint sie ihm. Strategie und Taktik, die oft Zauberdienste leisten, um menschlich weiterzukommen, hat es, Wiegands feste Überzeugung, bei ihnen zu keiner Zeit gegeben. Für ihn ein Beweis echter Freundschaft, die sich wie von selbst entwickelt hat. Ein Glücksfall, den er zu schätzen weiß.

Sein Sprung bildete in den vergangenen Tagen den Mittelpunkt, um den ihre Gespräche immer wieder von Neuem kreisten. Was mit ihm zusammenhing, wurde oft bis ins Detail bespiegelt. Wiegand genoss die spielerische Leichtigkeit, die Hermann dabei zeigte; als würde er mit den Einzelheiten seines Sprungs wie mit Bällen jonglieren. Die Sprunggespräche mit Hermann wirkten klärend und entspannend, waren wichtig für eine gute Einstellung. Sein Sprung wurde zu einer Herausforderung, die er, daran zweifelte er nicht, sowohl körperlich als auch geistig beherrschte. Eine Gewissheit, die für ihn ein inneres Sicherungsseil bedeutete. Er gewann den Eindruck, dass dieser Doppelsalto mit anschließendem Hecht das bisher am genauesten durchdachte und am eingehendsten besprochene Ereignis in seinem Laben ist.

»Zu meinem Sprung fällt mir eigentlich nichts Neues mehr ein, Hermann«, sagte er gestern Morgen zu ihm, als er ihn vor den Proben in seiner am Stadtrand von München gelegenen Wohnung besuchte.

»Aber mir. Was würde passieren, Kurt, wenn du mitten im Sprung einen starken Juckreiz verspüren würdest?«, fragte Hermann, der ihm gegenüber auf einem der rechtwinklig angeordneten Sitzelemente aus anthrazitfarbenem Leder saß. Wiegand stutzte, sah forschend in Hermanns Gesicht, der keine Miene verzog, besann sich kurz, schüttelte dann unwillig den Kopf.

»Gar nichts. Einen Juckreiz würde ich nämlich überhaupt nicht registrieren. Ich werde ganz Sprung sein, nichts anderes wird es dann für mich geben. Sag mal, meinst du die Frage wirklich ernst?«

»Weiß es selbst nicht so genau. Bin gerade erst darauf gekommen. Unsinnig scheint mir die Frage nicht zu sein. Was wäre, wenn, Kurt?«, fragte er und drückte seinen linken Zeigefinger gegen sein Kinn.

»Sollte es mich wider Erwarten doch jucken, Hermann, schön, dann werde ich es eben jucken lassen. Ein paar Sekunden später kann ich mich ja kratzen.«

»Also wird's auch dabei keine Probleme für dich geben«, sagt er lächelnd.

»Bestimmt nicht. Ich fühle mich ganz sicher. Ich brauche nur noch zu springen. Alles wird reibungslos verlaufen.«

»Natürlich. Und ich werde dich dabei filmen. Das wird für mich ein ganz besonderer Kurzfilm. Kurt Wiegand Sensationsdarsteller. Dauer: ungefähr sieben Minuten. Ganz dokumentarisch.«

»Bin wirklich gespannt auf diesen Film, Hermann.«

»Ich auch.«

»Gut, dass morgen alles vorbei ist. Ich muss dauernd an meinen Sprung denken.«

»Kann ich gut verstehen, Kurt. Ist ja auch alles andere als alltäglich, was du morgen machst. Ein Höhepunkt in deinem Leben. Im sportlichen und im finanziellen Sinne.«

»Stimmt.«

»Wenn ich bedenke, wie lange so mancher komplett langweilige Gedanken mit sich herumträgt, sie knetet und damit auch noch andere belästigt, finde ich, dass dein Sprung genau den Stellenwert eingenommen hat, den er verdient. Nicht nur bei dir. Warum sollte dieser Höhepunkt deiner bisherigen Laufbahn nicht bei uns eine Zeit lang im Mittelpunkt stehen? Morgen zählt dein Sprung schon zur Vergangenheit. Auf eine Art bedauerlich. Für mich ist dein Sprung, genauer gesagt, dein Kunstsprung, noch immer äußerst interessant.«

»Trotzdem. Noch ein Tag, dann reicht es mir aber mit meinem Sprung«, sagte Wiegand, verschränkte seine Arme und lehnte sich im Ledersessel zurück.

»Danach geht's auf zu neuen Taten«, sagte Hermann in singendem Tonfall. »Kleckerengagements wirst du gar nicht mehr nötig haben, um über die Runden zu kommen. Das wird dein Durchbruch. Du wirst ausgebucht sein. Wart's nur ab. Ich bin da ganz optimistisch.«

Er sah auf seine Uhr. »Noch Zeit satt. Du probst mit Norbert ja erst um elf, und ich brauche heute auch nicht eher im Studio zu sein.«

Hermann Berns, der den jetzt absprungbereiten Wiegand filmt, arbeitet als Kameramann beim Fernsehen. Vor acht Jahren lernten sie sich kennen, zu einer Zeit, als Hermann noch Experimentalfilme drehte, für die er zwar Förderpreise erhielt, die ihm aber sonst nichts einbrachten. Mit großer Begeisterung und beinahe übergangslos wechselte er schließlich zum Dokumentarfilm über und machte sich nach einigen Anlaufschwierigkeiten mit einer Filmserie über gesellschaftliche Außenseiter einen Namen. Weil er mit seinen Dokumentarfilmen zu wenig verdiente, um seinen Lebensunterhalt zu sichern, ging er vor drei Jahren, eine Sanierungsmaßnahme, wie er es nannte, zum Fernsehen, wo er als gut bezahlter Kameramann oft das filmt, was für ihn belanglos ist. Er hat sich eine ironische Arbeitseinstellung zugelegt, mit der es ihm gelingt, jetzt auch die seichtesten Fernsehbeiträge ohne Ekelgefühle abzudrehen.

Sein Filmtagebuch ist seine Leidenschaft. Je älter er wird, vor Kurzem ist er 29 geworden, desto stärker bestimmt es ihn. Er führt es mit dem Bewusstsein, auf diese Weise die für ihn größtmögliche Freiheit beim Filmen zu erreichen, dabei Stationen seiner Lebensgeschichte aufzunehmen und über die Zeit zu retten. Da er sich als Augenmensch versteht, kommt er sich mit seinem Filmtagebuch am nächsten. Wenn er daran arbeitet, dann wird die Kamera, wie er sagt, zu seinem dritten und besten Auge, das eine ganz persönliche Auswahl trifft. Neben Szenen aus seinem Privatleben, Aufzeichnungen unterschiedlichster Art, die häufig Zufallsprodukte sind und in sich abgeschlossenen Kurzfilmen von wenigen Minuten Dauer, der er vorher genau geplant hat, entstehen so auch schnelle, Fernsehsendungen und Zeitungstitelseiten benutzende Bildfolgen zur Zeitgeschichte, die für ihn im Gegensatz zu Wiegand mit zu seinem Leben gehört. Die ständig wachsende Zahl der Spulen seines Filmtagebuchs, die er chronologisch in einem feuersicheren Stahlschrank gestapelt hat, enthalten seinen immer länger werdenden Lebensfilm, von dem er so lange Fortsetzungen drehen will, wie er eine Kamera vor sein Auge halten kann. Zu Beginn jedes Jahres mischt er aus dem angehäuften Filmmaterial der vergangenen Monate seinen Jahresfilm, wobei er die für ihn wichtigsten Ausschnitte zunächst kopiert, dann in zeitlicher Reihenfolge zu seinem eigenen Jahresrückblick anordnet. Er beabsichtigt, demnächst die bereits entstandenen Jahresfilme, die er nur Wiegand zeigt, auf eine höchstens vier Stunden lange Filmauslese zusammenzuschneiden, um, wie er sagt, zu sehen, was dann von seinem Leben übrig bleibt.

Von Natur aus ungelenkig und mit einem unüberwindlichen Hang zur Bequemlichkeit, nimmt er am Sportgeschehen nur als Zuschauer teil, wobei er Leichtathletikveranstaltungen bevorzugt. Im Sport herumzustümpern, sich wie so viele eine Fitness-Disziplin zu verordnen, dazu könne er sich nicht durchringen. Er würde sich lächerlich vorkommen, wie beim Schulsport früher, er sei nicht zum Sporttreiben gemacht und im Übrigen schwitze er nicht gerne. Er bewege lieber seine Kamera. Noch immer versucht Wiegand ihn davon zu überzeugen, dass er schon aus Gesundheitsgründen seinen Körper fordern müsse. Doch ohne großen Erfolg. Zu mehr als leich-ten, von Wiegand zusammengestellten gymnastischen Übungen lässt er sich nicht bewegen. Voller Aktivität sind seine Augen, Augen, wie sie Wiegand noch bei keinem anderen gesehen hat. Wenn sie sehbewegt sind, scheint es, als würde Hermann mit ihnen filmen. In seinem breitflächigen Gesicht, unter dem sich ein Doppelkinn zu wölben beginnt, bilden sie sein besonderes Kennzeichen. Er bewegt lieber seine Augen und seine Kamera, er ist eben ein Augenmensch, sagt sich Wiegand gelegentlich. Er hofft, dass Hermann bald eine bessere und gesündere Einstellung zu seinem Körper gewinnt.

Vorige Woche erzählte ihm Hermann von einem Kameramann, der unter Rebellen in einer südamerikanischen Bananenrepublik lebte, ihren Befreiungskampf unterstützte und dabei höchst tragisch endete. Während er die Rebellen bei einer ihrer Truppenbewegungen filmte, geriet er unter einen ausscherenden Panzer. Der Fahrer hatte ihn nicht gesehen. Er war sofort tot.

»War wohl im toten Winkel. Im wahrsten Sinne des Wortes«, meinte Hermann, der den Film vor Kurzem im Fernsehstudio gesehen hatte. »Seine letzte Einstellung. Verrückt. Was für ein Ende. Der Film ist mir ziemlich unter die Haut gegangen. Ein tragischer Held des Objektivs. Nicht der einzige Kameramann, der bei seiner Arbeit ums Leben gekommen ist. Kameramänner und auch Journalisten, die von Kriegsschauplätzen berichten, leben immer gefährlich. Ist ihr Berufsrisiko.«

»Die leben weitaus gefährlicher als ich«, bemerkte Wiegand.

»Glaube ich auch. Hast eigentlich einen relativ sicheren Job. Bist noch immer unfallfrei. Weil du nur das machst, was du beherrschst. Ich habe deswegen auch nie Angst, dass dir bei einem Stunt etwas passiert. Wäre sonst verdammt unangenehm für mich. Du kennst eben dein Limit.«

»Klar. Sterbe nicht so gerne.«

»Du wirst steinalt. Bist geradezu provozierend gesund. Ärzte sehen dich bestimmt nicht gern in ihrer Praxis. Würden pleitegehen, wenn sie viele Patienten wie dich hätten.«

»Mir egal.«

»Was gibt es nicht alles für Berufskrankheiten! Tödliche sogar. Und dieses Riesenheer der Unglücklichen, die von ihrem Beruf immer mehr gefressen werden.«

»Glücklicherweise bin ich davon nicht betroffen. Ich begreife das nicht. Man verdient seinen Lebensunterhalt und ruiniert sich gleichzeitig dabei. Und wenn man das bis zur Rente überlebt, ist man nur noch ein menschliches Wrack. Spätestens dann wird man bereuen, sein Leben nicht geändert zu haben«, sagte Wiegand kopfschüttelnd.

»Schicksal. Oberflächlich betrachtet, lebst du ziemlich riskant, in Wirklichkeit aber riskieren die Normalberufler viel mehr. Schädlich ist wohl jeder Beruf. Früher oder später.«

»Bleibt nicht aus.«

Hermann sah zu Boden, schwieg einige Sekunden, richtete seinen Blick auf Wiegand, zog die Stirn kraus.

»Ein Leben ohne Gefahr gibt es nicht. So oder so. Selbst wenn man nichts macht. Der Körper allein ist schon Risiko genug, geradezu lebensgefährlich.«

Nickend und lächelnd stimmte ihm Wiegand zu.

Fast auf den Zehenspitzen, den Körper in dieser Absprungphase schon so weit nach vorne geschrägt, dass er ihn nicht mehr zurückbewegen könnte, wenn er jetzt seinen Sprung noch abbrechen wollte, in der Sekundenbruchteile kurzen Schwebe zwischen Stand und Absprung, steht Wiegand 55 Meter hoch über dem Eldorado-Rasen und 52 Meter hoch über dem Luftsack, seinem Ziel, das noch nicht in seinem Gesichtsfeld liegt, nach den Vorausberechnungen erst in etwa drei Sekunden, wenn sein Körper nach dem Doppelsalto in den Hechtsprung übergeht, vor ihm auftauchen wird. Ganz Körper geworden, denkt er nicht mehr daran, dass er mit seinem Sprung weniger als erhofft verdienen wird, seine Gage von Mander, dem Geschäftsführer des Vergnügungsparks, auf 5000 Euro heruntergefeilscht worden ist.

Mander hält den Bank-Scheck über 5000 Euro jetzt in beiden Händen, die er in Bauchnabelhöhe aneinandergelegt hat, nagt an seiner Oberlippe und blickt mit zusammengekniffenen Augen nach oben. An ihm lehnt Miss Bayern, die ihren Titel auf einer Schärpe trägt, welche das Oberteil ihres Fantasiekostüms quert. Auch ihre Augen sind auf Wiegand gerichtet, den sie, wie abgesprochen, nach seinem Sprung mit Show-Küssen beglückwünschen wird. Ein ausdrücklicher Wunsch von Mander, worüber Wiegand vorgestern nicht mehr diskutieren wollte. Mit einer gleichgültigen Geste hatte er nachgegeben. Über diese Witzfigur wollte er sich nicht länger ärgern.

Heute vor 38 Tagen hatte er in Manders Büro versucht, für seinen Sprung ein Honorar von mindestens 7000 Euro auszuhandeln. Er hatte sich gut darauf vorbereitet, mehrere Sätze als Köder zurechtgelegt, wollte sie wirkungsvoll ins Gespräch einfließen lassen. Während er seinen Sprung beschrieb, ihn als ein ebenso spektakuläres wie schwieriges Körperkunststück anpries, wurde er von Mander unterbrochen.

»Das hört sich ja gut an. Aber sagen Sie mal, Herr Wiegand, ist das ein deutscher Rekord?«, fragte er.

Wiegand war überrascht, fing sich jedoch schnell.

»Daran habe ich bisher überhaupt noch nicht gedacht«, antwortete er. »Es geht mir nicht darum, mit meinem Sprung einen deutschen Rekord aufzustellen.«

Mander warf ihm einen taxierenden Blick zu.

»Könnte es denn nicht einer sein?«, fragte er. »So ein Rekordsprung brächte einige Publicity. Für unseren Vergnügungspark wäre das eine super Werbung.«

»Keine Ahnung, wie man das feststellen könnte. Ich habe zwar noch nichts von einem Doppelsalto aus 55 Metern Höhe gehört, aber vielleicht gibt es jemanden, der aus dieser Höhe einen einfachen Salto gesprungen hat und auch einen, der aus 40 Metern Höhe einen dreifachen Salto geschafft hat. Wie sollen solche Sprünge und andere mit einem besonderen Bewegungsablauf denn als Rekord eingestuft werden? Wann ist die Höhe wichtiger, wann die Art des Sprungs? Hierfür gibt's keine Wettbewerbe und auch keine Rekordtabellen.«

»Aber es hat doch schon Sprünge aus großen Höhen gegeben, bei denen Rekorde, ja sogar Weltrekorde aufgestellt worden sind.«

»Sicherlich. Dann, wenn es nur auf die Höhe ankommt, die Sprungtechnik keine Rolle spielt. Das waren meistens Sprünge aus Hubschraubern und von Wolkenkratzern.«

»Und wo liegt der deutsche Rekord?«

»Zurzeit bei 60 Metern. Aus dieser Höhe ist voriges Jahr jemand von einem Hubschrauber abgesprungen und sicher auf einem Luftsack gelandet. Eine Klasseleistung, zweifellos. Aber ohne eine besondere Technik. In einer Haltung ungefähr so wie jemand, der einen simplen Kopfsprung ins Wasser macht.«

»Na ja, so simpel kann es aus dieser Höhe wohl nicht gewesen sein«, sagte Mander süßlich lächelnd. »Solch einen Sprung wagen Sie nicht?«

»Was heißt schon wagen? So etwas interessiert mich nicht. Ich bin kein Rekordspringer.«

»Schade. Ein deutscher Rekord auf unserer Jubiläumsveranstaltung wäre genau das Richtige gewesen.« Mander mimte erst Enttäuschung, dann fragte er unvermittelt: »Und in welcher Höhe bewegen sich Ihre Honorarvorstellungen?«

Wiegand fühlte sich verunsichert. Einen derartigen Gesprächsverlauf hatte er nicht erwartet. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

»Ich will Ihnen ein preiswertes Angebot machen. Wenn Sie berücksichtigen, dass man im Filmgeschäft zum Beispiel für einen Sturz von einem im fünften Stock gelegenen Balkon mindestens 2000 Euro bekommt, von Stockwerk zu Stockwerk wird's teurer, dann sind doch 8000 für meinen —«

»Das nennen Sie preiswert«, unterbrach ihn Mander und fasste sich an die Stirn. Er machte ein Gesicht, als hätte er soeben etwas völlig Unsinniges gehört. »8000 Euro«, wiederholte er mit leiser Stimme.

»Ja, ein fairer Preis.«

»Das sagen Sie. Übrigens, Herr Wiegand, wir sind hier nicht im Filmgeschäft.«

»Das habe ich schon gemerkt.«

»Ich arbeite schon lange genug in meiner Branche. Ich kenne mich da aus. Auch was die Gagen angeht. Ich bin der festen Überzeugung, dass Sie mit einer Gage zwischen 4 und 5000 Euro durchaus zufrieden sein können."

»Mein Sprung ist mehr wert.«

»Einigen wir uns auf 5000.«

»Zu wenig.«

»Ein wirklich großzügiges Honorar.«

Wiegand besann sich kurz. Ihm fiel ein, was Norbert Seifert über Mander gesagt hatte: Einer dieser aalglatten Typen, die einem freundschaftlich die Schultern tätscheln, wenn sie gerade dabei sind, einen übers Ohr zu hauen. Man muss Ihnen zuvorkommen. Das ist die beste Taktik.

»Was halten Sie von 7000?«, fragte er.

»Ich komme mir vor wie im Orient. Ich feilsche nicht gerne.«

»Und wenn ich aus 60 Metern Höhe abspringen würde?«

Mander versank in ein aufreizendes Schweigen, kratzte sich dabei mehrmals die auffallend stark behaarte Brust, die ein weit offenes Hemd zur Ansicht freigab. Er hatte mehr Haare auf der Brust als auf dem Kopf und Wiegand fragte sich, ob Mander wohl auch sein Brusthaar shampoonieren würde. Während er Mander weiter musterte, ließ dessen geschmäcklerische Aufmachung bei ihm den Eindruck entstehen, einen Provinz-Dandy vor sich zu haben.

»Das wäre ziemlich gewagt«, antwortete Mander schließlich. »Ist aber, glaube ich, dann doch zu hoch. Zu weit weg von den Zuschauern. Sie würden von Ihrem Sprung weniger haben. Lassen wir es besser bei der Höhe von 55 Metern. Von dort aus ist Ihr Sprung noch gut mitzuverfolgen und es reicht allemal aus, damit die Zuschauer ihren Nervenkitzel bekommen, was ja das Wichtigste dabei ist. Diese Höhe scheint Ihnen zu liegen, denn sonst hätten Sie sie ja wohl nicht gewählt. Safety first, nehme ich an. Sollte Ihnen aber doch etwas passieren, dann müssten wir unsere Jubiläumsveranstaltung abbrechen. Der ganze Aufwand wäre umsonst gewesen. Und wir würden eine Menge Ärger mit den Behördenhengsten bekommen. Und die Schlagzeilen in den Zeitungen wären alles andere als eine gute Werbung für uns. Einen Unglücksfall können wir uns nicht leisten. Sie wohl am allerwenigsten. Es ist besser, sicher aus 55 Metern Höhe zu springen, als —«

»Auch aus 20 Metern Höhe kann's schon tödlich enden«, unterbrach ihn Wiegand.

»Mag sein. Aber ich nehme doch sehr an, dass Sie Ihren Sprung beherrschen, oder?«

»Natürlich. Aber ein gewisses Risiko lässt sich dabei nicht ausschließen. Es kann immer etwas Unvorhergesehenes passieren.«

»Sollte es besser nicht. Sie wollen also mindestens 7000?«

»Ja.«

»Sie sind nicht der Einzige, der sensationelle Sprünge anzubieten hat.«

»Das habe ich auch nicht behauptet, Herr Mander. Wenn es so wäre, dann hätte ich eine Monopolstellung. Ich wäre ein reicher Mann.«

»Bleiben wir besser bei den Tatsachen«, sagte Mander, dessen Gesicht sich zu einer grinsenden Grimasse verzog. »Alle Achtung vor dem Sprung, den Sie da vorhaben, aber so außergewöhnlich ist er nun auch wieder nicht. Manchmal ist es doch geradezu unglaublich, was Top-Sensationsdarsteller schon alles gewagt und geschafft haben.«

»Ja, besonders Dar Robinson. Mit dem kann sich keiner vergleichen«, sagte Wiegand, dessen Gefühle zwischen Verunsicherung und Ärger schwankten.

»Kenne ich nicht. Was macht er denn Sensationelles? Wo kann man ihn bewundern?«, fragte Mander.

»Nirgendwo mehr«, antwortete Wiegand.

»Wieso?«

»Dar Robinson ist vor ein paar Jahren gestorben. Bei einem Motorradunfall tödlich verunglückt. Heute ist er eine Legende.«

»Davon hat er auch nichts mehr. Irgendwann erwischt es jeden einmal. Den einen so, den anderen so. Dieser Dar Robinson ist wohl Ihr großes Vorbild.«

»Nein. Warum sollte er es sein? Ich bin kein Sensationsdarsteller, jedenfalls kein hauptberuflicher. Davon einmal ganz abgesehen, in Deutschland gibt es niemanden, der als Sensationsdarsteller seine Brötchen verdient. Ein deutscher Sensationsdarsteller wäre ein Sozialfall. In den USA ist es anders. Nirgendwo sonst gibt es für Sensationsdarsteller so hervorragende Arbeitsbedingungen. Deswegen arbeiten da auch die Besten.«

»Das habe ich auch gehört«, warf Mander ein. »Da tummelt sich die Weltspitzenklasse.«

»Ja. Und die Gagen, die sie einkassieren, sind dementsprechend«, fuhr Wiegand fort. »Mit einem amerikanischen Sensationsdarsteller könnten Sie wohl nie ins Geschäft kommen. Für ein Minihonorar von 5000 Euro würde der höchstens von einem Apfelbaum herunterspringen.«

»Meinen Sie? Na ja. Wie Sie wissen, kostet uns Ihr Sprung nicht nur Ihr Honorar. Wir müssen nicht nur Sie bezahlen, sondern auch den Fahrer und die Leihgebühr für den Kranwagen. Dazu kommt noch Seifert, dem wir eine schöne Stange Geld dafür bezahlen, dass Sie heil herunterkommen.«

»Er gehört schließlich zu den Besten seiner Zunft.«

»Ja und auch zu den Teuersten.«

»Als Gage bekommt er sicherlich mehr als die 5000, die Sie für meinen Sprung nur zahlen wollen«, sagte Wiegand, der bereits wusste, dass Seifert 7000 Euro Gage ausgehandelt hatte.

»Darüber schweigt des Sängers Höflichkeit. So viel möchte ich Ihnen aber doch sagen: Seifert hat nicht nur dafür zu sorgen, dass bei Ihnen alles klappt, sondern er ist für den reibungslosen Verlauf unseres gesamten Jubiläumsprogramms verantwortlich. Für die vielen Spezialeffekte und die ganzen Sicherheitsvorkehrungen. Was glauben Sie, wie viel Arbeit er allein in den Motorrad-Stunt gesteckt hat? Für mich übrigens der absolute Höhepunkt des Tages.«

»Wenn ich nicht springe«, entgegnete Wiegand kühl. Was für ein Halsabschneider!

»So kommen wir nicht weiter«, sagte Mander, seinen Ton verschärfend. »Wissen Sie was, Herr Wiegand, ich schlage vor, Sie nehmen sich eine Bedenkzeit. Mein Angebot steht fest: 5000 Euro. Das ist die Ober-Obergrenze. Eine Supergage für deutsche Verhältnisse. Das sollten Sie anerkennen. Wir sind hier nicht in Amerika. Es liegt jetzt an Ihnen, ob wir uns einigen oder nicht. Für Ihre Entscheidung können Sie sich ruhig einen oder auch zwei Tage Zeit lassen. Dann werden wir weitersehen. Bis zu unserer Jubiläumsveranstaltung am 24. August fließt noch eine Menge Wasser die Isar runter. Alternativen gibt es ja immer.«

Wiegand überlegte. Er wollte jetzt keinen Fehler machen. Er fühlte sich in die Enge getrieben. Die schlechteren Karten schien er zu haben. Er beschloss, nachzugeben. 5000 Euro konnte er nicht aufs Spiel setzen.

»Herr Mander«, sagte er scheinbar gelassen, »Sie haben gewonnen. Für 5000 mache ich es.«

Beinahe gleichzeitig reichten sie sich die Hand.

Wiegand fühlte sich als Verlierer. Über die für seine Verhältnisse immer noch hohe Gage konnte er sich nicht freuen. Er hatte seinen Sprung zu billig verkauft. Mindestens 2000 Euro hatte er beim Gagenpoker verloren.

Wiegands Körper, für den es kein Zurück mehr gibt, ist in diesem Augenblick von den Händen bis zu den Füßen vollkommen gestreckt, bildet eine nach vorne gewinkelte Gerade, die kaum noch den Boden des Transportcontainers berührt. Kürzer als ein Wimpernschlag wird es nur noch dauern, bis er sich ganz von seiner Absprungstelle lösen und frei in der Luft bewegen wird. Seine Augen blicken zum grauen Himmel. Er ist sprungkonzentriert. Außer seinem zum Doppelsalto bereiten Körper gibt es für ihn nichts anderes mehr.

Jetzt ist Wiegand aus einer Höhe von 55 Metern abgesprungen, losgelöst von allem unter ihm, von den Finger- bis zu den Zehenspitzen, ein Freiluft-Artist, über ihm nur noch die Himmelskuppel, tief unter ihm die Vergnügungspark-Arena, schräg nach oben hebt sein Körper ab, bleibt über dem leicht schwankenden Transportcontainer noch einen Moment gestreckt, auf dem höchsten Punkt seiner Sprungkurve, dann krümmt ihn Wiegand schnell zum Doppelsalto, ein Bewegungsablauf, für den er seit Langem eine Vorliebe hat, schon x-mal ist er ihm gelungen, vom Sprungturm eines Schwimmbads wie auch von den Ringen in einer Sporthalle, über einer ebenerdigen Absprungfläche oder über einem Trampolin, er hat den Doppelsalto immer wieder trainiert und variiert, ist ihn sowohl vorwärts als auch rückwärts gesprungen, gehockt, gebückt und gestreckt, hat ihn mit anderen Sprungelementen verbunden, sein erster Doppelsalto gelang ihm vor fast zwanzig Jahren auf dem Trampolin, nie vergessen wird er diesen einmaligen Tag in seinem Leben, die Freude, der Stolz, ihn endlich geschafft zu haben, ein Höhepunkt in seiner Kindheit, kein anderer sportlicher Bewegungsablauf gibt ihm seitdem einen ähnlichen Körpergenuss, wenn er ihn aus Lust an der Bewegung ausführt, als ein freies Spiel mit seinem Körper und der Gravitation, nur für sich, wenn es aber eine sportliche Spitzenleistung sein soll, wie bei Wettkämpfen, die er bis vor einem Jahr noch für eine Münchner Vereinsmannschaft be-stritten hat, oder wenn er ihn auf Honorarbasis aus Höhen wagt, die ihn spektakulärer und riskanter machen, er von sich deswegen ein Höchstmaß an Präzision fordern muss, dann konzentriert er sich ganz auf seinen Körper, dann ist er nur noch sein Sprung, wie jetzt, in einer Höhe, in der er noch nie zuvor sich zu einem Doppelsalto eingekrümmt hat, die er jedoch nicht wahrnimmt, es gibt nur noch seine Körperwirklichkeit, nicht spielerisch springt er, nicht wie schon so oft aus reiner Bewegungslust am Doppelsalto, sondern ganz versachlicht, Wiegand ist Körper ist Sprung, bleibt weiter darauf konzentriert, so, wie er es sich vorgenommen hat, unbedingt notwendig, um zu überleben, er ist zu diesem eingeschliffenen Bewegungsablauf geworden, bei dem innere und äußere Kräfte zusammenwirken, über seine Zukunft sekundenschnell entscheiden, Wiegand spürt seinen Sprung, ohne an ihn zu denken, er macht sich kleiner, nimmt im Luftraum von Eldorado eine Haltung an, welche der Hock- und Kauerstellung eines Embryos im Mutterleib ähnelt, nur noch Körper bei seinem Salto mortale, erfährt er eine Rotationsbeschleunigung, dreht sich automatisch um die durch seinen Schwerpunkt verlaufende Achse, wirbelt so im Flug ganz herum, erst einmal, dann sofort noch einmal, in ebenso guter wie sicherer Haltung, er fühlt es, ohne es zu wissen, wie geplant springt und fällt er ziemlich nahe an dem leicht schwankenden Transportcontainer vorbei, als Luftakrobat ist er weiter nur sein Körper, wird in seiner Konzentration nicht abgelenkt, kein Jagdbomber rast im Tiefflug plötzlich auf ihn zu, keine starke Windbö erfasst ihn, kein durch die Luft dilettierender Jungvogel kreuzt seine Flugbahn, kein Juckreiz befällt ihn, nichts Unvorhergesehenes passiert, er nähert sich immer mehr und immer schneller der fast bewegungslosen, in einem Halbkreis um den Luftsack gruppierten Menschenmenge unter ihm, diesen vielen zu ihm hochgereckten Köpfen, die er nicht sieht, seine Augen bleiben die ganze Zeit auf seine Brust gerichtet, 2,4 Sekunden schnell läuft sein Doppelsalto ab, präzise und kontrolliert, zwei Körperkreisläufe hoch oben in der Luft, ausgeführt von diesem Kunst springenden Organismus, der ihn, Kurt Wiegand, lebt, 28 Jahre, 8 Monate und 12 Tage alt, 188 Zentimeter groß und 84 Kilogramm schwer, ein Mann, der als Person jetzt aufgehoben ist, ganz zu diesem Organismus geworden, dessen Leistungsstärke das Ergebnis intensiver Trainingsarbeit ist, dem es gelingt, einen Doppelsalto aus einer Höhe von 55 Metern zu springen, sicher gesteuert von seinem Zentralnervensystem, dessen Netzwerk elektrochemische Impulse sofort und für ihn nicht spürbar in all seine Körperteile leitet, die Reihenfolge der einzelnen Sprungphasen koordiniert, eine in seinem Körper ablaufende Kettenreaktion, die ein zweckmäßiges und zielgerichtetes Zusammenspiel der Knochen, Sehnen, Bänder und Muskeln seines Bewegungsapparates bewirkt, Wiegand zu diesem Kunstsprung befähigt, ein Sprung, der nach dem gelungenen Doppelsalto und einer zusätzlichen halben Körperdrehung jetzt wie beabsichtigt in den Hecht übergeht, sodass er genau genommen einen zweieinhalbfachen Salto ausgeführt hat, eine in Fachkreisen übliche Ansicht, die Wiegand schon seit Längerem nicht mehr teilt, ein sogenannter halber Salto hat für ihn nichts, was für einen Salto charakteristisch ist, zählt nicht, mit einem ganzen verglichen, wirkt er immer reizlos und zweitrangig, von einem zweieinhalbfachen Salto zu sprechen, erscheint ihm genauso unsinnig wie von einem drei minus einhalbfachen, entweder springt er einen einfachen oder einen doppelten Salto, dazwischen fügt er immer nur Verbindungselemente ein, der Doppelsalto ist die Hauptsache, alles Weitere sind Zusätze, im Grunde nur Übergänge von einem Sprungteil zum anderen, wenn er einen Doppelsalto mit anschließendem Hecht springt, dann gibt es für ihn keinen halben Salto dazwischen, so wie jetzt, hoch oben im Luftraum des Vergnügungsparks Eldorado, wo er seinen nach dem Doppelsalto noch drehgerundeten Körper energisch und schnell streckt, sofort den Haltungswechsel vollzieht, eine reine Gefühlssache, mitentscheidend für sein Überleben, er darf sich nicht überstrecken, muss seinen von den Rotationsbewegungen rasant beschleunigten Körper neu ausrichten, ihn kontrolliert weiterfallen lassen, in guter Sturzflughaltung, was er jetzt auch macht, er drückt seinen Körper durch, gibt ihm eine starke Bogenspannung, sodass er die Form einer gekrümmten Linie annimmt, breitet gleichzeitig seine Arme flügelartig zu größter Spannweite aus, richtet seine Augen auf das unter ihm liegende Blau des Luftsacks und steuert, von den nervalen Vorgängen in seinem Körper geleitet, kopfüber dessen noch mehr als 35 Meter entfernte Mitte an, so, wie er es sich vorgenommen und in Gedanken oft durchgespielt hat, denn je punktgenauer er fällt, desto besser wird er aufkommen, trifft er ihn in der Mitte, dann wird er weich auf diesem riesigen Luftsack, gefüllt mit der Luft Bayerns, landen und seinen Sprung glücklich beenden, um 5000 Euro reicher und mit der Aussicht auf einen Karriereschub im Unterhaltungsgeschäft, ein Sprung vorwärts für ihn, ein Körpererfolg, aber noch hat er es nicht geschafft, ein Luft- und Fallweg von 35 Metern liegt noch vor ihm, noch ist nicht entschieden, ob und wie er seinen Kunstsprung überleben wird, sein Körper ist noch unterwegs, erdwärts gerichtet, der Gravitationskraft ausgesetzt, die hier im Eldorado-Gebiet ihn mit der überall geltenden Fallbeschleunigung von 9,81m/sec² unaufhaltsam anzieht, ein auf ihn dauernd einwirkendes Naturgesetz, dem er sich nicht entziehen kann, das ihn rasend schnell zur Erde zurückbewegt, ebenso rigoros, wie es bei vielen Körpereinsätzen zuvor schon der Fall gewesen ist, die er alle unverletzt überstanden hat, bis heute, was er sich zutraut, das kann er auch, dafür ist er trainiert, wenn er etwas mit seinem Körper wagt, dann bringt er ihn immer mit einem Höchstmaß an Kontrolle und Präzision ins Spiel, eine Selbstverständlichkeit und eine Notwendigkeit, nie setzt er ihn aufs Spiel, das Risiko muss in einem für ihn vertretbaren Rahmen bleiben, zwar gewagt, aber genau berechnet, gut abgesichert, etwas anderes kommt für ihn nicht infrage, dafür lebt er zu gerne, er hütet sich davor, sich zu überschätzen, das könnte schnell tödlich werden, er weiß, wie weit er gehen kann, kennt seine Grenzen, er muss davon überzeugt sein, dass er es schafft, nur dann macht er es, führt er aus, wozu man ihn engagiert hat, nur dann setzt er seinen Körper ein, verdient er mit ihm auf seine ganz besondere Weise das Geld, das er braucht, danach handelt er schon seit einigen Jahren, deswegen ist ihm auch bis jetzt noch nichts passiert, weder bei seinen spektakulären Sprüngen und Stürzen, die seine Spezialität sind, noch bei seinen anderen stark körperbetonten Auftritten, nur leichte Hautabschürfungen, Verstauchungen und Zerrungen hat er sich bisher dabei zugezogen, keine ernsthaften Verletzungen, der Schwierigkeitsgrad ist manchmal hoch gewesen, aber er hat noch nie Kopf und Kragen riskiert, grundsätzlich macht er nichts auf gut Glück, er weiß seine körperlichen Möglichkeiten richtig einzuschätzen, das gilt für seinen Sprung jetzt genauso wie für seine anderen mehr oder minder gewagten Körpereinsätze, die er bisher bewältigt hat, hier im Eldorado Vergnügungspark ist er schon im vergangenen Jahr an vier Wochenenden aufgetreten, in einer Bavaria-Stuntmen-Show, wo er mit Kollegen einiges davon zeigte, was bei Filmaufnahmen immer wieder vorkommt: Stürze aus Fenstern, von Leitern, auf Treppen, aus fahrenden Autos, Sprünge von Klippen, von Dächern und Balkonen, durch Glasscheiben, aus Zügen, Prügelszenen mit allen Finessen, auch in dem baden-württembergischen Freizeitpark FuntropoI hat er schon gearbeitet, ist dort von einem Sprungturm aus einer Höhe von 30 Metern à la Acapulco in ein großes Wasserbecken gesprungen, jedoch nicht als Alleinunterhalter, wie es jetzt der Fall ist, sondern als Mitglied einer fünfköpfigen Springergruppe, die für die Hauptsaison im Sommer verpflichtet worden war, er hat zu verschiedenen Gelegenheiten auch Doppelsaltos vorgeführt, aus Höhen bis zu 35 Metern, am spektakulärsten war wohl bisher sein Hechtsprung aus einem Hubschrauber aus 40 Metern Höhe in den Bodensee, der ihm für eine Fluchtszene in einem Actionfilm problemlos gelang, und nach dem er sich so großartig wie selten fühlte, das war vor etwa eineinhalb Jahren, seitdem wird er mehr beachtet, zwar ist er noch immer eine Randfigur, aber mittlerweile eine bekanntere, in seinem Metier ziemlich gefragt, gilt als vielseitig einsetzbar, zuverlässig, routiniert, Wiegand weiß, dass er sich Schlampereien nicht erlauben darf, wie wichtig ein guter Ruf in seinem Tätigkeitsbereich ist, er wird immer besser, man soll mit ihm zufrieden sein, er ist leistungsorientiert, was er macht, das ist Qualitätsarbeit, bei manchen Körpereinsätzen kommt er nahe an seine Grenze, am schwierigsten sind für ihn jene Sprünge, die wie tödliche Stürze aussehen sollen, bei denen er sekundenschnell die richtige Mischung aus Präzision und Sturzhaltung finden, scheinbar unkontrolliert in die Tiefe fallen muss, wie bei dem Sprung vor einigen Wochen, den er in einer kleinen Nebenrolle für eine Todesszene zu bewältigen hatte, in der er auf einen Baukran kletterte und aus 18 Metern Höhe, von Polizeikugeln getroffen, herunterstürzte, wie bei vielen seiner Sprünge und Stürze auf einem Luftsack sicher landete, fünfmal musste er diesen Sprung wiederholen, weil er dem Regisseur so oft zu artistisch vorkam, zu wenig einem Sturz glich, das war schon gut, aber bitte, mach das doch noch einmal, dann wird's bestimmt super, an solche und ähnliche Sätze hat er sich bei Dreharbeiten gewöhnt, wenn ein Stunt nicht so klappt, wie es der Herr Regisseur gern haben will, man erwartet von ihm, dass er gewagte Szenen wiederholt, so lange, bis man mit ihnen zufrieden ist, sie gut genug wirken, das gehört zum Geschäft, das Risiko hat er allein in Kauf zu nehmen, es soll so spektakulär wie möglich aussehen, sehr gefährlich, es soll Spannung erzeugen, ein Höhepunkt des Films werden, man braucht ihn, man weiß, was man von ihm erwarten kann, man fordert von ihm oft einen hohen Körpereinsatz, den man einem teueren Star keinesfalls zumutet, damit verdient er Geld, er hat dagegen nichts einzuwenden, diese Filmarbeiten gefallen ihm von seinen Engagements am besten, auch wegen der dabei herrschenden Atmosphäre, er zeigt gern, was er mit seinem Körper alles machen kann, genießt es, wenn er etwas Besonderes geschafft hat, er dafür Beifall erhält, wie neulich, als er doubelnd von einem Zug in ein Sportwagen-Cabriolet umstieg, mit einem Aktenkoffer voller Filmgeld unter dem Arm kam er wie vorausberechnet auf dem rutschfest gemachten Wagenheck auf, schlängelte sich dann zum Beifahrersitz, setzte sich neben einen Komplizen und hielt den Aktenkoffer triumphierend hoch, danach war sein Auftritt vorbei, das Filmteam applaudierte begeistert, Bravo-Rufe, alle Augen auf ihn gerichtet, ein angenehmes Nachspiel für ihn, er war der Mittelpunkt, anerkannt, wichtig, ein Star, aber nur für kurze Zeit, die Szene war abgedreht, seine Arbeit war getan, man brauchte ihn nicht mehr, der gewohnte Verlauf, im Film- und Fernsehgeschäft spielt er keine große Rolle, er ist nur ein Gelegenheitsarbeiter, der mal mehr, mal weniger beschäftigt wird, seine spektakulären und durchschnittlichen Auftritte halten sich dabei in etwa die Waage, manchmal wird er nur für abgedroschene Prügeleien oder läppische Treppenstürze engagiert, es kommt auch vor, dass der jetzt als Sensationsdarsteller 9,81 m/sec² schnell durch den Eldorado-Luftraum fallende Kurt Wiegand bloß ein besserer Komparse ist, für Mini-Szenen sich nur wenig zu bewegen und nur ein paar Worte zu sprechen braucht, wofür er Gagen erhält, die kaum kleiner sein können, je spektakulärer er auftritt, desto mehr verdient er auch, Berechnungsgrundlage dafür ist ein Stuntszenen-Katalog, in dem die einzelnen Einsätze nach dem Schwierigkeitsgrad und dem Risiko aufgelistet sind, danach werden die Verträge abgefasst, die er zu erfüllen hat, eine Unfallversicherung gibt es nicht, das Risiko hat er alleine zu tragen, doch das ist ihm egal, er weiß genau, was er sich zumuten kann, vertraut den Sicherheitsvorkehrungen, sonst würde er es nicht machen, manchmal fragt er sich, ob er nicht doch zu wenig wagt, sich zu früh sagt: Bis hier und nicht weiter, vielleicht könnte er aus seinem Körper mehr Kapital schlagen, weil ihm sein Risiko zu hoch schien, hat er schon einige verlockende Angebote abgelehnt, ist er etwa noch zu vorsichtig, nicht couragiert genug, er weiß es nicht, andere wagen und verdienen mehr als er, doch manchmal wagt jemand zu viel, verletzt sich schwer oder stirbt sogar, erst im vorigen Monat war ein amerikanischer Stuntman, der an Händen und Füßen gefesselt war, bei einem Sturz von einem Münchner Hochhausbalkon katastrophal falsch auf einem Luftsack aufgeprallt, anstatt auf den Rücken fiel er auf den Bauch, seitdem ist er querschnittgelähmt, Rollstuhlfahrer, Wiegand könnte so nicht weiterleben, dann wäre er lieber tot, doch darüber denkt er nicht lange nach, er rechnet immer damit, dass ihm nichts passiert, ist sich seiner Sache sicher, wenn er seinen Körper ins Spiel bringt, sonst hätte er sich auch nicht auf diesen Eldorado-Sprung eingelassen, bei dem sich sein Körper noch in der Sturzflughaltung befindet, dieser für ihn genau kalkulierte Sprung, für den er seinen bisher höchsten Sekundenlohn bekommen wird, der ihn im Unterhaltungsgeschäft ein gutes Stück vorwärts bringen könnte, wo er bislang als Körpervirtuose zwar gebraucht, aber nur am Rande beachtet wurde, in der lohnbezogenen Rangordnung steht er auf einer der untersten Stufen, einen Namen hat er sich noch nicht machen können, er ist problemlos ersetzbar, darüber täuscht er sich nicht hinweg, was er kann, das können andere auch, wenn er es nicht macht, dann macht es eben ein anderer, es gibt zwar nur wenige in Deutschland, die ähnlich wie er ihren Lebensunterhalt verdienen, aber die sind für ihn schon Konkurrenz genug, dagegen muss er sich behaupten, für Leute seines Fachs ist Deutschland ein Entwicklungsland, hier herrschen keine amerikanischen Verhältnisse, mit Hollywood oder Las Vegas lässt sich hier nichts vergleichen, alles ist hier eine Nummer kleiner, mindestens, deutsche Stuntmen oder Sensationsdarsteller gibt es eigentlich nicht, man arbeitet zwar so, aber nicht nur, man ist auf zusätzliche Einnahmequellen angewiesen, Wiegand macht sich darin nichts vor, er kennt die deutschen Verhältnisse, die alles andere als günstig sind, nicht genug Action, er hat sich darauf eingestellt, seine Mischform gefunden, er bietet sich vielseitig an, er ist eine Art Hure, er prostituiert seine körperlichen Fähigkeiten in verschiedenen Bereichen der Unterhaltungsbranche, nimmt auch Angebote an, die weit unter seinem Niveau liegen, er verdient zwar nur mäßig, aber seine Gelegenheitsarbeiten gefallen ihm, was für ihn wichtiger ist, es reicht für seinen Lebensunterhalt, er braucht nicht viel, er will abwarten, wie sich alles weiterentwickelt, wer weiß, welche Möglichkeiten sich ihm nach seinem Sprung noch bieten, es ist eine Chance, auf jeden Fall verdient er damit gutes Geld, auch wenn er sich unter Wert verkauft hat, die 5000 Euro hat er schon fest einkalkuliert, aber noch hält er den Scheck nicht in seinen Händen, noch hat er es nicht geschafft, er ist noch von oben nach unten unterwegs, in perfekter Sturzflughaltung springt er auf den jetzt noch 25 Meter unter ihm liegenden Luftsack zu, als wäre sein Körper in dieser Haltung erstarrt, er beschreibt eine leicht bogenförmige Flugkurve, ganz vom Sprunggefühl durchdrungen, weiterhin an nichts denkend, körperzentriert, die Haltung seines Körpers nicht verändernd, immer schneller fallend, weder empfindet Wiegand es als Rausch, noch läuft, wie es nicht selten abstürzende Bergsteiger erleben, ein Film mit Szenen aus der eigenen Lebensgeschichte vor seinem geistigen Auge ab, noch nie hat er auf einem seiner vielen Fallwege Ähnliches erlebt, eine wohl einzigartige Erfahrung, die er gern einmal machen würde, natürlich nur bei gewollten und geglückten Sprüngen und Stürzen, vielleicht, so sagt er sich gelegentlich, geschieht so etwas bei einem Super-Sprung aus einem Hubschrauber, bei dem er so lange wie noch nie zuvor auf einem Fallweg unterwegs ist oder auch bei einem eher mittelmäßigen Körperkunststück, möglicherweise wird er es jedoch nur dann erleben, wenn er plötzlich sein Gleichgewicht verliert, lebensgefährlich zu Fall kommt, davon völlig überrascht wird, keinen Halt mehr unter seinen Füßen zu haben, wenn er keine Kontrolle mehr über seinen Körper gewinnt, tief ins Leere stürzt, vom Jetzt-ist's-aus durchzuckt, bei einem Unglücksfall, bei der Arbeit an einer gefährlichen Filmszene, vielleicht passiert dann, was andere schon erlebten und wovon sie, falls sie überlebten, später berichteten, vielleicht würde dann bei ihm auch wie bei jenen scheiternden Gipfelbezwingern eine Gedankenflut einsetzen, in der sich rasend schnell das eigene Leben in noch nie gesehenen Bildern zeigt, verbunden mit einem wunderbaren Glücksgefühl, ein Wachtraum direkt an der Grenze von Leben und Tod, die er dann glücklicherweise doch nicht überschreitet, wovon er mit einer einmaligen, unvergesslichen Erfahrung zurückkehren würde, aber davon ist er jetzt weit entfernt, was mit ihm in diesem Augenblick geschieht, das ist von ihm gewollt, geplant, Ergebnis seiner Fähigkeiten, es läuft automatisch ab, sein Bewusstsein bleibt ausgeschaltet, während sein Zentralnervensystem seine Aufgabe weiterhin erledigt, elektrisch schnell leitet es seine Impulse genau dahin, wohin sie gehören, lässt so bestimmte Reihenfolgen von Reiz, Reaktion und Interpretation entstehen, die seinen Sprung dirigieren, wovon er nichts merken kann, solange er springt und fällt, ist er nur noch ein von seinen nervalen Vorgängen gesteuerter Körper, dessen Gewicht und Lage die Auswirkung der Gravitationskraft auf in beeinflusst, die ihn wie alle fallenden Körper zum Erdmittelpunkt hin gleichmäßig beschleunigt und dabei seine Geschwindigkeit nach jeder Sekunde um 9,81 Sekundenmeter vergrößert, bis zum Sprungende, im uralten Schwerefeld der Erde fällt er, wie er fallen muss, sekundenkurz noch wird sich sein Kunst springender Körper im Sturzflug weiter erdwärts bewegen und sein Leben dieser Situation ausgeliefert bleiben, das heute vor 28 Jahren, 8 Monaten und 12 Tagen begann, siebeneinhalb Pfund wog er bei seinem Erddebüt, entwickelte sich aus so viel Körper, lernte sein Gleichgewicht gegen die auf ihn wie auch auf alle anderen Menschen unablässig einwirkende Schwerkraft zu behaupten, er richtete sich auf, machte seine ersten Schritte, fand in der Vertikalen Halt, bewegte sich immer freier im Raum, durchlief prägende Phasen, bekam seinen eigenen Werdegang, wurde schließlich zu dem Mann, der er heute ist, kein anderer will er sein, so etwas spielt er schon lange nicht mehr in Gedanken durch, ein Kopftheaterstück, in dem er als Abtrünniger von sich selbst auftritt, wäre für ihn nur noch komisch, damit gibt er sich nicht ab, die Menschen sind ihm fremd, die es nicht bei sich aushalten und von sich loszukommen versuchen, obwohl sie ihr ganzes Leben mit sich verbringen müssen, mit welchen Tricks man eine derartige Lebensweise erträgt, vermag er nicht nachzuempfinden, vielleicht eine Folter, so vermutet er, an der man zwar leidet, die man aber auch genießt, nicht seine Welt, er bleibt entschieden bei sich, er ist froh, dass er sich hat, so soll es auch bleiben, schließlich bin ich lebenslang mit mir zusammen, bis dass der Tod mich scheidet, sein Leben versteht er als eine Art Kür, nur nach seiner Fasson will er es führen, für ihn eine Selbstverständlichkeit, seine Körper-Kultur bildet seinen Schwerpunkt, er könnte sich nicht anders gewichten, ich körper, also bin ich, seit seiner Studentenzeit denkt er so, was ihm folgerichtig erscheint, auf akademischem Wissen gründet, das er sich auf der Sporthochschule in Köln angeeignet hatte, zwar lernte er weniger als vom Lehrplan gefordert, aber doch genug, um die körperlichen Gegebenheiten zu begreifen, die ihn besonders interessierten, wodurch ihm sein eigener Körper noch vertrauter wurde als er es ohnehin schon war, er übernahm die gerade in Sportlerkreisen favorisierte Ansicht von der Einheit von Körper und Seele, fand im psychophysischen Gleichgewicht sein Ideal, übertrug, um seine Ichstärke zu trainieren, Erfolg versprechende Erkenntnisse der Trainingslehre leicht abgewandelt auf sein Innenleben, er nahm an Selbsterfahrungs-Kursen teil, lernte seine individuellen Schwerpunkte besser verstehen, bemühte sich um seine eigene Balance, es kam ihm darauf an, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch in Form zu sein, man muss sein Leben gut trainieren, jeder ist seines Glückes Schmied, er gewann eine sportlich-materialistische Lebenseinstellung, die für ihn sinngebend und richtungsweisend wurde, bis heute ist er mit ihr gut zurechtgekommen, was ihm ihre Richtigkeit beweist, einen anderen Nutzen hatte sein Studium an der Sporthochschule nicht, im Grunde genommen war es sogar überflüssig, ein paar populärwissenschaftliche Bücher hätten für seinen Eigenbedarf auch ausgereicht, aber nach dem Abitur war ihm nichts Besseres eingefallen, als Sportlehrer oder Trainer zu werden, was er wegen seiner wettkampferprobten körperlichen Fähigkeiten für sinnvoll hielt, jedoch bald als Irrtum einsah, er merkte, dass er dafür gänzlich ungeeignet war, andere sportlich zu beammen, deswegen brach er nach dem fünften Semester sein Studium ab, ein zweiter Platz bei den deutschen Studentenmeisterschaften im Kunstturnen war für ihn der größte Erfolg, den er innerhalb seiner Universitätszeit erringen konnte, danach setzte er mit Entschiedenheit fort, womit er schon während seines Studiums begonnen hatte, er bot seine körperlichen Qualitäten an, versuchte im Unterhaltungsgeschäft Fuß zu fassen, um Geld zu verdienen, wurde so zu dem Freiberufler, der er auch heute noch ist, ein Selbstständiger, dessen Produkt sein eigener Körper ist, den er vermarktet, so gut es geht, als freischaffender Körpervirtuose hat er gelernt, seine Ansprüche seiner Verdienstlage anzupassen, er kommt mit wenig Geld aus, den Gelderwerb mit dem eigenen Körper zieht er jedem anderen vor, für ihn gibt es nichts Passenderes, es gefällt ihm keinen genormten Beruf zu haben, mal ist er mehr Schauspieler, dann wieder mehr Doubel oder wie jetzt Sensationsdarsteller, was er macht, ist abwechslungsreich, in einem Büro würde er sicherlich verkümmern, ein bürgerlicher Berufsalltag wäre für ihn ein Martyrium, dafür fehlt ihm das nötige Talent, er hat seinen eigenen Lebensstil gefunden, er ist nur für sich selbst verantwortlich, mit seinen Aktivitäten schadet er niemandem, was er sich zugutehält, wenn er bedenkt, wer alles wem wie schadet, um Gesellschaftliches kümmert er sich nicht, dieses Gebiet überlässt er gern den hauptberuflichen Humanisten, es ist ihm zu fremd, wer kümmert sich denn um ihn, noch nicht einmal eine Gewerkschaft, die es für Leute seines Fachs nicht gibt, er ist auf sich alleine angewiesen, vom sogenannten Sozialstaat fühlt er sich stiefmütterlich behandelt, ohne Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld oder einen bezahlten Urlaub oder ein dreizehntes Monatsgehalt, er muss sehen, wie er zurechtkommt, alles hängt von seiner körperlichen Verfassung ab, sie muss erstklassig sein, nur so kann er seinen Lebensstil beibehalten, er fordert sich, will sich ausschöpfen, er kennt seine Stärken und richtet sich danach, das macht ihn selbstsicher, falsche Bescheidenheit hat er nicht nötig, seit seiner Kindheit ist er es gewohnt, dass er seine körperlichen Vorzüge ausspielt, und dass sie ihm am meisten nutzen, sie verschaffen ihm Vorteile, Anerkennung, was für ihn in der Natur der Sache liegt, denn das Körperliche steht ja immer hoch im Kurs, jahrelanges, oft hartes Training liegt hinter ihm, er ist auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit angelangt, er weiß, dass die Zeit gegen ihn arbeitet, er etwas verkörpert, das nur kurzlebig ist, umso wertvoller erscheint es ihm, er lebt sich aus, in vollen Zügen, bis zum Extrem, Mittelmäßiges reicht ihm nicht, er braucht stärkere Reize, wie diesen Doppelsalto aus 55 Metern Höhe, der vor wenigen Augenblicken in den Hecht übergegangen ist, innerhalb seiner eigenen Grenzen will er es so weit wie möglich treiben, das Extreme beginnt bei ihm später als bei den meisten anderen, normale Maßstäbe gelten für ihn nicht, er ist artistisch eingestellt, er sucht die Herausforderung, um sich an ihr zu messen, tiefe Befriedigung verspürt er, wenn er mit seinem Körper etwas Außergewöhnliches geschafft hat, er sich sagen kann: Das war nicht 08/15, das war 1A, eine Reihe beachtlicher Körperkunststücke sind ihm schon gelungen, er ist ein Profi, weiß, dass er in seinem Fach gut ist, aber auch, dass es Bessere gibt, die ihm klar überlegen sind, dazu zählen vor allem die Sensationsdarsteller aus den USA, die dort als Stars gehandelt werden, Hollywood- und Las-Vegas-Größen, die viel können und auch viel verdienen, 100000 Dollar pro Jahr und mehr, die Rekorde aufstellen, noch nie Dagewesenes zeigen, Supersprünge, die er nicht meistern könnte, wie jenen vierfachen Salto mit eineinhalbfacher Schraube aus 30 Metern Höhe, bei dem jemand an einem Wasserfall vorbei sprang, dann im Strudel eintauchte, ein Weltrekord, überall sind diese Spitzenleute im Einsatz, begehrte Spezialisten, nicht zu ersetzen, zweifellos eine Klasse besser als er, doch damit kommt er gut zurecht, er ist mit seinem Körperkönnen zufrieden, es kann sich durchaus sehen lassen, für deutsche Verhältnisse langt's allemal, und danach richtet er sich, was lässt sich nicht steigern, sensationell, sensationeller, am sensationellsten, auch für Wiegand verkörperte Dar Robinson den Superlativ, der steht über allen, einen besseren Sensationsdarsteller hat es bis heute nicht gegeben, der bleibt wohl unübertroffen, in Fachkreisen spricht man mit Hochachtung von ihm, bewundert ihn weiter, er ist eine Legende, zu Lebzeiten die absolute Nummer 1, er war mit Hollywoodstars befreundet, Produzenten flogen ihn zu den Drehorten, was er alles meisterte, ist einzigartig, einmal raste Dar Robinson in einem Sportwagen über eine Rampe direkt in den Grand Canyon, stieg im richtigen Moment aus und segelte an einem Fallschirm die Schlucht hinunter, so etwas hatte man vorher noch nie gesehen, auch nicht, als er aus 340 Metern Höhe vom CN Tower in Toronto, dem damals höchsten Gebäude der Welt, sprang und nur wenige Meter über der ihn lebensgefährlich anziehenden Erde von einem Spezialseil gestoppt wurde, unübertroffen auch, wie er die Todesszene eines Killers spielte, dabei im 22. Stock eines Hochhauses erst mit einer Hand an dem Balkongeländer hing, mit der anderen die Pistole ergriff, dann losließ und im freien Fall rückwärts noch schnell zwei Schüsse auf seinen Gegner abfeuerte, während er weiter rücklings in die Tiefe stürzte, perfekt, wie er in einem Hochhaus durch eine Scheibe sprang und aus 55 Metern Höhe in Rückenlage, ohne Sichtkontakt zum Luftsack, hinunterfiel, eine weitere Glanzleistung von ihm war sein Weltrekord-Sprung aus 100 Metern Höhe von einem Hubschrauber, nach dem er punktgenau auf einem Luftsack landete, Dar Robinson war ein Perfektionist, worauf er sich einließ, darüber war er sich jedes Mal im Klaren, er wusste, wie weit er gehen durfte, er plante seine Stunts bis ins kleinste Detail, benutzte Computeranalysen, hatte einen scharfen Verstand, dachte immer intensiv darüber nach, was er machte oder machen wollte, mental äußerst stark, der Zufall darf keine Chance bekommen, das war sein Grundsatz, nie war ihm etwas als Sensationsdarsteller passiert, doch dann verunglückte er bei einem alltäglichen Motorradunfall tödlich, er wurde nur 39 Jahre alt, ein recht kurzes, dafür aber intensives Leben, der jetzt 9,81 m/sec² schnell durch den Eldorado-Luftraum fallende Kurt Wiegand würde es, wenn er wählen müsste, einem langen, geruhsamen vorziehen, er kann nicht auf Sparflamme leben, in Dar Robinsons Unfalltod sieht er ein Beispiel dafür, dass man als Sensationsdarsteller wohl eher an den Gefahren des Alltags stirbt als an denen des Berufs, die ja durch Können und Planung in den Griff zu bekommen sind, im Alltag passieren dauernd eine Menge unvorhersehbarer Unglücksfälle, die Zeitungen sind voll davon, das Leben ist eben lebensgefährlich, auf vielerlei Art, allein schon der Körper steckt voller Risiken, bislang ist er selbst verschont geblieben, seine Schwester, an die er sich nicht erinnern kann, jedoch nicht, sie starb mit fünf Jahren an einer eitrigen Lungenentzündung, und auch sein Großvater, an dem er sehr hing, hat in seiner Familie bereits gegen den Tod verloren, endete auf ihn anfangs betrübende Weise als menschliches Wrack in einer Anstalt für Geisteskranke, das geschah vor etwa zwei Jahren, er hat sich in dieser Zeit mit Verfall und Tod so gründlich auseinandergesetzt wie noch nie zuvor, ist aber für sich zu keinem neuen Ergebnis gekommen, seine Einstellung zum Tod wird er wohl nie ändern, der Tod ist zum Fürchten, tyrannisiert jeden, alle, aber auch alle werden sein Opfer, die einen früher, die anderen später, der Tod ist sein größter Feind, ungeheuer brutal, unbesiegbar, mörderisch, so lange wie möglich will er ihn sich vom Leibe zu halten versuchen, was bleibt ihm auch anderes übrig, dank seiner erstklassigen körperlichen Verfassung glaubt er gute Überlebenschancen zu haben, mindestens 50 Jahre will er schon alt werden, wer gern lebt, stirbt nur ungern, mit dem Tod beschäftigt er sich nur noch flüchtig, er weiß ja, woran er bei ihm ist, ganz in Luft aufgelöst haben sich für ihn Pläne, die ihm einen Stammplatz im Jenseits sichern sollen, damit liebäugelt er schon lange nicht mehr, erst auf der Erde, dann in der Erde, das wär's, etwas Sinnvolleres als sich auszuleben, gibt es für ihn nicht, auf dieser Erde, die ihn jetzt bei seinem Kunstsprung anzieht und lebenslang weiter anziehen wird, er fühlt sich erdverbunden, Kurt Wiegand, Erdling, er kann sich nicht beklagen, im Grunde ist er mit seinem Leben auf diesem Planeten zufrieden, der im All nicht bahngenau, sondern leicht eiernd kreisen soll, mit dem All kann er nicht viel anfangen, es kommt ihm irgendwie gedopt vor, spielt in einer ganz anderen Liga, konkurrenzlos mit diesen unfassbaren Mega-Kräften und Super-Super-Geschwindigkeiten, wo dauernd eine kosmische Sensation die andere jagt, unfassbare Rekorde aufgestellt werden, erdferne Dimensionen, wo das Maßlose normal zu sein scheint, eben eine Menge passiert, seit jenem Ursprung, der ein Urknall gewesen sein soll, und wenn schon, von ihm aus kann es auch bloß ein göttlicher Furz gewesen sein, was vor Milliarden Jahren passiert sein könnte, interessiert ihn nicht, er zählt nicht zu denen, die den Kosmos anstaunen und pathetisch werden, nicht seine Welt, weitaus bedeutsamer sind für ihn die Schwerkraft der Erde und die drei Fallgesetze von Isaac Newton, wobei er dieses g = 9,81 m/sec² ganz besonders schätzt, diese Formel gehört zu seinem körperbetonten Leben, besitzt für ihn trotz aller Sachlichkeit eine ganz persönliche Note, kurz und bündig drückt sich in ihr aus, was für ihn eine außergewöhnlich große Rolle spielt, wovon er sich so stark beeinflusst fühlt, ich und die Erdanziehung, es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht an sie denken muss, sie übt auf ihn einen eigenartigen Reiz aus, sie hat für ihn etwas Magisches, von keiner Naturgegebenheit fühlt er sich mehr beeinflusst, die dominierende Kraft unter ihm, andauernd wirkt sie auf ihn ein, er kann sich ihr nicht entziehen, manchmal wünscht er, dass er es könnte, sie stellt an ihn spezielle Anforderungen, genauer als allgemein üblich muss er auf ihre Gesetzmäßigkeiten achten, er ist trainiert, auf ihre Wirkungsweise in Ausnahmesituationen richtig zu reagieren, er fühlt sich zwar gut geerdet, aber er weiß auch, dass er sich Nachlässigkeiten nicht erlauben darf, die Schwerkraft kann für ihn schnell schicksalhaft werden, Konzentration und Präzision sind der Tribut, den er ihr zollt, sie lässt sich nicht austricksen, sie herrscht, seit uralten Zeiten eine Weltmacht, eine Natur-Diktatur, je gekonnter er seinen Körper einsetzt, desto besser kommt er mit ihr zurecht, seine Muskelkraft und Beweglichkeit gegen die Schwerkraft, ein Spiel reich an Höhepunkten, bei dem ihm schon vieles gelungen und noch nichts zugestoßen ist, in seinem 28 Jahre alten Leben, das jetzt nur noch sekundenkurz dauern kann, er bleibt so lange noch in Lebensgefahr, bis er nach seinem Kunstsprung sicher auf dem Luftsack gelandet ist, sein 5000 Euro werter Auftritt als Sensationsdarsteller kann ihn das Leben kosten, wegen eines schweren Haltungsfehlers oder eines Defekts am Luftsack, aber noch stimmt seine Flugbahn, ist seine Sprungtechnik perfekt, mit der sein Körper auf den Luftsack, seiner Überlebenszone zusteuert, auf dieses Blau unter ihm, das immer größer wird und immer näherkommt, nichts anderes als dieses Blau sieht er, seine Augen visieren die Mitte davon an, die er jetzt ganz bewusst wahrnimmt, da will er hin, genau in die Mitte von diesem Blau, sein einziger Gedanke, für Sekundenbruchteile lässt er seinen Körper in noch immer kontrollierter Sturzflughaltung weiterfallen, eine Flugkurve bewegt sich auf den quaderförmigen Luftsack zu, 10 Meter über seiner blauen Überlebenszone, im richtigen Moment, vom Gefühl geleitet, führt er seinen letzten Haltungswechsel aus, die Endphase seines Sprungs beginnt, er dreht seinen Körper zur Rückenlage, winkelt dabei seine Arme an, presst sie seitlich an seinen Rumpf, den er leicht rundet, streckt seine Beine fast diagonal nach oben, gibt seinem Körper sofort eine starke Muskelspannung, die ihn in dieser Haltung erstarren lässt, er gleicht einem Artisten, der nach dem Ende seiner Trapeznummer sich auf das Netz fallen lässt, Wiegands Augen blicken in den grauverhangenen Himmel, während er rücklings auf den Luftsack zufällt, den er nicht mehr verfehlen kann, der Verlauf seiner Flugkurve nähert sich dem Zentrum des Luftsacks, den er als sein größtes Sicherheitsrisiko eingestuft hat, 11 Meter lang, 9 Meter breit und 3 Meter hoch, gefüllt mit der Luft Bayerns, liegt der Luftsack jetzt noch 8 Meter unter ihm, er ist für ihn in diesen Sekunden die wichtigste Sache auf der Welt, lebensentscheidend, man hat zwar Konstruktion und Material gründlich getestet, aber trotzdem bleibt der Luftsack ein Sicherheitsrisiko bis zuletzt, wegen eines Materialfehlers kann er zu stark nachgeben oder sogar platzen, was anderen Stuntmen schon passiert ist, das wird Wiegand jetzt wieder in Sekundenbruchteilen bewusst, er fühlt sich ausgeliefert, in großer Lebensgefahr, alles wird ihm fremd und unheimlich, plötzlich befällt ihn ungeheure Angst, wie er es noch nie zuvor erlebt hat, er spürt seinen Körper nicht mehr, als hätte die Angst ihm einen furchtbaren Schlag versetzt, der ihn gänzlich lähmt, er verliert die Orientierung, weiß nicht mehr, wo er ist, wohin und warum er fällt, glaubt jetzt schon lange so zu stürzen, in einen dunklen Abgrund, immer schneller und tiefer, in eine tödliche Tiefe, er weiß nicht mehr, dass unter ihm der Luftsack liegt, sein Körper genau auf ihn zufällt, Todesangst überwältigt ihn, er will nicht weiterstürzen, er will nicht sterben, Nein will er schreien, Neiiiin, kann es aber nicht, schlägt in diesem Moment nach einer Gesamt-Sprungzeit von 5,23 Sekunden auf dem Luftsack auf, mit einer Geschwindigkeit von 109 Kilometern pro Stunde, nicht ganz in der Mitte, aber noch immer genau genug, eine relativ sichere Stelle, etwa drei Meter vom tödlichen Rand entfernt, er spürt und hört, dass er auf den Luftsack gefallen ist, ein krachend harter, jedoch schmerzloser Aufprall, sofort wird er sich seiner Situation bewusst, seine Gedanken rasen, während er vom Luftsack abgebremst und umschlossen wird, der Luftsack ich hier oben drauf gut getroffen muss halten jetzt nicht kaputt will leben ich 5000 Euro auf Luft nicht platzen dann tot Schwerkraft ich wie tief weich ich versinke nein nicht weiter ist aus viel zu tief sterbe jetzt ist schon geplatzt nein doch nein spannt sich hält ist ganz ja hat gehalten ich lebe geschafft ja ich wirklich ich hab's geschafft, jetzt spürt er, wie sein im Luftsack eingesunkener Körper hochgedrückt wird, eine elastisch federnde Bewegung, die ihn erst auf seine linke Körperseite dreht, dabei eng an die luftgefüllte, sich glatt und warm anfühlende Synthetikmasse presst, dann wieder auf den Rücken zurückkippt, in dieser Position bleibt sein Körper liegen, lang ausgestreckt, regungslos, in einer Fallmulde, Wiegand sieht nur das Blau des Luftsacks um ihn und das sich scharf dagegen abgrenzende Grau des Himmels, er verspürt eine große Müdigkeit, möchte so liegen bleiben, sein Sprung ist ihm gelungen, das weiß er, aber etwas ist ihm dabei passiert, etwas, das weiter auf ihn einwirkt, irgendwie lähmt, alles andere überdeckt, es kommt ihm jetzt so vor, als hätte er gerade eine schwere Niederlage erlitten.

Schwerfällig richtet sich Wiegand auf. Er balanciert seinen Körper auf dem unter seinen Füßen federnden Luftsack aus, indem er seine Beine spreizt, mit seinem Rumpf kurze Pendelbewegungen nach links und rechts macht und seine Arme ausstreckt. Er bleibt einige Augenblicke stehen, sieht um sich, nur den blauen Luftsack wahrnehmend. Er zögert, weiß noch nicht, von welcher Stelle aus er herunterspringen soll, geht dann mit stapfenden Schritten über die elastische Masse des Luftsacks zu dessen vorderer Längsseite. Aus dem Publikum, das als eine sich auflösende Menschenmasse in sein Blickfeld kommt, schallt Beifallsklatschen zu ihm hoch. Er hört es zwar, aber es bedeutet ihm nichts. Er fühlt sich leer. Er senkt seinen Blick, starrt auf das Blau unter ihm, das sich unter seinen Füßen verformt. Während er in drei Metern Höhe sich dem Rand des Luftsacks nähert, empfindet er sich selbst als einen einzigen Fremdkörper. Vorsichtig setzt er sich an den Rand, stützt seine Hände auf, gleitet dann in Rückenlage einen Moment am Luftsack entlang nach unten, löst sich von ihm und lässt sich mit lang gestrecktem Körper aus nur noch geringer Höhe fallen. Er kommt mit beiden Füßen gleichzeitig auf dem Rasen von Eldorado auf, geht dabei in die Kniebeuge, landet weich. Seine Augen blicken auf das Grün unter ihm. Verwundert zieht er seine Augenbrauen zusammen, sieht genauer hin, doch der Anblick ändert sich nicht. Das Grün scheint von einem seidigen Glanz überzogen zu sein. Ein fremdartiger Reiz geht davon aus. Er beginnt sich tiefer herunterzubeugen, möchte mit beiden Händen in dieses glänzende Grün greifen, hört aber jetzt in seiner Nähe die laute Stimme von Mander, die ihn hochschreckt.

»Bravo! Das war große Klasse. Ein toller Sprung. Mannomann, war das spannend. Richtig Herzklopfen habe ich dabei gekriegt. Was müssen Sie für Nerven haben! Die Leute sind begeistert. Klatschen noch immer. Eine prima Show haben Sie da geliefert«, hört er.

Sofort wird ihm alles wieder bewusst. Mander steht direkt vor ihm, hebt den Scheck erst wedelnd in die Höhe, überreicht ihn dann Wiegand, der ihn kurz überprüft. »5000,- Deutsche Bank München«, liest er. Das wär's also, denkt er und steckt den Barscheck in die rechte Seitentasche seines mit »10 Jahre Eldorado« bedruckten Overalls. Er sagt kein Wort, sieht Mander kühl an, der sein Gesicht zu einem Grinsen verzieht.

»Sie waren wirklich gut. Ich gebe Ihnen noch einen Tausender extra.«

Zornig ballt Wiegand seine rechte Faust, dieser Mistkerl, will in dieses grinsende Gesicht vor ihm schlagen, beherrscht sich aber, öffnet seine Hand wieder und lässt sie in die Tasche gleiten, wo der Scheck liegt.

»Sehr edel«, sagt er unfreundlich.

Miss Bayern, die hinter Mander gestanden hat, kommt hochbeinig und schwerbrüstig auf ihn zu, stellt sich mit einem Reklame-Lächeln in ihrem zu süßen Gesicht nahe vor ihm hin, legt ihre Arme um seine Schultern und drückt ihm wie verabredet zwei Show-Küsse auf beide Wangen, geht dann sofort, als wäre sie so dressiert, mit wiegenden Schritten zu Mander zurück, stellt sich dicht an seine Seite und richtet ihren Körper, den ihr auf Männerträume zugeschnittenes Fantasiekostüm stark betont, kokett aus, dabei mehrmals die Stellung von Standbein und Spielbein verändernd. Erst jetzt erblickt er Ingrid, die sich schnell und mit ernstem Gesicht von links nähert, hinter ihr Hermann, der seine Kamera auf ihn gerichtet hält. Er breitet beide Arme aus und legt sie wenig später um Ingrids eng an ihn gepressten Körper.

»Gut, dass es jetzt vorbei ist«, hört er sie sagen.

»Ja«, erwidert er nur.

Alles kommt ihm unwirklich vor. Als wäre es ein Film, in dem er mitspielt. Er sieht, wie Hermann die Kamera herunternimmt und ein zufriedenes Lächeln in seinem Gesicht erscheint.

»Perfekt, Kurt. Ich hab' s ja gewusst«, sagt er und streicht über Ingrid hinweg mit seiner linken Hand kurz über Weigands Kopf.

»Man tut eben, was man kann. Schnell verdiente 6000 Euro, Hermann. 1000 Euro hat Mander gerade draufgelegt. Aber ich bin davon irgendwie geschafft. Ich weiß auch nicht, warum«, sagt er leise und langsam.

»Das kommt bestimmt von der großen nervlichen Anspannung«, meint Ingrid, die sich aus seinen Armen windet und ihn fragend ansieht. »Du siehst müde aus.«

»Ich fühle mich auch so.« Das Sprechen fällt ihm schwer. Alles ist ihm zu viel. Die fremden Menschen ringsum widern ihn an. Sie scheinen von ihm nicht genug bekommen zu können. Wie sie ihn noch immer begaffen und bezeigefingern, wie sie mit ihren Fotoapparaten auf ihn zielen! Sie sollen ihn in Ruhe lassen, sollen verschwinden. Es ist widerlich. Zum Davonlaufen.

»Was nun? Bleiben wir noch weiter hier? Wir wollten uns ja den Motorrad-Stunt ansehen und uns auch noch über diesen bibelfesten Gedächtniskünstler amüsieren. Auf den bin ich besonders gespannt. Das Paradebeispiel eines Erznarren. Hat wohl seinen Kopf total verbibelt. Oder willst du lieber gehen, Kurt?«, fragt Hermann.

»Ja. Mir reicht's irgendwie«, antwortet Wiegand.

Werner Schellhorn und die anderen Stuntmen kommen jetzt in sein Blickfeld. Sie standen vorhin abseits der Zuschauer, damit Hermann sie als eine zusammengehörige, sich von allen anderen unterscheidende Gruppe filmen konnte. Sie bahnen sich langsam einen Weg durch die noch immer dichte Menschenmenge, scheinen in einer ausgelassenen Stimmung zu sein. Wiegand wäre jetzt am liebsten allein. Er sieht zu dem Autokran und dem Transportcontainer, der noch in 55 Metern Höhe über ihren Köpfen schwebt.

»Vom Himmel hoch, da komm ich her«, scherzt Ingrid.

»Wieder zurück auf Mutter Erde«, erwidert Wiegand gequält lächelnd.

»Und ziemlich mitgenommen«, sagt Hermann.

»Schon mehr als ziemlich. Es wird aber gleich vorbei sein. Brauche wohl noch ein wenig Abstand. Wenn ich mich umgezogen habe, verschwinden wir von hier. Dieser verdammte Vergnügungspark widert mich an.«

»Wieso?«, fragt Ingrid, die erstaunt ihre Augenbrauen hochzieht.

»Ich weiß es selbst nicht. Ist eben so. Vielleicht hängt es mit meinem Sprung zusammen«, antwortet Wiegand und senkt seinen Blick. Der Rasen sieht ziemlich ungepflegt aus, ist an manchen Stellen trockengelb. Er zeigt nichts mehr von diesem Seidenglanz, der vorhin auf ihn einen so starken Reiz ausgeübt hat.

Es war bloß eine Täuschung, denkt er. Ich habe meine Sinne nicht alle beisammen gehabt. Wegen meines Sprungs. Irgendetwas ist mir dabei passiert. Ich muss weg von hier. Erst einmal weg von hier.

Jetzt stürzen sich Werner Schellhorn und die anderen Stuntmen auf ihn, verhalten sich ähnlich wie Fußballer, die einen Torschützen feiern. Wiegand lässt ihre Glückwünsche und ihre Ausgelassenheit beinahe teilnahmslos über sich ergehen. Sie sind enttäuscht, als er sich wenige Minuten später von ihnen verabschiedet, verstehen nicht, warum er nicht länger mit ihnen zusammenbleibt. Er will jetzt nichts erklären. Er kann nicht mit ihnen wie abgemacht seinen geglückten Sprung feiern. Sie haben sich darauf gefreut, können ihn nicht umstimmen, meckern. Es ist ihm alles zu viel. Dass er sie mit seinem Verhalten vor den Kopf stößt, ist ihm jetzt egal. Sein Angstanfall steckt ihm noch zu sehr in den Knochen. Er fühlt sich miserabel. Am liebsten würde er jetzt allein sein. In diesem verdammten Vergnügungspark »Eldorado« kann er nicht länger bleiben.

Der Körpervirtuose

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