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Kapitel 2: Invasion

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Jamie stand auf einem Hügel und blickte in die Ferne. Er sah von weitem die Rauchschwaden gen Himmel aufsteigen. Zwischen all den weißen Wolken wirkten die beiden schwarzen Säulen vor ihm wie ein schwarzer Fleck auf weißem Leinentuch. Trauer übermannte seine Gefühlswelt. Doch er musste sich eingestehen, dass sie trotz alledem Glück gehabt hatten. Schließlich sind sie rechtzeitig gewarnt worden.

Jamies Blick wanderte hinüber zu seiner Mutter, Lena, Melcom, Brutus, Ilianer, Martok und dessen zweijährigem Sohn Ian, sowie den Chiks an der Seite von Gul-Marak.

Wären sie nicht da, dann… dachte sich Jamie und vertrieb sogleich wieder den schrecklichen Gedanken. Er wollte nicht darüber nachdenken, was wäre, wenn.

Seine Familie und Freunde waren schließlich am Leben. Und nur das zählte. Den Blick nach vorn gerichtet, mussten sie mit ansehen, wie in der Ferne die Arkanischen Soldaten wie Ameisen um das, was einst ihr Hof war, herumschwirrten und alles niederbrannten.

Nach einem Augenblick ließ Jamie seinen Blick zu der zweiten schwarzen Wolke wandern, die sich links von ihnen hinter Bäumen ihren Weg in den Himmel bahnte. Dort wo der Hof von Ilianer und Marok lag.

Das Arkanische Königreich oder besser gesagt der Baron von Illmenstein hat seine Ambitionen gegenüber dem Norden nicht aufgegeben. Mit dem heutigen Tag konnte jeder das mit seinen Augen wahrnehmen. Und wen sie bei ihrem Vorhaben aus dem Weg räumen wollten, war eindeutig. Ihnen allen, so wie sie dastanden, war bewusst gewesen, dass die Gefahr einer erneuten Invasion seitens des Arkanischen Königreiches bestand. Doch dass diese so schnell und so gezielt vonstattenging, damit hat keiner von ihnen gerechnet.

Martok hielt seine Hand fest um die Barbarenstreitaxt umschlungen. Jamie wusste genau, dass in diesem Moment Martok am liebsten dort unten bei seinem Hof wäre, um mit seiner Axt jedem das Fürchten zu lehren. Doch da war Ilianer und Klein-Ian und die damit verbundenen Pflichten.

«Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden. Die Arkanischen Späher sind uns dicht auf den Fersen. Außerdem wird der Rest von unseren Männern nicht ewig auf dem Sammelplatz auf uns warten.», durchbrach die Stimme Gul-Maraks die Szene.

«Ich hoffe nur, dass der Rest von unseren Verbündeten genauso schnell gewarnt werden konnte wie wir.», sagte Melcom und wandte sich vom Geschehen ab.

«Wir werden es sehen.», erwiderte Martok und legte seine rechte Hand auf die Schulter seines Vaters.

Die Pferde waren ausgeruht und an die Umgebung gewöhnt. Und so kamen die Flüchtigen gut voran. Als schließlich der Tag sich langsam seinem Ende neigte und die Abendröte immer mehr ihren Schleier über das Land legte, zog der Zug aus Fliehenden über ein Tal an einem Bach entlang gen Norden.

Während ihrer Reise wuchs der Zug an Flüchtigen stetig an. Immer mehr Nordmänner und Frauen schlossen sich ihnen an und reihten sich in den Zug ein. Mittlerweile wuchs ihre Zahl auf zweihundert Reiter an. Mit jedem Ankömmling wuchs auch die Freude und Zuversicht, dass dieser Kampf noch nicht entschieden war. Auch wenn jeder wusste, dass es dieses Mal keinen Ian geben würde, der sich für alle opferte.

Als schließlich die Sonne im Westen untergegangen war, traf der Zug aus Flüchtigen an dem vereinbarten Sammelplatz ein. Jamie blickte auf das Tal herunter und entdeckte ein Meer an Lagerfeuern.

Chiks und Nordmänner vereint, mal wieder.

«Wir müssen hier entlang.», richtete Gul-Marak das Wort an Jamie und jene, die für den Norden sprechen würden. Zielstrebig führte Gul-Marak diese zwischen den Lagerfeuern, an denen Menschen kauerten, sich unterhielten oder vereinzelt ihre Laute erklingen ließen, zu einer Feuerstelle in der Mitte des Lagers.

Die Lagerstelle selbst lag in einer kleinen Senke mit einem Durchmesser von etwa 15 Metern. Das Feuer in der Mitte unterschied sich nicht von den anderen. Auch der Nachthimmel war nicht anders. Doch die Menschen, die um das Feuer saßen, weckten Zuversicht und Hoffnung in Jamie.

«Jamie, Melcom, Ilianer, Martok, Brutus. Da seid ihr ja. Ich hatte schon befürchtet, dass ich einen Suchtrupp nach euch schicken muss.», begrüßte Alko die Neuankömmlinge und drückte jeden an sich. Bei Ilianers Kind blieb er einen Augenblick länger stehen und betrachtete dieses für einen Moment, nachdem Martok diesem den Namen des Jungen verraten hatte.

Und dann schälten sich aus dem Schatten zwei Gestalten, Drako und Harald.

Jamie war froh, dass auch Harald rechtzeitig von ihren Verbündeten gewarnt wurde. Die Freude über das Wiedersehen führte sogleich zu der Frage nach all den anderen, die hier und jetzt fehlten.

«Was ist mit Sean?», fragte er und blickte Harald und Draco der Reihe nach an.

«Sie haben ihn gefangen genommen. Die Arkanischen Soldaten sind wie ein Sturm über den Norden hinweg gefegt. Sie wussten genau, wo sie als erstes zuschlagen mussten. Sie haben gezielt die Häuser der Redensführer von damals angegriffen und niedergebrannt. Einige unserer Verbündeten haben sie ausgeschaltet, bevor diese die anderen warnen konnten. Anderen ist es wiederum gelungen, ihren Häschern nur mit Müh und Not zu entkommen. Sie waren sehr gut vorbereitet. Viele der Arkanischen Soldaten befanden sich bereits im Land, als der Angriff stattfand. Einige von ihnen haben sich als Händler verkleidet und haben gezielt zugeschlagen. Andere wiederum haben über kurz oder lang bei Sympathisanten Unterschlupf gefunden um anschließend koordiniert zugeschlagen.», berichtete Harald wehmütig.

«Wir wissen bisher nicht viel. Die Informationen sind spärlich. Doch ich habe die Befürchtung, dass, wer es bis jetzt nicht hierher geschafft hat, entweder tot ist oder in den Händen der Arkanischen Soldaten.», ergänzte Drako.

Nach dieser kurzen Zusammenfassung der Ereignisse fühlte Jamie und der Rest der Neuankömmlinge eine gewisse Niedergeschlagenheit in sich aufsteigen. Für Jamie begann das drumherum zu verschwimmen. Plötzlich sah er vor seinem inneren Auge Gesichter auftauchen, von Menschen, die von Arkanischen Soldaten angegriffen wurden und ihrer selbst gewählten Lebensart beraubt wurden.

«Jamie und ihr anderen. Setzt und wärmt euch an unserem Eintopf. Anschließend müssen wir Kriegsrat halten.», ordnete Alko an und zeigte einladend auf den Kessel am Feuer.

Jamie setzte sich neben Martok, Ilianer, Brutus und ein paar anderen Männern aus dem Norden. Lena streckte die Hände Klein-Ian entgegen und richtete das Wort an ihre Schwester: «Ich kümmere mich um ihn. Geh, nimm teil an der Versammlung! Ich bin da drüben am Feuer, wenn du mich brauchst.», erklärte sie, während sich um sie herum immer mehr Menschen versammelten.

Ilianer nickte und reichte Ian an ihre Schwester und blickte den beiden einen Moment nach, bis diese in dem Meer von Leibern verschwanden. Doch sie war nicht die einzige, die ihre Schwester im Blick hatte. Auch Jamie und Gul-Marak hatten ihr Augenmerk auf Lena gerichtet.

Doch nicht nur Ilianer sondern auch Jamie entging nicht, dass Gul-Marak Lena mit seinem Blick verfolgte. Und im selben Moment, in dem Jamie das wahrnahm, verspürte er einen Beschützerinstinkt in sich aufsteigen. Gerade als er Gul-Marak auffordern wollte, dass dieser seinen Blick von seiner Schwester abwenden sollte, legte Melcom eine Hand auf Jamies Schulter.

Jamie blickte zu Melcom. In dessen Gesicht spiegelte sich Freundlichkeit sowie eine gewisse Vertrautheit wider. Verwirrt und verunsichert blickte Jamie in das Gesicht seines Gegenübers.

«Männer und Frauen des Nordens.», lenkte die Stimme von Alko die Aufmerksamkeit von Jamie und den Anwesenden auf die bevorstehende Besprechung. «Wir haben nicht viel Zeit. Und wir wissen nicht, wie lange wir hier bleiben können. Die Informationen, die wir bisher zusammengetragen haben, geben uns einen ersten Eindruck über den Angriff von Seiten unserer Arkanischen Gegenspieler. Wir wissen nicht genau, welche Gebiete die Arkanische Armee bereits unter ihrer Kontrolle gebracht hat. Doch wir müssen vom Schlimmsten ausgehen. Drako und Harald werden uns nun die aktuellen Informationen vom Stand der Invasion schildern. Bitte!», forderte Alko mit einer Handbewegung die beiden Männer auf vorzutreten und nahm seinerseits am Rande der Versammlung Platz.

Das Gesicht der Menge zugewandt, die Feuerstelle im Rücken, begannen die beiden Männer nacheinander zu berichten. «Wie von Alko angesprochen, sind wir noch nicht in der Lage, das Ausmaß der Invasion genau zu beurteilen. Was wir zum jetzigen Zeitpunkt sagen können ist, dass der Schlag gegen den Norden gut geplant und koordiniert verlief. Nach ersten Informationen müssen wir davon ausgehen, dass viele der Arkanischen Soldaten sich bereits im Land befanden, als die eigentliche Invasion vonstattenging. Das lässt sich aus dem schnellen Vorgehen, insbesondere gegenüber unseren Verbündeten weiter im Norden unseres Landes, schließen. Sie kamen vermutlich getarnt als reisende Händler oder Bauern. Andere wiederum haben Unterschlupf bei Männern und Frauen gefunden, die dem Blendwerk der Arkanischen Führung erlegen sind. Festgenommen wurden vor allem jene, die damals bei dem Kampf gegen das Arkanische Königreich beteiligt waren und jene, die das Arkanische Königreich als gefährlich eingestuft hat. Darunter Sean, unser Hauptmann. Zusammengefasst sind nur wenige von damals unseren Häschern entkommen. Wir sind gerade um die 700 bis 800 Männer und Frauen aus dem Norden. Wir müssen davon ausgehen, dass, wer sich bis jetzt uns nicht angeschlossen hat, entweder gefangen genommen wurde oder irgendwo anders Zuflucht gefunden hat.», beendete Harald die Schilderung der derzeitigen Lage im Norden.

Nach diesen Worten war hier und dort Gemurmel, begleitet von verstörten Blicken, wahrzunehmen. Daraufhin begannen erste Beschimpfungen gegen das Arkanische Königreich die Runde zu machen.

Schließlich erhob sich Alko, hob die Hände und brachte die Versammelten nach wenigen Augenblicken wieder zum Schweigen.

«Meine Freunde! Bitte bewahrt Ruhe. Ich kann euren Frust und Ärger nachvollziehen. Auch uns ging es damals, bei den ersten Angriffen auf unsere Souveränität, nicht anders. Doch im Gegensatz zu früher stehen wir von Beginn an Seite an Seite.», stellte Alko fest und erntete sogleich Zustimmung.

Als sich die Gemüter wieder soweit beruhigt hatten, so dass eine Verständigung möglich war, nahm Alko das Zepter in die Hand und fuhr fort: «Mittlerweile sind viele Gerüchte im Umlauf. Doch in unserer Lage haben wir keine Zeit Gerüchten nachzugehen. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was wir wissen und was wir mit dem Wissen anfangen wollen.», stellte Alko nüchtern fest. Im nächsten Moment blickte er zu Drako herüber und bedeutete diesen mit einem leichten Kopfnicken zu sprechen.

«Unseren Waldläufern zufolge ist das Arkanische Heer mit einer Truppenstärke von schätzungsweise 9000 Soldaten über die Grenze gekommen. Wir gehen davon aus, dass weitere 3000 bereits im Norden waren und nur auf ein Zeichen warteten um zu zuschlagen. Nach der Truppenstärke zu urteilen und dem koordinierten Vorgehen scheint das Arkanische Königreich nichts dem Zufall überlassen zu wollen. Unseren Informationen zufolge bewegen sich die Soldaten schnell, koordiniert, zielgerichtet und lassen sich von nichts und niemanden aufhalten. Uns bleibt wenig Zeit. Morgen früh müssen wir das Lager vor den ersten Sonnenstrahlen abbrechen und möglichst viel Abstand zwischen uns und unseren Häschern bringen. Doch bevor wir das machen, müssen wir eine Strategie für die kommenden Tage festlegen.»

«Gegen einen Feind dieser Größenordnung können wir nichts machen.», warf einer der Chiks aus der Menge ein.

«Es muss uns aber etwas einfallen. Was sollen wir sonst tun. Ein Leben auf der Flucht führen?», schaltete sich sogleich ein Nordmann ein.

«Nein! Natürlich nicht.», antwortete Harald. «Aber, wenn wir wirklich etwas an unserer Lage ändern wollen, dann müssen wir wirklich einen guten Plan haben und etwas Glück. So wie damals auf der Steinebene vor Arag. Militärisch sind wir auf lange Sicht dem Arkanischen Königreich unterlegen. Da brauchen wir uns keine falschen Hoffnungen zu machen.», stellte Harald nüchtern fest.

Für einen Moment entstand eine angespannte Stille unter den Versammelten. Der Kampfeswille, der vor wenigen Augenblicken die Stimmung der Menschen beherrscht hatte, war der Realität von Haralds Worten gewichen.

Jamies Blick wanderte zwischen den Gesichtern der Versammelten hin und her. Plötzlich musste Jamie an die Worte seines Vaters denken; „…die Geschichte wiederholt sich immer wieder aufs Neue. Das einzige was sich ändert ist die Kulisse.“

In dem Moment, in dem er sich der Worte seines Vaters bewusst wurde, konnte er ein Lächeln nicht unterdrücken. Und im selben Augenblick formte sich ein Gedanke in seinem Kopf. Unsicher, ob er diesen aussprechen sollte, blickte er zu Alko hinüber, schließlich zu Harald und all den anderen. Doch diese hüllten sich in Schweigen.

Letztendlich blickte Jamie zu dem Nachthimmel empor. Blickte auf das Sternenzelt über seinem Haupt und sagte im Stillen an seinen Vater denkend: „Nun verstehe ich die Bürde der Verantwortung. Und ich habe Angst an ihr zu scheitern“.

«Vielleicht müssen wir…», begann Jamie mit einer leicht zittrigen Stimme und stoppte als er sich all der Aufmerksamkeit bewusst wurde, die nun auf ihn haftete.

«Ja Jamie?», sagte Harald und blickte nun seinerseits Jamie an.

Für einen Moment wünschte sich Jamie nichts gesagt zu haben. Doch dann spürte er plötzlich einen Ruck von der Seite, der ihn auf die Beine zwang. Von einem Moment auf den anderen stand Jamie in der Mitte der Versammlung. Allein das Feuer hinter ihm war noch zentraler. Und hinter diesem konnte er sich nicht verstecken.

«Sag schon Jamie, welchen Plan hast du?», forderte ihn Martok auf.

Und im selben Moment, in dem er Martok anblickte, hatte er das unbegreifliche Gefühl, dass dieser ihn in die Mitte der Versammlung geschubst hatte.

«Meine Freunde. Mein Vater sagte einmal zu mir, dass sich die Geschichte wiederholt. Und zwar immer wieder aufs Neue. Das einzige was sich ändert ist die Kulisse!», begann Jamie dieses Mal mit einer kräftigen Stimme zu sprechen. «Was wir also machen müssen ist die Kulisse zu ändern. Und damit den Feind mit seinen eigenen Waffen schlagen. So lange bis diesem nichts anderes übrigbleibt, als sich von unserem Land zurückziehen.»

«Ja. Das hört sich gut an. In dir steckt mehr von deinem Vater als du denkst.», stellte Alko fest. «Also sprich, was genau hast du vor?»

Jamie spürte wie die Anspannung anfing von ihm abzufallen. Zugegeben. Er hatte den Worten seines Vaters eine neue Bedeutung beigemessen. Aber hier und jetzt schien das nicht von Bedeutung zu sein. Alles was in dem Moment für alle von Bedeutung schien, war ein Plan. Ein Ziel, auf das sie gemeinsam hinarbeiten könnten.

Durch die Worte von Alko verspürte Jamie neuen Mut in sich aufsteigen. Und nun gab es kein zurück mehr. Der Gedanke, der sich so spontan gebildet hatte, musste nun geformt werden. Aber dafür hatte er ja noch seine Freunde und Verbündeten, die ihm helfen könnten. Entschlossen blickte Jamie der Reihe nach die Versammelten an.

Und dann begann er seine Idee vorzustellen.

Am folgenden Morgen führte Alko seine Mitstreiter an das Ufer des Flusses Muk. Die Sonne brannte bereits unbarmherzig auf die Schar der Verbündeten. Während die Pferde den Moment nutzten und ihren Durst an dem kühlen Wasser des Flusses stillten, ließ Ilianer ihren Blick entlang der wilden Natur des Nordens streifen.

Hier war es nun an der Zeit sich zu trennen.

Ilianers Augen füllten sich mit Tränen. Noch nie hatte sie länger als für einen Abend ihren Sohn an einen ihrer Verwandten abgegeben. Hier und jetzt aber musste sie Abschied von ihrem Kind nehmen. Für wie lange, das wusste sie nicht. Doch der Schmerz, gepaart mit dem schlechten Gewissen, drohte sie förmlich zu zerreißen.

Aber welche Wahl hatte sie? Sie konnte und wollte ihn nicht mitnehmen. Dafür war das, was sie vorhatten einfach viel zu gefährlich. Noch einmal drückte sie ihren Sohn an sich und küsste ihn liebevoll.

«Pass auf deine Großmutter auf, ok. Sei ein braver Junge! Hörst du.»

«Ja, Mama.», erwiderte der kleine und lächelte seine Mutter in seiner kindlichen Art und Weise an.

«Wir werden dich, sobald es in unserer Macht steht, zu uns holen. Verstanden!», verabschiedete sich Martok und legte seine Pranke auf das Haupt seines Sohnes.

Während Ilianer und Martok Abschied von ihrem Sohn nahmen, blickte Jamie auf die Gesichter der Umstehenden. Die Szenerie um ihn herum begann ihn an jenen Zeitpunkt zu erinnern, als er sich mit seinem Vater und all den anderen damals in Richtung Norden aufmachte, um jene, die sie liebten, aus den Klauen ihrer Feinde zu befreien. Und jetzt wiederholte sich die Geschichte. Für einen weiteren Augenblick tauchte das Gesicht seines Vaters vor seinem inneren Auge auf und Trauer begann sich wie ein Tuch über ihn zu legen. Und in diesem Moment, als sich zur Trauer Angst über die Zukunft mischte, begann sich Jamie zu fragen, wie sich die neue Situation auf seine inneren Dämonen auswirken würde. In den letzten Jahren hatte er mit diesen gelernt zu leben. Sie waren immer noch ein fester Bestandteil seinerselbst. Doch würden sie auch so ruhig bleiben, wenn er gezwungen sein würde, sich wieder in den Kampf zu stürzen?

«Wir sind dann soweit!», riss Gul-Maraks Stimme Jamie aus seinem Tagtraum und brachte ihn in das Hier und Jetzt zurück. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen blickte Jamie Gul-Marak an und sagte: «Nun sind wir wieder im Kampfe vereint.»

«Ja.», antwortete Gul-Marak ein wenig zurückhaltend. Mittlerweile war Gul-Marak eine zentrale Figur in der Welt der Chiks. Viele junge Krieger verehrten diesen wie einen Gott. Und jeder junge Mann im kampffähigen Alter träumte davon einmal an der Seite von Gul-Marak zu reiten und zu kämpfen.

«Ich sehe besonders viele junge Krieger, die sich entschieden haben uns zu begleiten.», stellte Jamie nüchtern fest.

«Ja.», stellte Gul-Marak fest und blickte in die Gesichter ihrer Mitstreiter. «Wir können einfach der Natur unseres Seins nicht entkommen.»

«Bleibt nur zu hoffen, dass wir, genauso wie unsere Väter vor uns, es fertigbekommen, möglichst viele dieser jungen Gesichter wieder heil nach Hause zu bringen.»

«Es ist an der Zeit!», durchdrang eine wohl bekannte Stimme das Gespräch der beiden.

Gul-Marak blickte seinen Vater an, als dieser neben den beiden auf dem Rücken seines Pferdes saß und sie anschaute.

«Passt gut auf euch auf. Ich will euch beide wiedersehen. Verstanden!»

Jamie und Gul-Marak überlegten für einen Moment etwas zu erwidern. Doch nichts Sinnvolles wollte ihren Lippen entweichen. Und schließlich verging der eine Moment und Alko wandte sein Pferd von den beiden ab. Jamie und Gul-Marak blieb nichts anderes übrig als auf Alko, Drako sowie Melcom, Martok, Ilianer, Harald und den Rest zu blicken, die ihrerseits sie traurig aber auch voller Hoffnung anschauten und zum Abschied mit ihren Blicken fixierten, so als ob sie versuchen würden, diesen Augenblick für immer in ihr Gedächtnis einzubrennen.

«Es ist so weit. Wir müssen weiter. Möge Ians Gunst mit ihnen sein.», sagte Brutus hinter Jamie und Gul-Marak und gewann somit deren Aufmerksamkeit. Als die beiden hinter sich blickten, sahen sie, wie Mulak bereits einen Teil ihrer Schar den Weg entlang dem Fluss führte.

Jamie und Gul-Marak ritten in Begleitung von Brutus über den Fluss und schlossen sich ihrer Einheit an. Im Gegensatz zu dem Trupp unter der Führung von Alko und Melcom, der sich dem Norden zuwandte, zogen Jamie und Gul-Marak mit ihrer Streitkraft von etwa 400 Nordmännern gen Osten in Richtung der Gebirgsketten des Horas Gebirges.

Es war ein langer und anstrengender Ritt durch das Flussbett bis spät in die Nacht. Doch dieser war nötig, um von ihrer Spur abzulenken. Der Feind sollte ruhig glauben, dass all jene die sie verfolgten in Richtung Norden marschierten. Als schließlich der Zug aus Leibern eine kleine Lichtung an einer Bergkette links vom Flussbett erreichte, wurde das Nachtlager aufgebaut.

Jamie wandte sogleich seine Aufmerksamkeit seiner Mutter, dem kleinen Ian und seiner Schwester Lena zu. «Wie geht es ihm?», erkundigte sich Jamie bei seiner Mutter nach dem Wohlbefinden seines Neffen.

«So weit, so gut. Der lange Ritt hat ihn aber ziemlich mitgenommen.»

«Nach Gul-Maraks Einschätzung zu urteilen, werden wir wohl oder übel noch eine Woche im Sattel verbringen, bis wir das Tal erreichen, an dem sich die Familien der Chiks verstecken. Dort aber werdet ihr vor dem Zugriff der Arkanischen Armee sicher sein.», versuchte Jamie aufmunternd zu wirken.

«Ich werde nicht dort bleiben. Ich komme mit dir und dem Rest unserer Männer mit.», mischte sich Lenas Stimme in das Gespräch ein.

«Nein, das wirst du nicht. Du bist noch zu jung. Außerdem ist das hier kein Ausflug. Das ist bitterer Ernst.», tadelte sie Jamie.

«Als Vater dich von deinem jugendlichen Leichtsinn zurückhalten wollte, hast du ihn einen Narren geschimpft. Und nun verwehrst du mir das gleich Recht, welches du dir so gewünscht hast. Du bist wirklich genauso wie …», unterbrach sich Lena und stampfte wütend ein paar Meter davon.

Alko, Melcom, Ilianer, Martok, Drako und der Rest ihrer Schar, bestehend aus 1000 kampffähigen Männern und Frauen, erreichten am Abend ihr Nachtlager am Rand eines Bergrückens. Ihre Spur in den Norden war unverkennbar. Und das war gut so.

Als schließlich der Nachthimmel sein Sternenzelt vollständig offenbarte, saßen die Anführer der Streitkraft um das Lagerfeuer verteilt.

«In drei Tagen erreichen wir das Hauptheer meines Volkes. Wir werden dann mit den Nordmännern zusammen ein Heer von rund 2000 Kriegern befehligen. Die höchste Priorität liegt darin, sich dem Zugriff der Arkanischen Armee zu entziehen. Anschließend müssen wir unbedingt in Erfahrung bringen, welche Strategie das Arkanische Königreich im Norden verfolgt. Erst dann können wir genau den von uns besprochenen Plan in die Tat umsetzen.», stellte Alko fest und schob sich anschließend etwas von dem Wild in den Mund.

«Unsere Waldläufer sind entlang der Grenze aufgestellt und haben die Aufgabe Informationen zu sammeln und zu beobachten. Zum Vollmond, also in etwa 13 Tagen, werden wir uns dann mit unseren Informanten im Tal der Lebenden treffen. Anschließend werden wir in der Lage sein, unseren ersten Angriff zu planen.», ergänzte Drako.

Ilianer lag in den Händen von Martok und nahm die Worte nur beiläufig wahr. Das lag zum einen daran, dass sie von dem langen Ritt Gesäßschmerzen hatte und zum anderen drehten sich ihre Gedanken hauptsächlich um ihren Sohn. Schließlich legte die Müdigkeit sein schwarzes Tuch über ihr Bewusstsein und ohne, dass sie es merkte, fiel sie in ein unruhigen Schlaf.

Der Morgen begann wie die Tage zuvor. Es war Sommer und die Wärme des Tages legte sich über die Täler. Die Arkanische Heerführung hat den Einmarsch in den Norden gut geplant und ausgeführt. Mittlerweile war der Norden von den Truppen der Arkanischen Armee bis zum letzten Winkel in Besitz genommen worden. An den wichtigsten strategischen Punkten und Handelsrouten begannen Baumeister, Soldaten und jene aus dem Norden, die dem Königreich wohlgesonnen waren, Kontrollpunkte und Palisaden zu errichten. Der Widerstand der Einheimischen wurde durch den schnellen Einmarsch, sowie gezielte Festnahmen im Keim erstickt, noch bevor dieser wusste, was überhaupt geschehen war. Sicherlich. Es gab da einige Nordmänner, denen es gelungen war, sich dem Zugriff der Arkansichen Armee zu entziehen und sich weit in das Gebiet der Chicks in den Norden zu flüchten. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis auch diese sich dem Willen des Arkanischen Königreiches beugen würden.

«Heerführer Garak.», salutierte sein Major neben ihm und wartete geduldig, bis ihm sein Kommandant die Erlaubnis zum Sprechen erteilte.

Garak ließ sich jedoch Zeit. Er genoss den Triumph, die damit verbundenen neuen Privilegien und die Macht, die diese mit sich brachten. Hier oben in dem neuen Grenzland war er nun so etwas wie der König. Bis auf die Arkanische Königin und ihren engsten Berater, den Baron von Illmenstein, konnte er hier oben tun und lassen was er mochte. Doch er musste sich vorsehen. Das wusste er genau. Denn diese Macht war auch sehr verführerisch. Und ihre Auswirkungen manifestierten sich in Arroganz und Leichtsinn.

Unabhängig davon. Zuerst galt es hier im Norden für Recht und Ordnung zu sorgen und den Menschen bewusst zu machen, dass sie, die Arkanier, nicht ihre Feinde waren. Und er hatte schon eine Idee, wie er das hinkriegen wollte.

«Entschuldigung.», sagte der Heerführer schließlich an den Major gewandt. «Bitte sprechen Sie!», fuhr dieser fort und nippte an seinem Kelch mit dem verdünnten Wein.

«Heerführer. Wir haben alle Gefangenen zusammengetrieben. Sie sind nun bereit für den Abtransport.»

«Gut. Was ist mit den Baumeistern und ihren Gehilfen?»

«Sie haben alle Werkzeuge und Geräte zusammengepackt und auf die Wagen verladen. Die 300 Mann starke Einheit zu ihrem Schutz steht ebenfalls bereit. Alle warten nur noch auf ihren Befehl sich ihren Zielen zu zuwenden.»

Zufrieden blickte der Heerführer von seinem Zelt auf der kleinen Anhöhe auf den Zug von Wagen, Soldaten und Gefangenen.

«Sind Sie sich sicher, dass 300 Mann als Begleitschutz ausreichen?», hakte der Major unvermittelt beim Heerführer nach.

«Das Heer der Flüchtigen reitet in den Norden. Das Expeditionskorps ist ihnen auf den Fersen. Unsere Feinde sind momentan auf der Flucht. Sie sind weder organisiert noch in der Lage im Moment eine Streitkraft größer als 2000 Mann zu stellen. Bis es jedoch soweit ist, sind wir bereits in der alten Feste und haben uns verschanzt. Haben Sie Vertrauen, mein Guter. Alles läuft genau nach Plan.», antwortete der Heerführer, ohne seinen Blick von dem Zug abzuwenden.

«Wie sieht es mit dem Viehbaron aus?», fuhr der Heerführer nach einem Moment fort.

«Auf Befehl des Königs und des Barons ist dieser mit seinen Getreuen auf sein Land zurückgekehrt und hat mit dem Wiederaufbau seines Gutes begonnen. Seine Felder und…», begann der Major und wurde sogleich von dem Heerführer unterbrochen.

«Nein. Sein persönlicher Haushalt interessiert mich nicht. Ich will wissen, wie es mit der Straße zu der alten Feste aussieht. Wann wird diese fertiggestellt?»

«Darüber kann ich nichts sagen, Heerführer. Aber der Baron kennt seine Order.»

«Hm. Schickt eine Nachricht an unseren „Verbündeten“ und teilt ihm mit, dass ich so bald wie möglich mich persönlich von den Fortschritten beim Bau erkundigen möchte. Diese kleine Botschaft sollte den Viehbaron nicht vergessen lassen, was seine eigentliche Aufgabe ist. Nun gut. Und nun gebt das Zeichen zum Aufbruch!», raunte dieser selbstzufrieden, während sich sein Blick auf den Zug der Gefangenen konzentrierte.

Pflichtbewusst wandte sich der Major den wartenden Offizieren im Hintergrund zu und verteilte sogleich die Order ihres Vorgesetzten.

Begleitet von Fanfaren begann sich dieser schließlich seinen Weg in Richtung Nordwesten zu bannen.

Zufrieden wandte sich der Heerführer seinem Stellvertreter zu: «Major. Lassen Sie die Männer aufsitzen. Es wird an der Zeit, dass wir uns auf den Weg nach Heloport machen. Die Versammlung beginnt in einer Stunde und ich möchte unsere Gastgeber nicht warten lassen.»

«Verstanden, Heerführer.», salutierte dieser und begann sogleich die Wünsche seines Herrn in die Tat umzusetzen.

Zu später Abendstunde ritt der Heerführer in Begleitung seiner persönlichen Leibgarde, bestehend aus 10 Arkanischen Soldaten, in die Hauptstadt des freien Grenzlandes. Die Stadt machte auf den Heerführer keinen besonders wohlhabenden Eindruck.

Obwohl sich die Sonne bereits dem Horizont zuneigte, waren immer noch viele Bürger auf den Straßen der Stadt unterwegs. Langsam aber bemächtigt galoppierte der Hauptmann vor- weg. Die Menschen auf der Straße machten bereitwillig Platz, während ihre neugierigen Blicke die Neuankömmlinge keine Sekunde aus den Augen ließen. Hier und da tauchten vereinzelt Menschen am Straßenrand auf, die den Arkanischen Soldaten freudig zuwinkten oder „Lang lebe das Arkanische Königreich“ zuriefen. Doch mindestens genauso viele der Anwesenden auf der Straße hüllten sich in Schweigen.

Der Heerführer wusste nur zu gut, wie gefährlich die Gradwanderung war, die er hier vollführte. Schon einmal ist sein Vorgänger an jenem Ort, an diesem Volk gescheitert. Er musste sich also hüten. Und vor allem musste er seine Worte mit Bedacht wählen. Es galt sich das Vertrauen zu verdienen und genau das hatte er vor.

Langsam und freundlich lächelnd führte er sein Pferd entlang der Hauptstraße in Richtung der großen Halle des Friedens. Dabei war er stets bemüht hier und da ein freundliches Wort oder ein Lächeln an jene zu richten, die ihm und seinesgleichen freundlich gegenüber traten.

Als er letztendlich draußen vor der großen Halle sein Pferd zum Stehen brachte, fühlte er plötzlich eine gewisse Aufregung in sich aufsteigen. Für einen Moment schloss er die Augen und genoss dieses Gefühl.

Sicherlich, es gab viele Menschen, die dieses Gefühl nicht mochten. Denn es führte auch zur Unsicherheit. Er aber genoss es, denn erst in solchen Momenten hatte er das Gefühl, sich richtig lebendig zu fühlen.

«Heerführer.», durchbrach im nächsten Augenblick eine Stimme zu seiner Rechten seine Gedanken und brachte ihn zurück.

Langsam öffnete der Heerführer seine Augen und blickte auf den Hauptmann seiner Wachen. Mit einem leichten Nicken gab er diesem zu verstehen, dass alles in Ordnung seiEinen Augenblick später stieg der Heerführer von seinem Pferd ab und reichte die Zügel an einen der Soldaten.

«Heerführer. Sind Sie immer noch der Meinung, dass keiner meiner Männer Sie zu der Versammlung begleiten soll?»

«Ja. Alles andere würde die Anwesenden nur noch mehr einschüchtern.», erwiderte der Heerführer und legte mit einem Lächeln auf den Lippen seine Hand auf die Schulter des Hauptmanns. «Keine Sorge. Nur ein Narr würde versuchen, mich hier vor so vielen Zeugen zu töten. Aber falls sie es beruhigt. Ich habe dafür gesorgt, dass sich hinter dieser Tür genügend Männer und Frauen befinden, die uns freundlich gesinnt sind.»

Zufrieden wandte sich der Heerführer von dem Hauptmann ab und schritt gefolgt von diesem in Richtung Eingang. Dort erwartete ihn bereits der Viehbaron.

«Heerführer, es ist mir eine Freude Sie endlich hier im Norden begrüßen zu können. Hier in der Hauptstadt unseres Landes.», begrüßte ihn der Viehbaron.

«Viehbaron. Ich freue mich sehr, Sie hier anzutreffen. Doch fürchte ich, dass wir unseren Plausch auf einen späteren Zeitpunkt verlegen müssen. Kommt! Lasst uns das Volk der Nordmänner nicht länger auf die Folter spannen.», ordnete dieser an und schritt an dem Viehbaron vorbei in die große Halle.

Als schließlich der Heerführer durch den großen Eingangsbereich vorbei an einigen Nordmännern in die große Halle des Friedens eintrat, verstummte auf einen Schlag das Gemurmel der Anwesenden. Das einzige, dass in diesem Augenblick in der Bewegung nicht erstarrte, waren die Flammen der unzähligen Fackeln, welche den Raum in ein gelb-rotes Farbenspiel tauchten.

Mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht ließ der Heerführer seinen Blick entlang der Versammelten schweifen. Und dann, als er das Gefühl von Aufregung in sich erneut aufsteigend spürte, trat er einen Schritt vor und sagte mit fester Stimme: «Volk des Nordens. Ich weiß, dass das, was ich jetzt sage, nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Aber ich meinerseits freue mich hier zu sein. Versammelte, bitte…», fuhr dieser fort und hob die Arme, um seine Rede zu betonen, «lasst uns eins klarstellen. Ich bin nicht hier, um Ihnen irgendwelche Geschichten zu erzählen. Also kommen wir gleich zur Sache. Ich bin hier als Gesandter des Arkanischen Königreiches, um ihrem Volk Rede und Antwort zu stehen. Also bitte. Nur keine falsche Scheu. Fragen Sie mich all das, was Ihnen auf dem Herzen liegt. Und ich werde direkt antworten.», beendete dieser mit einem breiten Lächeln seine einleitende Rede.

«Wo ist mein Sohn und all die anderen Söhne und Töchter des Nordens?», durchbrach die Stimme einer älteren Frau in wohlhabender Kleidung, die gleich unten in der ersten Reihe saß, den Raum.

Der Heerführer blickte die Frau in ihren kostbaren Kleidern an. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters verfügte die Frau über eine Aura, die immer noch viele Männer in ihren Bann zog.

Sie muss eine wahre Schönheit gewesen sein, als sie noch jung war, dachte sich der Heerführer.

«Wenn ich mich nicht irre, dann sind Sie die Mutter von Sean, dem ehemaligen Hauptmann des Freien Grenzlandes.», schätzte der Heerführer sein Gegenüber ein und beugte sogleich leicht das Haupt in Richtung der Frau.

«Ihr Sohn…», fuhr er einen Augenblick später fort, das Wort an die gesamte Versammlung gerichtet «…sowie die anderen Männer und Frauen, die sich damals Ian und den Chicks angeschlossen haben, sind auf dem Weg in die alte Feste. Sie werden dort mit unseren Baumeistern die Minen wiederherrichten und dort solange arbeiten, bis sie gewillt sind, wieder Vernunft walten zu lassen.»

«Und was genau verstehen Sie unter Vernunft?», hakte die alte Dame spöttisch nach.

«Verehrte Anwesende. Ich will Ihnen nichts vormachen. Viele von den Anwesenden glauben, dass wir, das Arkanische Königreich, für die damaligen Überfälle verantwortlich waren und immer noch sind. Wir haben lange genug unsere Unschuld beteuert und ich persönlich bin nicht bereit, Ihnen ein weiteres Mal unsere Sichtweise der Ereignisse von damals zu schildern. Fakt ist, dass jener Personenkreis, den wir vorsorglich in Gewahrsam genommen haben, direkt oder indirekt an dem Komplott gegen unseren König beteiligt waren. Sie und vor allem Ian sind schuld an dem Tod unseres Königs. Wir, das arkanische Volk, sind nicht bereit, diesen feigen Angriff auf das Herz unseres Daseins so einfach zu akzeptieren. Viele Menschen in dem Arkanischen Königreich sind immer noch über das Verhalten, welches wir für unsere Hilfsbereitschaft erhalten haben, nämlich dem Verrat, vorsichtig gesagt, ungehalten. Viele von uns sehnen sich nach Rache und wollen gleiches mit gleichem vergelten. Die neue Königin jedoch sieht davon ab. Aus diesem Grund hat sie beschlossen, jene Männer und Frauen, die damals an der Ermordung ihres geliebten Bruders beteiligt waren, von ihren Verbrechen freizusprechen, wenn diese dem Blendwerk der Chiks sowie ein paar anderer fehlgeleiteter Nordmänner, abschwören. Bis dahin bleiben diese Personen in den Minen und werden für ihre Taten Buße tun.»

«Und bis dahin besetzen sie das ganze Land und berauben all den anderen ihr Recht auf Selbstbestimmung.», stellte die alte Dame verächtlich fest, ihre Abscheu gegenüber dem Heerführer und dem Arkanischen Königreich offen zum Ausdruck bringend.

«Ja und Nein.», fuhr der Heerführer unbeirrt fort und richtete seine Worte an die Versammelten. «Um die Wogen zu glätten und Stabilität in das Land zu bringen sowie ein weiteres Eingreifen seitens der Chiks zu unterbinden, blieb uns keine andere Wahl, als dieses Land vorerst zu seinem eigenen Schutz in die Obhut unseres Königreiches zu legen. Ein weiterer Grund für dieses Vorgehen ist der Tatsache geschuldet, dass es in dem freien Grenzland genügend Menschen gibt, die dem Blendwerk der Chiks nicht erlegen sind und diese wiederum uns um Beistand gebeten haben. Hier möchte ich insbesondere auf die Liga Pro Arkanisches Königreich unter der Führung des Viehbarons verweisen.», sagte er und wandte sich im nächsten Augenblick dem Viehbaron und seinen Getreuen auf der gegenüber liegenden Seite der alten Dame in der Halle zu.

«Heerführer. Bei allem Respekt. Auch wenn dieser nicht wirklich groß ist.», riss die alte Dame das Wort an sich und erntete einen bitterbösen Blick von Seiten des Heerführers. «Können Sie mir und dem Rest der Versammelten mitteilen, und zwar ohne diese ganzen Floskeln und rhetorischen Redewendungen, wie es nun mit dem freien Grenzland weiter gehen soll?»

«Wie Sie wünschen.», begann der Heerführer und unterdrückte die Wut gegenüber der alten Hexe. «Aufgrund der vorangegangenen Ereignisse ist das Königreich nicht gewillt, Sean als euren Vertreter anzuerkennen. Aus diesem Grund möchte ich euch im Namen des Arkanischen Königreiches ersuchen einen neuen Vertreter als Hauptmann zu wählen. Dieser wird, wie seine Vorgänger vor ihm, das Land führen und nach seinem Willen gestalten. Wir, also das Arkanische Expeditionsheer, werden uns mit Beginn des folgenden Tages aus sämtlichen Städten zurückziehen und an strategischen Punkten mit der Errichtung von provisorischen Forts, Kontrollpunkten sowie zivilen Einrichtungen wie Arkanischen Botschaften beginnen, um dieses Land von einer Invasion durch die Chiks zu schützen. Jedem Mann und jeder Frau steht es frei all diese Einrichtungen aufzusuchen, sei es um Handel zu treiben oder Hilfe zu erbitten. Ziel der Arkansichen Botschaften wird es sein, jedem der es wünscht, eine mögliche Anstellung anzubieten für all die ausstehenden Projekte sowie medizinischen Beistand zu geben. Des Weiteren werden die Botschaften als eine Art Kommunikationsstelle fungieren zwischen den Bewohnern des freien Landes und dem Arkanischen Königreich.», stellte der Heerführer die Pläne seines Königreiches knapp vor.

«Für all ihre Projekte benötigen Sie Land. Woher nehmen Sie das und wer soll für all Ihre Projekte aufkommen?», warf ein Mann aus der obersten Reihe ein und erntete sofort Zustimmung unter den Anwesenden.

«Jeder der gewillt ist sein Land an uns zu verkaufen, wird den handelsüblichen Preis sowie einen Bonus von 10% für sein Eigentum erhalten. Für all die, die uns helfen wollen am Straßenbau, Errichtung von Stützpunkten sowie an den vielen anderen Projekten mitzuwirken, sind wir bereit eine Krone am Tag zu bezahlen.», antwortete der Heerführer.

Und seine Worte blieben nicht ohne Wirkung. Die Aussicht eine ganze Krone für einen Arbeitstag zu erhalten, sorgte für Getuschel unter den Anwesenden. Schließlich entsprach eine Krone fast dem doppelten Tageslohn.

«Aber dafür nimmt ihr uns das Erz weg!», bohrte die alte Dame nach, verärgert darüber, dass niemandem das Offensichtliche auffiel.

«Nein! Euch nicht. Wenn ich mich recht erinnere, dann gehört jenes Land den Chiks.», stellte Garak zufrieden fest. «Gute Frau. Ich weiß nicht, was Sie über das Arkanische Königreich denken. Aber bei uns wächst das Geld nicht an den Bäumen. All die Projekte, die im freien Grenzland durchgeführt werden, werden auch den Menschen vor Ort nutzen. Ja, wir behalten das Erz der Chiks. Aber wir sehen es als Reparationszahlung an.»

«Verstehe ich das richtig?», hakte eine stämmige Frau aus der dritten Reihe nach. «Alles was die Gefangenen also machen müssen, um wieder frei zu kommen, ist zu beteuern, dass die Chiks für den Konflikt verantwortlich sind und nicht das Königreich?»

«Ja genau. Die meisten der Männer und Frauen kommen raus, sobald sie hier in der großen Halle des Friedens, vor ihrem Volk und mir als Vertreter des Arkanischen Königreiches zugeben, dass sie auf die Chiks hereingefallen sind und vor den Versammelten einen Eid ablegen keine Handlungen gegenüber den Arkanischen Soldaten und ihren Verbündeten durchzuführen. Des Weiteren sind jene verpflichtet sich an einem der vielen Stützpunkte alle zwei Tage persönlich zu melden.»

«Diese Bedingungen sind unzumutbar!», schrie einer der Anwesenden aus dem Publikum heraus, was sich so mancher dachte.

«Ja, ich gebe es zu. Für einige wird es schwer sein über ihren Schatten zu springen und vor den Versammelten zu zugeben, dass sie auf einige wenige hereingefallen sind. Anderen wiederum mag die Pflicht sich alle zwei Tage an einem der Kontrollpunkte zu melden als mühsam erscheinen. Aber wenn denjenigen die Anstrengung an der frischen Luft zu viel abfordert, hat die Wahl in der Mine zu bleiben.», stellte Garak trocken fest.

«Sie sagten die meisten. Heißt das Sie unterscheiden zwei Gruppen von Gefangenen?», mischte sich erneut die alte Dame ein.

«Ja, das ist richtig. Einen kleinen Teil der Gefangenen wird erst die Möglichkeit auf Begnadigung nach einer Frist von drei Jahren gewährt. Zu den Ausgewählten gehört ebenfalls Sean!», erwiderte dieser zufrieden und stellte zu seiner Freude fest, wie die Farbe aus dem Gesicht der alten Hexe verschwand.

Erneut entbrannte Getuschel unter den Anwesenden. Und als schließlich ein wirres Kauderwelsch von Stimmen den Raum einzuhüllen drohte, erhob Garak erneut die Stimme: «Verehrte Anwesende. Gibt es noch Fragen, die hier und jetzt besprochen werden müssen, die meine Anwesenheit bedürfen? Ansonsten würde ich mich jetzt zurückziehen. Schließlich haben Sie noch einen Hauptmann zu wählen, der euer Volk durch die turbulenten Zeiten führen soll.»

«Ja, eine wesentliche Frage habe ich noch», nahm ein Mann mittleren Alters, gleich neben der alten Dame, das Wort an sich und fuhr erst fort, als er die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich spürte: «Wie lange gedenken Sie unser Land zu besetzen. Entschuldigung, in Ihrer Obhut zu behalten?»

«Es gibt eine Liste auf der etwa 300 Namen stehen. Alle Personen auf der Liste werden direkt oder indirekt mit dem Tod des Königs in Verbindung gebracht. Sobald wir diese Verbrecher gestellt haben und keiner der Bürger unseren Schutz benötigt, werden wir uns zurückziehen.», antwortete dieser.

«Für die einen Verbrecher, für die anderen Helden.», spuckte die alte Dame die Worte dem Heerführer ins Gesicht.

«Die Interpretation überlasse ich jedem selbst. Bis dahin möchte ich mich für ihre Zeit bedanken und wünsche einen gesegneten Abend.», sagte dieser, verbeugte sich leicht, machte auf der Stelle kehrt und verließ die Versammlung.

«Heerführer!», rief der Viehbaron, als dieser draußen umzingelt von seinen Soldaten neben seinem Pferd zum Stehen gekommen war. «Glauben Sie wirklich, dass das hier eine gute Idee ist?», spie dieser die Worte völlig außer Atem aus.

«Sie meinen, dass ich all denen in der Halle die Wahl gelassen habe, ihren eigenen Vertreter zu wählen?»

Der Viehbaron blickte in sein Gegenüber und nickte leicht mit dem Kopf.

Von einem Moment auf den anderen tauchte ein Lächeln auf den Lippen des Heerführers auf. «Mein lieber Herr Viehbaron. Wir hätten natürlich einen Hauptmann bestimmen können. Doch dieser würde von vielen nur als Marionette betrachtet werden. So aber gaukeln wir den Menschen so etwas wie Entscheidungsfreiheit vor und sorgen gleichzeitig dafür, dass jene die nicht wissen, wem sie vertrauen sollen, nicht gleich in die Hände unserer Gegner getrieben werden.»

«Aber…», begann der Viehbaron und wurde sogleich von dem Heerführer unterbrochen.

«Nichts aber, mein Lieber. Das, was wir wirklich hier und heute sagen wollten, haben wir gesagt. Alles andere erledigt für uns die menschliche Natur.», erwiderte Garak und grinste breit. «Verstehen Sie mein Lieber.», fuhr dieser fort, legte freundschaftlich seine Hand über die Schulter und drehte den Viehbaron in Richtung der großen Halle. «Viele der Anwesenden in der Halle sind bereits damit beschäftigt, das Geld zu zählen, was sie noch nicht haben, aber eventuell bei uns verdienen könnten. Ob diese sich dadurch kaufen oder indirekt an den Gütern der Chiks bereichern, spielt inzwischen keine wesentliche Rolle mehr. Denken Sie immer daran mein lieber Herr Viehbaron. Der Mensch denkt zuerst an sich und an den augenblicklichen Vorteil und nicht daran, welche Konsequenzen sein Handeln irgendwann in Zukunft möglicherweise haben könnte. So war es immer und so wird es auch in Zukunft sein.»

Der lange Ritt durch die Berge und Täler des Horas Gebirges hatte bei jedem nicht nur körperliche Spuren hinterlassen, sondern auch psychische. Noch vor ein paar Tagen, da strotzte jeder vor Tatendrang und die Stimmung aller war auf dem Höhepunkt. Doch mit jedem Tag, den der Zug sich durch das Gebirge schlängelte, war der enorme Kraftaufwand und die damit verbundenen Entbehrungen jedem ins Gesicht geschrieben.

Aber so war es schon immer gewesen. Sobald es anstrengend wurde, wollte man am liebsten alles hinter sich lassen, sich vor das warme Kaminfeuer setzen und die Füße hochlegen. Doch diese Option gab es schlicht weg nicht mehr für Jamie und den vielen anderen im Zug. Und so wälzten sich Ross und Reiter durch die unendliche Vielfalt des Gebirges und träumte davon überall zu sein, nur nicht hier. Schließlich war es irgendwann endlich so weit. Nach Tagen im Sattel erreichte der Zug sein Ziel. Zufrieden und erleichtert stand Jamie mit seinem Pferd Seite an Seite mit Gul-Marak und dessen schwarzen Hengst und blickten auf das Meer von Zelten.

Es war ein herrlicher Sommertag. Die Vögel zwitscherten und eine leichte Brise aus den Osten vertrieb die schwüle Hitze, die über den Tälern lag. Den Blickfang aber bildete das Meer im Osten, mit den steilen Gebirgszügen im Wasser, die labyrinthartig die Bucht von dem offenen Meer abgrenzten. Jamie konnte seinen Blick von diesem Panorama nicht abwenden. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er das Meer mit seinen Augen betrachtete. Und sofort fühlte er sich in dessen Bann gezogen.

«Da sind wir endlich.», bestätigte Gul-Marak das Offensichtliche und breitete seine Hände aus. «Eigentlich kommen wir nur im Winter an diesen Platz. Doch mit dem Einmarsch der Arkanischen Armee hielten wir es für das Beste unsere Familien hier in Sicherheit zu bringen. Es gibt noch drei kleinere Täler etwas weiter im Norden, auf denen sich der Rest meines Volkes verteilt hat. Ich persönlich habe dieses Tal all den anderen vorgezogen. Den Grund dafür kannst du im Osten selbst erkennen. Meiner Meinung nach ist es im Winter hier noch schöner. Dann gibt es Robbenfleisch und vieles mehr. Ah, wenn ich nur an die Jagdausflüge mit meinem Vater zurückdenke, dann wünsche ich mir es wäre wieder Winter.», schwelgte Gul-Marak für einen Moment in Erinnerungen.

Bei der Erwähnung von Alko musste Jamie unweigerlich an seinen Vater und dann an Ilianer denken: «Ich frage mich gerade, wo sie sind!», gab er schließlich seiner Sehnsucht einen Klang.

«Du meinst mein Vater und deine Schwester?»

«Ja…, und der Rest von unseren Freunden und Verbündeten.»

«Mit etwas Glück finden wir ein paar Antworten auf diese Frage bei meinem Volk. Vielleicht haben sie inzwischen ein paar Neuigkeiten zusammengetragen.»

«Dann lass und keine Zeit mehr verlieren und unsere Neugier stillen.», gab Jamie Gul-Marak zu verstehen und gab seinem Pferd ein Zeichen, sich wieder in Bewegung zu setzen.

Mit einem Lächeln auf den Lippen gab Gul-Marak seinem Pferd die Sporen und führte, wie der Rest des Zuges, sein Pferd die kleine Anhöhe herunter.

Um die Mittagstunde saßen viele Männer und Frauen aus dem Zeltlager zusammen mit den Neuankömmlingen verteilt um die vielen Lagerfeuer und verzerrten ihr Mahl bestehend aus gebratenen Fisch, Früchten und Gemüse. Nach den vielen Tagen auf dem Rücken der Pferde tat es den meisten einfach nur gut, sich von vorn nach hinten bedienen zu lassen. Während die meisten Menschen aus dem Norden sich zum ersten Mal an dem Anblick des Meeres labten und das salzige Wasser auf ihrer Haut spüren ließen, saß Jamie mit Brutus, Mulak und Gul-Marak rund um eine ausgebrannten Feuerstelle und besprachen sich mit dem Anführer dieses Lagers.

«Soweit wir das beurteilen können, hat euch nach eurer Flucht aus eurer Heimat keiner bis hierhin verfolgt. Ihr müsst wissen, wir haben viele Waldläufer entlang verschiedener strategischer Punkte stationiert. Nichtsdestotrotz, es war gewagt hierher zu kommen.», fuhr der Stammesälteste fort, Jamie und Brutus einen Augenblick länger musternd, als das es Jamie lieb gewesen wäre.

«Alko war sich der Gefahr bewusst. Wir alle haben lange überlegt, welche der vielen Optionen in der Kürze der Zeit die Beste wäre. Letztendlich erschien uns in Anbetracht der Zustände diese als die Aussichtsreichste.», antwortete Gul-Marak stellvertretend für alle.

Zähneknirschend und sich der Realität des Augenblicks bewusst werdend, ließ schließlich der Redensführer davon ab, weiter über das, was ohnehin nicht mehr zu ändern war, zu sprechen und konzentrierte sich stattdessen auf das Kommende. «Euer Plan ist gewagt.», nahm er den Gesprächsfaden auf, dabei Jamie mit seinen klaren grünen Augen fokussiert. «Seid ihr auch sicher, dass ihr uns den ganzen Plan erzählt habt und nicht nur einen Teil.»

Bei der Anspielung auf Ian und dessen Offenbarung des wahren Plans auf der Steinebene vor Arag, entglitt Jamie plötzlich ein Lächeln. «Ja, ich bin mir sicher, dass ich euch alles erzählt habe.»

Plötzlich schien sich eine gewisse Leichtigkeit über alle Anwesenden zu legen. «Dein Vater war ein großer Mann. Vergiss das nicht. Wenn ihr alle zusammen mit Alko so entschieden habt, dann werden wir euch mit allem was wir haben unterstützen.», sagte dieser etwas freundlicher und nahm ein Schluck Wasser aus seinem Trinkhorn.

«Wir danken euch für eure Unterstützung.», übernahm Gul-Marak das Sprechen und fuhr fort. «Mein Vater hat die meisten Krieger der verschiedenen Clans um sich geschart. Für unser Vorhaben brauchen wir jedoch weitere 700 bis 800 Krieger sowie Vorräte um die Überquerung durch das Gebirge sicher zu bestehen. Den Rest werden wir dann abhängig von der Situation, die wir vorfinden, erledigen.»

«Wir werden euer Anliegen an alle unsere Krieger weiterleiten. Doch bei dem Ruf, den vor allem ihr innerhalb unseres Volkes genießt, wird es kein Problem sein, genügend Freiwillige zu finden, die euch folgen. Was die Vorräte angeht, so wird es mindestens noch einen weiteren Tag dauern, bis wir alles zur Verfügung gestellt haben.»

«Danke, ihr seid wirklich eine große Hilfe für uns. Doch sagt! Gibt es Neuigkeiten aus dem freien Grenzland?», hakte Jamie nach.

«Bis jetzt noch nicht. Unsere Waldläufer sind zwar überall im Norden unterwegs. Aber die hohe Präsenz an Arkanischen Soldaten macht es uns schwer im Moment den Informationsfluss aufrecht zu erhalten. Doch mit der Zeit, wenn die Aufmerksamkeit und die Anzahl an Patrouillen nachlässt, sollten wir in der Lage sein, uns ein besseres Bild zu machen.»

«Gibt es noch weitere Neuigkeiten von Seiten meines Vaters?», schaltete sich Gul-Marak ein.

«Von deinem Vater? Leider Nein!.», entgegnete der Stammesführer knapp.

«Na gut.», sagte Jamie schließlich und wandte sich an die Versammelten. «Wenn es sonst nichts Wichtiges zu besprechen gibt, würde ich gern die verbliebene Zeit nutzen, um sie mit meiner Familie zu verbringen, bevor ich sie für einen ungewissen Zeitraum verlasse.»

«Dein Ansinnen ist nur verständlich. Geh und genieße die Zeit, die dir verbleibt.», beendete dieser offiziell die Versammlung mit einem verständnisvollen Lächeln.

Zufrieden erhob sich Jamie auf seine Füße und trabte zwischen den Zelten hindurch, zu dem Zelt, welches seinen Angehörigen zugewiesen wurde.

«Wirst du zurechtkommen?», richtete Jamie die Frage an seine Mutter, als er neben ihr zum Stehen kam.

Freya wandte sich ihrem Sohn zu und blickte diesen lächelnd an. «Um mich und den kleinen Ian musst du dir keine Sorgen machen. Sieh! Er tollt bereits mit den anderen Kindern des freien Volkes umher.»

«Das tue ich auch nicht. Aber wie ist es mit Lena?»

«Keine Sorge. Ihr Ärger wird schon bald verflogen sein. Dann wird sie sich an die Umgebung und die Menschen anpassen.»

«Ich bin da nicht so optimistisch. Zumal sie mehr von mir hat, als mir das lieb ist.»

Mit einem Lächeln musterte Freya Jamie. Und dann trat sie einen Schritt vor und umarmte ihren Sohn. Für einen Moment fiel die Anspannung von Jamie ab. Seine trüben Gedanken und Ängste lösten sich wie ein unsichtbarer Schleier und verschwanden. Plötzlich konnte er sogar das Rauschen des Meeres im Hintergrund wahrnehmen. Ruhe und Zufriedenheit begann sich in ihm auszubreiten. Genauso wie damals, bevor der Konflikt ihn und seine Familie in einen reißenden Strudel zog. Auf einmal manifestierte sich die Silhouette seines Vaters vor seinem inneren Auge und begann ihn anzulächeln. Tränen begannen sich schließlich ihren Weg in die äußere Welt zu bahnen und den Kummer um das Verlorene mit sich zu tragen.

«Geht es dir gut mein Sohn?», fragte Freya einen Moment später, eine Träne mit dem Daumen von Jamies Gesicht wegwischend.

«Ja.», bedeutete Jamie seiner Mutter in einem Ton, in dem Bedauern steckte. «Es ist nur so, dass ich immer wieder an die Zeit zurückdenken muss, als ich mit Vater im Streit lag. Heute würde ich so einiges dafür geben, nur noch einen Moment mit ihm und euch allen, einen einzigen Tag auf unseren Hof verbringen zu können.»

«Jamie. Es hilf dir nichts, dem nachzutrauern, was nicht mehr ist. Weißt du Jamie an wen du mich im Moment erinnerst?», stellte sie die Frage ohne eine Antwort zu verlangen. «An deinen Vater. Damals, als ich ihn aufgelesen habe. Er war so mit der Vergangenheit und damit, dass er an seinen eigenen Vorstellungen von sich selbst und der Welt gescheitert ist, beschäftigt, dass er für nichts mehr offen war. Jamie! Wir sind so, wie wir sind. Fehlerhaft, naiv, überheblich und ein stückweit dumm. Wir können nicht ändern was war. Aber wir können versuchen zu ändern was kommt. Darauf musst du dich konzentrieren. Alles andere musst du lernen loszulassen.»

«Ich kann nicht.», zischte Jamie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und senkte langsam niedergeschlagen den Kopf herunter.

Freyas Reaktion kam völlig unerwartet und erwischte Jamie unvorbereitet. Aber die Ohrfeige verfehlte nicht ihre Wirkung.

Erschrocken blickte Jamie seine Mutter an und wusste zuerst nicht, was er sagen sollte.

Doch schon im nächsten Augenblick übernahm Freya das Wort: «Jamie, du kannst dich selbst hassen, quälen oder anderweitig bestrafen. Aber eins lass dir gesagt sein. Dein Vater hat nicht für dich und alle anderen sein Leben geopfert, damit man dem, was war, nachtrauert, sondern um dir und all den anderen eine Zukunft zu schenken. Also reiß dich endlich zusammen und sei der Mann der du bist. Schließlich bist du nicht der einzige der etwas verloren hat. Aber du fragst nicht einmal, wie es den anderen geht oder?», stellte Freya bekümmert fest und blickte ihren Sohn herausfordernd an.

Jamie wusste zuerst nicht, was er sagen sollte. Doch dann nahm er die Bedeutung der Worte wahr. Plötzlich begann er Scham zu empfinden. Scham darüber, dass er völlig ausgeblendet hat, dass ebenfalls andere einen Vater oder Ehemann verloren haben. In diesem Moment spürte Jamie Wut in sich aufsteigen. Wut über seine Kurzsichtigkeit. Er wollte am liebsten laut aufschreien und all der Wut und was ihn sonst noch bedrückte freien Lauf zu lassen. Doch dann spürte er zwei sanfte Hände an sich, die ihn zu sich zogen und ihn festhielten.

«Es ist nicht deine Schuld Jamie. Dein Vater hat am Ende selbst entschieden, so zu handeln wie er gehandelt hat. Nicht du. Er hätte auch den Kampf zwischen den beiden Armeen entfesseln können. Doch ihm war das Leben so viel wert, dass er bereit war vieles dafür zu tun, um es zu bewahren. Und du weißt jetzt nach dieser Erfahrung wie wertvoll das Leben ist. Was es bedeutet, wenn eines dieser Leben plötzlich nicht mehr da ist. Also nutze diese Erfahrung für dich, für all die Männer, die du die Tage und Wochen anführen wirst. Verstanden!»

Langsam bewegte Jamie seinen Kopf vor und zurück.

«Da ist noch eine Sache, die ich dir jetzt schon mit auf den Weg geben möchte. Ich habe es damals auch deinem Vater gesagt. Wenn du jeden Morgen aufstehst und du das Gefühl hast, dass das Leben einen faden Beigeschmack hat, dann steh auf, stell dich hin und sag zu dir selbst: „Neuer Tag, neues Glück“. Denn schließlich atmest du noch und kannst deine Welt mit deinem Handeln beeinflussen. »

Der Tag des Aufbruchs kam schneller als erwartet. Am frühen Morgen des folgenden Tages wurde Jamie von Geräuschen geweckt. Langsam und von Müdigkeit erfüllt, stand Jamie auf und verließ das Zelt seiner Mutter und Schwester sowie seines Neffens. Die Sonne war gerade dabei im Osten aufzugehen. Der Himmel am Horizont war in einen roten Schleier gehüllt. Jamie blickte auf das Meer und das Panorama und fühlte sich an die Worte seiner Mutter erinnert. Er kam sich albern vor. Doch ohne weiter darüber nachzudenken sagte er schließlich die Worte: «Neuer Tag, neues Glück.»

«Es ist an der Zeit Jamie», begrüßte Brutus sein gegenüber mit einem Lächeln und legte diesem freundschaftlich eine Hand auf die Schulter.

Schweren Herzens löste sich Jamies Blick von dem Naturschauspiel. «Komm! Das wird ein langer Tag mein Freund.»

In den nächsten Minuten wandelte sich die schlafende Zeltstadt in ein Gewirr aus Leibern und Stimmen. Überall liefen Frauen und Männer herum, verstauten die letzten Vorräte in ihren Satteltaschen oder verabschiedeten sich von ihren Angehörigen. Hier und da liefen die Kinder mit ihren Holzschwertern zwischen den Menschen herum und spielten ihren eigenen Feldzug nach. Als schließlich alle Anzeichen auf Aufbruch deuteten, trat Jamie ein letztes Mal an seine Mutter und Klein-Ian zu.

«Mutter, ich werde…», begann dieser und wurde von seiner Mutter unterbrochen.

«Bitte. Keine Versprechen. Denk einfach an das, was ich dir gesagt habe.»

«Ja, Mutter. Ich werde mich bemühen.», versicherte Jamie und blickte sich um. «Wo ist Lena?»

Auf seine Frage hin begann seine Mutter zu lächeln. Aber genauso schnell wie das Lächeln kam, verschwand es und Tränen begannen sich aus ihren Augenlidern zu lösen.

«Sie ist wirklich meine Schwester. Aber keine Sorge. Ich werde auf sie aufpassen.», versuchte Jamie seine Mutter zu trösten und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Schließlich entließ er sie aus seiner Umarmung und hob für einen kurzen Moment seinen Neffen hoch und blickte ihm in die Augen. Er ließ Klein-Ian langsam herunter, dann stieg Jamie auf sein Pferd und ließ seinen Blick entlang der versammelten Gesichter schweifen. Schließlich traf sein Blick auf Gul-Marak und wie zur Bestätigung nickte Jamie.

Daraufhin übernahm Gul-Marak die Führung des Zuges und trieb die Männer unter den Rufen der Zurückbleibenden fort von dem Zeltlager in Richtung der Berge im Süden. Es dauerte fast eine halbe Stunde bis der letzte Mann die Ebene verließ und sich dem Zug anschloss. Aber nun waren sie endlich auf dem Weg in eine unbestimmte Zukunft.

Ihr Weg führte sie über Wiesen, vorbei an einem Fluss, entlang vereinzelter Bäume bis sie schließlich die Ausläufer der Berge erreichten. Gul-Marak ließ seine Späher ausschwärmen um der ganzen Armee den Weg zu weisen. Vor ihnen lagen zwei bis drei Tage harten Marsches durch eine Berglandschaft, gezeichnet durch tiefe Schluchten, enge Passagen und steile Aufstiege. Doch egal wie mühsam und gefährlich ihr Marsch war: Sie hatten einfach keine Alternative, wenn sie erfolgreich sein wollten. Und so mühten sich Ross und Reiter durch die Bergwelt, während die Sonne unerbittlich auf sie niederbrannte.

Als schließlich der erste Tag zu Ende ging, hatte die kleine Armee einen Toten zu beklagen, der mit seinem Pferd einen Abhang heruntergestürzt war. Außerdem haben sich mindestens vier Tiere so schwer verletzt, dass sie erlöst werden mussten. Und dann kam die Nacht. Entlang der engen Schluchten mussten die Männer teilweise neben ihrem Pferd auf dem steinigen Boden schlafen.

Als der Morgen endlich kam, waren die Männer froh, nach einer kargen Mahlzeit weiter zu ziehen. Müde und geschlaucht setzten sie wieder einen Fuß vor den anderen und schleppten sich den Weg entlang durch die Berge. Hier und da mussten sie notgedrungen eine Pause einlegen, um die schmalen Pfade von heruntergerolltem Geröll zu befreien. Aber als auch dieses Hindernis hinter dem Heer lag, ging es nur langsam voran. Mit dem Sonnen-untergang häuften sich zunehmend kleine Pausen, die dadurch hervorgerufen wurden, dass bei den schlechten Lichtverhältnissen Mensch und Tier immer wieder ins Stolpern gerieten und sich selbst sowie andere in Gefahr brachten. Schließlich gab Gul–Marak seinen Männern den Befehl sich zur Nachtruhe zu begeben. Aber auch diese Nacht brachte genauso wenig Erholung wie die Letzte. Und so wunderte sich auch keiner, dass der Marsch mit den ersten Sonnenstrahlen fortgesetzt wurde. Schließlich war es am Ende des dritten Tages endlich so weit. Die Männer verließen im Schutz des Waldes die Berge und schlugen ihr Lager unter den Kronen der Bäume auf. Gul-Marak und Jamie ließen Wachen aufstellen. Anschließend kümmerten Sie sich um die Verletzten und die Organisation des Lagers.

Der lange Marsch durch die Berge hatte von allen seinen Tribut gefordert. Ausgezerrt von den Strapazen fielen die ersten Männer und Frauen bereits nach wenigen Minuten in einen tiefen Schlaf. In einem Moment der Ruhe legte sich Jamie auf seine Pferdedecke und dachte an die drei Kampfgefährten zurück, die den Weg nicht überlebten. In diesem Moment wurde ihm bitter bewusst, dass noch viel mehr von ihnen sterben würden. Und dieses Mal gab es keinen Ian, der sie retten konnte. Plötzlich begriff Jamie mehr denn je, was sein Vater mit seinem Opfer vollbracht hatte.

«Jamie.», sagte Brutus über ihn gebeugt und blickte diesen an. «Hm. Wie soll ich dir das am besten erklären…», begann er und wurde sogleich von Jamie unterbrochen.

«Brutus. Ich weiß. Lena ist hier. »

«Woher weißt du, dass sie hier ist?»

«Ist so eine Familiensache.», stellte Jamie fest und musste plötzlich lächeln.

Mit einem Grinsen wandte sich Brutus um und gab jemanden hinter ihm ein Zeichen. Einen Augenblick später tauchte hinter Brutus Lena auf und grinste unverschämt.

«Komm!», forderte Jamie sie auf, stand auf und zeigte auf die Satteltaschen. «Iss was. Du wirst deine Kräfte noch brauchen.»

«Wo willst du hin?», fragte Lena verunsichert, als Jamie sich zum Gehen wandte. Die ganze Geschichte kam ihr seltsam vor. Sie hatte einen Wutausbruch erwartet. Doch nichts der- gleichen geschah.

«Gul-Marak, Brutus, Mulak und ich, wir haben uns die Nachtwache geteilt, um die Wachposten zu unterstützen. Und nun ist es an mir meine Pflicht zu erfüllen. Iss und schlaf, ich lege mich nachher zu dir!», befahl er und verließ sie.

Ilianer stand auf einem Felsvorsprung und blickte in die Landschaft. Tatsächlich. Sie wollte es zuerst nicht glauben. Doch von hier sah sie deutlich, wie die Arkanische Armee den Rückzug vollführte. Inzwischen war es der siebte Morgen seit ihrer Flucht aus ihrem angestammten Heim. Vor drei Tagen haben sie sich mit der Streitmacht der Chiks vereinigt und sind vor ihren Häschern weiter in den Norden geflüchtet. Mittlerweile zählte ihre Streitkraft 2000 Mann. Zahlenmäßig waren sie immer noch dem Arkanischen Heer unterlegen. Doch so viele Menschen an einem Ort gaben ihr und den anderen ein gewisses Gefühl von Stärke und Sicherheit.

«Ich habe es dir doch gesagt.», erinnerte Martok seine Frau an das vorhin gesagte.

Sie sind auf dem Rückzug. Ja, das hatte er gesagt. Aber sie musste es mit ihren eigenen Augen sehen, um es zu glauben.

«Komm!», forderte Martok Ilianer auf. «Lass uns zurück zu den anderen gehen und uns mit ihnen besprechen, wie wir als nächstes vorgehen wollen. Die Späher werden uns warnen, falls der Rückzug der Arkanischen Armee nur eine Finte ist.»

Martok folgend, kletterte Ilianer die Felsen herunter und kehrte zum Lager der Chiks zurück. Alko, Drako, Harald, Melcom und ein paar andere standen um eine ausgebrannte Feuerstelle herum und unterhielten sich bereits aufgeregt.

Als sie Martok und Ilianer näher kommen sahen, unterbrachen sie für einen Moment ihr Gespräch. Einer Geste von Alko folgend, setzten sich die beiden auf den Boden um die ausgebrannte Feuerstelle.

«Es scheint so, als ob die Arkanische Heeresführung nicht bereit ist, dieselben Fehler zu wiederholen. Es ist noch zu früh um voreilig Schlüsse zu ziehen. Aber alles deutet daraufhin, als ob das Arkanische Heer nur dazu da ist, uns von dem Grenzland fernzuhalten.», ließ Alko alle an seine Gedanken teil werden.

«Das heißt, wir können ihnen die Regeln des Kampfes nicht diktieren.», kommentierte Drako das eben gesagte.

«Richtig.», erwiderte Alko und fuhr fort. «Wir müssen aber auch ehrlicherweise uns eingestehen, dass wir mit unserer Truppenstärke nicht in der Lage sind, einen militärischen Sieg gegen unseren Gegner zu erringen.»

«Schlimmer noch wiegt die Tatsache, dass wir nicht einmal genau wissen, wo sich der Rest des Arkanischen Heeres befindet.», warf Melcom ein.

«Na ja...», begann Drako. «Das stimmt nicht so ganz. 5000 Mann sind grade dabei sich in das Grenzland zurückzuziehen. Etwa 2000 sind über das ganze Grenzland verteilt und machen durch ihre Präsenz den Menschen klar, wer nun dort das Sagen hat.»

«Richtig. Doch was ist mit den anderen schätzungsweise 5000 Mann?», warf Melcom ein.

Das war eine berechtigte Frage, auf die zurzeit keiner eine Antwort wusste.

«Uns bleibt vorerst nichts anderes übrig, als uns ruhig zu verhalten und auf Informationen seitens unserer Spione aus dem Grenzland zu warten.», stellte Harald ein Augenblick später fest.

«Soll das heißen, wir sitzen hier erst einmal fest und drehen Däumchen?», führ Drako sichtlich unzufrieden fort.

«Nein!», beantworte Alko die Frage. «Sicherlich. Wir sind aufgrund mangelnder Informationen in unserem Handlungsspielraum etwas eingeschränkt. Unabhängig davon sollten wir an dem Plan von Jamie festhalten.»

«Wir werden also anfangen unseren Guerilla-Krieg zu führen.», stellte Martok fest.

«Richtig.», bestätigte Alko. «Dieses Mal müssen wir uns auf einen längeren Schlagabtausch einstellen. Die Möglichkeit, die wir damals mit Ian bekommen haben, werden wir nicht so schnell wiedererhalten. Jamie hat recht. Wir müssen langfristig handeln und planen. Und je länger der Krieg dauert und je kostspieliger er wird, ums so weniger wird er sich für das Arkanische Königreich lohnen.»

«Stammesführer Alko.», unterbrach ein junger Krieger die Zusammenkunft und fuhr fort: «Unsere Späher haben im Westen Waldläufer gesichtet. Es scheint so, als ob wir bald erste Nachrichten aus dem Grenzland bekommen.»

Auf die Neuigkeit hin breitete sich hinter dem Kriegsrat Gemurmel aus. Die Herumstehenden, die sich ein Bild von der Lage ihres Heeres und über das weitere Vorgehen ein Bild machen wollten, verfielen in Gemurmel.

«Wann sind die Waldläufer hier?», hakte Alko nach.

«In etwa zwei Stunden.»

«Sehr gut. Bis dahin schlage ich vor, dass wir unsere Besprechung vertagen. Männer, nutzt die Zeit. Geht auf die Jagd. Bringt eure Ausrüstung auf Vordermann. Sobald die Boten hier sind, setzen wir uns wieder zusammen.»

Ilianer und Martok nutzten die Zeit um sich einen Augenblick Ruhe und Zweisamkeit zu gönnen. Andere Männer und Frauen wiederum nutzten den Moment für Vorbereitungen, die Jagd und alles andere, was bei einem Heer solcher Größe an Aufgaben anfiel.

Als schließlich die Waldläufer im Lager erschienen, war die Neugier der Männer kaum zu bändigen. Erneut versammelt saßen Alko und die restlichen Mitglieder des Kriegsrates um die ausgebrannte Lagerstätte. Im Hintergrund standen oder knieten Menschen und lauschten der fernen Stimmen aus dem Süden.

«Der Kommandeur der Arkanischen Einheiten heißt Heerführer Garak. Wenige Tage nach dem Einmarsch und den zahlreichen Verhaftungen hat er eine Versammlung in der großen Halle des Friedens einberufen und hat das Vorgehen des Arkanischen Königreiches damit gerechtfertigt, dass das Arkanische Volk den feigen Angriff auf ihren König nicht hinnehmen kann. Sie, also das Arkanische Königreich, wird erst wieder abziehen, nachdem all jene, die an der schändlichen Tat beteiligt waren, zur Rechenschaft gezogen wurden.»

«Das ist doch alles nur ein Vorwand um sich den Norden unter den Nagel zu reißen.», rief einer aus der Menge und erntete sogleich Zustimmung.

«Ruhe!», erhob sich die Stimme von Alko über das Stimmengewirr. «Männer, lasst den Mann ausreden. Danach werden wir uns mit dem gesagten auseinandersetzen.»

Als schließlich Ruhe unter die Versammelten eingekehrt war, setzte der junge Chik seinen Bericht fort.

«Ohne daraus einen Hehl zu machen, begann der Heerführer zu erläutern, dass das Königreich schrittweise das Land systematisch mit Stützpunkten befestigen will. Kontrollpunkte, Forts und so weiter sollen errichtet werden, um eine Invasion seitens der Chiks zu verhindern. In seiner Rede stellte dieser ebenfalls klar, dass alle Gefangenen und Gegner des Arkanischen Königreiches, zusammen mit weiteren Arbeitern zu der alten Festung gebracht wurden, um dort Erz abzubauen.»

«Wenigstens wissen wir jetzt, wo unsere Männer sind.», kommentierte Melcom die letzte Information.

«Der Zug von Gefangenen wurde begleitet von 300 Arkanischen Soldaten.»

«Wie bitte. Nur 300 Soldaten?», unterbrach dieses Mal Drako den Sprecher.

Nach der erneuten Unterbrechung wurde Alko bewusst, dass der Waldläufer nicht dazu kommen würde ungestört seinen Bericht vorzutragen. Dazu waren die Gemüter einfach zu aufgebracht. Schließlich entschied sich Alko das Zepter in die Hand zu nehmen und die Besprechung zu leiten. Langsam stand er auf, stellte sich neben den Waldläufer und übernahm die Moderation. «Bist du dir sicher, dass es nur 300 Mann waren, die unsere Männer in die alte Festung begleitet haben?»

«Ja. Stammesführer. Diese Meldung wurde von mehreren Personen bestätigt. Der Zug mit den Gefangenen ist am helllichten Tag in Anwesenheit vieler Bewohner aus dem freien Grenzland aufgebrochen. Sicherlich, es gab da einige, die behaupteten 400 Soldaten gesehen zu haben. Aber die meisten sprechen von 300.», antwortete der angesprochene.

«Das ist eine Falle.», kommentierte Melcom über das Gemurmel der Männer hinweg die Information und brachte die meisten herumstehenden zum Schweigen.

«Dem stimme ich zu.», pflichtete Alko Melcom bei. «Und da haben wir auch unseren fehlenden Teil der Arkanischen Armee.»

«Sie müssen sich irgendwo zwischen der alten Festung und den Ländereien des Viehbarons befinden. Dort sind sie relativ sicher vor neugierigen Augen.»

«Das heißt, dass wir eine zügige Befreiung der Gefangenen vorerst nicht realisieren können!», stellte Ilianer fest.

«Vorerst nicht, nein.», sagte dieser und wandte sich nach einem Moment des Zögerns an den Waldläufer.

«Wie schon erwähnt, hat Garak klargestellt, dass das Arkanische Heer solange in dem freien Grenzland bleibt, bis die Verantwortlichen für den Mord an den König zur Rechenschaft gezogen worden sind. In diesem Zusammenhang hat er eine Liste mit etwa 300 Namen in der großen Halle des Friedens und jeder größeren Stadt aushängen lassen, auf der die meisten hier Anwesenden stehen.»

«Ich schätze, jetzt sind wir so etwas wie Berühmtheiten in unserem Land.», stellte Martok fest und sogleich konnte man zustimmendes Gelächter aus der Menge wahrnehmen.

«Seid still!», rief Alko und hob die Hände in die Höhe, um die Männer auf das Hier und Jetzt wieder zu fokussieren.

Als schließlich einigermaßen Ruhe eingekehrt war, richtete Alko das Wort an die Versammelten.

«Ich denke, wir sind uns alle einig, dass die Liste nur ein Vorwand ist, um uns die Besetzung des Landes auf unbestimmte Zeit zu legitimieren.»

«Dem kann ich zustimmen. Ich denke aber auch, dass die Liste noch einen anderen Zweck hat. Und zwar Zwist zwischen pro-Arkanischen und anti-Arkanischen Strömungen in unserem Land zu schüren, so dass wir nicht mit geeinter Stimme sprechen.», rief Ilianer in die Runde.

«Ja. Und ihre Strategie ist noch viel stärker ausgeklügelt, als dass man es auf den ersten Blick erahnen kann.», warf Alko in die Runde ein und hüllte sich im nächsten Augenblick in Schweigen. Als er sich schließlich der Aufmerksamkeit bewusst war, fuhr er fort: «Mit dem Abzug aus den Städten, gaukeln sie den Menschen so etwas wie Eigenständigkeit vor. Doch im Hintergrund geschieht nichts ohne das Wohlwollen der Invasoren. Ich wette, die Kontrollpunkte und andere Befestigungsanlagen werden an zentralen Handelsstraßen oder in der Nähe strategischer Städte aufgebaut werden. Somit ist unser Feind auch schnell in der Lage Truppenbewegungen im Norden durchzuführen und im Falle zügig eingreifen zu können, um mögliche Aufstände niederzuschlagen.»

Nach den Worten Alkos legte sich eine gewisse Niedergeschlagenheit über die Versammlung. Schließlich, als keiner etwas Wesentliches sagen konnte oder wollte, richtete Alko das Wort an den Waldläufer. «Fahr bitte fort!»

«Die Verwaltung des Nordens liegt offiziell in den Händen ihrer Bürger. Garak hat die Versammlung aufgefordert einen neuen Hauptmann zu wählen. Viele der Anwesenden wollten Seans Mutter zu ihrer neuen Stimme für den Norden wählen. Diese jedoch weigerte sich, eine Marionette der Arkanischen Führung zu sein und hat das Volk im freien Grenzland zum passiven Widerstand aufgerufen.»

Angesichts des Aufrufs der alten Dame entbrannte erneut Gemurmel unter den Anwesenden. Und wie zuvor musste Alko erst die Menge beruhigen, um an weitere Informationen seitens des Waldläufers zu kommen.

«Mit ihr verließ ein großer Teil der Anwesenden die Versammlung. Nichtsdestotrotz wählten die Anwesenden Ganosch zum Hauptmann des Nordens.»

«Ganosch ist ein Händler. Er ist weder an dem Arkanischen Königreich, noch an unserem Volk interessiert. Ihm geht es nur um Macht und Geld. Er ist eine Schlange und er wird mit jedem ein Geschäft machen, mit dem er kann.», kommentierte Harald.

«Also ein zweiter Viehbaron.», stellte Ilianer fest.

«Richtig.», erwiderte Melcom.

«Fahr fort.», gab Alko den Waldläufer zu verstehen.

«Es gibt da noch einen wesentlichen Punkt, den ich bisher ausgelassen habe. Während seiner Rede kam Garak auf mehrere Bauvorhaben zu sprechen, die er während der Besetzung des freien Grenzlandes vorantreiben will. Hier ging es um Straßen, Gebäude usw. Entscheidend an diesem Punkt ist aber, dass dieser jedem, der gewillt ist daran mitzuarbeiten, einen Lohn in Aussicht gestellt hat, der doppelt so hoch ist, wie sonst üblich.»

«Dieser Schweinepriester. Sie sind wirklich gerissen. Durch diesen Schachzug versuchen sie die Menschen indirekt zu kaufen. Und ehe man sich umgeschaut hat, sind die Menschen von den Einnahmen der Arkanischen Führung so abhängig, dass sie stillschweigend die Besetzung im Kauf nehmen.», fasste Martok das eben gesagte mit seinen Worten zusammen.

«Aber jeder der unserer Sache loyal gegenübersteht, wird sich nicht kaufen lassen.», erwiderte daraufhin eine Frau aus der Menge.

«Das stimmt. Aber mit der Zeit wird der Neid an deren Loyalität nagen. Und je länger die Belagerung dauert, umso mehr Menschen werden bereit sein das Gold des Arkanischen Königeiches anzunehmen.», entgegnete Martok.

«Ich pflichte Martok bei. Die Forts, das Gold. Angst und Neid. Das sind die beiden häufigsten Gefühle, die der Mensch äußert. Und darauf zieht die Strategie unseres Feindes. Ha.», gab Melcom ein verächtliches Lächeln von sich und richtete anschließend das Wort an den Waldläufer: «Sag! Hat der Heerführer etwas dazu gesagt, wie das Königreich all die Projekte bezahlen möchte?»

«Ja. Er will das ganze über den Abbau des Erzes finanzieren. Und da die alte Festung auf dem Hoheitsgebiet der Chiks liegt, begeht das Königreich keinen Raubbau an den Männern und Frauen des Grenzlandes.»

«Damit machen sie uns also indirekt zu Mittätern und treiben einen Keil zwischen uns und den Chiks.», stellte Melcom bedrückt fest.

Nach einem Moment der Ratlosigkeit über das Vorgehen nahm Alko das Wort an sich: «Das Arkanische Königreich hat sich lange auf diese Auseinandersetzung vorbereitet. Unter dem Deckmantel fadenscheiniger Argumente sind sie hier einmarschiert. Doch in Summe geht es hier um nichts anderes als Einfluss, Rohstoffe und Gold. Der Zweck diese Expeditionsheeres, dass soeben seinen Rückzug angetreten hat, ist in Wahrheit uns von dem Grenzland fernzuhalten. Damit haben sie im Grunde bestätigt, was wir ohnehin geahnt haben. Rache für den Tod ihres Königs ist nur eine Farce. Viel schlimmer als das wiegt momentan bei mir die Erkenntnis, dass wir vorerst nicht einmal in der Lage sind, unsere Freunde aus den Minen zu befreien.»

«Wir müssen aber etwas unternehmen. Wir können unsere Freunde und Familien nicht in Stich lassen. Sie zählen auf uns!», unterbrach ein Nordmann Alko, als dieser gerade nach Luft schnappte.

«Richtig. Und das werden wir auch.», stimmte Alko dem Mann zu. «Aber alles zu seiner Zeit. Jetzt aber müssen wir unseren Teil in Jamies Plan erfüllen. Ilianer, Martok, Harald, Melcom und der Rest der freien Männer und Frauen aus dem Grenzland. Entlang der Berge gibt es kleine Pfade, die wir nutzen können um vorbei an unseren Verfolgern in das Grenzland zu gelangen. Ich werde euch meine erfahrensten Waldläufer zur Seite stellen, um euch durch die Berge zu führen. Sie werden euch aber vorerst nicht in eurem Kampf für die Unabhängigkeit des freien Grenzlandes mit Pfeil und Bogen zur Seite stehen, da sonst das Arkanische Königreich die Angriffe als eine Invasion von Seiten der Chiks auslegen wird. Nein! Diesen Gefallen dürfen wir ihnen nicht erweisen. Das Heer der Chiks und ich, wir werden in einem Abstand von ein, zwei Tagen dem Arkanischen Heer nachsetzen und sie solange nerven, bis sie wieder gezwungen sind, uns in den Norden zu folgen.»

«Damit hältst du uns einen Teil der Streitkräfte vom Leib. Das ist doch schon was.», erwiderte Melcom zufrieden.

«Was unsere Freunde in den Minen betrifft, so habe ich möglicherweise eine Idee, wie wir sie befreien können. Doch vorher muss ich meine Waldläufer ausschicken, um herauszufinden, ob die Arkanische Armee in ihrer Arroganz nicht etwas Wesentliches vergessen hat. Bitte schenkt mir ein wenig Vertrauen. Und sobald ich die Information habe, weihe ich euch in meinen Plan ein.»

«Dann ist alles soweit geklärt.», sagte Melcom und erhob sich zum Gehen.

«Eine Sache ist da noch.», begann Alko und hielt alle Anwesenden davon ab, sich in alle Himmelsrichtungen zu verstreuen. «Ich bin der Meinung, dass wir uns zu jedem Vollmond hier im Tal der Lebenden treffen sollten, um Neuigkeiten austauschen, uns mit Proviant zu versorgen und unser Vorgehen abzustimmen. Stimmt ihr mir hierbei zu?»

«Ja.», erwiderte Ilianer stellvertretend für alle und umarmte Alko. «Danke. Danke für alles!», flüsterte sie ihm anschließend ins Ohr.


Rache: Blendwerk II

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