Читать книгу Der Preis für ein Leben ohne Grenzen - Teil I - Adalbert Dombrowski - Страница 2

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– Jan X Stanisław – der junge, tapfere Ritter, Teilnehmer der Schlacht bei Wien im Jahr 1683, von Jan III Sobieski erwähnt;

– Jan XI Michał – General, Malteser Ordensbruder, kämpfte an der Seite von König Stanisław Leszczyński;

– Jan XII Henryk – General, Gründer der Polnischen Legionen in Italien.*

(*vgl. Jan Pachoński, 1981: General Jan Henryk Dąbrowski 1755-1818; Verlag des Verteidigungsministeriums, Warszawa)

Mein Vater hatte vier Brüder: Bolesław, Ignac, Józef und Wiktor, sowie zwei Schwestern – Weronika und Leokadia. Fabian erhielt als einziger seiner Geschwister eine abgeschlossene Schulausbildung und wurde Lehrer. Die Familie Dąbrowski war sehr musikalisch. Mein Vater spielte Geige, Cello und Gitarre. Ich weiss nicht, wie sich meine Eltern kennengelernt haben. Aus einem alten Album ist ein Foto einer Gruppe Jugendlicher in Trachten überliefert.

Juni 1932, Czarnocin. Meine Eltern – als sie noch nicht verheiratet waren - mit einer Gruppe von Schulkindern. Mama im weißen Kleid, Papa (mit Brille) erster von rechts.

Die Aufschrift lautet: 27. Juni 1932, Czarnocin. Demnach, haben sich meine Eltern 1932 schon gekannt. Nach der Hochzeit wohnten sie in der Schule von Sulęcin. Im Mai 1935 wurde meine ältere Schwester Maria Bożena, Rysia genannt, geboren. Während der Besatzungszeit nannten sie jedoch alle Lilu. Nach kurzer Zeit zogen meine Eltern in die Dorfschule nach Góra, in der Nähe von Kościerzyna, wo ich im darauf folgenden Jahr auf die Welt kam. Mein Großvater Kazimierz Biskup entschied, dass ich den Namen Dionysos, also Dionizy erhalten sollte. Die Mama hätte es lieber gehabt, wenn ich Wojciech hieße. Und so erhielt ich zwei Vornamen: Dionizy Wojciech, dennoch wurde ich in meiner Kindheit Bubi und Dychu genannt.


1935 Sulęcin, meine Eltern Łucja und Fabian Dąbrowscy

Kurz nach meiner Geburt kaufte mein Vater, der von Venezuela fasziniert war, für die ganze Familie Fahrkarten für die Reise über den Atlantik. Der Krieg durchkreuzte jedoch diese Pläne. Nach den ersten Gerüchten, über einen möglich bevorstehenden Kriegsausbruch, wurde mein Vater in die Kavallerie in Grudziądz einberufen. Meine Mutter zog mit uns zu den Großeltern Biskup, die in Tuchola mit Urgroßvater Piotr lebten. Mein Urgroßvater wurde 1848 geboren. Als junger Mann nahm er 1870 am französisch-preußischen Krieg teil. Er diente in der preußischen Armee und behielt die Jahre, die er im besetzten Frankreich verbracht hatte, in guter Erinnerung.


1937 Grudziądz. Mein Vater Fabian Dąbrowski mit einem Freund

Als Offizier verantwortete mein Vater als Anführer einen Pferdezug. Im Septemberfeldzug war dieser Teil der 4.Gruppe des Oberstleutnant (ppłk) Jerzy Staniszewski. Sie kämpften in der Schlacht bei Gródek - in der Nähe von Świecie. Die Nachricht über Vaters Verschwinden wurde mit dem Erhalt seines ersten Briefes geklärt: er geriet am 12. September 1939 in Kriegsgefangenschaft und wurde zunächst nach Kärnten ins Oflag XVIII B Wolfsberg gebracht und dann im Oflag II C in Woldenberg (heute Dobiegniew, Wojewodschaft Lubuskie) inhaftiert.


1937, Grudziądz. Vater - dritter von links in der obersten Reihe - mit Absolventen und dem Offizierskader des Kavallerie-Ausbildungszentrums

Kindheit auf ins Dritte Reich einverleibter Polnischer Erde

Wir lebten in einem kleinen Städtchen, in dem Deutsche und Polen in nachbarschaftlichem Frieden lebten. Unsere deutschen Nachbarn behandelten wir wie unsere Tanten und Onkel. Als jedoch am 2. September 1939 die deutschen Soldaten in Tuchola einmarschierten, änderte sich das. Viele der Nachbarn nahmen uns nicht mehr wahr.


1937 Grudziądz. Mein Vater in Offiziersuniform

Nur Tante Szulc (Schultz) war wie immer freundlich, wenn ich zu ihr kam und bot mir Süßigkeiten an. Nun wohnten wir nicht mehr in Polen, sondern in Westpreußen. Die deutsche Sprache wurde verpflichtend! Ich konnte nicht verstehen, warum wir in der Öffentlichkeit nicht mehr in unserer Muttersprache sprechen durften. Die Polen, die in diesem Gebiet lebten, bekamen einen seltsamen Status: Irgendwie waren sie Deutsche, aber Deutsche einer schlechteren Kategorie. Dies hinderte die Deutsche Wehrmacht allerdings nicht, junge Polen in ihre Armee einzuberufen. Der jüngere Bruder meines Vaters, Józef, wurde gegen Kriegsende in die deutsche Armee einberufen: In der Nähe von Fulda reparierte er als Schreiner Kasernen. Onkel Józefs Schwager, der Bruder seiner Frau Weronika aus dem Hause Drwęcki, wurde zeitgleich zur Zwangsarbeit deutschen Bauern in der Nähe von Kassel geschickt. Angeblich trug Onkel Józef, als er seinen Schwager (den polnischen Häftling, der Zwangsarbeit leistete) besuchte, seine deutsche Uniform. Einer der Gebrüder Dąbrowski – Józef – wurde in die Wehrmacht einberufen, während der andere – Fabian – als polnischer Offizier


1940 Tuchola. Mama mit Rysia und mir

Kriegsgefangener im deutschen Lager Woldenberg war. Viele solcher Schicksale polnischer Familien in Westpreußen gab es.

Manchmal nahm Oma Ludwika Rysia und mich nach Grudziądz mit. Dort wohnte ihre Verwandte Helena Kaube, die Eigentümerin eines Kinos war und so saßen wir mit süßer Limonade in der ersten Reihe des Kinosaals und sahen Märchenfilme - die vorhergehende Wochenschau konnten wir nicht leiden. Mit Bewunderung starrten wir die Leinwand an, auf der sich die Abenteuer abspielten. Rysia und ich kannten viele Lieder aus Filmen, so organisierten wir häufig Vorstellungen zu Hause. Wir zogen Mamas Röcke und Schlafröcke an und wickelten Handtücher wie ein Turban um unsere Köpfe und wir tanzten, sangen und spielten unsere liebsten Filmszenen nach. Manchmal bauten wir auch aus zwei Stühlen, einem Besenstiel und einer Decke ein Puppentheater. Hinter dem Deckentheater erlebten unsere Handpuppen märchenhafte Abenteuer. Mit dünnen Kinderstimmen sangen wir deutsche Lieder und die Hausbewohner applaudierten. um unsere Anstrengungen zu belohnen. Ich erinnere mich, wie ich inbrünstig – aber falsch – sang und dabei mit gebeugten Armen eine Marionette nachahmte:

„…Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein. Stock und Hut steh`n ihm gut, ist gar wohlgemut. Aber Mutter weinet sehr hat ja nun kein Hänschen mehr. Sieh Mama, ich bin da! ...“

Wenn wir nicht gerade Theater spielten, gab es für uns Kinder Verpflichtungen. Ich – damals vier Jahre alt - hatte die Aufgabe frisches Brot aus der Bäckerei zu holen. Der Brotlaib war groß und sehr schwer und dazu auch noch sehr heiß – er kam direkt aus dem Ofen. Der Brotlaib roch so gut, dass ich jedesmal ein Stück abbiss bevor ich vor Anstrengung stöhnend die Treppen hinaufging. Ich dachte laut: „So schwer, so heiß, aber so gut!“

Eines Tages hörte das der Pfarrer der römisch-katholischen Kirche „Bożego Ciała“, der häufig meine Großeltern besuchte. Er erzählte meiner Oma, dass ich das Brot in deutscher Sprache loben würde, und fragte sich warum.

Oma Ludwika war Polin, dennoch betete sie auf deutsch. Auch in dieser Sprache zählte sie. Sie wurde im damaligen preußischen Besatzungsgebiet geboren und musste in eine deutsche Schule gehen. In diesem Gebiet war deutsch die Amtssprache. In der kirchlichen Messe war Deutsch zusammen mit dem Lateinischen verpflichtend und auch unsere Nachbarn, Siedler aus Deutschland erlaubten uns nicht, diese Sprache zu vergessen. Kinder lernen schnell und sind von Natur aus neugierig, so dass wir uns fließend in mehreren Sprachen verständigen konnten. Aber zu Hause sprachen wir polnisch.

Es wurde Herbst und im Garten zeigten sich die ersten Äpfel, Pflaumen und Birnen. Opa Kazimierz, der zweifellos mit der Gabe gesegnet war meine Gedanken zu lesen, sagte mit entschiedener Stimme: „Wage es nicht einmal diesen Garten zu betreten!“ Aber wie könnte man von diesen Genüssen des Herbstes nicht kosten? Keine Macht konnte uns Burschen aufhalten.

In der Ecke hinter der Scheune organisierte Edek, Karol und ich eine Lagebesprechung. Ich kontrollierte, ob die Luft rein war und Opa nicht auf dem Hof zu sehen war. So konnten wir ungesehen an Omas Hühnerstall vorbeihuschen und durchs Gartentor in den Garten gelangen. Wir kletterten auf die Bäume, um das Obst zu erreichen. Ach, diese Birnen! Der Saft floss uns übers Kinn und befleckte unsere Hemden und kurze Hosen. Doch auf dem Kopfe des Schelmen brennt die Mütze! Ich war mir sicher, dass ich sich nähernde Schritte hörte: „Jungs, es kommt jemand! Schnell weg hier“, rief ich und begann hastig vom Baum zu klettern. Das Herz klopfte vor Angst. Meine Kumpel warteten nicht, sie waren schon längst losgerannt. Wir wollten über den Zaun klettern. Edek und Karol sprangen über den Zaun. Und ich? Ich hatte natürlich Pech. An meiner kurzen Hose verfing sich eine der Latten. In einer merkwürdigen Position blieb ich am Zaun hängen. Ich konnte das Hosenbein nicht befreien und in die freundliche Zuflucht des großmütterlichen Gartens springen. Die Furcht hatte mich paralysiert. Ich war überzeugt, dass der Gärtner jeden Augenblick da sein musste. Ich versuchte mich zu befreien. Die Zeit verging, jedoch tauchte niemand auf. Ich beruhigte mich. Als es mir gelang, mich zu befreien, sprang ich schleunigst herab und lief meinen Kumpeln hinterher. Denen werde ich es zeigen! Sie haben mich einfach zurückgelassen, diese Lausbuben!

Die verschreckten Edek und Karol saßen auf den Treppen des nachbarlichen Grundstücks. „Ihr Feiglinge!!! Wie Ihr einfach verduftet seid“, verspottete ich sie. „Das war doch bloß ein Scherz, dass jemand kommen würde“, flunkerte ich. Die Jungs schwiegen, jedoch ihren Gesichtsausdrücken nach, konnte ich sehen, dass sie doch sehr erleichtert waren. Bis heute bin ich der Meinung, dass Birnen das schmackhafteste Obst unter der Sonne sind.

Bei uns zu Hause tauchten Postkarten und Briefe von Papa mit Stempeln des Oflags Woldenberg auf. Mama schrieb ihm, meine Schwester Rysia und ich schickten unsere Erinnerungen und Gefühle mit Zeichnungen. Manchmal besuchte uns Onkel Edek aus Warszawa, Mamas jüngerer Bruder, mit seinem „Agfa“ Fotoapparat. Mama zog uns schön an und der Onkel machte Fotos von uns. Mama meinte, dass wir sie Papa ins Lager schicken müssen, damit er sehen könne, wie wir wachsen. Mama schrieb auf das Kuvert die Adresse : Fabian Dąbrowski, Oflag Woldenberg, Baracke 6a. Wir gingen zur Post, um Briefmarken zu kaufen und gaben den Brief auf. Jedoch kam keine Korrespondenz zurück. Mama wurde traurig und machte sich Sorgen. Zeitgleich begann sich die Gestapo für uns zu interessieren. Ich kann mich gut daran erinnern, wie Oma, Opa und Mama flüsternd etwas besprachen, nachdem der Briefträger ein Behördenschreiben gebracht hatte. Mama nahm Rysia und mich an die Hand und wir gingen zum Gestapo-Quartier, welches sich am Hauptplatz befand. Ein Offizier hinterm Schreibtisch fragte uns aus über Papa. Mama antwortete mit ruhiger Stimme, dass sie nichts wisse und dass sie ihren Ehemann seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen habe. Wir fühlten, dass sie sehr aufgeregt war. Zu stark drückte sie unsere kleinen Händchen zusammen.

Plötzlich begann der Offizier zu schreien, dann zu brüllen und wurde im Gesicht rot wie eine Tomate. Ich sah ihn an und entsetzt versteckte ich mein Gesicht in Mamas Rock. Vor Angst zitterte ich am ganzen Körper. Zu Hause schrie uns niemals jemand an; und hier ein fremder Mann unsere Mutter!? Ich verstand das alles nicht.

Doch das war nicht alles. Seitdem fiel die Gestapo regelmäßig zu Durchsuchungen in unsere Wohnung ein. Etwas oder eher jemanden suchten sie und ständig brüllten sie. Sobald ihr Auto vor unser Haus fuhr und man den Donner ihrer auf die Holztreppe schlagenden Stiefelabsätze hörte, wies uns Oma Ludwika umso eiliger an, unter die Decke unseres Uropas Piotr Nowak, also ihres Vaters, zu huschen, welcher Tag für Tag krank im Bett lag, während man uns ständig darauf hinwies, ihn bloß nicht zu beunruhigen.

Wenn die Gestapo kam, lagen wir immer mucksmäuschenstill versteckt unter der dicken Daunendecke. Die Erwachsenen sagten nicht viel, aber ich dachte mir schon, dass mein Vater aus dem Oflag geflohen war! Wohin? Wo versteckte er sich? Niemand wusste es und bis heute haben wir es nicht herausfinden können.

Der Winter verging und die Frühlingssonne begann zu wärmen. Wir spielten wieder draußen. Im Obstgarten - in unserem „Paradies“ - waren seit einiger Zeit die Enkel des Gärtners. Sie waren mit ihrer Mutter aus der fernen Warszawa gekommen. Ihr Haus hatten die Deutschen zerbombt, ihr Vater war im Krieg verschollen. Sie waren ja ganz nett, doch hatten sie unseren geliebten Obstgarten in Besitz genommen und so wurde der Zaun des Obstgartens zu einer Grenze von zwei „Großmächten“. Unsere Überfälle mit Steinchen-Hagel, Obststummeln oder auch faulem Obst wurde abgewehrt. Mit Edek und Krzysiek bauten wir daher eine Festung, um die Lage beobachten zu können und unser Revier zu verteidigen. In der Nähe befand sich ein Baustoff- und Brennholzlager. Ein gleichmäßig sortierter, meter-langer Stapel aus Holzlatten bildete einen Turm. Von dort oben breitete sich der Blick über die ganze Umgebung aus. Ein geeigneter Ort für unsere Festung, das wir „Adlernest“ nannten. Es war für unsere Feinde unzugänglich und nicht einsehbar. Wir legten so lange Holzlatten zurecht und trugen verschiedenste Schätze zusammen, bis wir eine uneinnehmbare Burg erbaut hatten mit einem üppigen Vorrat an Munition aus Steinchen, Ästen und Tannenzapfen.

Am Sonntag, gleich nach dem Gottesdienst (wir alle waren Ministranten), schlichen wir aus der Sakristei und rannten zu unserem Adlernest. Es war ein warmer Vormittag. Aus den offenen Fenstern kamen die Gerüche des sonntäglichen Mittagessens. Bei uns gab es meist Nudelsuppe und Brathähnchen. Einen Tag zuvor hatte Opa Kazimierz auf Omas Bitten unseren Hühnerstall verkleinert und abends sah ich, wie Mama das Hühnchen rupfte.

Meine Gedanken an das Brathähnchen wurden durch eine Bewegung auf Feindesgebiet unterbrochen. Aus dem Versteck sahen wir, wie die Enkel des Gärtners über den Zaun sprangen. Mit „Munition" in den Hosentaschen schlichen sie in unsere Richtung und kamen ganz nah heran. „Feuer!!!", befahl ich und wir begannen sie zu bombardieren. Dicht gedrängt flogen Steine aus beiden Richtungen und nach kurzer Zeit erschöpfte sich unsere Munition. Zum Glück erging es den Angreifern auch so. „Waffenstillstand", rief ich und der Rückzug begann. Es öffnete sich hoch unter dem Dach unser Küchenfenster: „Dychu (mein Spitzenname), zum Mittagessen", rief Mama. Ich verspürte Hunger also war es höchste Zeit zu gehen. Wir gingen über den Hof als ich plötzlich einen gewaltigen Schlag gegen meinen Hinterkopf spürte. Einer der Feinde hatte sich im Gebüsch versteckt und feige einen Stein nach mir geworfen. Ich schrie und berührte mit der Hand meinen Kopf und sah meine blutrote Hand. Ich sah noch den Schrecken auf den Gesichtern meiner Kumpel. Als ich wieder zu mir kam, war der Hof ganz leer. Mit blutendem Kopf kletterte ich die Stufen hinauf nach Hause. Dort erblickten mich Mamas entsetzte und besorgte Augen. Sie bandagierte meinen Kopf. Ordentlich hab ich es abbekommen, an dieser Stelle wuchs mein Schädel schief zusammen, was bis heute zu spüren und zu sehen ist.

Nach diesem Vorfall verbot Opa Kazimierz uns auf dem Baustofflager aufzuhalten. Unser „Adlernest“ mussten wir aufgeben. Es gab keine andere Möglichkeit, wir mussten uns mit den Nachbarsjungen vertragen.

Kleiner Fallschirmspringer

Wann und in welchem Moment entstand meine Liebe zur Fliegerei? Das kann ich nicht genau sagen, aber ich war ungefähr acht Jahre alt. Ich kann mich an einen älteren Bekannten erinnern, der im Speicher unseres Hauses in Tuchola in der Świecka-Str. Flugzeugmodelle mit Gummiband-Antrieb und Segelflugzeugmodelle konstruierte.

Von Anfang an interessierte ich mich für seine Modellarbeiten. Eines Tages – während eines Luftangriffes der Deutschen - beobachtete ich mit riesiger Ergriffenheit einen Luftkampf zweier Jagdflugzeuge. Die Erwachsenen saßen bereits im Keller. Als ich das Brummen der Maschinen hörte, konnte mich nichts mehr aufhalten. Ich musste raus, um die Flugzeuge zu sehen. Ich beobachtete sie vom Dach unseres Speichers. Sie führten unglaubliche, himmelhohe akrobatische Figuren aus. Zu hören war das Rattern der Schüsse - wie zwei sich streitende Vögel im Himmel. Es war schön und bedrohlich zugleich. Plötzlich sah ich, wie sich ein Flugzeug in einen Feuerball verwandelte. Einen Augenblick später, tauchte am blauen Himmel ein weisser Fallschirm auf, der aussah wie Uropas weißer Porzellankelch für seine Medikamente - nur umgedreht. Der Pilot hing wie ein schwarzes Pünktchen im Himmel. Mein Blick verfolgte sein ruhiges Herabgleiten, bis er hinter den Bäumen, welche den Horizont verdeckten, verschwand.

Unsere Spiele waren durchtränkt von der allgegenwärtigen Kriegsrealität. Den Luftkampf der Flugzeuge und den Piloten konnte ich nicht vergessen. Und wenn man versuchen würde auch so leise wie dieser Pilot auf die Erde herabzugleiten? Dieser Gedanke gab mir keine Ruhe und verfolgte mich auf Schritt und Tritt.

Im Speicher fand ich einen Kartoffelsack. Er war riesig und flehte mich an, aus ihm einen echten Fallschirm zu machen. Bis ins kleinste Detail plante ich den Fallschirm. Zunächst holte ich aus Uropas Schrank einen Ledergürtel. In Omas tiefer Schublade fand ich eine Wäscheleine. Alles hatte ich gut versteckt und wartete nun auf den richtigen Moment. Meine besten Kumpel ernannte ich zu meinen Assistenten und ich hatte sie vorgewarnt, dass sie mir bei den Vorbereitungen zu einem echten Fallschirmsprung helfen würden.

Der Tag war gekommen. Langsam bewegten sich die Wolken über den Himmel. Auf der Straße war es leer. Die Hosentasche meiner kurzen Hose beschwerte ein kostbarer Schatz - mein Taschenmesser und vier ordentlich große Kartoffeln. Ich brachte meine Schätze in den Hof hinter den Schuppen, wo ich begann meinen ersten, besten, erträumten Fallschirm zu basteln. Jeden Augenblick sollten die Freunde auftauchen, so dass ich mich mit Elan an die Arbeit machte. Doppelt band ich mir den Gürtel um die Hüfte. In die vier Ecken des Sacks legte ich je eine Kartoffel und band jede Ecke mit je einem von vier Schnüren zu. Die Kartoffeln sollten verhindern, dass die Ecken des Sackes herausschlüpfen. Die losen Enden der Schnüre band ich in gleichen Abständen an den Ledergürtel. Ich war bereit für den Sprung. Endlich kamen Edek und Karol herbei und blickten mich mit Bewunderung an. Ein ungewöhnlicher Fallschirm lag ausgebreitet hinter mir auf dem Boden. Ich platzte fast vor Stolz. Ich fühlte mich wichtig, ach was, am wichtigsten. „Jungs! Nehmt vorsichtig den Fallschirm und tragt ihn hinter mir her, so dass er nicht den Boden berührt", forderte ich sie auf.

Ich ging voran und sie mir hinterher, vom Ernst des Augenblicks erfüllt. Wir gingen an Edeks Haus vorbei und zur evangelischen Kirche. Der neogotische, hohe, spitze Kirchturm mit doppelten, stark gekrönten Fenstern und einer großen Uhr schaute in alle vier Himmelsrichtungen. Er war sehr hoch und überragte die umliegenden Gebäude wie ein in den Himmel drohender Finger. Wir näherten uns langsam der Kirche und gingen durch die Seitentür. Das Echo verriet unsere Schritte. Langsam näherten wir uns der Tür zum Choraufgang und zum Turm, zu den Glocken. Wir kletterten die engen, gewundenen und unheimlich knarrenden Holztreppen hinauf. Von oben war nur das dumpfe Gurren der Tauben zu vernehmen. Wir waren schon weit oben, doch es waren noch viele Stufen zu bewältigen. Edek wollte sich ausruhen. „Auf keinen Fall! Ihr seid mir Weicheier", sagte ich ernst, obwohl meine Assistenten vor Erschöpfung schnauften. Schließlich waren wir am Gipfel angekommen. Über uns hing die riesige Kirchenglocke. Die gotischen Erker des Turms waren mit horizontalen Rohren abgesichert, die sich auf Hüfthöhe eines erwachsenen Menschen befanden.

„Uff, endlich", sagte ich erschöpft. „Und jetzt vorsichtig! Hier ist es sehr gefährlich. Ihr müsst zurücktreten".

Selbst stellte ich mich direkt an die Kante eines Erkers. Auf Höhe meiner Stirn war die Barriere. Ich muss mich nur etwas bücken, um mir keine Beule zu schlagen und dann springen, dachte ich.

Ich befahl Edek den Fallschrim hinter mir gerade auseinander zu legen. Meine Kumpel beobachteten mich mit Bewunderung. Ich war überzeugt, dass mein Fallschirm, dem, den ich am Tag des Luftkampfes der Jagdflugzeuge gesehen hatte, in nichts nachstand. Auch dass mein Sprung und Flug in Richtung Erde ebenso majestätisch langsam, sanft verlaufen würde und wunderbar und gleichermaßen eine Heldentat werden würde.

Vom bevorstehenden Sprung eingenommen hörten wir nicht das Knarren der Treppen und die lauten Schritte des Küsters, der die Treppen heraufkam. Erst die unerwartete, durchdringende, einer geladenen Waffe gleichende Stimme ließ unsere Bewegungen erstarren und die Aufregung des Sprunges wurde aus unseren Kindsköpfen hinfortgeweht. „Meine Güte! Was macht ihr hier?! Weg hier! Sofort! Wenn ich euch hier noch einmal sehe, dann versohle ich euch dermaßen den Hintern, dass ihr mich bis an Euer Lebensende nicht vergesst", schrie der Küster. Meine Assistenten flohen wie verschreckte Spatzen. Ich hörte nur das Getöse ihrer Schuhe auf der Holztreppe. Was sollte ich hier tun? Mit bitterem Beigeschmack der Entzauberung kniete ich auf der kalten Bodenplatte, um meinen wunderschönen Fallschirm zusammenzurollen. Daraufhin ging ich mit schwerem Schritt hinunter, angetrieben von erniedrigenden Schubsern des verärgerten Kirchendieners. „Was haben sich diese Jungs ausgedacht", fragte der Küster meinen Großvater. „Danke Dir Gott, dass ich das Knarren der Treppen rechtzeitig gehört habe. Wobei sie ab heute eher gesegnet sein werden", beendete der Küster seine Rede und atmete mit Erleichterung auf.

Das große „Donnerwetter" entfesselte sich zu Hause nach dem vereitelten Fallschirmsprung. Prügel bekam ich nicht, doch Oma Ludwikas Jammern und Mamas traurige Augen waren für mich schwere Strafe genug.

Mit tanzendem Schulranzen

Im Jahr 1943 wurde ich als Siebenjähriger eingeschult. In Tuchola gab es zwei Schulen: eine deutsche und eine polnische. Rysia wurde ein Jahr zuvor auf die Deutsche geschickt. Sehr gut sprach sie diese Sprache. Leider jedoch unterlag sie leicht fremden Einflüssen. Ich kann mich daran erinnern, wie sie einmal zu Polizeimann Trippan gegangen war, welcher im ersten Stock unseres Hauses wohnte, um ihm zu zutragen, dass Polen in unserem Treppenhaus miteinander polnisch gesprochen haben. Das sei doch verboten! So haben sie es in der Schule beigebracht, so dass wir es ihr nicht übel nehmen konnten.

Rysias Schule befand sich in der Nähe unseres Hauses, nicht weit entfernt von der evangelischen Kirche (von deren Turm ich mit dem Fallschirm springen wollte). Ich hingegen musste durch die ganze Stadt laufen. Stolz trug ich auf dem Rücken meinen Schulranzen. Er war ganz neu aus lackiertem Karton und mit Schnallenverschlüssen. Im Ranzen war ein Schiefertäfelchen mit Holzrahmen zum Schreiben. In der Mitte des Rahmens war ein gebohrtes Loch, an welches zwei Schnüre befestigt waren. Am Ende der einen hing ein trockener, am Ende der anderen ein feuchter Schwamm zum abwischen. In der Schule bekamen wir ein Stück Kreide, mit dem wir sorgfältig auf dem Täfelchen kritzeln konnten. Nach dem Unterricht lief ich immer gleich nach Hause und wollte nicht, dass die Schwämme meinen Schulranzen verschmutzten, so dass sie an beiden Seiten des Schulranzen heraushingen und auf diese Weise meinen Lauf imitierten. Sehr gut hat es mir in der Schule gefallen, die jedoch nach einiger Zeit geschlossen wurde.

In unserem Haus im Parterre auf der Hofseite bekamen Jungs der Hitlerjugend zwei Zimmer. Wir konnten sie nicht leiden. Sie warfen uns Blicke zu, wie niemand möchte, dass man angesehen wird. Das gefiel uns ganz und gar nicht. Wir wollten mit ihnen kämpfen und bemerkten eines Tages ein gekipptes Fenster zu ihrem Zimmer. Es war dunkel, niemand war im Raum. Genau unterm Fenster befand sich das Dach des Kellereinganges. Ich kletterte drauf und die Jungs hielten Wache, damit uns niemand bemerkte. Direkt am Fenster auf dem Schreibtisch, in Reichweite meines Armes, lagen Papierklebebandrollen. Ich griff nach einer, sprang wieder schnell vom Dach und wir flüchteten an den See Głęboczek. Dort warfen wir die Rolle ins Wasser. Wir hatten Eigentum der Hitlerjugend zerstört! Riesige Angst hatten wir, doch danach fühlten wir uns wie Helden.

Am meisten kümmerte sich Opa Kazimierz um uns und versuchte alle Kriegsgrauen von uns fernzuhalten. Deswegen dauerte unsere Kindheit an. In der letzten Zeit sagte er öfters, dass es im Osten gar nicht so gut sei, wie die Deutschen in ihren Zeitungen behaupteten. Irgendwie klappt das nicht mit dem Blitzkrieg.

Derweilen begannen in Tuchola immer mehr deutsche Soldaten aufzutauchen. Sie kamen zur Rekonvaleszenz nach einem Krankenhausaufenthalt. Wälder, die wunderschöne Umgebung und die Ruhe gaben ihnen Kraft. Häufig sahen wir sie auf Spaziergängen mit Pflegerinnen des deutschen Frauenhilfsdienstes. Wenn wir Indianer spielten, waren die spazierenden Paare Zielobjekte unserer Pirsch.

An einem warmen Nachmittag in der Nähe des Sees bemerkten wir ein Pärchen, welches in unserer Richtung ging. Schnell robbten wir auf die Anhebung und im Gras versteckt, beobachteten wir, was passierte. Die Verliebten setzten sich hinters Gebüsch. Nach einer Weile begann der Soldat seine Auserwählte zu küssen und ihr zügig die Kleider auszuziehen. Plötzlich verschwanden sie im hohen Gras. Nach ein paar Minuten standen sie wieder auf, zogen sich an, klopften sich ab und gingen lachend zurück in Richtung Stadt. Was auch immer sie da gemacht haben, es musste Spaß machen, dachte ich mir. Wir waren ein wenig zu weit weg, so dass wir nicht viel sehen konnten, dennoch hatte dieses Ereignis meine Phantasie bewegt. Ich beschloss, es selbst zu überprüfen. Krzysztof war nicht im Hof. Wahrscheinlich hatte er wieder etwas ausgefressen und deswegen mal wieder Hausarrest bekommen. Mit Edek liefen wir in seinen Hof, in die Garage, wo das Auto seiner Eltern stand. Uns folgte Basia, Edeks um ein Jahr jüngere Schwester. „Ich will mit euch spielen", teilte sie entschieden mit. „Ich bin der Chauffeur und ihr sitzt hinten, los!" ordnete Edek an.

Mit Basia setzte ich mich auf die Hinterbank des Autos und ich wusste schon, was zu tun ist. „Jetzt ziehen wir uns aus und Du legst Dich auf die Sitzbank", sagte ich zu Basia und sie schaute mich verdutzt an, zog aber gehorsam ihr Kleid und ihre Unterhose aus. Die nackte Basia legte ich auf der Sitzbank zurecht, legte mich auf sie und so lagen wir dann. Wir lagen und lagen und lagen, bis Basia unruhig wurde: „Mir ist kalt", hörte ich eine leise Beschwerde des Mädchens. „Mir ist nicht bequem und Du bist zu schwer, geh runter", sagte sie. Mir war auch kalt und dieses herumgeliege war gar nicht so toll, fand ich.

Es kam ein wunderschöner Sommer. Am Ortsrand hinter den Gärten, befand sich auf der sumpfigen Wiese ein Entwässerungskanal. Ein ungewöhnlicher Ort für sommerliches Planschen und Spielen. Wie immer bemühte ich mich, die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Meine angeborene Beweglichkeit drängte dazu, meinen jugendlichen Körper in Brücken, Handstände und verschiedenartigste Verrenkungen zu biegen sowie auf Händen zu gehen. Vom Schwimmen und Spielen erschöpft legte ich mich ins Gras, starrte in den Himmel und beobachtete die Wolken: wunderschön, einzigartig, vollkommen. Ich habe mich in sie verliebt und könnte sie endlos beobachten. Manchmal nahmen wir Körbe mit zum Fluss. Wir wateten im Wasser auf der Suche nach Krebsen. Wir schauten unter Steine und zwischen Baumwurzeln. Mit Körben voller Beute kehrten wir heim. Abends stellte Oma Ludwika einen riesigen Topf Wasser auf den Ofen und warf die Krebse hinein - sie quiekten.

Eines Tages besuchte uns Tante Iza Biernatzki aus Hamburg mit ihren Töchtern: die jüngere Iza und die ältere Christa. Iza mochte ich sehr gerne. Wir waren gleich alt und sie hatte wie ich einen Kopf voll verrückter Ideen. Christa erinnerte mich eher an Rysia, so dass es nicht verwunderlich war, dass sie immer ihre Angelegenheiten hatte. Die Mädchen konnten überhaupt kein Polnisch, aber das stellte keinerlei Hindernis dar. Ungezwungen sprachen wir Deutsch.

Eines sonnigen Tages nahm ich den Korb und überredete Iza zu einer Expedition an den Kanal. Freudig stimmte sie zu. Wir gingen durch verwinkelte Straßen. Irgendwann begann Iza sich zu beschweren, dass es zu weit sei und ihr die Beine weh taten. Ich wollte nicht umkehren, denn der Kanal war schon so nah. Ich nahm sie also huckepack und trug sie bis zur Wiese. Im kühlen Wasser verging ihre Erschöpfung schnell. Wir hatten eine tolle Zeit zusammen. Abends brachten wir einen vollen Korb mit Krebsen mit. Zugegeben, er war sehr schwer. Als die Cousinen mit der Tante wieder nach Hause fuhren wurde es auffallend leise und das stimmte mich traurig.

Eines Tages gab Mama bekannt, dass wir mit dem Zug zu den Großeltern nach Zembrze fahren werden. Denn Polizeimann Trippan hatte Mama vorgewarnt, dass die Deutschen junge Frauen zur Zwangsarbeit ins „Reich" schicken. „Verlasse Tuchola unbedingt für einige Wochen und komm erst wieder zurück, wenn es sich beruhigt hat", fügte er hinzu.

Mit dem Zug fuhren wir bis Radoszki. Am Bahnhof wartete Onkel Bolek mit einem mit zwei Pferden bespannten Wagen. Die Reise mit dem Pferdewagen war ungewöhnlich. Ich überlegte, wie es möglich sein kann, dass die Pferde den Unterschied zwischen „hetta" (Kommando: nach rechts) und „viśta" (nach links) verstanden. Schließlich erreichten wir einen riesigen Bauernhof. Ich erblickte eine große Scheune sowie Ställe mit Kühen und Pferden. Hinter dem Haus breitete sich ein weitläufiger Obstgarten mit Kirschbäumen aus. Ungestraft konnte ich bis an die Spitze der Bäume klettern und mit den Kirschkernen umherspucken. Ich war zufrieden und fühlte mich frei wie ein Vogerl. Für uns Kinder war es am wichtigsten, dass wir eine Menge an Cousinen und Cousins hatten, mit denen wir bis zum Umfallen spielen konnten. Auf dem Hof wohnten neben den Großeltern Ignacy Dąbrowski und Anna aus dem Hause Teodziecki, Papas ältester Bruder, Onkel Bolesław und Tante Helena aus dem Hause Sasowski, sowie ihre Kinder: die liebe Terenia, Zosia und Józik. Aus dem nahen Ort Radoszki kamen Kazik, Gercia, Marta und Jadzia regelmäßig mit dem Pferdewagen zu Besuch. Das waren die Kinder von Papas jüngerem Bruder, Onkel Józef und seiner Frau Weronika aus dem Hause Drwęcki. Mama ging mit den Tanten und Onkels aufs Feld und half bei der Ernte mit. Wir Kinder rannten, wie ein aufgescheuchter Haufen um die Erwachsenen herum. Mama nahm die hölzerne Harke, hob sie in die Höhe und stellte das Griffende auf ihren Zeigefinger. Auf diese Weise balancierend tanzte sie leicht und gewandt. Dabei lachte sie und wir schauten ihr wie verzaubert zu. Was für ein Kunststück! Die Tage in Zembrze vergingen wie ein Peitschenschlag und wir kehrten wieder nach Tuchola zurück.


1942, bei meinen Großeltern Dąbrowski in Zembrze. Von links: meine Mutter, Cousine Jadzia, Großmutter Anna, ich, Großvater Ignacy. Oberhalb der Großeltern: Cousins Gercia und Józio. Rechts stehen meine Schwester Rysia und Cousine Marta, über ihnen die Frau meines Onkels - Bronisława

Mit Edek begannen wir im Speicher bei unserem älteren Freund zu sitzen, welcher Flugmodelle zusammenklebte. Irgendwann zeigte er uns, wie man einen Drachen baut. Von Opa Kazimierz bekam ich dünne Leisten und Packpapier. Mit Edek malten wir Augen und ein lächelndes Gesicht. Aus farbenfrohen Papierchen, in welche Süßigkeiten gewickelt waren, die ich von Tante Szulc geschenkt bekommen hatte, machte ich einen langen, farbigen Schwanz. Wir ließen ihn auf der Wiese beim Głęboczek fliegen. Wunderschön bewegte sich der Drachen am Himmel. Fröhlich flatterte sein langer Schwanz. Ein kräftiger Windstoß riss unseren Drachen hinfort in die Krone einer vertrocknenden Pappel. Es war das Ende unseres und unseres Drachens.

Mit den Jungs spielten wir auch Ritter. Mit Schwertern aus Stöcken trugen wir Schlachten und Turniere aus. Doch was sind das für Ritter ohne Pferde? So kam mir eines Tages eine wunderbare Idee! Neben der Scheune, in welcher das Auto parkte, gab es gemäuerte Speicherabteile und in einem davon wohnte Frau Malinowskas Ziege. Die Ziege kann doch ein prachtvolles Ross vertreten! So wie wir eines brauchen! In meinen Hosentaschen hatte ich immer lauter Zeugs, so dass sich auch ein Stück verhedderter Schnur voller Knoten finden ließ. Gemeinsam mit Edek befestigten wir die Schlinge, um das „Pferd" in den Hof zu führen! Edek ging in das dunkle Speicherabteil und warf der Ziege die Schnur um den Hals. Wir griffen das andere Ende und zogen dran, zogen aus ganzer Kraft. Die Ziege meckerte und röchelte, blieb aber stur, stemmte sich dagegen und wollte um nichts in der Welt rauskommen. Wie eine Ziege eben! Wahnsinnig erschöpft waren wir und wütend auf das dumme Tier, das uns unser Spiel kaputt gemacht hatte, so gingen wir heim. Erst am nächsten Tag zeigte sich, dass wir nicht schlecht für Ärger gesorgt haben. Als Frau Malinowska in der früh ihre Ziege füttern und melken ging, fand sie diese leblos vor! Das arme Tier rüttelte sich um sich zu befreien, doch die Schlinge zog sich immer weiter zu, immer mehr und mehr bis sie schließlich an einem der Knoten festklemmte und erstickte. Wir wussten davon nichts. Mit der verwickelten Schnur, dem Beweis unseres Vergehens in Händen, war Frau Malinowska sofort zu Opa Kazimierz gegangen. Die Aufschrift Raiffeisen, welche auf der Schnur sichtbar war, ließ keinen Zweifel übrig, wer zu bestrafen sei. Opa bezahlte für die Ziege und wir bekamen ein Verbot, Edeks Hof zu betreten.

Der Winter war in Tuchola unvergesslich. Zu Edeks Haus führte ein kurzes Gässchen hinab, das die Choinicka- mit der Kościelna-Straße verband. Wenn viel Schnee gefallen war, konnte ich auf dem Schlitten geradewegs vors Haus meines Freundes fahren. Auf der linken Straßenseite stand ein kleines erdgeschössiges Häuschen mit einem Dachfenster. Oft schauten aus diesem Fenster zwei Mädchen heraus, die jedesmal Grimassen zogen, „auf der Nase spielten" oder mir zuwinkten.

Es war ein wunderschöner Wintertag. An den Bordsteinkanten lagen Halden des von der Straße geräumten Schnees. Ich spielte mit Freunden. Die bekannten Mädchen zeigten sich wieder im Fenster. Wir stellten uns in die Nähe und begannen Schneebälle zu machen. Dann öffneten die unverschämten Fräulein das Fenster und machten sich lustig über uns. Ihr Verhalten verstanden wir als Provokation also begannen wir Schneebälle nach ihnen zu werfen. Nachdem einige direkt in ihr Zimmer geflogen waren, schlossen die Mädchen schnell wieder das Fenster. Dies hatte ich nicht realisiert und schickte einen Schneeball direkt in die Scheibe. Das zerbrochene Glas klingelte und die Scherben prasselten auf den Schnee wie Eiskristalle. Die Mutter der Mädchen ging sich bei Oma Ludwika beschweren. Schließlich war es Winter, Krieg. Woher sollte man jetzt Geld für eine neue Scheibe haben? Ich erschrak, dass das Maß meiner Streiche voll war und die Ruthe, welche bisher nur warnend am Geschirrschrank hing, nicht mehr lediglich zur Ordnung herbei rufender Abschreckung dienen würde. Sie hatte einen sehr schönen aus Holz gedrehten Griff, an den mit Ziernägeln in lange, dünne Streifen geschnittenes Leder befestigt war. Bisweilen hörte ich nach wieder einem meiner Streiche die Ankündigung der Erwachsenen: „Oh Dychu, wenn Du das nochmal machst, lernst Du die Ruthe kennen!" Ich bemühte mich sehr, dass meine Streiche unwiederholbar waren und dank dessen verließ die Ruthe nie ihren Haken, auf dem sie hing. Oma hörte sich die Beschwerde der Mutter der Mädchen an. An ihrem Gesichtsausdruck sah man, dass sie auf mich sauer war. Irgendwas murrte sie vor sich hin. Opa Kazimierz trat an sie heran. Flüsternd vereinbarten sie etwas. Nach einem Augenblick nahm Opa ein großes Bild, welches an der Wand hing. Opa nahm das Glas heraus und ging zum Haus der geschädigten Frau, um das zerstörte Fenster zu reparieren.

Mein Großvater war ein ruhiger, guter Mensch. Jedesmal bemühte er sich, den Schaden wiedergutzumachen, den ich verursacht hatte. Erst nach Jahren habe ich vom Edelmut und der Großzügigkeit meines Opas erfahren. Das im Jahr 1918 wiedergeborene freie Polen, welches durch 126 Jahre Besatzung zerstört war, brauchte Unterstützung. Es gab viele Polen, die zu Hilfe eilten, unter ihnen auch mein Großvater, der alle besessenen Kostbarkeiten zusammen sammelte und sie dem wieder auferstehenden Vaterland übergab, denn das Vaterland und die Polen sind eins. Oma Ludwika hingegen galt als Anführerin des Hauses. Alles musste so sein, wie sie es sagte. Immer wieder hörte ich, wie sie Opa seine misslungenen Geschäfte mit jüdischen Händlern von vor dem Krieg vorhielt, bei denen er sein ganzes Vermögen verloren hatte. Die Schulden zwangen ihn, sein Hotel und Restaurant in Margonin zu verkaufen. Damals zogen meine Großeltern um nach Tuchola. Opa tat immer so, als ob er Oma ganz demütig anhörte und ihr zustimmte, doch im Endeffekt machte er es so, wie er es für richtig hielt. Sein Lieblingstag war der Sonntag. An dem Tag kam Oma nach dem Mittagessen mit einer Schachtel Zigarren und reichte ihm eine davon. Mit einer großen Zeremonie schnitt er das Ende der Zigarre ab, zündete sie an und delektierte sich daran, während er zufrieden murrte: „Die ganze Woche muss ich darauf warten!"


1925 Margonin. Großvater Kazimierz Biskups Hotel

Sonntag war auch der Tag des Kaffees. Er wurde in einer Mühle mit Schublade gemahlen und danach in einer Kanne, die mit einer großen Art Mütze bedeckt war, gekocht. Den Kaffee trank man im Speisezimmer am runden Tisch, über dem ein wunderschöner Kronleuchter mit einer Gaslampe hing. Die „Kanne im Anzug“ stand auf einem hölzernen Untersetzer mit Füßen. Die aufgewärmten Kaffeetassen des Sonntags-Service warteten schon. Nachdem der Kaffee eingeschenkt worden war, wurde die Kanne gleich wieder angekleidet. Anschließend trat Oma majestätisch an den riesengroßen Geschirrschrank heran und holte etwas Süßes zum Kaffee heraus. Woher hatte sie echten Kaffee? Und Opas Zigarren? Ich weiss es nicht. Vorstellen könnte ich mir, dass sie von Tante Iza aus Hamburg kamen.

Winter bedeutete nicht nur Schneeballschlachten und Schlitten fahren. Die zugefrohrenen Teiche lockten. Ach, wie wunderbar es wäre, Schlittschuhe zu haben! Davon träumte ich. Doch es war Krieg und auf solch ein Weihnachtsgeschenk konnte ich nicht zählen. Also beschloss ich, mir meine eigenen schönen Schlittschuhe aus Holz zu bauen. Opa bat ich um eine alte Zigarrenschachtel. Ihre Trennwände schnitt ich aus, mit Schnüren befestigte ich sie an den Schuhen, um dann auf dem Eis umher zu rutschen und den Neid der Jungs zu wecken. So stellte ich es mir vor. Vorsichtig stellte ich mich aufs Eis und ... fast gleichzeitig hörte ich: klapp, klapp! Unter meinem Gewicht zerbrachen die Brettchen. Nicht mal einen Schwung habe ich gemacht! Meine wunderbaren und ersehnten Schlittschuhe waren zu nichts zu gebrauchen. War ich enttäuscht! Bis heute erinnere ich mich an den bitteren Geschmack des Misserfolgs.

Zu Hause wurde es immer ärmer. Besonders im Winter setzte uns der Hunger zu. Am meisten, als man sich zuflüstern begann, dass die Russen schon nah sind. Unsere deutschen Nachbarn wurden ungewohnt höflich. Mit Mama gingen wir abends aus der Stadt, um Futterrüben zu holen, die unseren ärmlichen Speiseplan „bereicherten". Wir klauten sie vom Feld. Mama schämte sich dafür, aber ich freute mich, dass wir die Deutschen beklauen. Aus den Rüben kochte Oma eine ekelhafte Suppe. Vielleicht kann ich deswegen bis heute Rüben nicht ausstehen. Eine Ausnahme mache ich nur für den traditionellen roten Barszcz an Heiligabend und für rote Beete mit Meerrettich.

Ein weiterer, noch bescheidenerer Heiligabend in Kriegszeiten folgte. Eines Tages ging Urgroßvater Piotr von uns. Der Arme hat die Befreiung nicht mehr erlebt. 97 Jahre wurde er alt. Laut und hastig wurde es in Tuchola. Die Deutschen begannen mit Sack und Pack ihre Karren, Wägelchen und Fahrräder zu beladen. Sie verließen ihre Häuser und Wohnungen. Sie flohen in die „Heimat“. Die Front näherte sich. Die Deutschen beschlossen Tuchola so lange wie möglich zu verteidigen. Anfangs hielten die deutschen Truppen ihre Stellungen, doch die Russen griffen hartnäckig an. Die Schlacht um Tuchola dauerte von 11. bis 14.Februar 1945. Schließlich schafften es russische Panzereinheiten, sich durch die Front durchzuschlagen und am 15.Februar wurde Tuchola erobert. Deutschen Berichten zufolge konnten die Einheiten der 4.Panzerdivision in den Kämpfen um Tuchola über 90 sowjetische Panzer zerstören, doch übermäßig viele Wracks habe ich nicht gesehen. Hingegen erwiesen sich die, die wir vorfanden als traumhafte Spielplätze.

Man hörte Kampfgeräusche. Alle Bewohner suchten im Schutzraum Zuflucht. Oma ordnete an, dass wir uns im hintersten Eck des Kellers versteckten. Aus Decken und Kissen bettete Mama uns in ein bequemes Lager und deckte uns zu. Wir warteten. Wir horchten. Nach jeder größeren Explosion hörte man Geschrei. Jemand betete lautstark. Draußen dröhnte und donnerte es. Unbedingt wollte ich sehen, was passiert. Doch das Kampieren im nicht nur nach Kartoffeln stinkenden Keller zog sich. Nur Mama ging ab und an in unsere Wohnung, um etwas zum Essen und Trinken mitzubringen. Irgendwann sagte sie lächelnd, dass wir schon bald unseren Vater sehen würden. Es wurde ruhig. Plötzlich fielen Russen in unseren Schutzraum ein. Dreckig und stinkend schritten sie durch die liegenden Leute und rissen die Decken von ihnen. Sie suchten Mädchen. Anwesende Männer verhielten sich, als ob sie nicht anwesend wären: sie kauerten unter ihren Decken. Ältere Frauen verfluchten die Soldaten, während sie davon unbeeindruckt entsetzt schreiende Mädchen herauszogen und die Treppen hinaufführten. Nach einer Weile wurde es wieder entsetzlich still. Wir hatten große Angst. Niemand rührte sich.

Das Treffen mit meinem mir unbekannten Vater

Ein Soldat kam die Treppen herab. Mit seinem Blick entdeckte er Mama und nickte mit dem Kopf. Mama wies uns an aufzustehen. Sie führte Rysia und mich ins Nachbarhaus. Dort saß in einem großen Zimmer mit schönen Möbeln an einem ovalen Tisch ein Offizier in sauberer, ordentlicher Uniform und neben ihm stand ein Herr in dunklem Anzug. Mama schob uns vor: „Rysia und Dychu, das ist Euer Vater“, sagte sie, während sie auf den Herren im dunklen Anzug deutete. Kurz dauerte unsere Begrüßung. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass uns unser Vater umarmt hätte.

Wir zogen bei den Großeltern aus und wohnten von nun an in einem Jugendstil-Altbau in der Chopin-Str. Unsere Wohnung im Parterre war groß und schön möbliert. Doch Papa hatte so gut wie nie Zeit für uns. Nachdem er der erste Nachkriegs-Bürgermeister von Tuchola geworden war, besuchten ihn ständig irgendwelche Leute. Gewöhnlich saßen sie am großen Tisch im Arbeitszimmer. Wir durften sie nicht stören. Also liefen wir zu den Großeltern; dort war es interessanter und fröhlicher. Wir streunten durch von Deutschen verlassene Wohnungen. Trippans alte Wohnung (1.Stock) nahmen russische Frontsoldaten ein. Sie hatten Tuchola erobert. Verschmutzt und erschöpft lagen sie querbeet. Trotz eisiger Kälte waren die Balkontüren geöffnet. Ich war dabei, als Trippans alter Wecker zu klingeln begann und einen nebendran schlafenden Soldaten weckte. Erzürnt warf er ihn durch die Balkontür und schickte bei der Gelegenheit einige Schüsse hinterher. Doch nicht nur Wecker riefen Erregung hervor bei den Russen. Von fließendem Wasser aus der Wand waren sie ganz begeistert. Ihr Verhalten veranschaulichte die Primitivität und Habsucht der russischen Soldaten. Nichts war vor ihnen sicher: sie klauten alles. Passanten, die ihre ersten Fahrversuche auf Fahrrädern beobachteten, krümmten sich vor Lachen, während diejenigen, deren Fahräder sie sich einfach genommen haben, protestierten oder weinten.

Opa Kazimierz erzählte von einer unglaublichen Begebenheit:

„Ich traf auf einen guten Bekannten und fragte ihn nach der Uhrzeit. Er erwiderte, dass er seine Armbanduhr versteckt habe vor den Russen und hob vorsichtig aber stolz sein Hosenbein an. Im selben Augenblick kam ein russischer Soldat des Weges: er war gerade dabei, angestrengt die Kunst des Fahrens auf einem gestohlenen Fahrrad zu erlernen. Als er die Armbanduhr am Fußgelenk sah, sprang er herab und ließ das Fahrrad links liegen. Er kam zu meinem Bekannten gerannt und schrie: Daj mnie nożne czasy (Gib mir die Beinbanduhr)! U mienia ich mnogo, ale żaden nożny (Ich habe viele Uhren, aber keine fürs Fußgelenk)! Daraufhin zog er aus seinen Taschen die unterschiedlichsten Uhren, drückte sie meinem Bekannten in die Hände und verlangte im Austausch diese einzigartige Beinbanduhr. Mit dieser weiteren, diesmal auch noch so ungewöhnlichen Beute verschwand er zufrieden hinter der nächsten Ecke. Der glückliche neue Besitzer eines guten Dutzends Uhren stellte fest, dass er soeben das beste Geschäft seines Lebens gemacht habe!“

Nach einigen Tagen zogen die russischen Soldaten weiter, „nach Berlin“, sagten sie. Alle atmeten auf, doch nicht für lange, denn es kamen andere Russen: sie brachten Straflager und ein uns fremdes politisches System.

Meine Großeltern hatten alle Wertgegenstände versteckt vor den diebischen Soldaten, was sie dennoch nicht vor Schaden bewahrte. Eines Tages im März klopfte ein adrett gekleideter sowjetischer Offizier an die Wohnungstür meiner Großeltern. Er salutierte und teilte ihnen mit, dass sie ausziehen müssten, da die Armee ihre Wohnung beansprucht: „Nur für eine Woche, vielleicht zwei und ihr werdet zurückkehren können“, sagte er und als Oma damit begann eilig die kleinsten Dinge einzupacken, fügte er hinzu, „bitte lassen Sie alles hier, nichts wird verloren gehen.“

Gerade war mein Kumpel Edek mit seinen Eltern, den Herrschaften Rybicki, in ihr Haus in der Świecka-Str. 73 am Stadtrand von Tuchola zurückgekehrt - ein zweistöckiges Gebäude mit Dachgeschoss. Die Eigentümer zogen ins Obergeschoss, meinen Großeltern boten sie einen Raum im Erdgeschoss an, für die paar Tage.

Mit kräftiger, entschiedener Stimme hatte mich Papa zwischenzeitlich – wegen eines weiteren meiner Streiche - solange unter Hausarrest gestellt, bis ich das kleine Einmaleins auswendig konnte. „Er meint es ernst“, dachte ich mir. So setzte ich mich gehorsam auf meine vier Buchstaben und begann zu büffeln. Als ich fertig war, fragte mich Papa ab. Ich war frei, endlich konnte ich hinters Haus. Dort an den Bahngleisen stand das Wrack eines echten russischen Panzers. Edek wartete schon auf mich. Wir stiegen in dieses unglaubliche Gefährt und schauten uns neugierig um. „Hier ist Munition“, schrie ich begeistert.

Von nun an gingen Edek und ich nach Schulschluss schnurstracks zu unserem Wrack. Stundenlang spielten wir in ihm. Wir zogen Geschosse aus dem Panzer und schlugen sie gegen Steine, um die langen Schießpulversäckchen herauszuziehen. Sie erinnerten an trockene Nudeln. Doch was sollten wir damit? Sie brannten nur schlecht. Dass der Panzer zusammen mit uns nicht in die Luft geflogen ist, wundert mich bis heute.

Außer Panzerwracks standen auch verlassene, beschädigte Lastwagen umher. In alle Schlupfwinkel ihrer Fahrerkabinen krochen wir hinein. Eine tragbare Kurbelsirene, die ich dort fand, interessierte mich nur kurz, so dass ich sie zügig gegen ein Paar wunderbare Rollschuhe eintauschte. Von da an hallte das charakteristische Rattern durch ganz Tuchola. Ich war überall. Sich auf Rollschuhen fortzubewegen war unheimlich kompliziert, denn die Straßen bestanden hauptsächlich aus Kopfsteinpflastern und Gehwege waren weit davon entfernt, eben zu sein. Doch irgendwann begeisterten mich auch die Rollschuhe nicht mehr. Ein Junge hatte wunderbare Holzski mit einer Seilzugbindung. Davon träumte ich schon lange. Bis zum Winter wars noch lange, dennoch tauschte ich sofort meine Rollschuhe ein.

Derweilen war Mamas Bruder Edek Biskup nach Tuchola gekommen. Er wollte nicht zurück in die zerstörte Warszawa. Seine Arztpraxis eröffnete er im Erdgeschoss eines mehrstöckigen Hauses. Selbst zog er mit seiner wunderhübschen Frau Barbara Gilewska ins 1.OG. Tante Barbara (Basia) war Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin. In den Jahren 1931-1934 trat sie unter anderem an den Revue-Theatern „Qui Pro Quo“ und „Morskie Oko“ in Warszawa auf. Bekannt wurde sie durch ihre Rollen in den Filmen ”Pieśniarz Warszawy” (Der Sänger von Warszawa) und „Kochaj tylko mnie” (Liebe nur mich). An der Seite von Filmgrößen wie Jadwiga Smolarska oder Eugeniusz Bodo trat sie auf. Bodo wurde im Zweiten Weltkrieg aufgrund falscher Anschuldigungen als „Spion des Westens“ vom sowjetischen NKWD verhaftet, verhört und in ein russisches Straflager gebracht, wo er Hunger und Erschöpfung erlag.

Im Salon bei Tante und Onkel thronte der Flügel an dem Tante Basia Melodien komponierte. Ab und an begleitete sie Onkel Edek aus dem Gedächtnis und stichelte sie dann scherzhaft: „So spielt man!“

Tante Basia sang wunderschön. Ich hatte sie sehr gern, weshalb ich oft bei Tante und Onkel war. Manchmal blieb ich zu Mittag. Eines Tages kam Onkel Edek aus seiner Praxis direkt ins Esszimmer. In der Hand hielt er ein metallisches Geschirr, eine sog. Nierenschale. Von organisatorischen Fragen vereinnahmt setzte er sich an den Tisch und stellte dieses Geschirr neben seinen Teller. Ich warf einen Blick drauf und sah, dass zwei menschliche Finger drin lagen. Der Onkel hingegen achtete nicht weiter drauf. Er aß sein Mittagessen und den Dessert, stand auf, nahm die Nierenschale mit samt ihrem Inhalt und verschwand wieder. Meine Großeltern kehrten nicht mehr zurück in ihre Wohnung im dritten Stock. Die sowjetische Armee hatte die Wohnung zwar verlassen, doch als meine Großeltern sie betraten sahen sie lediglich Spuren der Gemälde und Möbel an den verschmutzten Wänden. Omas geliebte, schöne Möbel, das Tafelservice, die Bettwäsche, einfach alles wurde in den Osten gebracht; irgendein Offizier wahrscheinlich hat sich mit unseren Einrichtungsgegenständen sein zu Hause verschönert.

Tage und Wochen vergingen während das Leben dabei war, seine verloren gegangenen Gleise wiederzufinden. Etwas jedoch hatte sich zu Hause verändert. Unbeschwert konnte ich nun in all unseren Zimmern umhertoben. Papa war nicht da, Gäste kamen keine mehr zu Besuch. Mama war ganz anders und weinte häufig. Was war passiert?

Papa war verhaftet worden. Er hatte das Bürgermeisteramt verloren, weil er sich mit den Russen nicht einigen konnte. Die anfängliche „Freundschaft“ offenbarte ihr wahres Gesicht. Es fielen Dinge vor, für die mein Vater kein Verständnis fand – nicht zuletzt trat er auch gegen das Unrecht der Wohnungsausräumung bei seinen Schwiegereltern ein.

Mama und ich wollten Papa im Gefängnis (gegenwärtig das Gebäude der Staatsanwaltschaft) besuchen. Der Wachmann öffnete uns das große Eingangstor, ließ uns aber nicht unseren Besuchstermin wahrnehmen. Wir gingen zu den Großeltern, wo wir alle auf dem Boden niederknieten um zu beten: „Erbarme Dich unser“, wiederholten wir immer wieder – die Knie schmerzten schon lange. In Tuchola sah ich meinen Vater nie wieder.

Ich zog zu Tante Basia und Onkel Edek - traurig war ich deshalb aber nicht. Aus Wrocław war zu ihnen Tantes Neffe gekommen. Ich freute mich über meinen neuen Freund. Grzegorz erwies sich als ein äußerst sympathischer und intelligenter Junge. Er war ein paar Jahre älter als ich. Eines Tages setzte uns Tante Basia gleich nach dem Mittagessen aufs Sofa und begann mir zu erklären, weshalb ich bei ihnen und nicht in meinem Elternhaus bin: Papa sei aus dem Gefängnis entlassen worden unter der Bedingung, dass er sich in den zurückerlangten Gebieten (im Westen Polens) niederließe, im kleinen Städtchen Kamień Pomorski. Mama und Rysia seien schon gemeinsam mit Papa hingefahren und wollen, dass ich zu ihnen dazustoße. „Alleine lass ich Dich nicht, aber unter Grzegorzs Aufsicht, ist das etwas anderes“, beendete sie ihren Monolog.

Schon wenige Tage später packte Tante Basia unsere Sachen in kleine Pappkoffer. Selbstverständlich nahm ich meine Ski mit. Onkel Edek fuhr uns mit seinem schwarzen Automobil zum Bahnhof und kaufte uns Fahrkarten. Am Bahngleis fuhr eine enorme Lokomotive mit einer Schnur an Waggons vor. Sie keuchte, Rauch stieg aus ihrem Schornstein auf. Der Onkel setzte uns ins Abteil und unter Aufsicht meines älteren Freundes fuhr ich zu meinen Eltern; ins fremde Kamień Pomorski.

Die Fahrt dauerte lang. Eilig betriebsam schleppten Menschenmassen ihr Hab und Gut in Koffern und Paketen mit sich: erschöpfte Menschen. Es war eine Völkerwanderung! Nach mehrmaligem Umsteigen und einem wunderbaren, heißen Tee mit darin umher tanzenden Zitronenflocken, setzte sich unser Zug Szczecin-Stargrad für die letzte Etappe unserer Reise in Bewegung. Bei jedem Halt wurden die Abteilstüren sperrangelweit geöffnet. Fahrgäste kamen und gingen mit ihrem ungewöhnlichen Gepäck. Gregorz und ich setzten uns ans Fenster, dennoch ließ uns dieses Gewusel nachts nicht schlafen. Tagsüber sogen wir dafür förmlich die sich vor unseren Augen verschiebenden Landschaften auf. Ich konnte nicht mehr sitzen und musste auf die Toilette, also kämpfte ich mich den Durchgang entlang durch die aneinander gedrängten Reisenden und ihr Gepäck. Durch das Türfenster des letzten Waggons beobachtete ich die Gleise. Wir fuhren über eine Brücke - über die Oder; eine furchteinflößende Brücke. So unendlich lang, nur aus Gleisen, die nur auf einer schmalen Unterlage befestigt waren. Wie wenn diese Unterlage schweben würde über dem faul dahinließenden grauen Fluss. So zart war diese kunstvolle Konstruktion, dass sie unter dem tosenden Zug jeden Augenblick mit uns in den Fluss stürzen könnte. Ich hatte ganz vergessen wofür ich mich bis hierher durchgekämpft hatte. Es war eine lange Reise, meine Erinnerungen daran verschwimmen mit dem monotonen Zugrattern. Das letzte Stück nach Kamień Pomorski, bis zur verlassenen Ruine seines stilechten Bahnhofs fuhren wir mit dem Pferdewagen. Die Russen hatten die Bahngleise, welche die Ortschaft mit der Welt verbindeten mitgehen lassen.

Mein geliebtes Kamień Pomorski

Mama und Rysia erwarteten uns. Nach einem kurzen Marsch durch die menschenleeren Straßen erreichten wir unsere Wohnung: drei Zimmer und eine Küche im zweiten Stock; in einem der drei Grundschulgebäude – gegenwärtig die Jan-Długosz-Str. Nach einiger Zeit wurde Grzegorz abgeholt, zurück zu seiner Mutter, die nicht nach Warszawa zurückgekehrt war, sondern sich in Wrocław wiedergefunden hatte. Zwar verliefen entlang der Schule Bahngleise, doch hier fuhren keine Züge. Etwas weiter entfernt befanden sich Gebäude und Anlagen der Lokschuppen. Die Gebäude standen leer. Genau hierhin zog es uns Jungs, umso mehr, da es beim Lokschuppen ein Kran zum Beladen der Dampflokkohlewägen gab. Er erinnerte an ein Karussell und so nutzen wir ihn auch. Eine Reihe Wägelchen stand auf der Schmalspur, die zur Kohleverladestelle führte. Wir hoben das mit einem Stahlseil an den Kran befestigte Wägelchen an. Wie man einen Eimer aus dem Brunnen mit einer Kurbel herauszieht, gab es hier zwei Kurbeln, an denen je zwei Jungs benötigt wurden, um das Wägelchen, in dem der Glückliche saß, anzuheben und das Karussell drehen zu können. Mit Sperrklinken wurden die Kurbeln gesichert. Aus ganzer Kraft schoben wir nun den Wagen an. Jeder wartete auf seine Reihe, um dieses faszinierende Kettenkarussell zu erleben. Doch eines Tages rutschte mir beim Anheben des Wagens die Kurbel aus den Händen, brach mir die Finger meiner linken Hand und schnitt die Haut auf. Mit einem Lappen verband ich meine Hand, damit man das Blut nicht sah, damit die Eltern davon nicht erfuhren. Ihr Gerede, ihre Verbote und Einschränkungen meiner Freiheit brauch ich nicht. Meine Hand verheilte, doch ein Finger ist bis heute krumm gebliben, denn so wollte es die Natur. Meine Eltern haben nichts von alledem mitbekommen. Sie waren von den außergewöhnlichen Nachkriegsjahren vollends in Anspruch genommen.

Rysia und ich besuchten die nahe gelegene Schule. Ich kam in die zweite Klasse, jedoch beschlossen die Lehrer nach einiger Zeit mich in die dritte Klasse zu versetzen. Zwar war ich viel jünger als die anderen Drittklässler, doch der Unterbrechung ihrer Schulzeit des Krieges wegen, hatten sie viel aufzuholen. Außerdem versprachen sich die Lehrer von meiner Höherstufung, dass mich der Einfluss meiner älteren Mitschüler zügeln würde. Und tatsächlich, in der Schule trieb ich keinen Unfug mehr, dafür boten mir die älteren Jungs Zigaretten an. Doch es sollte nicht sein, dass ich in die Fänge der Sucht falle. Den stickigen und brennenden Rauch empfand ich abstoßend.

Papa war nur selten zu Hause. Er hatte viel zu tun, da er in der Aufsichtsbehörde des Bildungswesens Szczecin den Wiederaufbau des Schulwesens in der gesamten Wojewodschaft verantwortete. Außerdem organisierte er Lehrerseminare für zukünftige Pädagogen. Währenddessen erwartete Mama ein weiteres Kind. Niemand hatte Zeit, auf mich aufzupassen. Einem Jungen gefällt das natürlich. Denn damals war ich wie all meine Freunde in den Fängen einer neuen Leidenschaft gefangen. Gleich nach der Schule hörte man es flüsternd: „Wir gehen schabern (na szaber)!"

Einige Quellen besagen, dass die Kriegshandlungen Kamień Pomorski zu 70% zerstört haben. Tatsache ist, dass das Rathaus ausgebrannt war, der Bahnhof zerstört war sowie die Molkerei und am meisten sichtbar war das Bombeneinschlagsloch in der örtlichen Brauerei unten am Kai. Kamień Pomorski war wie ausgestorben. Die leerstehenden Wohnungen waren noch vollständig eingerichtet, wie wenn sie auf neue Bewohner warten würden. In leeren Sraßen standen die Türen der verlassenen Häuser offen. Es machte großen Spaß, die Straßen entlang zu gehen und Fensterscheiben mit Steinschleudern einzuschlagen. Wir betraten die Wohnungen und zerrissen wunderschön gebundene, mit deutscher Gotik bedruckte Bücher. „To szwabskie - das ist deutsch!" Diese Worte waren die einzige Rechtfertigung unserer jugendlichen Gedankenlosigkeit. Wir gingen in die Keller, in denen reihenweise Eingemachtes in den Regalen stand. Mit Stöcken, die unabdingbare Gesellschafter unserer Expeditionen waren, schlugen wir enthusiastisch in Gläser voll mit Gutem aus Sommertagen.

Wenn wir etwas fanden, was uns gefiel, nahmen wir es mit, wie wenn es uns gehörte. Nicht selten trafen wir auf Erwachsene. Sie verjagten uns, nahmen aber selbst auch was sie irgendwie gebrauchen könnten. Die Szabersleut wüteten in den verlassenen Wohnungen und Häusern. Sie trugen alles heraus, womit man nur handeln konnte. Daher stammt das Wort „Szaberplac", also ein Platz, auf dem geplünderte Güter verkauft wurden. Auch die russische Armee trug zur Verwüstung dieser Gebiete bei. Sie eigneten sich alles an: Eisenbahngleise, eiserne Brücken, Maschinen, doch am liebsten nahmen sie ganze Fabriken auseinander, die sie bei sich wieder aufbauten. Doch zurück zu den ehemals deutschen Mietshäusern in Kamień Pomorski. Scheibenlose Fenster und Dächer, die nicht selten ihrer guten Dachziegel oder Bleche beraubt waren, konnten die Gebäude nicht mehr schützen vor Wind und Wetter. Sie verkamen zu Ruinen, bis schließlich die kommunistischen Herrscher die Überreste dieser Altbauten dem Erdboden gleichmachten und an gleicher Stelle sozialistische Wohnblöcke erbauten, wie sie bis heute stehen.

Es war Anfang Dezember 1945, Schnee war gefallen. Eines Abends durften wir unsere Wohnung nicht betreten. Unsere Nachbarin nahm uns zu sich und sagte, dass wir bei ihr schlafen würden, weil Mama krank sei. „Aber macht Euch keine Sorgen. Morgen gibts eine Überraschung", fügte sie geheimnisvoll hinzu. In der Früh des 5.Dezember kamen wir ins elterliche Schlafzimmer. Mama lag im Bett. Sie winkte uns zu, uns vorsichtig ihrem Bett zu nähern. „Ihr habt ein kleines Schwesterchen", flüsterte sie uns zu. „Wollt ihr sie sehen", schaute sie uns fragend an. Ich nickte. Mama beugte sich über das kleine Bettchen neben dem elterlichen. Zuerst beugte sich Rysia hochgespannt drüber, richtete sich aber sofort wieder auf und auf ihrem Gesicht erschien eine Grimasse: „Ganz schön hässlich und klein", sagte sie und ging zu ihren schönen und großen Puppen. Nach einem Augenblick erblickte auch ich das kleine Geschöpf. So winzig und so wehrlos! Und was für große Äuglein sie hat. Ich lächelte Mama zu. „Mami, sie ist wie ein kleiner Frosch (Żaba)", flüsterte ich. Żabcia, Żaba, Żabulek. Damals nannte niemand unser kleines Schwesterchen anders. Unser Mädchen sollte den Namen Joanna erhalten. In der Behörde schrieb der Sachbearbeiter Johanna auf und der nächste korrigierte den Fehler auf Hanna. Und so ists geblieben.

Schnell waren die ersten Nachkriegs-Weihnachtsfeiertage vergangen und das Neue Jahr 1946 wurde mit einem Knall aus von uns inszenierten Explosionen begrüßt. Überall lag Munition! Damals wühlten alle Jungs in Munition. Einige gingen an die Bucht und warfen die Ladungen ins Wasser, um die Fische zu ertauben. Schießpulver gab es im Überfluss - man musste es lediglich aus jeglicher Art von Geschossen aushülsen, die auf den Straßen, Höfen und in verlassenen Gebäuden zuhauf umherlagen. Warnungen unserer Eltern und Lehrer überhörten wir, solange es zu keiner Tragödie gekommen war.

Doch eines Tages kam es in unserer Straße zu einer ungeheueren, von einer riesigen Staubwolke begleiteten Explosion. Unweit der Schule stand ein langes, gemauertes Haus. Zwei Burschen, die in desem Haus wohnten hatten eine Panzerfaust gefunden. Sie nahmen sie mit in den Keller, wo es zur Tragödie kam. Beinahe gänzlich wurde das Haus zerstört. Die gesamte Nachbarschaft kam zusammengelaufen. Ich lief voraus, dort waren schließlich meine Freunde! Ätzender Rauch verschloss den Kellereingang. Lange konnten wir den Keller nicht betreten. Jedoch fand ich mich als erster unten und was ich dort vorfand, kann man nur schwer vergessen. Auch Rysia war unter den herbeigelaufenen Schulkindern. Von diesem Tag an fürchtete sie sich alleine einen Keller zu betreten. Dieser Unfall führte uns vor Augen, wie gefährlich unsere Spielchen waren. Trotzdem verschwanden die Schießpulversäckchen nicht aus unseren Hosentaschen.

Mit dem ersten Frühlingstauwetter zogen wir um in ein Zwei-Familienhaus mit abschüssigem Dach in der Konopnicka-Str. 12. Die andere Hälfte bewohnten die Herrschaften Wiśniewski. Den Innenhof teilte eine hohe, rissige Mauer. Parallel zum Wohnhaus befanden sich Wirtschaftsgebäude, die ebenfalls an die Mauer anlagen. Hinter dem Gebäude breitete sich der Obstgarten aus; mit einer Hecke vom Feld abgetrennt, welches auch zu uns gehörte. Zwei Stufen führten zur Eingangstür. Die Nachbarn waren sehr herzlich und ein breiter Riss in der Mauer erleichterte den Austausch der neuesten Nachrichten. Rysia und ich hatten zwei Zimmer im oberen Stockwerk: ein Spiel-, ein Schlafzimmer. In unserem Stock befand sich außerdem ein Badezimmer und eine ungenutzte Küche. Im Erdgeschoss befand sich die zweite Küche, das Speisezimmer und das Elternschlafzimmer. Am Flurende ging es in Papas wunderschönes Arbeitszimmer. Unter der Treppe in einer hölzernen Wand befanden sich zwei Türen. Eine führte in den Keller, die andere in eine beträchtliche, reich sortierte Speisekammer. Nach den hungrigen Kriegszeiten begannen wir nun wirklich herrlich zu essen. Wie Pilze nach dem Regen waren private Metzgereien, Bäckereien, Konditoreien und Geschäfte mit den schmackhaftesten Leckereien aus dem Boden gesprossen.

Mama hatte eine Unmenge an Verpflichtungen mit der Betreuung der kleinen Żaba sowie der Haushaltsführung und Papa - wie üblich - war wochenlang nicht da. Er beschäftigte sich nicht nur mit dem Schulwesen, sondern engagierte sich ebenfalls politisch. Im Namen des PSL (Polskie Stronnictwo Ludowe, welches für ein unabhängiges, demokratisches Polen einstand) gründete er WICI-Kreise, also die Jugendorganisation der PSL. Nach Hause kam Papa zu den unterschiedlichsten Uhrzeiten, doch meistens nachts, wenn wir schon schliefen. Nur selten sahen wir ihn. Wenn er mal da war, hielt er sein Motorrad immer im Garten hinter dem Wirtschaftsgebäude versteckt. Warum nicht im Schuppen, fragte ich mich.

Es war das Jahr 1946. Auf den Straßen lag noch schmutziger Schnee, doch es roch schon nach Frühling. Ich war auf dem Weg zum Schulsportplatz. Im Schulgebäude standen die Fenster weit offen. Plötzlich traf mich ein Schneeball. Auf solch eine Provokation musste ich reagieren, also packte ich in die Mitte meines Schneeballs einen Stein und warf ihn in Richtung der Provokateure in den Fenstern. Und wieder schlug ich eine Fensterscheibe ein. Zur Strafe durfte ich nicht am Unterricht teilnehmen. Ich war sauer, denn ich fühlte mich ungerecht behandelt. Ich hab doch nicht angefangen! Ich zeigs ihnen, dachte ich mir. Also ging ich zu den hölzernen Schultoiletten (Plumpsklos) am hinteren Ende des Sportplatzes. Aus meiner Hosentasche holte ich eine große, aufgerissene Patrone und ein Schießpulversäckchen, mischte eine kleine Sprengstoffladung zusammen und zündete sie an. Ich wusste: sobald dünne Flammen aus dem Geschoss zu sprühen begannen, heißt es werfen und sofort weglaufen. Also ließ ich das Geschoss in der ersten Kabine fallen und versteckte mich hinter der nahe gelegenen Böschung ... Bumm!!! Die Explosion war unerwartet effektiv: Holzstücke und brauner Brei flogen durch die Luft, es stank furchtbar. Lehrer und Schüler kamen aus der Schule gelaufen; ich lief heim. Der besorgten Mama habe ich schnell etwas geantwortet und ging von selbst brav Holz hacken, um mein schlechtes Gewissen rein zu waschen. In der Schule konnten sie sich schnell zusammenreimen, wer die Toiletten in die Luft gejagt hat. Boshaft winkte mir eine Schulfreundin mit einem Briefumschlag zu, als sie mir auf der Straße begegnete: „Ha! Ich habe von der Schule einen Brief an Deine Eltern! Du wirst schon sehen, was für eine Tracht Prügel Du bekommst! Das wirst Du noch bereuen! Hahaha", verspottete sie mich. Das konnte ich nicht ertragen. Mit Fäusten warf ich mich auf das Mädchen, riss ihr den unglückseligen Brief aus der Hand und riss ihn in Fetzen.


Ich im Jahr 1946

Abends rief mich Papa mit keinen Widerspruch duldender Stimme in sein Arbeitszimmer: „Was hast Du heute angestellt?"

„Ich habe eine Fensterscheibe eingeschlagen", sagte ich leise.

„Und was noch", fragte er weiter in unangenehm amtlichem Tonfall.

„Das Klo habe ich in die Luft gesprengt."

„War das alles", fragte Papa weiter.

„Nein, Krysia habe ich geschlagen."

„Und was noch?"

„Den Brief habe ich zerrissen", antwortete ich.

Ich wusste: das Maß war voll. Papa befahl mir einen Stuhl zu holen, er holte aus dem Schrank einen Ledergürtel. Naja, ich habs abbekommen. Drei brennende Streifen spürte ich am Hintern. So sehr hats gar nicht weh getan, aber mein Stolz und meine Würde litten. Nach der „Exekution" hörte ich: „Geh zu Mama und entschuldige Dich bei ihr."

Im Jahr 2007 besuchte ich Kamień Pomorski und meine alte Schule. Die Gebäude standen noch, doch waren sie nun Wohnhäuser. „Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie vielleicht jemanden", sprach mich eine ältere Dame an, die in ihrem Garten arbeitete. Wir unterhielten uns eine Weile über die Nachkriegsjahre und die Schule: „Ja, irgendein Schüler hatte mal die Toiletten in die Luft gejagt. Daran kann ich mich gut erinnern", bestätigte meine Gesprächspartnerin. So viele Jahre waren vergangen seit dieser Explosion und dennoch fand sich eine Zeugin meiner Leistung – kaum zu glauben!

Wie ich nur konnte nutzte ich die fehlende Beaufsichtigung meiner Eltern aus. Mich begann der Yachthafen zu interessieren bzw. eher die ausgebrannten Boote und Yachten. Am zerstörten Steg standen die Längsseiten und Maste der versunkenen Wasserfahrzeuge aus dem Wasser. Einige waren stark beschädigt und flösten Angst ein mit ihren von Geschossen hineingerissenen Löchern. Offene Kabinentüren offenbarten ihr dunkles, mit Wasser angefülltes Innere. Das einzige fahrtüchtige Schiff oder Boot war ein Zweimaster der Seefahrer-Pfadfindergruppe (Trotz meines Alters wurde ich anstatt bei den Wölflingen, in die Pfadfinder oder genauer in die Gruppe der Wassersportler aufgenommen). Durch die Bucht werden wir segeln und am Ufer biwakieren. Doch ich konnte die Segeltörns nicht erwarten. Ziutek, mein Kumpel aus der Schulbank, und ich wollten sofort unser eigenes Boot haben. An der Hafenmole unweit des Ufers machten wir ein versunkenes, kleines Beiboot aus. Die Schwierigkeit bestand darin, dass es mit einer Kette an einen Pfahl befestigt war. Wir zogen uns aus und gingen ins Wasser. Mit meinem Taschenmesser, das ich immer bei mir habe, höhlte ich aus dem Holzbalken die Metallöse: Das Boot war unser. Mit alten Dosen begannen wir, das Wasser herauszuschöpfen. Dann zogen wir es an Land. Eine Unmenge an Arbeit lag vor uns. Nachdem wir es vom Schlamm sauber gewaschen und dann getrocknet hatten, zeigte sich, dass es sogar dicht war. Wir suchten uns Ruder zusammen und konnten endlich „auf große Fahrt“ gehen, während uns die anderen Jungs beneideten.

Der erste Törn des Pfadfinder Segelschiffs stand bevor. Aufgeregt erzählte ich Mama vom morgentlichen Appell an der Mole. Doch Mama hatte Angst um mich und wollte mir nicht erlauben in See zu stechen. Dennoch stimmte sie schließlich zu: „In Ordnung, Du darfst zum Appell, aber davor musst Du Holz hacken. Alleine schaffe ich das alles nicht und Papa ist nicht da." Sie hoffte natürlich mich mit dieser zusätzlichen Beschäftigung davon abzuhalten, pünktlich zum Appell zu erscheinen und auf diese Weise zu verhindern, dass ich mit dem Pfadfindersegelboot davon segel. Zufälligerweise hatte auch Ziuteks Mama eine unerwartete Arbeit für ihn, so dass wir beide verspätet durch die leeren Straßen zum Hafen eilten. Wir hofften so sehr, dass sie auf uns warten würden. Leider haben sie nicht gewartet. Als wir an der Bucht ankamen, sahen wir den majestätisch, vollgetakelten Zweimaster nur noch aus der Ferne. Erschöpft und enttäuscht, aber richtig enttäuscht, setzten wir uns nieder. Der leichte Wind kühlte unsere vom Laufen erhitzten Körper und runzelte das Wasser ein wenig.

Der Wind wurde stärker, aus Westen zogen dunkle, regengetränkte Wolken heran. Auf dem Wasser wälzten sich schon recht gehörige Wellen. Plötzlich bemerkten wir, dass das Segelschiff mit den Pfadfindern auf der Stelle stand, stark schaukelte und die Segel willenlos flatterten. „Etwas schlimmes ist passiert! Irgendwas ist nicht in Ordnung! Wir müssen helfen, das Schiff ist doch voller Kinder!" Unterschiedlichste Gedanken schwirrten in unseren Köpfen. „Ziutek, schnell, lassen wir unser Beiboot zu Wasser und fahren ihnen zu Hilfe, sie ertrinken sonst", rief ich. „Wir müssen sie retten! Ich werde rudern und Du schüttest das Wasser über Bord", fügte ich eilig hinzu als ich merkte, dass über eine Bordseite Wasser eindrang. Mühsam kämpfte sich unser Boot durch immer größer werdende Wellen. Aus ganzer Kraft lehnte ich mich in die Ruder, die Wellen schaukelten unsere Nussschale, so dass Wasser nicht nur über die beschädigte Bordseite eindrang. Ziutek arbeitete mit der Blechdose immer schneller, trotzdem wurde das Wasser mit jeder Schräglage mehr. Noch ein bischen! Wir kommen näher und gleich können wir helfen! Wir sind da, endlich! Ich blickte in Richtung Segelschiff. Die Segel flatterten weiterhin im Wind, doch die Gesichter der Kinder waren entspannt. Einer der älteren Gruppenleiter winkte uns freundlich zu: „Wie gut, dass Ihr gekommen seid, ich muss möglichst schnell ans Ufer. Ich habs eilig in die Arbeit. Das hier dauert doch länger als gedacht“, rief er freudig zu uns rüber und wir schauten ihn verwundert an. Unsere Aufregung ließ uns kein einziges Wort über die Lippen bringen. Schließlich schrie ich: „Aber wir sind für die Kinder … die Kinder müssen wir retten! Also was jetzt? Wer kehrt mit uns zurück?“ Doch die Kinder sahen keineswegs erschrocken aus. Sie waren begeistert vom Geschaukel. „Ihr bewegt Euch doch nicht von der Stelle ...“, fügte ich hinzu. „Alles ist in Ordnung. Wir müssen nur das Tauwerk richten und dann kommen wir ruhig ans Ufer zurück. Macht Euch keine Sorgen um uns“, erwiderte ein anderer Gruppenleiter. „Nehmt nur den Kollegen mit, denn er hats eilig!“ Der erste Gruppenleiter sprang in unser Boot, welches dadurch so ruckartig aufschaukelte, dass schon wieder Wasser eindrang. Er griff die Ruder und schnell fuhren wir Richtung Yachthafen. Es wurde kalt und es begann zu regnen. Durchnässt und durchgefrohren legten wir am Ufer an. Auch der Zweimaster näherte sich nun dem Hafen.

Als wir abends durch die dunklen, nur vom Mond beleuchteten Straßen nach Hause eilten, hallte das Echo unserer Schritte in den leeren Straßen wider. Zu Hause brannte Licht, Mama saß über den Küchentisch gelehnt. Ganz leise ging ich hinein, denn ich spürte schon, dass ich mal wieder was ausgefressen habe. „Ist Papa da“, fragte ich in der Hoffnung, dass er noch nicht von der Arbeit zurückgekehrt war. Mama schaute mich streng an, doch man konnte ihre Erleichterung über meine Rückkehr ekennen. „Papa ist da. Dychu, zieh Dir trockene Sachen an und dann sollst Du gleich zu ihm ins Arbeitszimmer kommen.“ „Na toll“, dachte ich mir, „genau heute muss er nach Hause kommen.“ Ich klopfte an die Tür und hörte ein leises „bitte“; ich betrat das Arbeitszimmer. Das Fenster war mit fleischigen, Plüschvorhängen zugezogen. Kein Wunder, dass ich von draußen nicht bemerkt hatte, dass Papa da ist. Eine stilechte Tischlampe aus Messing mit Lampenschirm beleuchtete das Zimmer sanft. Papa saß neben dem Bücherschrank voller in Leder gebundener Bücher. Schüchtern stellte ich mich neben den ledernen Klubsessel. Papa sah mich an und fragte: „Sag mir bitte, warum kommst Du so spät nach Hause?“

Ich begann zu erzählen: wie ich mich zum Appell verspätet hatte, dass ich die Kinder retten musste, dass die Wellen sich so aufgetürmt hatten und dass es so schnell dunkel wurde … . Ich sprach und sprach, aber Papa war in Gedanken und hörte mir irgendwie gar nicht zu. „Hast Du auch mal an Mama gedacht, dass sie sich Sorgen macht, weil Du so lange von zu Hause weg bist“, fragte er. Ich ließ den Kopf hängen und Papa sprach weiter: „Wenn Du nur an Dich denkst, dann wirst Du jetzt Gelegenheit haben, in Ruhe und Abgeschiedenheit über Dein Vorgehen nachzudenken. Ich will von Mama keine weiteren Beschwerden über Dein Verhalten hören. Und jetzt folgst Du mir.“ Wir verließen das Arbeitszimmer, Papa schritt die Treppe hinab in den Keller. Er öffnete ein Kellerabteil. Lauter leere Kartone lagen umher. Er wies mich an, in das Abteil zu gehen und sperrte die Tür hinter mir mit einem Schloss ab. „Hier bleibst Du und hier wirst Du schlafen“, sagte er und löschte das Licht als er den Keller verließ. Obwohl ich Strafe verdiente, hegte ich gegen Papa Groll, weil er meine noblen Motive nicht wertschätzte. Tastend aber geschickt machte ich mir aus den Kartons ein sogar recht bequemes Bettenlager, auf das ich mich legte und mit einem anderen Karton zudeckte. Hungrig war ich wie ein Wolf, doch zum Abendessen rief mich niemand. Ich war gerade dabei einzuschlafen, als plötzlich das Licht anging. Ich hörte leise, schmächtige Schritte, die sich meinem „Gefängnis“ näherten. Nach einer Weile erkannte ich Rysia. Sie hielt ein belegtes Brot in Händen, welches sie mir durch die Holzplanken hindurch reichte. „Das ist von Mama“, sagte sie, lief aus dem Keller und machte das Licht wieder aus.

Dass sie sich ganz alleine in den Keller wagte!? Bestimmt stand Mama an der Tür und wartete auf sie. In völliger Dunkelheit schlang ich das leckere Canapé herunter und zufrieden legte ich mich wieder aufs Bettlager aus Karton. Nach einigen Minuten ging das Licht an. Mama öffnete das Schloss. Auf ihren Lippen zeigte sich ein zartes Lächeln, sie streckte mir ihre Arme entgegen und flüsterte: „Komm zu mir, mein Armer. Wir gehen jetzt ins Bett.“ Sie drückte mich an sich und ich spürte, dass es wieder gut war.

Am nächsten Tag redeten in der Schule alle über unsere waghalsige Rettungsaktion im aufgewühlten Meer: wie wir uns mit unserem winzigen Boot durch die riesigen Wellen hindurchschlugen, um schließlich den Gruppenleiter mit ans Ufer zu nehmen. Auch meine Eltern erreichten diese Erzählungen. Erst dann begannen sie mir zu erklären, welch großer Gefahr wir uns ausgesetzt hatten. Da Mama Wasser fürchtete, warnte sie mich häufig, nicht an die Bucht und schwimmen zu gehen. Natürlich hörte ich nicht auf sie. Doch ich gelangte zu dem Schluss, dass unser Beiboot nicht optimal war und wir etwas solideres brauchten. Im Schilf unweit des Hafens entdeckte ich eine verlassene Holzyacht. Wasser war in ihre Kabine eingedrungen, aber an Deck konnte man sich problemlos bewegen. „Vielleicht bekommen wir das Wasser raus, so wie beim Beiboot“, dachte ich. Vor meinen Augen sah ich schon meine wunderschöne, mit Messingbeschlägen glänzende Yacht, wie der Wind ihre Segel ausfüllte.

Zwischenzeitlich fand ich am Świniec-Kanal an der Landstraße nach Dziwnów einen metallenen Militär-Ponton - ca. 2m x 2m groß. Bis heute frage ich mich, weshalb er in weiß-rot bemalt war?! Sofort erzählte ich Ziutek von meinem Fund. Gleich nach der Schule inspizierten wir ihn. Einvernehmlich beschlossen wir, ihn an den Kai zu bringen. „Wir müssen ihn an Land transportieren“, entschied Ziutek. „Bei meinem Onkel habe ich einen Anhänger gesehen, sicherlich borgt er ihn uns aus“, fügte er hinzu. „Super! Sprich mit ihm gleich heute. Am besten wäre es, ihn übermorgen zu transportieren, da haben wir nur drei Schulstunden“, sagte ich. „Ich denke, bis zum Abend sollten wir es schaffen.“ Gleich nach der Schule zogen wir den Anhänger an den Kanal. Der Ponton war höllisch schwer. Wir zogen ihn ans Ufer und mit fast übermenschlicher Kraftanstrengung gelang es uns ihn auf das Wägelchen zu schieben. Doch er rutschte immer wieder runter, also zog einer von uns den Wagen, während der andere hinten aufpasste und schob – immer abwechselnd. Die mühselige Reise zum Hafen begann: ständig mussten wir Schlaglöchern ausweichen oder Steigungen bezwingen. Schließlich hatten wir unseren Schatz am Ziel: im Hafen, wo unser „Wasserfahrzeug“ unter unseren Freunden großes Aufsehen erregte. Wir planten eine Yacht draus zu machen. Doch zweifelnde Mienen und negative „Expertenmeinungen" ließen uns diese Idee schnell wieder fallenlassen. Im Schilf wartete doch meine echte, wunderbare Yacht – aber leider voller Wasser. Doch der Ponton erwies sich als äußerst hilfreich, denn er war unversenkbar. Wir machten ihn an der Yacht fest und begannen von ihm aus, das Wasser aus der Yacht zu schöpfen. Naiv glaubten wir, es mit Eimern zu schaffen. Doch im Rumpf musste ein großes Loch sein, denn trotz unserer Bemühungen wurde das Wasser nicht weniger. Schließlich fanden wir uns damit ab, dass wir die versunkene Yacht nicht bergen werden. Zum Trost kam uns unsere kindliche Vorstellungskraft: Dank ihr fanden dennoch Expeditionen zu den entlegensten Orten statt … .

Die Schule fiel mir leicht, dennoch musste ich unseren Referendar um Hilfe bitten. Er zeichnete herrlich, während ich für die Abschlussnote keine einzige Zeichnung abgegeben hatte, welche ich eigentlich im Laufe des Schuljahres hätte zeichnen sollen – ungefähr zehn Stück. Meine künstlerischen Fähigkeiten waren erbärmlich. Ich spürte das Messer an der Kehle. Franciszek wohnte neben der Schule, also lief ich zu ihm mit einem Stapel leerer Blätter Papier. Außer Atem kauerte ich auf dem Stuhl neben dem Tisch, an welchem er saß und zeichnete. „Na, was versteckst Du da, Dychu“, fragte er und sah mich an. Ich zog die Blätter raus und erklärte ihm mein Problem. Franek lachte, nahm einen Bleistift und fragte: „Was soll ich zeichnen?“ Schnell zauberte er mit seiner geübten Hand schneebedeckte Berge und Fichten mit Schneemützen, auf gefrohrenen Seen Schlittschuh laufende Kinder, ein Mädchen mit Hund und einen auf einer Parkbank sitzenden Schneemann hervor. Im Handumdrehen entstand eine Zeichnung nach der anderen. Nun durfte ich in die vierte Klasse!

Endlich waren meine ersten echten Sommerferien da! Auf uns Pfadfinder wartete ein Törn nach Dziwnów und dort das Pfadfinderlager: – echte Militärzelte mit Pritschen. Es gab auch eine militärische Feldküche; am Rand des Lagers befand sich im Wald die Latrine, d.h. ein im Sand ausgehobener Graben und darüber eine lange Holzlatte, auf die man sich setzte. Eine weitere Latte etwas höher, diente als Rückenlehne. Das Lager bestand im Grunde aus einem Jungen- und einem Mädchenlager. Nachts pirschten wir uns ins Mädchenlager, um ihnen die Seile ihrer Zelte loszumachen. Das Geschrei war unglaublich und wir hatten einen Heidenspaß. Unsere Freundinnen wollten es uns heimzahlen, doch wofür gibt es Wachmänner!?

Am meisten Spaß machten Nachtwanderungen, bei denen wir mit dem Kompass navigierten. Wald- und Strandwanderungen sowie Übernachtungen in eigenhändig erbauten Hütten waren fantastische und unvergessene Abenteuer. Hier verliebte ich mich in das Vagabundenleben - eines echten „Włóczykij“ [wutschickie-j].

Das Sommerlager ging zu Ende, doch Ferien in Kamień Pomorski boten unabhängig davon eine Menge Attraktionen. Meine schwimmerischen Fähigkeiten perfektionierte ich von Tag zu Tag. Das war nicht mehr so ein Schwimmen wie im Głęboczek, als ich Papa zeigen wollte, wie gut ich schwimmen kann. Damals im „Känguru-Stil“: dabei stößt man sich mit einem Bein vom Boden ab und springt wie ein Känguru, während man mit den Armen das Wasser auseinander treibt. Interessiert beobachtete Papa meine Anstrengungen, während Rysia mich boshaft auslachte. Diesen Stil kannte sie hervorragend. Sie schwamm genauso.

Jeden Tag waren wir an der Hafenmole, zogen uns aus, legten unsere Sachen sorgsam auf einen Balken der Molekonstruktion und sprangen nackt ins Wasser. Wir sprangen von den hervorstehenden Brettern kopfüber oder auch mit dem Gesäß voran. Das Wasser spritzte nur so. Wir lachten viel. Doch als wir mal wieder im Wasser herumtobten, hatte unser Kumpel Jakub eine blöde Idee. Als er eine Gruppe Mädchen in Richtung Mole gehen sah, versteckte er unsere Sachen, doch was noch schlimmer war, er verriet es den Mädels. Wir sahen die Mädchen kommen und wollten uns anziehen ... . Kichernd ärgerten sie uns und wir Armen, versteckten uns im Wasser, im Schatten der Mole. Lange dauerte es, bis Jakub uns die Sachen zurückbrachte. In der Zwischenzeit war uns ordentlich kalt geworden. Daraufhin schlossen wir den Verräter aus unserer Klicke aus. Dennoch folgte er uns die ganzen verbliebenen Sommerfeien, langweilte sich jedoch ungemein.

Der Herbst überraschte uns mit starkem Wind von der See: kalt und nass. Dauernd pfiff er durch die Spalten in den Fenstern und Mama klagte, dass sie davon Kopfschmerzen bekam. Sie hielt das Geheule nicht aus.

Mal wieder war ich mit den Jungs szabern gegangen. Von weitem sahen wir eine große Menschenmenge. Aus und in ein kleines Häuslein strömten Leute, Frauen flüsterten einander zu. Etliche trockneten ihre Augen mit dem Taschentuch. Neugierig näherten wir uns. Sie sprachen von einem Mann, der Selbstmord begangen hatte. Er hat sich in den Kopf geschossen, weil das Leben für ihn keinen Sinn mehr hatte ohne sein geliebtes Mädchen: Sie wollte ihn nicht.

Wir gingen in den ersten Stock. Im Sarg lag ein junger Mann mit einem Mull-Verband, welcher die Verletzung an der Schläfe verdeckte. Schwarz gekleidete Familienmitglieder standen daneben. Das Mädel, das die Liebe zurückgewiesen hatte heulte. Vor Verzweiflung wankte sie so sehr, dass zwei Frauen sie stützen mussten. „Warum flennt sie jetzt so, wenn sie ihn eh nicht wollte? Wegen ihr lebt er doch nicht mehr“, dachte ich naiver Weise. Einen furchtbaren Eindruck machte auf mich der erste nahe Anblick des Todes. Als unser Urgroßvater Piotr gestorben war, taten die Erwachsenen alles, damit wir den Verstorbenen nicht sahen und dass wir am Begräbnis nicht teilnahmen. Auch meine Freunde wurden ungewöhnlich schweigsam und wir hatten keine Lust mehr aufs szabern. Wir gingen heim.

Zu Hause war uns ein großer Hund zugelaufen und Mama war damit einverstanden Burek aufzunehmen. Er wurde mein treuester Freund und folgte mir überall hin; sogar wenn wir mit den Jungs Steine auf die Häuser der Deutschen werfen gingen. In Kamień Pomorski waren einige deutsche Familien geblieben, aber niemand mochte sie. Ihnen wurde alles Kriegsleid zur Last gelegt. Sie taten mir leid, denn ich glaube nicht, dass gerade diese Leute etwas verschuldet hätten. Meine Freunde erzählten mir von viel Grauen, das die Deutschen während des Krieges begangen haben, doch in meinen kindlichen Kopf passten diese Geschichten nicht hinein. Ich konnte sie nicht glauben, denn sie erschienen mir zu grausam, so dass sie bestimmt erfunden waren. Trotzdem warf ich auch mit Steinen.

Der Winter kam, Schnee war gefallen und es war eiskalt. Bis nach Dziwnów konnten wir nun über die zugefrohrene Bucht Schlittschuh laufen! Nicht nur Schlittschuhe hatte ich, auch einen Schlitten und sogar ein Fahrrad. Alles vom szabern! Mein großartiger, starker Hund zog den Schlitten voller echtem Enthusiasmus, für den ich selbst gesorgt hatte. Ich saß auf dem Schlitten und hielt einen langen Stock, an dessen Ende an einer Schnur ein Stück Wurst baumelte - direkt vor Bureks Schnauze. Er rannte um sie sich zu schnappen. Das Gespann anzuhalten war einfach: lediglich dem Hund die Wurst wegnehmen. Damit machten wir Furore unter meinen Kumpeln. Bei Rysia nicht, sie war lieber zu Hause und laß Bücher. Abends regte sie mich auf, weil sie das Licht nicht ausmachte und ich so nicht einschlafen konnte. Zumindest nahm sie irgendwann eine Taschenlampe mit unter die Decke, um weiter in ihrer Lektüre stöbern zu können.

Weihnachten 1946: Wir hatten einen wunderschön geschmückten Weihnachtsbaum und Papa war jetzt öfters bei uns. Begeistert hatte ich Papa von dem Kino erzählt, das in die Stadt gekommen war. Eines Abends besuchte ein Bekannter Papa und Mama zog mich warm an. Mein Traum eines Kinobesuchs stand kurz davor in Erfüllung zu gehen. Wir gingen in die Dunkelheit, mitten auf der Straße, am Nachthimmel funkelten Millionen Sterne und der Schnee knirschte unter den Füßen. Der Frost erschwerte das Atmen. Den ganzen Weg unterhielt sich Papa mit seinem Bekannten. Ich trippelte nebenher und bemühte mich, mit den Männern Schritt zu halten. Etwas übergangen fühlte ich mich. Im Kino war es voller Leute, ein Bekannter hatte uns erkannt und winkte uns zu sich auf drei freie Plätze in der Mitte der Sitzreihe. Mit einem Druck auf meine Schulter lenkte mich Papa in Richtung der für uns reservierten Plätze. Ich schaute auf die große, weiße Leinwand und drückte mich langsam durch die Reihe. Plötzlich rief mich Papa zurück. Er war an der Seite der Reihe stehengeblieben. Verwundert stolperte ich wieder zurück über die Beine der Sitzenden. Wortlos griff Papa mich an den Schultern, drehte mich um, mit dem Gesicht den Kinobesuchern in unserer Sitzreihe zugewandt und schob mich leicht an, um mir zu verstehen zu geben, wie ich zu meinem Platz gehen sollte. Auf diese Weise trichterte er mir für mein ganzes Leben einen Grundsatz anständigen Verhaltens ein.

Schule, Ferien, Schule, die Zeit lief ihren ausgetretenen Pfad entlang. Die zweiten Nachkriegs-Weihnachtsfeiertage waren gekommen. Mama hantierte in der Küche umher. Im ganzen Haus duftete es nach Kuchen. Auf den Tisch mit weißer Tischdecke stellte sie das feierliche Porzellangeschirr sowie einen kleinen Teller mit der traditionellen Oblate; kurz vor dem Abendessen dann die Schüsseln und Platten voll weihnachtlicher Leckereien. Unsere Augen lachten diese Pierogi, Kuchen und andere Speisen an. Der Tradition entsprechend waren es zwölf. Der Magen knurrte schon, so dass wir zusammen mit Rysia und der kleinen Żaba ungeduldig Ausschau hielten nach dem ersten am Nachthimmel zu erkennenden Stern. Der weihnachtlich gedeckte Tisch war wunderschön. Sich an ihn zu setzen war die Krönung des ganzen Tages, des ganzen Jahres und eigentlich sogar vieler vorangegangener Kriegsjahre! Wir waren alle zusammen: Papa, Mama und wir.

Papa arbeitete außer Haus und kam selten heim. Damals nutzte ich eifrig seine Abwesenheit aus und zog regelmäßig in das elterliche Schlafzimmer um. Angenehm war es mit dem Wissen einzuschlafen, dass Mama neben mir ist. Eines Nachts weckten mich aus meinen glückseligen Träumen Mamas Geflüster und leises, ganz ungewöhnliches Lachen sowie Rascheln der frisch bezogenen Bettdecke.

„Leise, Du weckst Wojtek auf“, hörte ich Mama.

„Ich weck ihn nicht auf, er schläft tief“, brummte Papa und das Bett quietschte.

„Aha! Papa ist zurückgekommen“, dachte ich mir und die Träume siegten. Morgens, als ich erwachte, war Papa nicht mehr da. Wie üblich.

Das Ende meiner glücklichen Kindheit

Immer seltener kam Papa nach Hause, dafür häuften sich ungebetene Besuche. Unsere Haustür sperrten wir nie mit dem Schlüssel ab, doch nachdem zum ersten Mal die Geheimpolizei mit Maschinengewehren bei uns wie ein Tornado eingefallen war, mussten wir unsere Gewohnheit ändern - um Papa Zeit zur Flucht zu geben. Mama war entsetzt und weinte ständig. Häufig kam die Geheimpolizei, sie suchten meinen Vater und schrien Mama an während wir uns an sie drückten, so fest wir nur konnten. Um das brutale Geschrei zu überhören und meine Angst zu unterdrücken starrte ich in diesen Momenten immer auf das Gemälde in Papas Arbeitszimmer: ein kleines Segelschiff in aufgewühlter See. Jetzt nach Jahren, immer wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, sehe ich dieses Landschaftsbild voller Bedrohlichkeit.

Nur noch selten besuchte uns Papa und parkte sein Motorrad natürlich im Garten hinter dem Schuppen. Sobald die Geheimpolizei an die Tür donnerte, floh er die Treppen hinauf, stieg durchs Fenster und kletterte über den Sims durch Nachbars Fenster. So schnell er konnte eilte er über den Hof und durch den Garten zum Motorrad. Er flüchtete. Die Herrschaften Wiśniewscy halfen ihrem Nachbarn jedesmal. Doch unser Gefühl von Sicherheit war verloren. Wenigstens hörten diese Besuche irgendwann auf.

Die Sommerferien verbrachte ich wie üblich im Pfadfinderlager, welches viel zu schnell auch wieder vergangen war. Danach verbrachte ich Zeit mit Freunden im Hafen oder in der Nachbarschaft. Es war ein wunderschöner Augusttag. Zu Hause hatte ich nichts zu tun. Ich setzte mich auf einen Holzblock im Garten und beobachtete des Nachbars Huhn. „Wie ist es eigentlich hierher gekommen”, überlegte ich. Aus der Hosentasche zog ich mein Taschenmesser. „Gleich erschrecke ich den dummen Vogel ein wenig. Was spielt er sich hier so auf”, dachte ich, kniff die Augen zusammen, um mein Ziel anzuvisieren und warf das Taschenmesser. Wie versteinert sah ich das Messer in der Luft aufblitzen und genau in der Mitte seines mit rötlichem Kamm geschmückten Kopfes einschlagen. Mit langgezogenem Gegacker schrie das Huhn auf und breitete die Flügel auseinander. Das Messer fiel aus dem Kopf des Vogels auf die Erde und offenbarte seine blutige Klinge. Einmal noch gackerte das Huhn und fiel dann unweit des Taschenmessers nieder. Ich bin ein Huhnmörder! Im Garten übte ich zwar mit dem Messer auf Bäume zu werfen und es klappte auch recht gut, doch war ich nicht davon ausgegangen, dass ich das Huhn treffen würde. Die gesamte Nachbarsfamilie schrie mich zusammen. Mama bewertete die Situation mit einem Blick und kehrte ins Haus zurück, um die Geldbörse zu holen. Zu Mittag gabs heute Hühnersuppe. Nicht ein Wort sagte sie zu mir, sie lobte mich nichtmal für den zielsicheren Wurf. Sicherlich war sie aufgewühlt. Fast alle Bäume im Garten trugen Spuren meines Taschenmessers - so fleißig trainierte ich.

Der Sommer war noch nicht vergangen, da erinnerte sich die Geheimpolizei wieder an meinen Vater. Wieder begannen Hausdurchsuchungen, bei denen sie unablässig brüllten. In der Stadt schlossen sie unterdessen der Reihe nach alle privaten Geschäfte, Bäckereien und Werkstätten. Mit einem Mal verschwanden die ausgezeichneten, schmackhaften und duftenden Erzeugnisse. Denn sie passten nicht in die kommunistischen Pläne der stalinistischen Besatzungsmacht. Private Tätigkeiten polnischer Gewerbetreibender und Unternehmer entsprachen nicht der Parteilinie. Von da an sollte alles vergemeinschaftlicht sein; ganz gleich wie schlecht, Hauptsache staatlich.

Es kam der schmerzhafteste Tag für unsere Familie. Unerwartet war Onkel Edek gekommen. Papa sei in ernstem Zustand im Krankenhaus in Bydgoszcz. Mama fuhr sofort hin. Die kleine Żaba wurde unter Oma Ludwikas Obhut gegeben, während mich und Rysia unser Onkel zu sich nach Bydgoszcz mitnahm. Lebendig habe ich Papa nicht mehr gesehen. Niemand sagte mir, was passiert war. Warum war Papa im Krankenhaus? Er war gesund, jung und fuhr Motorrad. Und wieso benachrichtigte uns gerade der Onkel? Warum hat er uns mitgenommen? Warum war Papa plötzlich in Bydgoszcz? Niemand wollte uns diese Fragen beantworten. Man ruinierte unsere Leben, indem man uns über die Gründe im Dunkeln ließ.

Erst im Seniorenalter erfuhr ich von meiner Cousine Gercia: Ungefähr zwei Wochen lag mein Vater im Krankenhaus. Er konnte nicht essen und hat stark abgenommen. Aus Zembrze kam sein älterer Bruder Bolesław mit Gertruda, der Tochter seines jüngeren Bruders Józef, ihn besuchen. Papa bat Gercia (Gertruda) ihm Essen mitzubringen, denn dem was ihm im Krankenhaus serviert wurde, traute er nicht. Sie kochte bei ihrer Tante in Bydgoszcz und versuchte Papa mit zarten, aber nahrhaften Brühen zu Kräften zu bringen, doch es war zwecklos. Er litt sehr, doch er wusste, dass er im Krankenhaus nicht länger bleiben konnte, dass er fliehen musste. Mit letzter Kraft zog er sich an und verließ das Gebäude. Doch er war zu schwach und konnte sich nicht auf den Beinen halten. Schnell wurde seine Flucht bemerkt und man legte ihn zurück ins Bett. Am darauffolgenden Tag, am 12.November 1948 starb Papa. Er wurde nur 42 Jahre alt.

Am nächsten Tag rief Onkel Edek mich und Rysia zu sich und gab uns kurz und knapp bekannt: „Euer Vater hatte einen Unfall und ist nach der Operation gestorben. Morgen ist das Begräbnis. Danach bleibt Dychu in Bydgoszcz bei mir und wird hier zur Schule gehen”.

Was für ein Unfall? Ich dachte mit dem Motorrad … .

Im Grunde genommen kannte ich meinen Vater kaum: Zunächst war es der Krieg und das Oflag und danach die Arbeit und politische Tätigkeit, welche mir nicht erlaubten, ihn besser kennenzulernen. Er war nie da. Wie geht es jetzt weiter? Soll ich in Bydgoszcz bleiben? Was passiert mit meinem Hund? Und meine Freunde, wir hatten doch so viele Pläne!? Was wird aus Mama? Bittere Tränen liefen mir übers Gesicht. Meine kleine Welt war wieder zusammengefallen. Punkt, Ende, so soll es sein, es ist wie es ist! Es gab keine Diskussion. Ich fühlte mich wie ein weggeworfenes Staubkorn, ein Holzblock, eine unbedeutende Person, die niemandem wichtig ist … .

Papas Begräbnis: Die weinende Mama, Antosia – Onkel Edeks Magd – mit Żaba in ihren Armen, Rysia und ich. Neben uns stand Onkel Edek und Tante Basia. Aus Legnica war Tante Ola, Mamas jüngste Schwester, in schönem Pelzmantel angereist. Papas Brüder Bolek aus Zembrze und Józef aus Radoszki waren auch da. Aus Tuchola waren Oma Ludwika und Opa Kazimierz gekommen. Erst nach vielen Jahren erfuhr ich von Tante Ola, die dann in Gdańsk-Wrzeszcz lebte, die Wahrheit über den Tod meines Vaters; die so sorgfältig verborgene Wahrheit. Es war Mord. Die Geheimpolizei hatte meinem Vater eine Falle gestellt. Fünf Schüsse wurden auf ihn abgefeuert. Es spielte sich in den Jahren 1945-48 ab, als den Händen des NKWD (aus dem 1954 der KGB hervorging) und der Geheimpolizei („Sicherheitsbehörde”) KBW (Korpus Bezpieczeństwa Wewnętrznego – Korpus für Innere Sicherheit) so viele Menschen zum Opfer fielen wie nie. Zugehörigkeiten zur Polnischen Heimatarmee oder andere als kommunistische Ansichten über die neueste Geschichte wurden streng bestraft durch die unterwürfigen Gerichte. Für Oppositionsgeist bekam man nicht nur - wie in späteren Jahren - eine „vier-acht“ (also 48 Stunden Arrest) oder schlimmsten Falls eine mehrjährige Gefängnisstrafe. „Volksfeinde“ erwartete eine Kugel oder eine Deportation nach Sibirien, das unmenschliche Land.

Mein Vater bekam eine tödliche Serie in den Bauch. Wir wurden zu Waisen. Mama wurde ihr Leben zerstört. Meine glückliche Kindheit nahm ein jähes Ende. Ich war zwölf.

Bitteres Waisenbrot – Bydgoszcz

Beim Onkel in Bydgoszcz wollte ich nicht sein, das war nicht mein zu Hause! Machtlos versuchte ich mich dagegen aufzulehnen. Schließlich wohnte ich doch in seiner geräumigen Wohnung, Platz jedoch gab es dort für mich keinen. Mal stellten sie mir ein Bett im Salon oder Speisezimmer auf, mal in der Küche - wenn sie Besuch hatten. Außerdem gab es Onkels Arbeitszimmer und ein Schlafzimmer, doch da hatte ich keinen Zutritt. In der Küche regierte Marysia, den Haushalt führte Antosia. Marysia war eine ältere Dame, die ich aber schon aus Kriegeszeiten kannte. Als Großelterns Pflegekind wohnte sie bei uns in Tuchola. Auch Antosia stammte aus Tuchola. Der Biskup (der Onkel) hatte sie als 19-jähriges Mädchen eingestellt.

Die Wohnung war riesig: vier Zimmer, zwei Bedienstetenkammern, eine Küche, eine Speisekammer, ein Bad und eine Toilette. Es gab zwei Eingänge: einen festlichen aus dem marmornen Treppenhaus und den Bediensteteneingang zur Küche. Das Gebäude, in dem sich die Wohnung befand war ebenfalls riesig. Die steinernen Balkone gingen auf die Focha-Str. hinaus, wo sich auf der Schmalspur die klappernden Straßenbahnen entlang schoben. Gegenüber des Hauses fließt die Brda und über sie drübergeworfen war eine Brücke. Auf der anderen Flussseite sah man die alten Speicher und die gothische Backsteinkathedrale. Vielleicht war es auch schön in Bydgoszcz, doch ich sehnte mich nach Kamień Pomorski. Onkel Edek mochte ich nicht. Seine Frau, Tante Basia, hingegen war mir sympathisch. Sie war hübsch, fröhlich und sang gerne; nur gelegentlich wirkte ihr Frohsinn etwas aufgesetzt. So schön hatte sich ihre Filmkarriere angekündigt, sie erhielt verschiedenste Rollen im Theater und Spielfilmen (z.B. in „Pieśniarz Warszawy“ - 1934), doch plötzlich war sie Hausherrin in einer Provinzstadt, Ehefrau eines Arztes. Kein Wunder, dass sie sich nach ihrem damaligen Künstlerleben und der vom Krieg unterbrochenen Karriere sehnte.

Am liebsten hatte ich es wenn der Onkel nach Warszawa fuhr. Dann schlich ich in sein Arbeitszimmer und sah mir neugierig die auf dem schönen, stilvollen Schreibtisch aufgestellten Gegenstände an. Das schöne Tintenfäßchen samt marmornen Untersetzer, eine Federrinne, eine Schatulle für Stahlfedern, ein Papiermesser und eine schwere Löschwiege: alles in einer Ordnung aufgestellt, für die nur der Onkel bekannt war. Nichts durfte umgestellt werden. Nicht selten ermahnte er Antosia ihrer „nachlässigen" Putzweise wegen: keinesfalls durfte sie seine unbezahlbaren Gegenstände auch nur ein Stückchen verstellen. Mit der Zeit begannen des Onkels Bemerkungen auch mich zu betreffen. Für alles was ich getan oder nicht getan habe, wurde ich bissig zurechtgewiesen. Ich stellte mich auf die Hinterbeine, lebte aber mit dem Gefühl verletzt und ungerecht behandelt worden zu sein.

In dieses zu Hause kehrte ich nur ungern zurück. Solange wie möglich trieb ich mich in den Straßen umher. Einmal ging ich an der Brdabrücke vorbei. „Was soll ich nur tun? Kann ich was ändern“, fragte ich mich. Ich hielt am eisernen Brückengeländer und schaute auf die gemächlich vorbeifahrende Barkasse. Ich beugte mich weit vor und bemerkte hervorstehende eiserne Haken. „Ich zeigs dem Onkel, soll er sich mal etwas Sorgen um mich machen! Menschen sind hier viele, also werden sie mich bemerken und vielleicht dringt der Trubel wegen dem, was ich mache auch zu ihm durch! Vielleicht würden sie sogar auf den Balkon gehen, um nachzusehen, was die Menschenansammlung auf der Brücke zu bedeuten habe.“

Ich kletterte über die Barriere und setzte mich auf einen hervorstehenden Haken. Die Beine baumelten hinunter und ich glotzte ins Wasser. Wie erwartet bemerkten die Passanten sofort meine Klettereinlage und es versammelten sich viele Menschen auf der Brücke. Sie warnten mich, dass ich runterfallen und ertrinken würde. Einen Augenblick lang beobachtete ich die Leute, griff mit den Händen nach dem Haken und ließ mich herabgleiten. Eine Zeit lang hing ich an meinen Armen. Die Leute versteinerten vor Entsetzen. „Oh nein! Ob sie wohl denken, dass ich springen werde? Na, genug von dieser Vorstellung“, dachte ich und zog langsam die Beine wieder hoch, so dass ich wieder bequem auf dem Haken sitzen konnte. Nun konnte ich problemlos die Barriere ergreifen und sprang zurück auf den Gehsteig der Brücke. Die Leute traten zurück, es wurde still und ich lief davon. Als ich abends in die Wohnung kam, wussten bereits alle von meiner Vorstellung. Insbesondere Basia war erschrocken, dennoch sagte niemand ein Wort. Aber in der Tat wurde es zu Hause viel angenehmer.

Abwechslung in den monotonen Tagesablauf brachte Tante Ola und Onkel Paweł Wolski aus Kamień Pomorski. Sie erzählten mir, dass Mama mit Rysia und Żaba nach Piła umgezogen war, um näher bei ihrer Lieblingscousine, Aneta Skibicka, zu sein. Unser vollständig eingerichtetes Haus hatte sie ihrer Schwester überlassen. Alleine konnte sie nur wenig mitnehmen: einige Erinnerungsstücke, ihre liebsten Sachen sowie ihr Lieblingsgemälde - Mohnblumen. Traurig machte mich, dass ich nichtmal mehr die Sommerferien an meinem Herzensort verbringen werden kann. Doch Tante und Onkel brachten so viel Trubel ins Haus, dass meine Traurigkeit schnell wieder verflog. Sie waren jung, gut aussehend, fröhlich und man konnte sehen, dass sie einander liebten. Im Krieg hatten sie sich in Warszawa kennengelernt, wo die Tante Verkäuferin in einem Geschäft war. Ihre Freundinnen machten sie mit dem sehr gut aussehenden Herrn Paweł bekannt. Von da an liefs ganz von selbst. Im Warschauer Aufstand kämpfte Paweł in einer Aufständischeneinheit bis zur offiziellen Kapitulation, dank derer er mit dem Leben davon gekommen war. Sich vorher ergebende Aufständische behandelten die Deutschen wie Banditen und erschossen sie an Ort und Stelle. Ola und Paweł fanden sich wieder und heirateten. Onkel Paweł war sehr großgewachsen und als einziger der Erwachsenen (für mich ganz ungewohnt!) interessierte er sich für mich und hörte mir aufmerksam zu. Eines Tages gingen wir - die ganze Schar - spazieren. Im Café an der Ecke kaufte mir Onkel Paweł echtes Speiseeis in der Waffel. Drei Kugeln, herrlich kühl und wunderbar fruchtig. Glücklich ging ich neben meinem Onkel. Das ware mein erstes Eis - ein unvergessener Moment!

Bei den ausgedehnten Abendessen schwelgten die Erwachsenen in Erinnerungen an ihre Zeit in Warszawa. Basia erzählte von Theater- und Filmrollen, sie lachte, doch ihre Augen waren traurig. Ola und Paweł erzählten vom Warschauer Aufstand. Nur der finster dreinschauende Edek Biskup saß wortlos im Fauteuil.

Die Biskups zogen um in die Straße-des-24.Januar (gegenwärtig Straße-des-20.Januar), in eine ruhiger gelegene und noch größere Wohnung. Denn Onkel Edek wurde befördert. Er war nun leitender Arzt der Wojewodschaft in Bydgoszcz. Die Wohnung erstreckte sich über die Hälfte des gesamten Stockwerks. Ein weiterer Vorzug: in der Nachbarswohnung gegenüber wohnte Tante Iza mit ihrem Ehemann - Redakteur der Bydgoszcz`er Tageszeitung „Ilustrowany Kurier Polski“. Sie waren ein wunderbares Paar: kultiviert, elegant, hübsch.

In der neuen Wohnung waren wir nun drei Kinder. Rysia und Magda, die Tochter einer von Basias warschauer Freundinnnen, wohnten nun auch bei Tante und Onkel. Wir waren alle Halbwaisen, die der „edelmütige“ Onkel Edek bei sich aufgenommen hat, damit die verwitweten Mütter ihre so plötzlich vereinsamten Leben ordnen können. Die Mädchen wohnten in einem Zimmer mit Fenster zum Innenhof und ich schlief in einem Zimmer mit der Tür direkt ins Badezimmer. Außerdem befand sich in der Wohnung ein Schlafzimmer sowie ein großes Speisezimmer, das durch Schiebetüren mit Onkels Arbeitszimmer verbunden war. Im Speisesaal thronte ein ovaler, ausziehbarer Tisch sowie Vitrinen mit dem Tischporzellan und schönen Gläsern. Im Arbeitszimmer, rechts vom Eingang stand Onkels Schreibtisch und gleich beim Fenster der glänzende, schwarze Flügel. Eine Lederklubsesselgarnitur mit kleinem Cocktailtisch rundete die Einrichtung ab. Mit offenen Schiebetüren waren Arbeits- und Speisezimmer der ideale Ort für gesellschaftliche Anlässe. An Marysias große Küche war ihre kleine Bedienstetenkammer angeschlossen. Auf der anderen Seite des Badezimmers befand sich Antosias Bedienstetenkammer. Alle Zimmer lagen an einem langen Flur. In der neuen Wohnung hatte Antosia viel zu putzen und wir Kinder – wie Kinder eben so sind – erleichterten ihr diese Aufgabe nicht wirklich. Rysia und Magda waren gleichaltrig - ein Jahr älter als ich aber schon viel größer. Schnell hatten sie sich angefreundet, ständig ärgerten sie mich. Zu Adend bekamen wir meistens einen großen gemeinsamen Teller mit einer Pyramide aus belegten Broten. Die Mädels hatten ihren Anteil schnell aufgegessen, während ich noch immer an meinem ersten Canapé kaute. Natürlich aßen die Mädchen weiter und anstatt ein zweites Brot zu essen, blieb ich vor einem leeren Teller zurück. Von da an, immer wenn die Mädchen nach dem nächsten Brot griffen, nahm ich auch eines auf Vorrat und legte es auf meinen Teller. Während meine Pyramide wuchs lauerten die Mädchen nur darauf, mir sie wieder zu verkleinern.

Eines Tages rief Tante Basia uns drei in den Salon: wir sollten es uns in den Sesseln bequem machen und selbst setzte sie sich auf die Couch. Sie sah mich an und sagte:

„Ich habe Euch hergebeten, um eine gewisse Sache Dich betreffend zu vereinbaren. Ja wirklich, weder Bubi, wie sie Dich als Kleinkind nannten, noch Dychu, wie Du bis jetzt genannt wirst, ist Dein richtiger Vorname. Jetzt bist Du herangewachsen, also sollte man Dich nun Dionizy nennen.“ Die Mädchen begannen zu kichern, doch die Tante beruhigte sie schnell: „Na, na, lacht nicht, denn Dich Rysia nannte man bis vor nicht allzu langer Zeit Lilu. Rysia ist die Verkleinerungsform von Marysia, also solls so bleiben“ und die Tante sprach weiter, „Dionizy ist so ein nicht alltäglicher, ernster Name und passt nicht wirklich zu Dir. Aber Du hast noch einen zweiten Vornamen: Wojciech. Ich finde, dass wir zu Dir Wojtek sagen sollten! Also heisst Du ab heute Wojtek!“ „Wojtek geht in Ordnung“, dachte ich. Dieser Name gefiel mir sogar besser als mein vorheriger, um so mehr, da Mama mich manchmal auch so nannte.

Samstags kamen zu Tante und Onkel Gäste zu Besuch: Basia sparte dann nicht mehr am Essen, sondern tischte üppig auf. Nach dem schmackhaften Abendessen gingen alle ins Arbeitszimmer Bridge spielen, singen oder sogar tanzen. Wir nutzten dann die Gelegenheit, schlichen unter den Tisch und stibitzten Leckereien vom Tisch wie es sich nur ließ.

Eines Tages sagte mir der Onkel, ich solle beim Schulleiter vorstellig werden. Ich klopfte an die Tür, hörte ein entschiedenes „Bitte!“, drückte die Türklinke herunter und trat ein. Herr Lech, so sein Nachname, sprach mit mir sehr herzlich und erwähnte zum Schluss, dass er ein Freund meines Vaters war und dass sie gemeinsam im Oflag (Offizierslager) II C Woldenberg waren. Erst später erfuhr ich, dass mein Vater wie jeder Kriegsgefangene eine Nummer erhalten hatte, welche ihn die ganzen Jahre der Kriegsgefangenschaft über begleitete: 87/XVIII B Ltn: 87. registrierter Gefangener im Oflag XVIII B Wolfsberg vom Dienstgrad Porucznik - vergleichbar eines (Ober-)Leutnants. Der Direktor fügte hinzu, dass das erste Gefangenenlager, in dem sie waren, sich in Wolfsberg in Kärnten befand: Oflag XVIII B.

Ich kam in eine Klasse, in der ein sportlicher, mir gleichgroßer, rothaariger Bursche die erste Geige spielte. Er betrieb Boxsport, was ihn seiner Meinung nach an die Spitze der Schulklassenhierarchie stellte. Gleich in der ersten Pause näherte er sich mir, schaute mir gerade in die Augen und drückte langsam, nachdrücklich und drohend folgende Worte zwischen seinen Zähnen hindurch: „Hey Kleiner, muck hier bloß nicht auf! Ich habe hier das Sagen!“ „Niemals“, warf ich ihm geradewegs ins Gesicht zurück, während gleichzeitig meine Faust auf seinem Kinn landete. Wir kloppten uns so lange, bis der Schulleiter in unsere Klasse kam, und uns auseinander brachte. Er würde solch ein Verhalten nicht tolerieren. Doch wir konnten es nicht dabei belassen: einer von uns muss gewinnen, Ehrensache. Ich ergebe mich niemals! Unsere Zweikämpfe verlegten wir ins hinterste Eck des Schulhofs, sogar noch hinter das Toilettengebäude, neben den Mülltonnen. Dort schlugen wir uns in jeder großen Pause. Als wir vor Anstrengung keuchten, spürten wir die Sinnlosigkeit des sich gegnseitigen Verkloppens. Das Duell blieb weiter unentschieden. Die Kämpfe dauerten einige Tage an. Alles tat mir weh und überall hatte ich blaue Flecken, doch ich wusste: ich gebe nicht auf! Endlich war der von mir lang ersehnte Augenblick gekommen, als mein Gegner sich nicht mehr prügeln wollte. Er ergab sich und flüsterte mir zu: „Du bist besser“.

Meine Stellung in der Klasse war nun gefestigt. Jetzt muckt mir kein Bursche auf und mit dem Lernen hatte ich noch nie Schwierigkeiten. Mathematik und Physik liefen wie von selbst. Schlechter wars mit dem Fach Grammatik, doch auch dafür fand ich einen Weg: Den Mädchen half ich bei der Mathematik, dafür retteten sie mich vor Problemen im Fach Grammatik. In den Pausen spielten die Jungs Fußball auf dem Schulhof oder saßen auf den Bänken und spielten Münzfußball. Ich entschied mich meistens für den echten Ball. Unser Musiklehrer bestand darauf, dass ich den Schulchor verstärke. In der Probe sang ich so herrlich falsch, dass ich schleunigst wieder zurück aufs Fußballfeld geschickt wurde. Während eines Spiels traf mich ein Kumpel schmerzhaft am Sprunggelenk. Ich hinkte stark. Es schmerzte so sehr, dass ich schließlich auf einem Bein hüpfen musste. Zu der Zeit sollte ich zur ersten Kommunion. Zu Hause beachtete niemand, nicht mal der Onkel – der Arzt, mein Humpeln. Ich bemühte mich zu verbergen, dass mir was ist. In die Kirche hüpfte ich auf einem Bein. Niemand half mir. Erst einige Zeit später brachte mich Tante Basia zum Fotografen, um das Kommunionsfoto zu machen. Das Sprunggelenk war schließlich verheilt und ich konnte wieder laufen.

Als ich ein andernmal alleine in unserem Innenhof Fußball spielte, bemerkte ich auf dem Nachbarsbalkon Würste. Damals waren Kühlschränke noch nicht alltägliche Küchengerätschaften, so dass die Leute oftmals Wurstwaren auf ihren Balkonen aufbewahrten. Mit jedem Blick auf des Metzgers Meisterstück wurde ich hungriger. Es lockte! Der Balkon war zwar im ersten Stock, doch indem man auf den Holzzaun kletterte, konnte man über den oberen Querbalken hinauf zum Balkongeländer gelangen; sich die Wurst in den Ausschnitt stecken und dann zurück auf den Zaun und in den Innenhof der Nachbarn herabspringen. Mein Plan war geschmiedet. Doch „das ist Diebstahl“, bremste mein Gewissen meine Bestrebungen. „Aber so viel Wurst“ lockte mich immer mehr. Es wurde dunkel und die Fenster schienen leer. „Das geht ganz schnell, niemand wird’s bemerken“, flüsterte mir die in Aussicht stehende Schlemmerei ein. Ich kletterte zum Balkon und schnappte die Beute. Nur noch zurück über den Balken und ein entschiedener Sprung in ein fremdes Gebiet - Nachbars Innenhof. Plötzlich hielt mich etwas fest. Anstatt auf die Beine, fiel ich mit dem Rücken voran. Ich schlug auf dem Betonboden auf. Es tat so weh! Weder bekam ich Luft, noch konnte ich mich bewegen. Über mir erblickte ich eine Wäscheleine. Sie hatte mich zu Fall gebracht.

Die Dunkelheit verdeckte die Sackgasse, in der ich mich befand. Doch endlich konnte ich wieder einatmen und drehte mich vorsichtig auf den Bauch. Unter höllischen Schmerzen gelang es mir aufzustehen. Aber ich hatte die Wurst! Der Rücken setzte mir bei der kleinsten Bewegung zu, doch den Großteil der Leckerei schlang ich sofort herunter. Sie war köstlich, über-köstlich! Der Genuss an jedem weiteren Bissen linderte meine Schmerzen. Aber mehr konnte ich nicht essen, also steckte ich den Rest in die Tasche. Ich schlich mich in die Wohnung, denn ich fürchtete, dass jemand den Geruch der versteckten „Beweistückchen meines Vergehens“ bemerken würde. Im Flur war es ruhig, lediglich hinter verschlossenen Türen hörte man Stimmen: „Ich geh duschen“, gab ich laut bekannt und ging ins Bad. Der pedantische Onkel verlangte von uns, sich täglich zu duschen. „Soll er`s ruhig verlangen, ich werde erst recht nicht duschen“ - um ihn zu ärgern: Wie jeden Abend drehte ich den Wasserhahn auf und setzte mich an den Wannenrand. Den Dreck zwischen Sprunggelenk und Ferse konnte ich nicht mal mehr mit den Fingernägeln abkratzen. Ich konnte mich nicht beugen, vorsichtig wusch ich mich und putzte dann gründlich meine Zähne. Darauf könnte ich nichtmal um den Onkel zu ärgern verzichten. Ich legte mich ins Bett, doch es schmerzte weiterhin. „Wie gut, dass morgen Sonntag ist“, dachte ich. Doch der Sonntag verging und ich konnte mich kaum bewegen. In der Schule erzählte ich den Jungs, dass ich einen Unfall hatte. Sogar der Lehrer bemerkte, dass mit mir etwas nicht stimmt und schickte mich zum Arzt. „Ich wohne doch bei einem Arzt“, antwortete ich.

Ein halbes Jahrhundert später fiel ich beim Rollschuh laufen heftig auf den Rücken: Ich assistierte meinem kleinen Sohn beim Fahrradfahren. Plötzlich bog Albert auf der steilen Straße scharf ab. Er raste auf einen niedrigen Zaun zu. Ich sah schon, wie er sich auf den scharfen Zaunlatten aufspießen würde. Blitzschnell holte ich ihn ein und hob ihn samt seines Fahrrads in die Höhe, jedoch lehnte ich mich dabei zu weit nach hinten. Schließlich fand ich mich im Krankenhaus wieder. Ein Wirbel war gebrochen. „Aber Sie hatten schon mal einen gebrochenen Wirbel“, hörte ich vom Arzt. Damals - wegen der Wurst - zog ich mir also den ersten Wirbelbruch zu. Der Arzt behielt mich im Krankenhaus. Ohne Bewegung lag ich ganze zehn Tage im Bett, bevor ich aufstehen durfte. Damals überzeugte ich mich selbst davon, dass man schon in so kurzer Zeit das Gehen verlernt.

Allmählich gewöhnte ich mich an mein „neues Leben“ in Bydgoszcz. In der Schule hatte ich eine gefestigte Stellung unter meinen Schulkammeraden. Zu Hause hatte ich gelernt, dem finsteren Onkel aus dem Weg zu gehen, mit Tante Basia konnte ich mich immer einigen. Rysia und Magda störten mich nicht, sie hatten ihre Mädchen-Angelegenheiten. Von der Schule eilte ich nach Hause; aß das von Marysia servierte Mittagessen, machte schnell meine Hausaufgaben und der im Haus umherschwirrenden Antaosia warf ich im Vorbeilaufen zu: „Ich bin in der Modellwerkstatt“; und schon war ich weg. Spät abends kam ich heim.

Als wir noch in der Jagiellońska-Str. (Focha-Str.) wohnten, entdeckte ich in der Gdańska-Str. ein Lokal der „Liga Lotnicza“ (Flugsport-Liga: öffentlicher Luftfahrt-Verband). Lange unterhielt ich mich über mein Interesse an der Fliegerei. Ich erzählte von meinen ersten Flugmodellen, die ich gemeinsam mit meinem älteren Kumpel im Speicher in Tuchola gebaut hatte sowie von den Piloten, deren Kampf ich am Kriegshimmel beobachtet hatte. Die Herren führten mich zur Flugmodellwerkstatt in derselben Straße; ebenfalls ein früheres Geschäftslokal mit großem Schaufenster und einer Eingangstür direkt von der Straße. In ihr thronten Tische, an denen Jungs unter der Anweisung älterer, erfahrener Kollegen Drachen bauten und die Fortgeschritteneren komplizierte Segelflugzeug- und Motorflugzeugmodelle. Hier baute ich mein erstes, selbst konstruiertes Segelflugzeugmodell. Bei gutem Wetter trugen wir stolz unsere Modelle außerhalb der Stadt, um ihren Widerstreit mit den Luftmassen zu beobachten. Häufig kehrten wir zurück mit zerbrochenen Modellen, die ihren Kampf mit dem Wind und der gnadenlosen Erdanziehungskraft verloren hatten. Die Modellwerkstatt wurde mein neues zu Hause.

Es kamen heiße Sommertage. Abends füllten sich die Straßen mit spazierenden Pärchen und Mädels in farbenfrohen Kleidern schmückten die grauen, mit nur wenigen und dazu noch ärmlichen Leuchtreklamen beleuchteten Straßen. Unsere Antosia machte einen unruhigen Eindruck als sie eines Tages das Abendessen auftischte und auffällig häufig auf die Wanduhr blickte. Schließlich verschwand sie in der Bedienstetenkammer. „Antosia hat heut abend eine Verabredung“, teilten mir Magda und Rysia die ungewöhnliche Neuigkeit mit. Ja! Unsere Antosia hat einen Verehrer. Und schon hörten wir schnelle Schritte im Flur und wie die Wohnungstür leise geschlossen wurde. Wir liefen auf den Balkon zur Straße hin. Vor dem Haus ging ein Herr in einer Radrennmütze auf und ab. Antosia kam aus der Haustür. Sie war nervös und unnatürlich steif. Der Herr näherte sich ihr, berührte charmant seinen Mützenschirm und nahm Antosia an der Hand. Sie schritten die Straße herab. Wir begannen zu applaudieren und zu kichern. Antosia würdigte uns keines Blickes. Doch selbst von hier oben konnte man sehen, dass sie rot geworden war wie eine Tomate. Erst spät kam sie nach Hause, wir schliefen schon. Am nächsten Tag wollten wir sie ärgern, doch sie drückte nur zornig ihre Lippen zusammen und wendete sich ab; sie erzählte nichts. Eine weitere Verabredung gab es genauso wenig.

Zu Hause war Tramp aufgetaucht, ein schwarz-weiß gefleckter Spaniel: kein Welpe mehr, sondern ein erwachsener, wohlerzogener Hund; meine Freude und der Liebling aller Hausbewohner. Na, vielleicht aller bis auf Edeks, der entweder in der Arbeit war oder am Schreibtisch, wo man ihn bloß nicht stören durfte. Wenn ich von der Schule heimkam, grüßte mich Tramp freudig - mit dem Stumpf des ihm abgeschnittenen Schwanzes unaufhörlich wedelnd. Den Hund auszuführen wurde meine angenehme Verpflichtung. Ich nahm ihn überall hin mit, dass er nicht traurig im Eck lag. Am liebsten ging ich mit ihm zum Modellfliegen. Er tobte umher und lief den am Schlepptau startenden Modellen bellend hinterher. Eines Tages bat mich Marysia bestellte Backwaren abzuholen. Ich nahm die Leine und legte Tramp das Halsband an. Vor der Bäckerei warf ich die Leine aufs Ausstellungsgitter und ging die Treppen hoch. Die Tasche mit den Backwaren hatte ich schon in der Hand, als Tramps schmerzdurchdrungenes Jaulen durch mich durchschoss. Ich rannte zu ihm und sah, wie er zu Tode erschrockene und vor Schmerz gekrümmt nach Hause lief, die Leine schliff am Boden. Nur mit Mühe legte er sich auf seine Liegestätte. Der Arme winselte und ließ sich im Bauchbereich nicht berühren. Irgendein Hornochse, denn anders kann man so jemanden nicht nennen, muss ihn getreten haben, als er brav vor dem Geschäft auf mich wartete. Wir waren ratlos, Tante Basia zitterte sogar. Der Onkel war auf Dienstreise. Gab es in Bydgoszcz irgendeinen Veterinär? Alle beobachteten weinend unseren verletzten Hund. Der arme Tramp wurde immer leiser und schwächer, bis er von uns gegangen war - in den „Hundehimmel“.

Mit dem neuen Schuljahr war Magda nach Warszawa zurückgekehrt. Rysia war zu Mama nach Piła in die neue Wohnung umgezogen, in die Ludowa-Str. 66. Mama hatte unser Haus mit wunderschönem Garten sowie einem riesigen Obst- und Gemüsegarten eingetauscht in eine Dreizimmer-Erdgeschosswohnung in einem dunklen, hässlichen und zerlumpt aussehenden Gebäude. Über mich hinweg wurde entschieden, dass ich beim Onkel bleibe.

Düstere Herbsttage folgten, hinter den Fenstern herrschte Sauwetter. Die Schule fiel mir leicht, sogar mit dem Zeichnen gings einigermaßen - dank der diskreten Hilfe des Schuldirektors, der in seiner Freizeit wunderbare Gemälde hervorzauberte. Etliche bewunderte ich an seinen Wohnungswänden, wenn ich seinen Sohn - meinen Kumpel - besuchte.

Mit einer gehörigen Salbentube kam der Onkel in die Küche: „In Wojteks Schule grassiert die Krätze“ und ordnete an, ich solle eine Woche lang gründlich eingeschmiert werden, wofür Antosia Sorge zu tragen habe. Diesmal musste ich richtig duschen, legte mich auf den Bauch ins Bett und wartete auf die Creme. Antosia zog die Decke zur Seite. War es die Salbe oder die zarte Frauenhand? Auf meiner erwärmten Haut bekam ich eine leichte Gänsehaut. Es folgte die nächste Portion Creme, die durchs Einmassieren immer wärmer wurde. „Dreh Dich um“, hörte ich. Am nächsten Abend wurde die Prozedur wiederholt: die Rück- und dann die Vorderseite; die Hand glitt immer kühner meinen noch jungenhaften, aber doch schon fast männlichen Körper auf und ab. Die Berührungen wecken unbekanntes, ungewohntes Vergnügen. Die Tube leerte sich, nur noch für wenige Behandlungen war Creme übrig, doch der anfänglich so scharfe Schwefelgestank störte mich überhaupt nicht mehr. Ganz im Gegenteil sehnte ich mich abends nach Antosias Händen. Mit zunehmender Anspannung erwartete ich das Gefühl weiterer Entdeckungen. Und sie hatte das bemerkt: „Komm in mein Zimmer, dort creme ich Dich ein, aber erst, nachdem alle eingeschlafen sind“, umwickelte mich Antosias warmes Flüstern. Nicht nur einmal besuchte ich sie, schließlich war ich doch schon fast in der achten Klasse. Höchste Zeit für die nächste Etappe der Erziehung. Die Nachmittage und Abende verbrachte ich in der Modellwerkstatt und nachts schlich ich in Antosias Zimmer, um die Süßigkeiten des erwachsen seins zu kosten.

Immer öfter fuhr der Onkel nach Warszawa. Manchmal blieb er eine Woche oder noch länger. Kurz vor Ende des Schuljahres gab Basia bekannt, dass der Onkel befördert wurde zum Abteilungs-Direktor des Gesundheitsministeriums und wir anfang Juli nach Warszawa umziehen. „Du wirst das General-Sowiński-Gymnasium im Stadtteil Wola besuchen“, erfuhr ich. Uns alle bewegte diese Nachricht. Antosia wollte nicht in die weit entfernte Hauptstadt, sie kündigte und kehrte zurück ins heimatliche Tuchola. Basia begann unter Marysias Mithilfe zu packen. Schlussendlich verschob sich der Umzug noch um einige Monate.

Endlich Pilot – das Abzeichen mit einer Möwe

Gleich nachdem ich mein Abschlusszeugnis der siebten Klasse erhalten hatte fuhr ich nach Przasnysz auf ein Sommerlager der Liga Lotnicza (Flugsport-Liga). Wunderbare zwei Wochen verbrachte ich dort, ausgefüllt mit Veranstaltungen zum Segelflug. Mein Traum war dabei wahr zu werden: in die Luft aufzusteigen und wie ein Vogel zu fliegen! Kein Modellflug mehr, jetzt erlernten wir die Theorie des echten Fliegens; den Flug selbst simulierten wir in einem echten Segelflugzeug. Dass es „nur” eine Szubienica (ausgesprochen: Schubjenietza) war, spielte überhaupt keine Rolle. Bei einer Szubienica versucht der „Pilot” mit den Steuerrudern im Wind das am Boden befestigte Segelflugzeug in der Horizontalen zu halten. Wir wurden im Schulungsgebäude untergebracht: einige Klassenzimmer dienten als Schlafsäle, andere als Unterrichtssäle. Der Theorieunterricht war Voraussetzung für die praktische Ausbildung. Viel habe ich gelernt über Luftfahrtvorschriften, meteorologische Phänomene sowie den Aufbau von Segelflugzeugen. Die Meteorologievorträge eröffneten eine ganz neue Perspektive nicht nur auf Wolken. Wir lernten die ganze Cumulus-Familie kennen: angefangen bei den von Segelfugzeugpiloten am meisten geliebten, bis hin zu den gefährlichsten, die Regen, Donner und Blitzschläge mit sich bringen. Eines Tages fragte der Dozent: „Wie nennt man eine Gewitterwolke?” Sofort hob ich meinen Finger und unterstrich meinen Willen zu antworten mit einem lauten „ich!” Der Lehrer sah mich an: „Na Wojtek, sag es uns.” „Das ist ein Cumulus wypieprzony”, antwortete ich zügig und hörte im selben Augenblick tosendes Gelächter. „Entschuldigung, Entschuldigung, ich habe mich versprochen! Das ist ein Cumulus wypiętrzony, zu erkennen an einem Amboss. Ihr wisst doch … ”, stellte ich meine vorherige Aussage richtig, doch es war zu spät. Die beiden Worte (wypieprzony und wypiętrzony) haben eine gewisse Ähnlichkeit in der Aussprache, bedeuten aber ganz verschiedenes: anstatt zu sagen, dass der Cumulus aufgetürmt ist, hatte ich gesagt, er sei versaut. Oh, lange haben sie mich damit aufgezogen.

Ungeduldig warteten wir, endlich zu dem hinter dem Schulgebäude stehenden Segelflugzeug zu dürfen. Ein riesiger, wunderbarer „Sęp” (vereinfacht ausgesprochen: Semmp). Alles in ihm war echt. Die „Szubienica” ließ fast schon echtes Fluggefühl zu, denn Bewegungen um alle drei Achsen waren möglich. Doch für jeden „Flug” brauchte es Wind - je mehr, desto besser. Dann konnte man das Segelflugzeug nicht nur im Horizontal”flug” halten, sondern auch leichte S-Kurven vollführen. Flaute stellte dennoch kein Hinderniss dar: bis zu einem gewissen Grad konnten drei Jungs den Wind vertreten. Wie wir das machten? An der Tragfläche und zu zweit am Heck standen die Burschen. Entsprechend der Ruderausschläge des „Piloten" im Cockpit hatten sie zu reagieren. Viele lustige Situationen und eine Menge Verwirrung gab es bei diesen händischen Windverhältnissen. Deshalb bevorzugte ich entschieden echten Sturm. Ungeduldig wartete ich auf Unwetter. Während alle sich im Schulgebäude verkrochen, stieg ich ins Cockpi des Sęp, schnitt durch die Regenströme und kämpfte mich zwischen den Wolken hindurch. Was für ein Flug!

Ein Fest im nahegelegenen Dorf machte uns natürlich neugierig. Vor der Feuerwehrwache waren Tische und Bänke aufgestellt. Die aus Holzbrettern aufgebaute Tanzfläche stand bereit. Die Kapelle spielte, Jungs forderten wartende Mädchen auf. Selbst der Sonnenaufgang war kein Grund heimzugehen. Und allein wollte ich auch nicht heim. Im Schatten der Bäume stand ein Mädel. Ich rückte an sie heran und begann ein Gespräch, um sie zu fragen, weshalb sie nicht tanzt. Als ich ihren deformierten Rücken sah, sparte ich mir die Frage. Doch das Mädel war mutiger und lud mich ein.

Zwei Wochen waren unerwartet schnell vergangen. Vom Fliegerlager kehrte ich zurück als fast schon echter Pilot. Meine stolze Brust schmückte mein erlangtes Segelfugabzeichen: das mit einer weißen Möwe.

Meine arme Mutter

Gleich nach dem Fliegerlager fuhr ich mit dem Zug zu Mama. Piła gefiel mir nicht: überall leerstehende Plätze - nach von im Krieg zerstörten Gebäuden. Ihre Ziegelsteine wurden zur „Wiederverwertung” auf Zugwaggonen zum Wiederaufbau der Hauptstadt nach Warszawa gebracht. Im Zentrum, auf dem Platz der Freiheit (Heute ein Teil der Aleja Piastów), ragte ein großer Jugendstilaltbau fast schon einsam wie auf weiter Flur auf - wie durch ein Wunder hatte es den Krieg unversehrt überstanden: im Erdgeschoss eine Apotheke. Das Gebäude gehörte Wiktor Skibicki, Tante Anetas Ehemann: nicht allzu groß, höchst angenehmen und ruhig. Insbesondere seine hervorragenden Umgangsformen zeichneten ihn aus. Als Pharmazeut thronte er in seiner Apotheke, doch während der Zeit kommunistischer Regierungen sollte sie ihm - wie auch sein Mietshaus - noch viel Leid und Probleme einbringen. Vom Eigentümer der Apotheke wurde er zu ihrem angestellten Leiter, das Mietshaus „übernahm" die Kommune. In einem Teil ihrer alten Wohnung im ersten Stock über der Apotheke „durften" Wiktor und Aneta bleiben. Der Tante Mutter – Helena, also die Schwester meiner Großmutter Ludwika, hatte darin ein großes, eigenes Zimmer. Sie hatten zwei Kinder: die von mir um acht Jahre jüngere Bożenka sowie der um neun Jahre jüngere Jurek. Bożenkas lange Krankheit nahm sie fort, als sie gerademal einundzwanzig Jahre alt war. Sie musste sich verabschieden, von einer ihr noch unbekannten Welt.

Mamas neue Wohnung in einem hässlichen Mietshaus in der Ludowa-Str. mit ebenfalls hässlichen und armseligen Möbeln desillusionierte mich sehr. Die beiden Zimmer zur Straßenseite hin waren zwar hell, die Küche sowie Mamas Schlafzimmer hingegen … stockdunkel - die Fenster zum lichtleeren Innenhof mit der Speicherkammer. In Piła eine Arbeit zu finden grenzte an ein Wunder, doch Mama war es gelungen eine Stelle in einer Fahrradfabrik zu bekommen. Ganze Tage verbrachte sie in Chemikaliendämpfen beim Lackiern von Fahrradrahmen. Ihre Gesundheit wurde zerstört, furchtbare Migränen begannen.

Doch die Familie von Seiten meines Vaters hatte die Witwe und uns Kinder vergessen. Dass Edek, ein Mensch von solcher - so genannter – Stellung eines der Kinder zu sich genommen hatte, genügte, um das familiäre Gewissen der Familie Dąbrowski einzuschläfern. Das für sie wichtigste war geregelt, dass Onkel Bolesław vor dem Tod meines Vaters die Grundbuchabschrift über den Grundbesitz wiedererlangt hatte. Vorsorglich hatte er ihn an Fabian überschrieben, um das Vermögen vor Gläubigerverlangen zu bewahren. Mit ihrer Unbekümmertheit und Verschwendungssucht hatte des Onkels Ehefrau nämlich Schuldenberge angehäuft. Onkel Boleś war ein guter Mensch, doch seine Frau tyrannisierte die Familie: „ein Teufel in Menschengestalt”. Nach der Umschreibung des väterlichen Erbes auf Bolesław blieben seine Eltern mit lebenslangem Nutzungsrecht auf dem Hof. Doch ihre Schwiegertochter begegnete ihnen mit widerlicher Boshaftigkeit. Sie stritt mit den Greisen, beschimpfte sie und während einer längeren Abwesenheit ihres Mannes sperrte sie sie in ihrer Stube ein, indem sie ihnen mit einem hölzernen Schweinetrog ihre Zimmertür zum Hausflur zunagelte. Onkel Józef kam sofort nach Zembrze und baute seinen Eltern einen direkten Ausgang aus ihrer Stube. Daraufhin zerschlug die Tante vor Ärger das gesamte Tafelporzellan. Gercia erzählte, dass sie für ihre Niederträchtigkeit, wie sie ältere Menschen behandelte, von Gott bestraft wurde, sie starb qualvoll. Doch dies angerichtete Leid war nicht wieder gut zu machen. Mit solch einer Ehefrau war Onkel Boleś nicht in der Lage, Fabians Witwe zu unterstützen. Mama musste alleine zurecht kommen mit zwei Kindern, wobei Rysia trotz ihrer fünfzehn Jahre keine große Unterstützung war. Eher bereitete sie zusätzliche Sorgen und Probleme. Die kleine Żaba war häufig von ihrer älteren Schwesters Gnade abhängig.

Mittlerweile war ich in Piła angekommen, durch die Haustür und dann nach rechts, die Erdgeschosswohnung: dunkel und überall feucht ist es im Haus. Die Wohnungstür stand offen, ich ging hinein und hörte Żabas Weinen, Rysias Geschrei. Sehr gut kannte ich den Charakter meiner älteren Schwester, also wusste ich sofort, was los war. Sie bewies dem Kleinkind ihre Überlegenheit. Ich fiel ins Zimmer, befreite das kleine Mädchen und warf Rysia zu Boden. Mit meinen Knien drückte ich ihre Hände zu Boden, dass sie sich nicht bewegen konnte. Mit meinen Fingern berührte ich ihr Gesicht und sagte leise aber ausdrucksstark: „Wenn Du noch einmal Hania anfasst, dann schlage ich Dich zusammen, dass Du aussehen wirst wie ein verfaulter Apfel. Ich warne Dich!” Rysia hat die Drohung verstanden, eine vergleichbare Situation wiederholte sich nie wieder. Ehe ich nach Bydgoszcz zurückkehrte, hackte ich für Mama noch den Holzvorrat für den ganzen Winter und räumte die Kohle, die noch vor dem Haus lag, in den Keller.

Die wunderbare Frau Marta

Es war ein wunderschöner, warmer Herbst. Einige Monate musste ich noch aufs Gymnasium in Bydgoszcz gehen. Tante Ola war zu Besuch. Sie half Basia bei den Umzugsvorbereitungen. Nach arbeitsreichen Tagen, spielten die Erwachsenen abends meistens Bridge. Eines Tages war Tante Olas gute, schon lange nicht mehr gesehene Bekannte Marta mit von der Partie. „Marta spielt hervorragend Bridge, also brauchen wir nicht mehr mit edem „Opa” spielen”, fügte sie hinzu und alle setzten sich an den Tisch. Marysia brachte Tee und hausgemachtes Kleingebäck. Basia mischte und verteilte gekonnt die Karten. Ich saß daneben und beobachtete das Spiel oder eher die vierte Person. Nur schwer konnte ich sie nicht anschauen, sie zog meinen Blick förmlich an. Sie war sehr hübsch, unglaublich nett und lachte mich wunderbar an. Ich setzte mich auf die Armlehne des Sessels und tat so, wie wenn ich das Spiel beobachten würde. Auf die Frage des Gastgebers hin nach ihrer Arbeit erklärte sie ausführlich was sie macht und beschrieb dann detailgetreu, wo sich ihr Büro befindet, fügte sodann hinzu, dass sie von ihrem Schreibtisch die eintretenden Antragsteller sehe. Dabei blickte sie wie nebenbei zu mir, so, dass mich ein Gefühl überwältigte, diese Beschreibung sei nur für mich.

Am nächsten Tag folgte ich Frau Martas Wegbeschreibung. Außen an dem neuen Bürogebäude - einem mehrstöckigen Pavillon - stieg ich die Treppen hinauf in der Hoffnung, von dieser interessanten Frau bemerkt zu werden. Plötzlich öffnete sich eine Tür: lächelnd stand Frau Marta vor mir. Ja, sie lächelte tatsächlich mich an! Wir begrüßten einander und ich hörte, worauf ich unterbewusst gehofft hatte: „Im Grunde kann ich jederzeit die Arbeit verlassen, also könnten wir außerhalb der Stadt fahren und uns ungezwungen unterhalten.” Mit ihrer Syrenka, diesem Wunderwerk der Motorisierung fuhren wir die Gdańska-Str. immer geradeaus, bis hinter die Bahngleise in einen kleinen Wald. Bezaubert hörte ich zu, wie Frau Marta sprach und sie sprach unaufhörlich, während sie den Wagen lenkte. Wir parkten an einer Waldlichtung und aus dem Kofferraum holte Frau Marta eine Decke, welche sie auf der Wiese ausbreitete. Wir setzten uns und plauderten nett. Ohne den Faden zu verlieren, verlor sie ebensowenig Zeit. Ihre Hand bewegte sich sanft auf meinem Oberschenkel, immer höher und höher, während ihre zarten Finger mit schmetterlingsähnlichen Berührungen meine Hose aufknöpften. Solche Ausflüge wurden unsere bevorzugte Freizeitbeschäftigung, bis ich nach Warszawa umzog.

Umzug nach Warszawa

Den gesamten Umzug erledigte der Onkel: Die Sachen wurden verpackt, die Laster fuhren davon. Basia, Marysia und ich fuhren mit dem Zug. Vom Hauptbahnhof fuhren wir mit der Straßenbahn nach Muranów. Am Banken-Platz stiegen wir aus (zu Zeiten der Volksrepublik Polen – 1944-1989 – war dies der Dzierżyński-Platz mit seinem Denkmal; benannt nach Feliks Dzierżyński, dem Gründer des sowjetischen Terrorapparats, dem ersten Leiter einer sowjetischen Geheimpolizei, welche – nicht nur in Polen - Massenmorde an sog. „Volksfeinden” zu verantworten hat: an der politischen Opposition, sog. „klassenfremden” Gutsbesitzern, Unternehmern und Geistigen; auf diese Weise verdiente er sich seine Spitzennamen „blutiger Feliks” oder „roter Henker”; bei seinem Begräbnis trugen u.a. Stalin und Trocki seinen Sarg; ein viel sagender Ausspruch Stalins lautet: „Keine Menschen, keine Probleme”.) und gingen am Mostowski-Palast vorbei zum ersten Gebäude der neu entstehenden Wohnsiedlung Muranów, zur Nowolipiki-Str. 9. Hinter dem Haus erstreckte sich der Blick über das dem Boden gleich gemachte Warschauer Getto, nur der Turm der St. Augustin Kirche war als einziger zu sehen am Horizont der tragischen Eintönigkeit und erinnerte an die Tragödien, welche hier stattgefunden haben. Die grausam verkrüppelte Hauptstadt, voll von Stümpfen ausgebrannter Gebäude, pulsierte aber wieder mit Leben. Überall sah man Baustellen, neue Siedlungen, Verkehrswege und Straßen wurden abgesteckt. Die neue Wohnung erinnerte in keinster Weise an die in Bydgoszcz: drei Zimmer, Küche und Bad, doch die Zimmer waren klein und niedrig - ein typisch sozialistischer Neubau. Zwar war diese Wohnung zu klein, für mich war kein Platz, doch wir blieben hier. Der Onkel teilte mir mit, dass ich Schüler des General-Sowiński-Gymnasium in der Młynarska-Str. 2 bin, gleich hinter dem Straßenbahndepot des Stadtteils Wola. Der Schulweg war sehr lang. Das große, graue Gebäude beherbergte zwei Schulen sowie Sportplätze. Neben den Unterrichtsräumen und einer Turnhalle befanden sich im Gymnasium zwei Aulen, eine kleine und eine große, in denen verschiedene Feierlichkeiten stattfanden. Im Sekretariat im Erdgeschoss fragte eine freundliche Dame nach meinem Namen und sagte nur: „Klasse 8b.”

Meine großartige Schulklasse

Irgendwie war meine neue Schulklasse anders. Die Jugendlichen waren ernster und ruhiger, verglichen mit denen in Bydgoszcz. Neben mir in der Schulbank saß - so blieb es bis zur Matura - der ebenso ruhige Rysiek Chaba. Rysiek wohnte mit seinen Eltern in einer Holzbaracke im Stadtteil Koło – ein Teilbezirk des Stadtteils Wola, gleich an der Straßenbahnschleife der „Dreizehner”-Linie. Rysieks Familie hatte Łuck verlassen müssen, nachdem es sich außerhalb der Grenzen Polens wiedergefunden hat. Mit Straßenschuhen durften wir die Schule nicht betreten, wir mussten sie in der Garderobe im Souterrain lassen und Hausschuhe anziehen. Sie waren fester Bestandteil unseres Schulalltags: in ihnen konnte man hervorragend durch die polierten und gebohnerten Gänge rutschen, was selbstverständlich verboten war. Außerdem konnte man mit ihnen Streitigkeiten schlichten, wobei natürlich der Ernst der Klasse verflog. Während Jungs diese Auseinandersetzungen führten, bekamen die Mädels gelegentlich fehlgeleitete „pantoffelne Fluggeräte” ab. Leicht hatten es die Mädchen nicht mit uns, aber ganz so schlimm war`s auch wieder nicht, einige in der Klasse zusammengekommene Pärchen sind mittlerweile schon über ihr goldenes Jubiläum hinaus zusammen. Unaufhörlich dauerten die Kämpfe an, die Pantoffeln schwirrten nur so durch die Luft. Der Trubel in der Klasse übertönte nicht selten die Schulglocke: Unerwartet tauchten in der offenen Tür zusammengerollte Landkarten auf, unterm Arm unseres Geographielehrers Professor Reszke - ein kleiner Mann mit stattlichem Bäuchlein. Sein rundes Gesicht schmückte eine Brille aus hörnernem Rahmen und eine Frisur aus Haaren, die sich schon vor langer Zeit verabschiedet hatten. Unglücklicherweise kreuzte sich sein Weg, mit der Flugbahn eines unserer Fluggeräte, das ihn geradewegs an seiner gehaltvollen Backe traf und eine Spur staubigen, dunkelgrauen Umrisses hinterließ. Wütend drehte er auf der Ferse um und knallte die Tür hinter sich zu. Es wurde still. Sofort stellten wir die Bänke wieder in Reihe und warteten leise und brav, wie wenn nichts geschehen wär. Lautes Getrampel kündigte an, was folgen musste. Direktor Lasocki fiel ins Klassenzimmer und unterbrach die herrschende Stille: „Wer war das”, schrie er. „Die ganze Klasse!” dröhnte ein abgestimmter Chor zurück. Was sollte er machen? Der Direktor wusste, dass er nicht mehr erfahren wird. Er drehte sich zu Professor Reszke: „Bitte führen Sie den Unterricht weiter.” Die Affäre war abgehakt. Ja! „Meine Klasse ist außergewöhnlich”, dachte ich und fühlte mich heimisch.

Die Biologiestunden spiegelten unser jugendliches Temperament. Die „Schraubenalge”, unsere großgewachsene, schlanke Lehrerin führte uns mit Kranich ähnlicher Stimme ein in die Gehimnisse der Natur. Unsere Streiche ignorierte sie komplett. Unerschütterlich fuhr sie mit dem Unterricht fort und erst als sie am Ende der Schulstunde schon in der Tür stand, erwähnte sie wie beiläufig, dies oder jenes aufzuräumen oder etwa die aus dem Schnabel des ausgestopften Vogels herausragende Wurstscheibe zu entfernen.

Unser Physiklehrer Herr Nowakowski war für mich ein Musterbeispiel eines Pädagogen. Jede Unterrichtsstunde schmückte er aus mit Geheimnissen aus der Welt der Physik, wodurch er uns bis zum Pausenläuten in unseren Schulbänken gefesselt hielt. Sehr gut gefiel mir außerdem seine Art die Zahl vier zu schreiben, die ich von ihm übernahm.

Der Preis für ein Leben ohne Grenzen - Teil I

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