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Kapitel 1: Verloren in einer fiktiven Welt
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Für meine Frau und meine Kinder
Danke
Impressum
Abgelenkt
Untertitel: Wer bin ich?
von Adam Wutkowski
Text Copyright: © Adam Wutkowski
Cover Copyright: © Karolin Wutkowski
Alle Rechte,
einschließlich des Nachdrucks in jedweder Form,
sind vorbehalten.
Kiel 2015
„Der Mensch scheitert im Leben nicht an anderen Menschen,
sondern an seinen eigenen Vorstellungen
von dem eigenen ich und der Welt.“
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1: Verloren in einer fiktiven Welt
Kapitel 2: Wer bin ich?
Kapitel 3: Arthur Schopenhauer
Kapitel 4: Der Mensch
Kapitel 5: Hinter der Fassade
Kapitel 6: Das Produkt der Natur
Kapitel 7: Die Erkenntnis
«Ruhig mein Junge! Du weißt doch, dass du gut bist.»
Langsam und ohne jede Hast schleiche ich mich heran. Die Umgebung verhüllt mich und das ist auch gut so. Stopp! Bis hierhin und nicht weiter. Eine perfekte Position. Das Gelände lässt sich aus dieser Stellung genau überblicken. Das Dickicht zu meiner Linken sowie der Schatten eines nah gelegenen Baumes, erzeugt durch das Mondlicht verhüllen meine Gestalt. Gut! Rechts von mir, auf zwei Uhr, ca. in 200 m Entfernung stehen zwei Gebäude. Das Kleinere besteht aus einem Stockwerk und das Dach ist mit Schilf bedeckt. Früher diente es bestimmt als eine Art Schuppen. Vielleicht auch als Stall. Egal! Nun stellt es den Zufluchtsort für die Zielperson dar. Und das allein zählt! Das große Gebäude daneben, ca. 10 Meter von dem Schuppen entfernt, wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit erst vor kurzem errichtet. Darauf lassen die Bau- und Schuttreste in der Nähe schließen. Im Gegensatz zu dem ersten Gebäude besteht dieses aus massivem Stein. Das Gebäude umfasst drei Stockwerke und schließt mit einer Flachdach-Konstruktion ab. Auf dem Dach des Gebäudes ragt eine 5 m hohe Funkantenne in den Himmel. Neben der Funkantenne steht ein kleinerer Aussichtsturm auf dem Dach, in der die Silhouette einer Wache zu erkennen ist. Die Wache stellt jedoch keine Bedrohung bezüglich einer Entdeckung dar. Dafür ist meine Position einfach zu gut gewählt. Soweit so gut. Links vom Gebäude, ungefähr auf elf Uhr, reihen sich mehrere provisorisch aufgebaute Zelte in das Bild des Lagers ein. Dahinter steht ein Schuppen unter dem zwei geländetaugliche Fahrzeuge parken. Die Ladefläche der Fahrzeuge und damit die Ausstattung ist aus dieser Position nicht einschätzbar. Zweitrangig. Im Falle einer Entdeckung habe ich sowieso nicht vor, länger hier zu bleiben als nötig.
Neben dem Schuppen mit den Geländefahrzeugen stehen ein Paar Benzinkanister, Kisten mit Munition sowie weitere Ausrüstungsgegenstände bereit. Im Gegensatz zu dem restlichen Teil des Lagers wirkt das Zentrum aufgeräumt. Alle Gerätschaften, die im Falle einer Landung eines Hubschraubers im Weg stehen könnten, wurden zur Seite geschafft.
Das Haupttor zum Lager besteht aus zusammengehauenen Brettern, versehen mit Stacheldraht. Diese Bauweise spiegelt sich in der Befestigung des Lagers wider. Mit Stacheldraht umwickelte Holzpfähle bilden eine provisorische Umzäunung. Neben dem Haupttor steht ein Wärterhäuschen sowie links davon eine Art Aussichtsturm, ausgestattet mit einer MG. Am Tor sind zwei Wachen postiert. Alles in allem würde ein direkter Angriff mit einem schwer gepanzerten Fahrzeug ausreichen, um diese Verteidigungslinie schnell zu überwinden. Doch darum geht es heute nicht!
Insgesamt kann ich bis dahin fünf Wachposten ausmachen: Zwei am Haupttor, einer auf dem Dach des Gebäudes und zwei weitere Soldaten, die um das Lager patrouillieren. Perfekt. Das Scharfschützengewehr liegt bereit in meiner Hand. Das Zielfernrohr ist eingestellt. Waffe ist geladen und entsichert. Somit ist alles für den Zugriff bereit. Gut! Das Gewehr samt Zielfernrohr ist das Beste, was der Markt zurzeit hergibt. Selbst im schwachen Dämmerlicht sind die Wachen durch das Zielfernrohr zum Greifen nah und jeder Schritt kann genaustens nachverfolgt werden. Sie sind so nah, dass selbst die Gesichtszüge erkennbar sind.
Ich bin bereit! Es fehlt nur noch das Zielobjekt. Ein Blick auf die Uhr. 0200. Das Zielobjekt müsste also, nach den Informationen der Kontaktperson, schon bald herausgeflogen werden.
Da! Erst ganz leise, dann immer stärker. Das Donnern der Rotorblätter kommt immer näher. Meine Aufmerksamkeit gilt nun vollständig dem Schilf bedeckten Gebäude. Doch noch immer ist keine Bewegung auszumachen. Ein hastiger Blick auf den Eingang des dreistöckigen Hauptgebäudes weist auf eine erhöhte Alarmbereitschaft hin. Aus der Eingangstür des Gebäudes treten bewaffnete Soldaten auf den Innenhof. Ein Blick auf das Zielgebäude zeigt immer noch keine Veränderung. Doch da! Plötzlich. Die Tür geht einen Spalt auf, verharrt jedoch in dieser Position. Aus dem Türspalt dringt kein Licht nach außen, so dass das Innere des Gebäudes sich im Schweigen der Dunkelheit hüllt.
Im Briefing wurde die Zielperson als klein und korpulent beschrieben. Das auffälligste Merkmal an der Zielperson ist jedoch das zum Teil fehlende linke Ohr. Codename: Mittelsmann.
Das Donnern der Rotorblätter kommt immer näher, während die Person oder die Personen hinter der Tür keine Anzeichen machen, herauszukommen. Nur noch ein wenig mehr Geduld! Der Hubschrauber wird gleich zur Landung ansetzen. Das Fernrohr des Scharfschützengewehrs visiert weiter das Zielgebäude an. Plötzlich öffnet sich die Tür und eine große, schlanke Person tritt aus dem Gebäude in das helle Mondlicht hinaus. Ein Augenblick später erscheint im Rahmen der Tür eine weitere Person, die es jedoch vermeidet ganz aus der schützenden Dunkelheit des Hauses herauszutreten. Nach der Silhouette zu urteilen, handelt es sich hierbei um die Zielperson. Den Finger am Abzug, zum Schießen bereit …
Grade als ich dabei bin, meine Mission erfolgreich abzuschließen, geht die Tür zu meinem Zimmer auf und reißt mich aus meinem Einsatz heraus. Aus der Dunkelheit des Flurs tritt meine Mutter in ihrem gestreiften Pyjama in mein Zimmer. Sichtlich überrascht, mich vor dem Computer zu sehen, richtet sie schließlich das Wort an mich: «Wieso bist du noch wach? Es ist kurz vor 1 Uhr nachts! Du musst doch morgen zur Schule. Mach den Computer sofort aus und geh ins Bett!» befehlt sie.
Von einem Augenblick auf den anderen ändert sich plötzlich meine Gefühlswelt. Unvermittelt baut sich Zorn und Wut auf und beginnt, die Kontrolle über mein Handeln zu übernehmen. Mit letzter Willensanstrengung gelingt es mir jedoch, noch einmal ruhig zu bleiben.
Immer kommt sie zur falschen Zeit in mein Zimmer. Fast will ich...
Aber da! Aus heiterem Himmel wird mir bewusst, dass ich bereits seit 18:00 Uhr, seitdem das alltägliche langweilige Abendessen sein Ende nahm, am Computer sitze. Ich war so vertieft, dass ich nicht bemerkt habe, wie die Zeit an mir vorbei ging. Doch noch bevor ich dieser Tatsache weiter Aufmerksamkeit schenken kann, fordert wieder etwas meine Aufmerksamkeit und bringt meine schwer gewonnene Beherrschung wieder zum Bröckeln. Die Mission scheiterte aufgrund meiner Mutter.
«Na super!» höre ich mich in Richtung Computer sagen und schau enttäuscht zu Boden.
Da meine Mutter immer noch keine Anstalten macht, aus meinem Zimmer zu verschwinden, füge ich mich meinem Schicksal, mache verärgert den Computer aus und lege mich ins Bett. Im Dunkel liegend, kreisen meine Gedanken um die Mission. Noch einmal erscheint die Zielperson vor meinem inneren Auge. «Morgen hat dein letztes Stündlein geschlagen.» sage ich leise in die Dunkelheit meines Zimmers hinein. Ich will nach Möglichkeit die volle Punktzahl für die Mission erhalten. Denn ich weiß, ich bin gut. Und ein Blick auf die Punktetafel beweist es mir auch.
Meine Schulkameraden hatten wirklich Recht! Die neue Grafik und Steuerung verschaffen der Umgebung und den Personen soviel Agilität, dass sie schon fast real wirken. Ach. Was für ein Glück habe ich doch, in dieser Zeit leben zu können!
7:00 Uhr. Der Wecker klingelt. Die Müdigkeit steckt in jedem Winkel meines Körpers. Es fällt mir schwer, mich aufzuraffen. Wieder zur Schule zu müssen. Wie Schrecklich! Wer hat sich bloß die Schule ausgedacht? Na ja. Das einzig Gute an dem heutigen Schultag ist die Tatsache, dass diese nur aus zwei Schulstunden besteht und das bedeutet mehr Zeit zum Spielen.
«Und dieses Mal wird mich keiner aufhalten!» sage ich in mein Zimmer hinein, in Gedanken an den gestrigen Abend.
Immer noch nicht ganz bei Bewusstsein füge ich mich meinem Schicksal, stehe auf und vollführe dieselben morgendlichen Rituale wie immer. Nachdem das, von wenig Aufregung begleitete, morgendliche Frühstück schließlich zu Ende geht, stehe ich vom Tisch auf, nehme das Pausenbrot in die eine Hand, die Schultasche in die andere, öffne die Haustür und mache mich auf den Schulweg.
«Hey Sven.» begrüßt mich, wie jeden Morgen, Johannes auf dem Weg zur Schule.
«Hey Johannes! Du hör mal. Ich hatte gestern wieder etwas Zeit gehabt, „Die Helden des Krieges“ zu spielen. Das Spiel ist ja so was von cool und so authentisch. Ich bin bereits bei der neunten Mission angelangt. Hätte diese auch erfolgreich beendet, wenn nicht meine Mutter in mein Zimmer rein gekommen wäre und mich genervt hätte, von wegen dass ich endlich schlafen gehen soll. Aber Schwamm drüber.» winke ich mit meiner rechten Hand ab und fahre fort. «Aber sag! Bei welcher Mission bist du grade?».
«Ich bin erst bei der Fünften. Hatte gestern nicht so viel Zeit zum Spielen. Mein Vater musste am Computer arbeiten. Ich war wirklich stinksauer, als er mir mitteilte, dass er selbst den Computer braucht, um zu arbeiten. Mein Ärger verflog aber, als ich sah, dass er mir ein neues Spiel vom Supermarkt mitgebracht hatte. „Der Strategische Krieg“ nennt sich das. Ich habe es, nachdem er endlich fertig war, kurz angespielt. Aber ich sag dir: Das Spiel ist der Hammer!», sagt Johannes, breit grinsend meine Neugier weckend. «In dem Spiel geht es um eine Welt, die du mit deinen Armeen erobern sollst. Zu Beginn des Spiels steht dir eine Festung zur Verfügung, auf der du deine Truppen ausbildest. Du bekommst ebenfalls zu Anfang des Spiels einen besonderen Charakter, mit dem du „Quests“ ausführen kannst. Zusätzlich besitzt dieser Charakter die Fähigkeit, Armeen anzuführen und verleiht ihnen somit einen zusätzlichen Bonus im Kampf. Mit den Artefakten, die du durch die „Quests“ bzw. durch siegreiche Kämpfe gegen andere Armeen eroberst, machst du dich und deine Armeen stärker. Ich sag’s dir: So ein cooles Spiel habe ich bisher noch nicht gesehen.»
«Das Spiel hört sich wirklich interessant an.» erwidere ich interessiert.
«Ja, das ist es auch.» sagt Johannes und fügt hinzu, «Das Interessante an dem Spiel ist auch, dass man es gleichzeitig mit bis zu acht Personen spielen kann. Hey! Meine Eltern sind heute Nachmittag nicht da. Wenn du nichts Besseres vorhast, kannst du gern vorbeikommen und dir das Spiel anschauen.» schlägt Johannes vor.
Von Neugier auf das Spiel getrieben, setze ich zum Sprechen an. Doch im gleichen Augenblick verharre ich kurz und versinke für einen Moment in meinen Gedanken. Nach den Erzählungen von Johannes zu urteilen, macht das Spiel einen soliden Eindruck. Doch die Lust „Krieg der Kriege“ weiter zu spielen, meine Mission zu beenden, lässt mich zögern.
Doch zu meiner Freude erscheint mir plötzlich die Lösung für mein Dilemma vor meinem inneren Auge. «Das hört sich gut an!» sage ich und fahre fort, meinen Lösungsansatz umzusetzen. «Lass uns so gegen 15:00 Uhr bei dir treffen. Vorher bin ich leider etwas verhindert, da ich noch ein paar Dinge mit meinen Eltern zu erledigen habe. Aber um 15:00 Uhr sollte ich wieder frei sein. Was sagst du dazu?» frage ich, meine Eltern als Vorwand benutzend, um etwas Zeit für „Die Helden des Krieges“ zu schinden.
«Ja. Super.» erwidert Johannes und setzt mit mir den Weg zur Schule fort.
Der Schultag beginnt genauso zäh wie sonst auch. Während die Lehrer kommen und gehen, bin ich mit meinen Gedanken bei „Die Helden des Krieges“. Die einzige Abwechslung in dem Schultag bringen einzig die Pausen zwischen den Unterrichtsstunden.
„Hast du schon von dem neuen Spiel gehört? In welcher Mission bist du grade? Wie hast du diese oder jene Mission durchgespielt?“ Die Pause wird intensiv genutzt, um die wichtigsten Tipps und Tricks für die bevorstehenden Gefechte am Nachmittag auszutauschen, damit nach Möglichkeit auch die höchste Punktzahl für jede Mission erreicht werden konnte.
Das Läuten der Pausenglocke markiert dabei nicht nur den Beginn einer neuen Unterrichtsstunde, sondern gleichzeitig auch das Ende jeglichen Interesses an der Schule.
Zu meinem immer wiederkehrenden Erstaunen wirkt der Weg von der Schule nach Hause nicht so lästig wie der Hinweg, obwohl diese sich in keinster Weise unterscheiden.
«Also bis später.» verabschiede ich mich von Johannes an der Einfahrt zu der Mietwohnung von meinen Eltern. «Sollte die Sache mit meinen Eltern schneller zu Ende gehen als erwartet, dann komme ich schon früher zu dir als abgemacht!»
«Alles klar. Kein Problem. Ich werde solange die Zeit nutzen und selbst ungestört von meinem Vater, etwas am Computer zu spielen.» erwidert Johannes und lässt für einen Moment den Kopf hängen. «Ich wünschte, ich hätte meinen eigenen Computer. Genauso wie du. Dann würde mich mein Vater beim Spielen nicht ständig nerven.»
Zu Hause angekommen, werfe ich die Schultasche in die Ecke und gehe in die Küche, wo, wie immer, meine Mutter mit dem Essen auf mich wartet.
«Na, wie war die Schule?» fragt meine Mutter wie gewohnt.
So wie immer, völlig Sinn frei. Doch anstelle dessen höre ich mich erwidern: «Gut! Was gibt es zu Essen?»
«Fisch mit Spinat und Kartoffeln.» erwidert meine Mutter, mit sich selbst zufrieden.
Na super! Du sitzt den ganzen Tag von morgens bis abends zu Hause und bringst nur so etwas wie „Fisch mit Spinat und Kartoffeln“ hervor. Egal. Ich habe besseres vor, als mich noch über dieses Essen zu ärgern. In Gedanken schon längst bei „Die Helden des Krieges“ beginne ich, das Mittagessen zu verspeisen.
«Iss doch nicht so hastig! Das ist nicht gesund.» seufzt meine Mutter, wie an jeden anderen Tag beim Mittagessen.
«Sorry, Mama. Aber ich würde gern noch etwas Computer spielen, bevor ich mich nachher mit Johannes treffe. Deswegen muss ich mich jetzt beeilen.»
«Sag mal, Sven! Habt ihr keine Hausaufgaben für die Schule zu machen?»
«Nein!» erwidere ich knapp und hoffe, dass die Sache damit erledigt ist. Aber die Rechnung habe ich ohne meine Mutter gemacht.
«Was ist das für eine Schule, in der ihr nie Hausaufgaben aufbekommt?» hakt meine Mutter nach.
«Ja. Äh. Keine Ahnung. Das ist halt so.» sage ich, wobei mir gleichzeitig auffällt, dass ich überhaupt nicht weiß, ob wir Hausaufgaben nun aufhaben oder nicht.
Um der mühsamen Unterhaltung ein Ende zu bereiten, lege ich schließlich Messer und Gabel hin, stehe auf und sage, «So, Mama. Danke fürs Essen. Aber ich muss jetzt weiter.»
Nachdem der Computer endlich die Mission gestartet hat und ich mich wieder in der gleichen Position befinde wie gestern Abend, fühle ich endlich Entspannung meinen Körper durchströmen.
Der Hubschrauber nährt sich seinem Bestimmungsort. Die Zielvorrichtung des Scharfschützengewehrs visiert die Tür des Gebäudes an, in dem sich die Zielperson befindet. Gleich bist du fällig. Der Finger am Abzug…
Doch genauso wie gestern geht die Tür auf und meine Mutter tritt in den Türrahmen.
«Mann!» sage ich gereizt und schaue meine Mutter an, «Was willst du denn schon wieder!».
«Aber Hallo.» erwidert meine Mutter, wie vor den Kopf gestoßen, während Wut und Ärger meine Gefühlswelt übernehmen. «Nun beruhige dich erstmal. Was ist los mit dir? Hier ist ein Telefonat für dich!» sagt sie und reicht mir den Telefonhörer.
Wer nervt denn jetzt wieder?
Den Hörer am Ohr haltend, werfe ich meiner Mutter einen verärgerten Blick hinterher und sehe, wie sie sich in Richtung des Wohnzimmers aufmacht. Auf ihrem Weg macht sie ihrem Ärger Luft und brabbelt ein wenig vor sich hin. Außer den Bruchstücken „so kann man sich doch nicht benehmen“ und „es wird Zeit, dass sein Vater mit ihm ein Wörtchen spricht“ lässt sich nichts Sinnvolles aus dem ganzen Gefasel heraushören.
Egal. Soll sie doch reden, mit wem sie will.
«Ja!» erwidere ich gereizt in den Telefonhörer hinein.
«Hallo Sven! Hier ist Sebastian.» sagt die Stimme an der anderen Seite der Leitung.
Oh nein, was will der schon wieder?
«Ich wollte fragen, ob du Lust hast, mit mir rüber zum Fußballplatz zu fahren, um ein wenig Fußball zu spielen.» beendet dieser seinen Satz.
«Nee, du. Also ehrlich. Momentan passt es mir gar nicht. Aber vielleicht morgen!» erwidere ich und hoffe inständig, Sebastian so schneller loszuwerden.
«Oh! OK. Dann vielleicht morgen. Falls du es dir doch anders überlegst, dann kannst du jederzeit zum Fußballplatz kommen.» seufzt Sebastian traurig in den Hörer hinein.
«Ja, das mach ich. Also, dann. Bis morgen.» schließe ich das Gespräch ab und lege den Telefonhörer zur Seite, noch bevor Sebastian etwas sagen kann.
Nerv doch jemand anderen!
Also, jetzt noch einmal von vorne. Ein Blick auf die Uhr zeigt 12:00 Uhr. Gut. Noch drei Stunden bis zu der Verabredung mit Johannes. Der Hubschrauber fliegt wieder sein Ziel an….
Zwei Missionen später zeigt die Uhr auf halb drei. Bis zur Verabredung sind es also noch 30 Minuten, die es sinnvoll zu füllen gibt. Ein Blick auf den Bildschirm lässt den Handlungsstrang der nächsten Mission erahnen:
Ein Konvoi aus vier Fahrzeugen…. Bla bla bla. Muss sein Ziel erreichen. Bla bla bla. Sorgen Sie dafür, dass dieser Konvoi unbeschadet seinen Bestimmungsort erreicht. Bla bla bla. Sie sind der MG-Schütze…
Nach dieser kurzen Zusammenfassung ist die Vorfreude auf die nächste Mission so groß, dass ich mich kurzerhand entschließe, noch eine Mission zu spielen, ohne mir über die Spieldauer weitere Gedanken zu machen.
Gegen halb vier klingle ich schließlich an der Haustür von Johannes.
«Da bist du ja endlich. Was hat dich so lange aufgehalten?» fragt dieser, im Türrahmen stehend.
«Ach, meine Eltern wollten noch einmal mit mir über die Schule reden. Nichts Wichtiges!», wiegle ich ab und überlege mir eine Frage, um von dem Thema abzulenken. «Und wie ist das Spiel?».
«Super. Hab grade einen meiner Feinde niedergestreckt. Das Spiel basiert auf einem Rundensystem, d.h. du kannst dir während deines Zugs Zeit nehmen, um deinen nächsten Zug zu planen. Aber komm rein und sieh es dir doch selbst an.» sagt Johannes und macht die Tür für mich frei. Im Zimmer angekommen, setzen wir uns auf die beiden Stühle neben dem Computer.
«Das ist das Spiel.» sagt Johannes und weist auf den Bildschirm des Computers.
Die Grafik des Spiels ist nicht unbedingt auf dem neusten Stand der Technik, aber sie ist auch nicht so schlecht, dass man sich von vornherein mit dem Spiel nicht weiter auseinandersetzen möchte.
Nach diesem ersten Eindruck setzt sich Johannes zu mir und beginnt, das Spiel im Detail zu erläutern.
«Es ist also ein Strategiespiel.» gebe ich begeistert, auf den Bildschirm schauend, von mir. «Du sagtest, dass man das Spiel mit mehreren Personen gleichzeitig spielen kann. Wollen wir vielleicht ein neues Spiel starten, in dem wir zusammen gegen den Computer spielen?»
«Aber sicher.» erwidert Johannes. «Warte. Ich speichere nur schnell einmal ab.»
Während Johannes sein eigenes Spiel absichert und anschließend ein neues Spiel startet, sagt er: «Sebastian hat vorhin angerufen.»
«Ach, ja.» erwidere ich, immer noch auf den Bildschirm schauend. «Und was wollte er?»
«Er fragte, ob ich nicht Lust hätte, Fußball zu spielen?» antwortet Johannes.
«Und was hast du ihm geantwortet?»
«Nun. Ich teilte ihm mit, dass ich keine Lust hätte, Fußball zu spielen. Außerdem sei das Wetter nicht so gut, sagte ich weiter, um ihn abzuwimmeln.» antwortet Johannes. Dreht sich im nächsten Augenblick um und fügt mit einem spöttischen Lächeln hinzu: «Fußball spielen! Wer hat schon Lust raus zu gehen? Außerdem spielen nur noch die Asozialen draußen! So. Das Spiel ist geladen. Du bist dran.» sagt Johannes und schiebt mir die Maus zu, «Such dir dein Königreich aus, mit dem du spielen möchtest. Ich geh uns noch eine Packung Chips holen.»
«Ja, ist gut.» antworte ich und widme mich dem Spiel.
Acht Spielrunden später sind Johannes und ich voll in das Spiel vertieft. Neben dem strategischen Geschick, sind Planung und Logistik die entscheidenden Faktoren, um seinen Gegner zur Strecke zu bringen. Das Einzige, was an dem Spiel stört, ist Johannes. Die Durchführung eines jeden einzelnen Zugs von Johannes nimmt unheimlich viel Zeit in Anspruch. Jedes Mal, wenn dieser am Zug ist, verspüre ich eine gewisse Gereiztheit in mir aufsteigen. Wenn ich bloß das Spiel hätte, dann könnte ich noch gezielter, noch schneller meinen Sieg erringen. «Wo hat dein Vater das Spiel gekauft?» frage ich schließlich genervt Johannes, während dieser sich zum x-ten Mal ein und dieselbe Burg anschaut.
«Das Spiel gibt es im Supermarkt, hier bei uns um die Ecke. Sogar im Angebot. Mein Vater erwähnte etwas von 10 Mark, wenn ich mich recht erinnere.»
10 Mark! Das Geld liegt noch bei mir zu Hause. Es steht also nichts im Wege, das Spiel zu kaufen. Moment. Meine Mutter hat mir doch Geld gegeben, bevor ich das Haus verließ, damit ich Brot kaufen kann. Anstatt das Brot zu kaufen, kann ich gleich zum Supermarkt gehen und das Spiel holen. Und falls jemand zu Hause fragt, wo das Brot ist, dann behaupte ich einfach, dass es ausverkauft war.
Dann kann ich endlich in Ruhe, ohne das Johannes dazwischen funkt, entspannt spielen. Jetzt muss ich aber hier erst einmal wegkommen.
«Du bist am Zug.» sagt Johannes und reißt mich aus meinen Gedanken.
«Oh ja.» sage ich und nehme die Maus entgegen, um meinen Zug auszuführen. «Weißt du, wie spät es ist?»
«Zehn nach fünf.»
«Was. So spät schon? Oh nein.» sage ich in gespieltem Ton. «Ich muss leider gleich nach Hause. Die Deutsch-Hausaufgaben, wenn du verstehst, was ich meine.» antworte ich auf einer bedauernden Art und Weise.
«Aber die müssen wir erst Donnerstag vorzeigen!» erwidert Johannes verdutzt.
Wir haben Hausaufgaben auf? So ein Mist! «Jaaaa.» erwidere ich, verzweifelt nach einer Ausrede in meinem Kopf suchend. «Da hast du Recht. Aber mein Vater will, dass ich ihn morgen zum Einkaufen begleite.» erwidere ich und ärgere mich im selben Moment über die schlechte Ausrede.
«Wobei sollst du ihm da behilflich sein?» fragt Johannes verwundert.
«Ehrlich. Ich weiß es selber nicht. Aber weißt du was, ich hab irgendwann einfach aufgehört, bei meinem Vater nach dem Sinn für seine Pläne zu fragen! Das erspart viel Zeit und lästige Diskussionen. So!» gebe ich bestimmt von mir und erhebe mich vom Stuhl. «Jetzt muss ich aber los.»
«Ah, bevor ich es vergesse.» sagt Johannes, an der Haustür angekommen. «Ich habe heute in einer Zeitschrift für Computerspiele gelesen, dass nächsten Monat zwei richtig gute Spiele auf den Markt kommen sollen. „Die 6 Armada“ ein Flugsimulationsspiel und „Die dunklen Tore von Hall“ ein Rollenspiel. Beide erhielten eine ausgezeichnete Rezession in den Vorabtests.»
«Wirklich. Das ist ja super. Kannst du die Zeitschrift morgen zur Schule mitbringen, dann kann ich mir im Unterricht die Artikel zu den Spielen durchlesen.»
«Ich kann dir die Zeitschrift auch jetzt mitgeben, wenn du willst?»
«Nee Du. Lass mal. Heute schaffe ich es sowieso nicht mehr, mir die Zeitung anzuschauen. Bring sie einfach morgen mit.»
«Wie du willst.» erwidert Johannes und fügt nach einem Moment hinzu. «Das Spiel, das wir grade gespielt haben. Ich werde es abspeichern, so dass wir es ein anderes Mal zu Ende spielen können.»
«Mach das.» sage ich wohlwissend, dass ich mich hüten werde, dieses Spiel mit Johannes noch einmal zu spielen.
Im Supermarkt um die Ecke stehen verschiedene Computerspiele zum Verkauf, darunter „Der Strategische Krieg“ für den Preis von 10 Mark. Genauso wie Johannes sagte.
Vor der Haustür zu der Wohnung meiner Eltern verstecke ich das Spiel unter dem Pullover und öffne erst dann die Haustür. Kaum dass die Tür auf ist, da raunt auch schon die Stimme meines Vaters durch die Wohnung, «Sven, komm bitte her!»
Dieser Ton verheißt nichts Gutes. «Ja, ich komme sofort.» erwidere ich höflich.
Doch zuerst haste ich in mein Zimmer und verstecke das Spiel in meinem Kleiderschrank. Anschließend mache ich mich auf in das Wohnzimmer. Dort angekommen, sehe ich neben meinem Vater, meine Mutter sitzen und mich mit ernster Miene beäugen.
«Was ist los mit dir?» richtet mein Vater ohne Wenn und Aber das Wort an mich. «Du hast deine Mutter heute angefahren, als sie dir das Telefon gebracht hat. Was sollte das? Hast du kein Benehmen! Verhalten wir uns jetzt wie irgendwelche Wilden?»
«Ach, Papa. Du kennst doch Mama. Sie schaukelt sich gern in etwas herein. Das Ganze war gar nicht so, wie Mama das darstellt. Zugegeben, ich war grade in dem Moment, als Mama in das Zimmer herein kam, etwas aufgebracht. Aber ich war nicht auf Mama wütend, sondern auf den Computer. Mama hat das fälschlicherweise auf sich bezogen.» antworte ich und hoffe, damit die Sache im Keim zu ersticken, bevor die ganze Sache mehr Zeit in Anspruch nimmt als nötig. Schließlich war der Tag heute stressig genug. Auch ohne meine Eltern.
«Das ich nicht lache!» gibt meine Mutter, unglaubwürdig lächelnd zurück. «Du hast mich Wut entbrannt mit zugekniffenen Augen beäugt und angeschrien. Du hast keine Sekunde lang dabei den Computer angeblickt, sondern nur mich. Und so hast du dich auch am Telefon aufgeführt. Schroff und abweisend. Du hättest dich sehen sollen. So geht das nicht. Was ist in letzter Zeit mit dir los? Du gehst nur noch selten raus, sitzt den ganzen Tag vor dem Computer und spielst deine dummen Spiele bis spät in die Nacht.»
Das sind keine dummen Spiele. Du hast doch keine Ahnung. Wieso urteilen Menschen über etwas, dass sie nicht verstehen. Langsam spüre ich, wie die Wut in mir aufsteigt. Mit letzter Willenskraft schaffe ich es noch, mich zu beherrschen. Eine Konfrontation würde nur zu einem langen sinnlosen Gespräch führen. Und das hätte wiederum zufolge, dass ich noch später zum Spielen kommen würde, als ohnehin schon. Es bleibt also, nur noch eins zu tun. Mundhalten und abwarten.
«Wie stellst du dir das vor? Wie soll es hier weiter gehen mit dir?» bringt sich mein Vater wieder ins Gespräch. «Du selbst merkst es vielleicht nicht, aber du hast dich verändert. Wie deine Mutter bereits sagte, du gehst nur noch selten raus. Schottest dich in deinem Zimmer ab und verbringst den ganzen Tag entweder vor dem Computer oder vor dem Fernseher. Stellst du dir etwa so deine Zukunft vor?» fragt er und starrt mich erneut an. «Apropos Zukunft. Deiner Mutter und mir ist aufgefallen, dass wir schon lange nicht mehr gesehen haben, wie du Hausaufgaben machst. Gibt es an eurer Schule keine Hausaufgaben mehr?»
Nicht das Thema schon wieder. «Das habe ich Mama heute Mittag bereits versucht, zu erklären. Wir haben in der letzten Zeit einfach keine Hausaufgaben aufbekommen. Da kann ich doch nichts für, oder?» erwidere ich, mir eines anderen Sachverhaltes bewusst werdend.
Schließlich bin ich in den letzten ein oder zwei Malen durch nicht gemachte Hausaufgaben in der Schule aufgefallen. Das wiederum war aber einfach nur doof gelaufen. Blöder Zufall. Sonst hatte ich immer meine Hausaufgaben gemacht. Aber das erwähne ich an dieser Stelle lieber nicht und fahre statt dessen fort, die Sache schnell zu Ende zu bringen. «Momentan sind nicht viele Jugendliche draußen unterwegs. Und jene die draußen sind, die öden mich an. Es macht also momentan keinen Sinn für mich hinauszugehen, um draußen zu spielen.»
«Ach, so ist das also. Die Menschen draußen auf der Straße öden dich an.» sagt mein Vater in einem gehässigen Ton und fährt fort. «Wer ödet dich noch so an? Wir vielleicht oder die Schule?»
Als ich in deinem Alter war, höre ich plötzlich eine Stimme in meinem Kopf erklingen, und höre so gleich meinen Vater, wie so oft, dieselbe Geschichte vortragen. «Als ich in deinem Alter war, musste ich Verantwortung tragen, Geld verdienen. Wir hatten es nicht so gut wie du! Genug zu Essen, Kleidung und all die Annehmlichkeiten, die du in deinem Leben hast. Ich habe damals Modelle zusammengebaut, Fahrräder aus alten Fahrrädern zusammengebaut und sie immer wieder geflickt. Das Geld für alles musste ich selbst erarbeiten, z.B. durch Flaschen und Schrott sammeln und verkaufen. Und du? Du bekommst von uns Taschengeld und hast sonst nicht viel im Haushalt zu tun. Aber selbst mit diesen wenigen Aufgaben bist du überfordert.»
«Und Respekt hat er überhaupt keinen mehr. Für niemanden.» fügt meine Mutter eilig hinzu, während mein Vater grade Luft holt.
«Ja.» fügt mein Vater, leicht aus dem Konzept gebracht, hinzu. «Und wie stellst du dir eigentlich deine Zukunft vor? Ich meine deine richtige Zukunft! Dein letztes Zeugnis spiegelte nicht grade den Klassenprimus wieder! Um auf dem Bau schwer zu arbeiten, braucht man kein Grips. Das habe ich dir schon oft genug gesagt. Willst du denn wirklich körperlich schwer in deinem Leben arbeiten, genauso wie ich?» beendet er sein Monolog, mit der Erwartungshaltung eine Antwort von mir zu bekommen.
Mann! Lass mich doch in Ruhe! Kommt Zeit, kommt Rat. Es wird sich schon was finden. Erst einmal muss das erste Halbjahr der 7ten Klasse zu Ende gehen. Danach sehen wir weiter. Ich habe noch genug Zeit.
Die Antwort im Mund zurechtlegend, grade zu einer Antwort ansetzend, nehme ich wahr, wie mein Vater die Fernbedienung in die Hand nimmt und von neuem anfängt zu sprechen.
«Du musst dich langsam entscheiden. Deine Mutter und ich können nicht ewig Entscheidungen für dich treffen. Mir ist es persönlich egal, ob du nachher schwer arbeitest oder auch nicht. Denn du musst später die Konsequenzen tragen. Aber komm dann nicht bei mir an und beschwere dich über dein Los. Ich habe es dir ja schon oft genug gesagt. Nicht nur heute, sondern auch schon mehrmals zuvor. Wer nicht lernen will, der muss später hart in seinem Leben arbeiten und von anderen herumgeschupst werden.» beendet er seinen Satz, während sein Zeigefinger langsam zu dem Einschaltknopf der Fernbedienung wandert.
Das Ende dieses albernen Gespräches ist also zum Greifen nah. Nur noch wenige Minuten Beherrschung trennen mich von einem entspannten Abend mit „Der Strategische Krieg“.
«So, du wirst dich bei deiner Mutter entschuldigen und dich in Zukunft etwas beherrschen. Ansonsten nehme ich dir deinen Computer weg. Hast du das verstanden!» sagt mein Vater bestimmend und dreht im nächsten Augenblick sein Gesicht zum Fernseher.
Nein. Alles, nur nicht meinen Computer.
«Alles ist für den Menschen da.» höre ich meine Mutter ergänzen. «Man muss nur damit vernünftig umgehen. Also spiel nicht so viel, sondern kümmere dich auch um das Drumherum.»
Der Fernseher geht an.
«Wo ist das Brot?» fragt mein Vater, das Gesicht dem Fernseher zugewandt.
«Es gab kein Brot im Supermarkt.» sage ich abwesend, immer noch von der Angst erfüllt, meinen Computer weggeben zu müssen.
«Dann geh in den Supermarkt und hol Brötchen!» fügt mein Vater hastig hinzu.
«Ja. Kein Problem. Mit dem Fahrrad ist das in null Komma nichts erledigt.» erwidere ich beschwichtigend.
«Und übrigens,» sagt mein Vater, das Gesicht vom Fernseher wegdrehend, «du könntest dein Fahrrad wieder mal putzen. Es sieht wie Sau aus.»
«Ja. Das habe ich mir für morgen vorgenommen.» erwidere ich demütig und gleichzeitig froh, dass dieser Disput ein Ende genommen hat.
In meinem Zimmer angekommen, öffne ich die Schublade, in der ich mein Taschengeld aufbewahre. Doch im Gegensatz zu meiner Erwartungshaltung ist die Schublade leer. «So ein Mist. Wo ist das Geld?» frage ich, in die leere Schublade hineinschauend. Doch im gleichen Moment, in dem ich die Worte sage, fällt mir ein, dass ich das Geld letzten Monat für „Die Helden des Krieges“ ausgegeben habe.
Plötzlich überfällt mich Panik. Die Angst meinen Eltern beichten zu müssen, dass ich sie angelogen habe und das Geld für ein Computerspiel ausgegeben habe, sitzt tief. Hinzu kommt, dass der Moment nach dem eben geführten Disput mehr als ungünstig ist. Doch was nun?
Einfach behaupten, dass ich das Geld verloren habe. Die Idee ist nicht grade die Beste. Sicherlich würde es auch Konsequenzen nach sich ziehen. Aber was bleibt mir schon anderes übrig? Die Wahrheit zu sagen, kommt nicht in Frage. Mein Vater würde mir sofort den Computer wegnehmen. Und das ist inakzeptabel.
Grade als ich mich ins Wohnzimmer aufmache, um meinen Eltern die Geschichte mit dem verlorenen Geld aufzutischen, dringen plötzlich Wortfetzen von meiner Mutter in den sonst stillen Flur. «So geht das nicht weiter mit dem Jungen. Vielleicht solltest du mit ihm noch einmal unter vier Augen reden. Ich verstehe das nicht. Wir machen so viel für ihn und er schätzt das einfach nicht.»
«Du bist viel zu sanft zu ihm.» ertönt die Stimme meines Vaters, «Das habe ich dir schon öfters gesagt. Ein Paar Züchtigungen mit dem Gürtel bringen viel mehr, als dieses leere Gerede. So jetzt ist aber genug. Ich möchte mich noch etwas entspannen. Sei still und genieß den Fernsehabend!»
Nach dem eben Gesagten wird mir bewusst, dass für Fehler heute kein Platz mehr da ist. Ohne recht zu wissen, was ich machen soll, ziehe ich mich in aller Ruhe an und verlasse leise die Wohnung.
Draußen angekommen, nehme ich das Fahrrad aus der Halterung und setze mich drauf. Im selben Moment, in den ich mich auf das Fahrrad setze, bemerke ich, dass das Fahrrad nicht wirklich einen gepflegten Eindruck macht. «Morgen nach der Schule kann ich es wieder mal in Schuss bringen.» Doch dieses Problem gilt es, morgen zu lösen.
Auf dem Weg zum Supermarkt kreisen die Gedanken um das Geschehene. Der Gürtel als Mittel zur Züchtigung. Erinnerungen an längst vergangene Züchtigungen dringen in das Hier und Jetzt. Diese Art von Züchtigung, und das schwöre ich mir, werden keinen Einlass in meine Erziehung haben.
Doch noch mehr beherrscht mich in diesem Augenblick die Furcht, den Computer zu verlieren. «Ansonsten nehme ich dir deinen Computer weg!» raunt die Stimme meines Vaters durch meinen Kopf. Das darf nicht geschehen, um keinen Preis der Welt. Er tut immer das, was er sagt. Er spricht niemals leere Worte aus. Das weiß ich mittlerweile.
Einen Augenblick später stehe ich vor dem Supermarkt. Doch was nun?
Im selben Moment, als ich mir die Frage stelle, taucht auch schon eine Antwort auf.
Du hast es schon mal getan. Du wolltest es eigentlich nicht noch einmal machen. Aber die Situation verlangt es. Außerdem ist der Moment günstig. Es ist bereits dunkel. Nur noch dieses eine Mal und dann nie wieder.
Fest entschlossen mache ich einen großen Bogen um den Supermarkt herum auf die Rückseite, an der das Leergut aufbewahrt wird. Das Fahrrad im Dickicht eines angrenzenden Wäldchens liegend, schleiche ich mich an den Zaun, hinter dem das Leergut steht. Das Tor zum Leergutlager ist verschlossen. Gut. Sie werden also heute hier nicht mehr Leergut packen. Weit und breit ist auch niemand zu sehen. An derselben Stelle wie schon mal, quetsche ich mich in das Leergutlager, nehme eine Kiste mit Plastikflaschen und vollführe dieselben Züge wie einst. Dabei immer achtend, ob jemand kommt. Nachdem alles erledigt ist, zwänge ich mich wieder an derselben Stelle ins Freie hindurch, sammle das Leergut ein und mache mich leise auf den Weg zu meinem abgestellten Fahrrad.
«Kein Wunder, dass die Idioten ständig beklaut werden, wenn sie den Zaun so dämlich aufstellen.» sage ich, bevor ich mich auf mein Fahrrad setze und auf Umwegen wieder zum Supermarkt fahre.
Im selben Supermarkt, aus dem ich das Leergut habe, gebe ich es schließlich ab, kassiere das Geld und erledige die Einkäufe.
Gegen 18 Uhr liegen die Brötchen auf dem Küchentisch. Nach einem hastigen Abendbrot nehme ich Platz vor dem Computer und installiere das neue Spiel. Während der Computer das Spiel startet, warte ich geduldig bis mein Handeln gefragt ist. Bald erscheint auf dem Bildschirm die Aufforderung, den Benutzernamen einzugeben.
«Ist doch klar.» sage ich in die Richtung des Bildschirms. «Es gibt nur einen Namen, der hier in Frage kommt: Kane.»
Seitdem ich angefangen habe, Computerspiele zu spielen, erstelle ich immer den ein und selben Benutzernamen. Niemals ist dieser Sven gewesen. Nein, das ist kein Name, der hier etwas zählt. Hier gibt es nur Kane, der Kämpfer und jetzt: der Stratege.
Nach etwa einer gefühlten Stunde geht die Tür zum Zimmer auf. Eine rasch wachsende Wut wird mit Beherrschung in die Schranken gedrängt, als meine Augen meinen Vater in der Tür erblicken.
«Es ist kurz vor 22 Uhr. Wir gehen jetzt schlafen. Mach dich bitte ebenfalls bettfertig und pack deine Schultasche für morgen.» sagt mein Vater bestimmend.
«Ist gut.» antworte ich, meinen Vater anschauend. Daraufhin dreht sich dieser um und geht. Er lässt aber die Tür offen, um mir bewusst zu machen, dass er mich im Auge behält.
Einen Blick auf den Computerbildschirm verdeutlicht die aussichtslose Lage meines Widersachers.
«Glück gehabt Königreich Morg. Aber deinem Schicksal kannst du nicht entkommen. Morgen hat dein letztes Stündlein geschlagen.» sage ich. Nach dem Sichern des Spielstandes wird der Computer heruntergefahren. Als ich schließlich im Bett liege, sehe ich aus den Augenwinkeln, meinen Vater im Türrahmen stehen.
«Gute Nacht.» sagt dieser und verschwindet in Richtung Schlafzimmer.
Gegen 8:00 Uhr morgens klingelt der Wecker. Nach der vorangegangenen Nacht erzielt der lange Schlaf in dieser Nacht seine erholsame Wirkung.
Der heutige Schultag besteht wieder nur aus zwei Schulstunden. Diese Tatsache allein sorgt für ein angenehmes Wohlbefinden. Nach der üblichen Morgenroutine erwartet mich in der Küche meine Mutter. Aus ihrem Verhalten zu schließen, ist der Zwischenfall von gestern für sie immer noch nicht erledigt. Nach einem kurzen Moment, in dem die Vorteile und Nachteile einer Entschuldigung gegen einander abgewogen werden, überwiegen schließlich die Argumente für eine Entschuldigung. Auch wenn hierfür die Entscheidung nicht auf der Überzeugung, etwas Unrechtes getan zu haben, ruht. Die Vorfreude im Gegenzug später entspannter Computer spielen zu können, überwiegt alles.
Nachdem ich mich schließlich bei meiner Mutter noch einmal für mein Verhalten entschuldige, nehme ich meine Schultasche und mache mich auf den Weg zur Schule. An diesem Morgen ist weit und breit kein Johannes in Sicht.
Vielleicht ist er krank? Vielleicht auch nicht? Der Gedanke an Johannes wird aber schnell von den Gedanken an das Königreich Morg verdrängt. Die Streitkräfte dieses Königreiches waren bereits durch mehrere große Auseinandersetzungen stark dezimiert. Ein geschickter Vorstoß hinter die feindlichen Linien und schon wird der Untergang nur noch eine Formsache sein. Super Idee. Ebenfalls könnte ich eine Armee über den Seeweg genau im Rücken des feindlichen Königreiches landen lassen, um dort die feindlichen Burgen zu übernehmen. Wie auch immer. Ob nun die eine oder die andere Strategie. Eines ist sicher. Das Schicksal des Königreich Morg ist besiegelt.
An der Schule angekommen, bemerke ich, dass draußen vor der Eingangstür zum Klassenzimmer keine Jacken auf den Kleiderhaken hängen. Der Dezember dieses Jahres, im Vergleich zu den vorangegangenen, ist eher Milde ausgefallen. Diese Tatsache erklärt aber nicht den vorgefundenen Sachverhalt. Des Weiteren kommt hinzu, dass das Klassenzimmer abgeschlossen ist.
«Was ist das für ein Mist?» sage ich, allein vor dem Klassenzimmer stehend.
«Auch zu spät?» höre ich, eine Stimme hinter mir sagen.
Ein Blick nach hinten gibt der vertrauten Stimme ein Gesicht.
«Wie ich sehe, bin ich nicht der Einzige, der zu spät ist.» stellt Johannes fest.
«Der Unterricht hätte schon vor zwei Minuten beginnen müssen.» sage ich an Johannes gerichtet, während mein Blick auf die Uhr um mein Handgelenk fällt. «Aber das erklärt nicht die verschlossene Tür.»
«Die Tür ist verschlossen?» wiederholt Johannes unglaubwürdig.
«Ja.» sage ich und frage weiter. «Hast du eine Idee, was hier vor sich gehen könnte?»
«Nee du. Keine Ahnung. Ich bin genauso verwirrt wie du.» erwidert Johannes, ein wenig in Gedanken verloren zu sein. «Ach doch. Ja, natürlich. Jetzt fällt es mir wieder ein. Heute findet eine außerordentliche Hauptversammlung in der Sporthalle statt. Was der Grund dieser Versammlung ist, kann ich dir aber auch nicht sagen!»
«Bist du dir sicher? Ich habe nichts von einer Versammlung mitbekommen.» erwidere ich.
«In der Schule habe ich davon auch nichts mitbekommen. Habe aber vorgestern beim Einkaufen zufällig Franziska getroffen. Wir haben uns kurz unterhalten und dabei erwähnte sie nebenbei die Versammlung. Es muss mir aber wieder entfallen sein. Na ja, bis jetzt! Muss mir wohl beim Computerspielen entfallen sein.» erwidert er mit einem leichten Schulterheber.
Auf dem Weg zu den Sporthallen treffen wir auf Frank.
«Na.» begrüßt Johannes Frank, «Du scheinst wohl die Hauptversammlung auch vergessen zu haben. Was?»
«Hauptversammlung? Was für eine Hauptversammlung?» fragt Frank verdutzt.
«Na die, die grade stattfindet. Frag mich aber nicht, worum es geht!» erwidere ich grinsend.
«Also von einer Hauptversammlung habe ich nichts mitbekommen. Naja. Egal. Aber ich muss euch etwas Wichtiges erzählen. Ich habe gestern einen coolen Zombiefilm gesehen. Der war so der Hammer, dass ich ihn mir sogar zweimal hintereinander reinziehen musste. Ein wirklich cooler Streifen. In dem Film spritzt das Blut nur so vor sich hin. Das haben die Filmemacher schon richtig genial gemacht.» erzählt Frank, von einem Glitzern in den Augen begleitet.
«Du bist einfach nur ein Freak.» sagt Johannes und fügt hastig hinzu. «Ein Zombie Freak!»
«Der Film ist, nehme ich wieder mal an, ab 18 oder?» frage ich.
«Was denkst du denn!» erwidert Frank. «Alles andere ist Kinderkram und kommt mir nicht ins Haus.»
«Und was sagt deine Mutter zu deiner Leidenschaft?» frage ich weiter.
«Was soll sie schon sagen. Die Welt ist schon brutal genug! Da machen hier und da ein paar Blutspritzer nichts mehr aus.» antwortet Frank. «Außerdem achtet sie auch nicht wirklich drauf, was ich im Fernseher oder auf Video schaue. Ich meine, welche Eltern tun das schon? Etwa deine?» fragt Frank seinerseits.
«Meine? Nein. Die sagen zwar, ich soll nicht solange Fernsehen schauen, aber achten, geschweige denn kontrollieren, tun sie mich dabei nicht.» antworte ich. «Aber jetzt wo wir davon reden, fällt mir auf, dass ich wirklich gar keinen kenne, den die Eltern beim Fernsehen kontrollieren. Oder kennst du jemanden?» frage ich Johannes.
«Also, ich kenne niemanden. Und bei mir zu Hause achten meine Eltern auch nicht drauf, was ich bzw. meine Schwestern im Fernseher schaue.» erwidert Johannes. «Ich meine vorher, als ich noch keinen Fernseher in meinem Zimmer hatte, dann haben meine Eltern schon das Programm bestimmt bzw. mich und meine Schwestern schlafen geschickt, wenn es an der Zeit war. Irgendwann aber, als meinen Eltern die ständigen Diskussionen über das Programm überdrüssig wurden, da kauften sie uns unsere eigenen Fernseher, damit wir Ruhe gaben. Seitdem heißt es vielleicht, schau nicht so lange fern. Mehr aber auch nicht.»
«Es wäre auch noch schöner, wenn uns unserer Eltern kontrollieren würden.» gibt Frank von sich und fügt hastig hinzu. «Wartet! Wir sind aber auch blind! Natürlich kennen wir jemanden. Sebastian. Seine verklemmten Eltern erlauben ihm erst ab einer bestimmten Zeit Fernsehen zu schauen. Außerdem, schauen darf er nur das, was sie grade für richtig erachten.»
«Also denen haben wir es zu verdanken, dass Sebastian hinter dem Mond lebt und uns ständig mit seinen Anrufen belästigt, von wegen wir sollten draußen spielen. Na vielen Dank!» sagt Johannes und verdreht spielerisch die Augen, woraufhin alle plötzlich anfangen, zu lachen.
Am Eingang zur Sporthalle steht eine Lehrerin und empfängt die Nachzügler mit einem grimmigen Gesichtsausdruck.
«Ihr seid zu spät.» begrüßt uns die Lehrerin. «Die Versammlung hat bereits angefangen. Ihr müsst euch ein wenig besser organisieren. Ihr seid nun auf dem besten Weg, erwachsen zu werden.»
Dein Gerede interessiert doch keinen, schießt es mir durch den Kopf. Spar dir doch deine Worte. Aber so denken wohl auch Frank und Johannes, denn ein paar Meter weiter, immer noch in Hörweite der Lehrerin, sagt plötzlich Frank. «Habt ihr eine Ahnung, was die eigentlich von uns wollte?»
«Nee, du? Keine Ahnung.» antwortet Johannes, «Aber sie schien sehr zufrieden, überhaupt mit jemanden reden zu können. Einfach nicht beachten, nett grinsen und weiter gehen!»
Nach diesen Worten beginnen wir von neuem an zu lachen und führen unseren Weg zum Eingang der Sporthalle fort.
Um so wenig Aufmerksamkeit wie möglich durch unser verspätetes Erscheinen auszulösen, benutzen wir den hinteren Eingang zur Sporthalle. Anschließend schleichen wir uns zu unseren Klassenkammeranden und nehmen möglichst unbemerkt Platz auf dem Boden.
«Hast du die Computerzeitschrift mit?» flüstere ich Johannes zu.
«Ja, warte.» antwortet Johannes. Holt die Zeitschrift aus seinem Rucksack heraus und reicht sie mir herüber.
«Du solltest lieber zuhören, anstatt dich wieder mit etwas anderem zu beschäftigen!» meldet sich Franziska zu Wort und schaut mich an.
«Hast du nichts Besseres zu tun? Kümmere dich um deinen eigenen Kram.» erwidere ich gereizt. Man was will die schon wieder. Die hat es wohl in der letzten Zeit auf mich abgesehen.
Unverhofft schaltet sich Frank in das Geschehen ein. «Halt bloß dein Mund und steck deine Nase nicht in Dinge, die dich nichts angehen!»
Die von Franziska verursachte Unterhaltung bleibt zu meiner Verärgerung nicht ungehört, denn plötzlich meldet sich meine Klassenlehrerin zu Wort. «Ruhe! Erst kommt ihr zu spät und dann besitzt ihr noch die Frechheit, diese Versammlung zu stören. Dafür gibt es einen Klassenbucheintrag. Und wenn ich nur noch ein Wort von euch höre, dann werde ich mich mit euren Eltern in Verbindung setzen. Habt ihr das verstanden?» fragt sie mit verärgertem Gesichtsausdruck.
«Ja, ja. Dein Eintrag ins Klassenbuch interessiert doch sowieso keinen. Und die Eltern rufst du doch sowieso nicht an. Also spiel dich doch hier nicht so auf.» fügt Johannes flüsternd hinzu, nachdem unsere Klassenlehrerin ihren Blick von uns abgewendet hat.
Einen Augenblick später kehrt wieder Ruhe ein und alle Köpfe wenden sich den Sprechern der Hauptversammlung zu.
«Hey. Aufstehen! Die Versammlung ist zu Ende.» sagt Johannes und steht auf. «Hast du dir die Artikel durchgelesen?»
Die Zeitschrift in der Hand haltend, erhebe ich mich vom Boden. «„Die 6 Armada“ und „Die Tore von Hall“. Ich kann nur sagen, ich bin wirklich begeistert. Und wenn man die Vorschau liest, dann kann man nur von Glück sagen, dass wir in so einer coolen Zeit wie dieser leben.» gebe ich begeistert von mir.
«Ja. Wir haben echt Glück.» sagt Johannes mit einem Lächeln auf den Lippen. «Ich wünschte aber, andere hätten auch das Glück!»
«Was meinst du?» hakt Frank nach.
«Gestern hat schon wieder Sebastian bei mir angerufen und wollte mit mir Fußball spielen. Der Typ nervt in der letzten Zeit aber wirklich. Ich wünschte, seine Eltern würden endlich ihren Kopf aus ihren Allerwertesten nehmen und ihm einen Computer zu Weinachten schenken. Aber dafür sind sie zu verklemmt.» antwortet Johannes lächelnd.
Nicht weiter über das eben Gesagte nachdenkend, folge ich, in Gedanken versunken, Frank und Johannes in die Klasse. Während dessen schwirren die in der Zeitung abgebildeten Szenen aus den Spielen durch meinen Kopf und entwickeln ihr Eigenleben.
In „Die Helden des Krieges“ bin ich ein Elitekämpfer. In „Der Strategische krieg“ ein genialer Stratege. Und in „Die 6 Armada“ werde ich bald ein Kampfpilot in der galaktischen Armada sein. Danach werde ich in der Welt von Hall in die Rolle eines Abenteurers schlüpfen, zu dem dann alle aufsehen werden.
Super! Dort kann ich alles sein. Dort kann ich jede Rolle übernehmen.
Zu Hause steht das Essen bereits fertig auf dem Tisch. Schnitzel mit Kartoffeln.
«Ist es in Ordnung, wenn ich am Computer mein Mittagessen zu mir nehme?» frage ich meine Mutter voller Vorfreude auf die kommende Entscheidungsschlacht.
«Nein mein Kind, das geht nicht. Beim Essen hat sich die Familie am Tisch zu versammeln.»
antwortet meine Mutter.
Nicht wirklich von der Antwort meiner Mutter überrascht, verschlinge ich daraufhin mein Mittagessen.
Der anschließende Sieg über das Königreich Morg ist nur noch Formsache. Die am Abend zuvor ausgeklügelten Strategien erfüllen ihren Zweck und zwingen den Gegner schnell in die Knie. Kurz vor Schluss geschieht aber etwas Unvorhersehbares. In dem Kampf um die letzte Zufluchtsstätte des feindlichen Königreichs fällt der Held meiner Armee.
«Nein.» schreie ich vor Wut. «Das kann doch nicht wahr sein. Ich bin zwei zu eins in der Überzahl. Die Armee unter dem Kommando meines Helden hätte nicht verlieren dürfen. So ein Mist.»
Im gleichen Augenblick donnert meine Faust auf den Computertisch.
«Du alter Betrüger!» schreie ich den Computer an. «Du musst schon bescheißen, wenn du nicht weiter weißt. Du kannst wohl nicht anders. Oder? Anscheinend weißt du, dass ich besser bin als du!»
«Was ist hier los?» fragt mein Vater, der plötzlich wie aus dem Nichts an der Tür steht.
«Nichts.» erwidere ich mit zusammen gepressten Zähnen, während ich angestrengt versuche, die Beherrschung wieder zu erlangen.
«Wie lange spielst du schon?» fragt mein Vater, immer noch in der Tür stehend.
Mensch, was willst du denn. Hast du nichts Besseres zu tun? Geh jemanden anderen nerven!
«Nicht lange.» erwidere ich statt dessen, immer noch um Beherrschung ringend. «Vielleicht ein zwei Stunden. Habe erst eben grade angefangen. Wieso fragst du?»
«Weil es schon kurz vor 18:00 Uhr ist.» antwortet dieser.
«Bitte, was?» sage ich unglaubwürdig, während meine Wut plötzlich verschwindet.
Es war doch grade erst 13 Uhr. Wie kann die Zeit so schnell vorbei gehen. Das…
«Deine Mutter hat mir schon öfters erzählt, dass du in deinem Zimmer anfängst zu brüllen. Manchmal sagt sie auch, dass sie Geräusche vernimmt, die sich anhören, als ob etwas gegen die Tür oder Tisch knallen würde.» fährt mein Vater fort und reißt mich aus meinen Gedanken, «Zuerst dachte ich, dass deine Mutter übertreibt, aber da ich nun jetzt selber sehe, wie du dich verhältst, muss ich feststellen, dass alles, was deine Mutter mir gesagt hat, der Wahrheit entspricht.»
Schön für dich!
«Das letzte Mal hat Mama ein Ausschnitt aus einem Kampffilm mitbekommen, den ich etwas zu laut aufgedreht habe.»
«Und wie erklärst du den Knall von vorhin?» lässt mein Vater nicht locker.
«Ach…» antworte ich und überlege hastig. Der Fernseher ist aus. Ihm kann ich also die Schuld nicht in die Schuhe schieben. Es bleibt also nur noch die Flucht nach vorne. «Heute habe ich mich über den Computer geärgert. Über die Unfairness, den Betrug, dem ich zum Opfer gefallen bin. Der Computer hat beschlossen, durch Mogeln mir den Sieg zu verbittern. Hierbei sind wohl die Pferde mit mir etwas durchgegangen. Sorry.» sage ich und hoffe, dass er sich mit der Erklärung abspeisen lässt und endlich wieder verschwindet.
«Es ist immer der Kopf, der Schuld ist und nicht der, der die Instruktionen ausführt.» sagt mein Vater und fügt nach einer kurzen Pause hinzu. «Vielleicht lernst du dich zu benehmen, wenn du heute Abend nicht mehr spielen kannst. Ich möchte, dass du den Computer herunterfährst und zum Abendessen kommst. Außerdem möchte ich, dass der Computer für den restlichen Abend aus bleibt!»
«Du dämlicher Computer. Wegen deinem Bescheißen bekomme ich nun Ärger.» schimpfe ich zwischen zusammengepressten Zähnen, so dass mein Vater mich nicht hören kann.
«Das nächste Mal kannst du den Computer selbst herunterfahren.» verhöhne ich meinen Vater auf dem Weg zur Küche, «Aber du hast ja keine Ahnung von Computern. Du hast ja mit Stöcken und Steinen gespielt, wie die Wilden von denen du so gerne sprichst.»
«Ach übrigens,» wendet sich mein Vater wieder an mich, «wir haben dir den Computer gekauft, damit du auch was lernst und nicht, damit du damit nur spielst. Du erinnerst dich doch noch daran, oder? Und übrigens wolltest du nicht heute dein Fahrrad putzen?»
«Nun ich mach doch viel mit dem Computer für die Schule. Letztens habe ich ein Bild aus dem digitalen Lexikon für mein Referat ausgedruckt. Und was das Fahrradputzen angeht, so habe ich mich mit Johannes aufs Wochenende verabredet. Hat uns so besser gepasst.» antworte ich.
Damit ist die Sache vorerst vom Tisch und das Abendessen verläuft wie üblich. Meine Mutter bemüht sich ein Gespräch aufzubauen, während mein Vater nur knapp bzw. gar nicht auf das Erzählte eingeht. Das hält meine Mutter aber nicht davon ab, den üblich Klatsch und Tratsch, den sie von den Nachbarn aufschnappt hat, wie jeden Abend bis zum Schluss zu erzählen.
«Was läuft heute Abend im Fernseher.» höre ich endlich meinen Vater, einen vollständigen Satz sagen, der meine Mutter mitten im Sprechen unterbricht.
Trotz dieser ruppigen Art und Weise, die mein Vater an den Tag legt, lässt sich meine Mutter nicht aus der Ruhe bringen. Anscheinend ist sie so glücklich, dass überhaupt jemand ein Wort an sie richtet, dass sie sofort auf das Gefragte eingeht, ohne auf das, wo sie gerade unterbrochen wurde, noch einmal einzugehen.
«Hm.» gibt mein Vater von sich, als eine Art Bestätigung auf die Aufzählung des Abendprogramms seitens meiner Mutter und fährt fort. «Seitdem die Privatsender über Antenne zu empfangen sind, laufen wenigstens jeden Abend gute Filme. Schön. So! Jetzt bin ich fertig und kann mich entspannt auf der Couch zur Ruhe setzen.» beendet er offiziell das Abendessen, steht vom Tisch auf, geht zum Kühlschrank, nimmt ein kühles Bier heraus, geht zum Sofa herüber und macht den Fernseher an.
Nach dem Abendessen gehe ich in mein Zimmer, setze mich auf mein Bett und lasse meinen Blick durch das Zimmer wandern, bis schließlich dieser auf den Legos hängen bleibt.
«Ach wie lange habe ich mit denen nicht mehr gespielt? Und leicht verstaubt seid ihr auch schon.» sage ich an die Legos gewandt.
Welch eine Freude hat mich damals ergriffen, als ich zu Weihnachten mein großes Lego-Raumschiff erhalten habe. Sechs Monate lang, Monat für Monat, habe ich mein Taschengeld zur Seite gelegt, während alle anderen nach Belieben über ihr Taschengeld verfügten. Oft musste ich mir die Fragen gefallen lassen, wieso ich mir den nichts gönne. Selbst bei so Kleinigkeiten wie einer Dose Limonade. Aber am Ende waren all diese Entbehrungen nicht mehr von Bedeutung. Mit meinem Ersparten und dem Teil, den meine Eltern zugelegt haben, wurde mein Wunsch verwirklicht. Unzählige Stunden verbrachte ich mit dem Lego. Neue Raumschiffe und Raumstationen wurden nach Belieben zusammengesetzt und wieder auseinander genommen. Oft kam auch Sebastian vorbei und wir spielten Szenarien durch, die unserer Fantasie entsprungen waren.
Es ist aber schon lange her, seitdem ich das letzte Mal mit ihm gespielt habe. Genauer gesagt ein Jahr. Kurz bevor ich meinen Computer bekommen habe. Schade, denn im Endeffekt hatte ich eine wirklich gute Zeit mit dem Lego und Sebastian. Vielleicht sollte ich mal wieder Sebastian fragen, ob er nicht Zeit und Lust hätte, eine Runde Lego zu spielen.
Grade als ich noch in Gedanken versunken bin, erblicke ich eine Ecke eines Kartons unter dem Bett. Von der Neugier gepackt, ziehe ich den Karton unter dem Bett hervor. Zum Vorschein kommt das Gesellschaftsspiel „Die Helden von Umbar“.
Was für ein Spiel. Johannes, Frank, Sebastian und ich. Zusammen erlebten wir heldenhafte Kämpfe an unserem Esstisch. Aber auch das ist schon etwas länger her. Das Titelbild des Verpackungskartons stellt einen mächtigen Kämpfer dar, bewaffnet mit einem großen Breitschwert. Im Hintergrund stehen kampfbereit mehrere Orks, Zombies und andere Monster, die es zu besiegen gilt. Das Spiel hat schon seine Jahre und auch das Titelbild scheint seine ursprüngliche Farbstärke verloren zu haben. Beim Drüber wischen mit der Handfläche stelle ich jedoch zu meiner Freude fest, dass das Titelbild nicht verblasst ist. Es war bloß getrübt von dem Staub, der sich mit der Zeit draufgelegt hat.
Die eben gewonnene Erkenntnis löst ein zufriedenes Gefühl in mir aus. Auch für dieses Spiel musste ich mehrere Monate sparen. Aber auch hier überwiegte am Ende die Freude über die Entbehrungen im Vorfeld.
«Telefon für dich.» sagt meine Mutter, die wie aus dem Nichts in der Tür erscheint und mich aus meiner Erinnerung reißt.
«Danke.» erwidere ich und nehme das Telefon entgegen. «Sven Lassen am Apparat.»
«Hey Sven, hier ist Sebastian. Na alles klar bei dir? » fragt dieser.
«Hey Sebastian. Ja. Danke der Nachfrage. Ich muss zugeben, dass ich grade an dich gedacht habe. Ich habe nämlich vor ein paar Minuten das Spiel „Die Helden von Umber“ zufällig unter meinem Bett entdeckt und da musste ich an unsere Spielabende denken. Als Johannes, Frank, du und ich uns gemeinsam heldenhaft in den Kampf gestürzt haben. Kannst du dich noch daran erinnern?»
«Aber ja, natürlich.» antwortet Sebastian. «Das waren wirklich schöne Zeiten. Ich habe dich und die anderen beiden mehrmals in der Schule angesprochen, ob ihr nicht wieder Lust hättet, das Spiel zu spielen. Ihr habt mir zwar zu verstehen gegeben, dass ihr ebenfalls Interesse hättet und gerne mal wieder euch auf ein Kampf einlassen würdet, aber danach geschah einfach nichts mehr. Irgendwann hatte ich aber dann keine Lust mehr, euch zu fragen und ließ dann schließlich die Sache auf sich beruhen.»
«Hast du uns wirklich gefragt?» frage ich Sebastian, mich selbst dieses Sachverhaltes nicht mehr bewusst werdend.
«Mehrmals. Ist jetzt aber auch egal.» wiegelt Sebastian ab und fährt fort. «Du, weswegen ich aber anrufe. Heute Abend läuft eine Sportsendung auf dem Privatsender MTL. Könntest du sie mir aufnehmen und morgen zur Schule mitbringen? »
«Aber ja. Kein Problem. Wann fängt sie an?» frage ich.
«Viertel nach acht.» gibt mir Sebastian zu verstehen.
«Ist kein Problem. Mach ich. Aber erzähl doch mal, wie geht es dir? »
«Soweit so gut. Ich war heut mit Tim und Hauke Basketball spielen, unten auf dem Schulsportplatz. In den Pausen zwischen den Spielen kamen wir etwas ins Gespräch und da haben Tim und Hauke sich nach dir erkundigt. Beide fanden es schade, dass du in der letzten Zeit nicht mehr draußen anzutreffen bist. Ansonsten wollten sie wissen, wie es dir sonst so geht.»
«Oh, das ist ja nett. Ich muss zugeben, ich habe die beiden auch schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.»
«Ich habe mich mit ihnen am Samstag auf dem Basketballplatz verabredet. Wenn du Lust hast, kannst du uns gern begleiten.» schlägt Sebastian vor.
«Das ist eine gute Idee.» sage ich. «Samstag passt mir auch sehr gut. Halten wir uns diesen dann frei. So. Jetzt muss ich aber den Videorekorder vorbereiten, damit ich die Sendung aufnehmen kann. Also genieß den Abend und wir sehen uns morgen in der Schule.»
Nachdem sich Sebastian verabschiedet hat, gehe ich herüber ins Wohnzimmer zu dem Videorekorder, um diesen zu programmieren. Im Wohnzimmer sitzen meine Eltern nebeneinander auf dem Sofa und schauen sich das Abendprogramm im Fernseher an. Nachdem die nötigen Einstellungen für die Aufnahme getroffen sind, entscheide ich mich noch aus dem Schrank im Wohnzimmer etwas Süßes für den späteren Abend mitzunehmen.
«Du könntest auch einen Apfel oder eine Birne essen. Da sind wertvolle Vitamine drin.» bemerkt meine Mutter, während ich eine Tafel Schokolade aus dem Schrank nehme.
«Ich bin doch kein Kaninchen.» erwidere ich und frage im Gegenzug. «Außerdem. Seit wann interessieren dich Vitamine?»
«Ich sorge mich halt um dich und mir ist es wichtig, dass du dich gesund ernährst. » antwortet sie.
«Wenn du so an einer gesunden Ernährung interessiert bist, dann mach doch nicht jeden Tag Fleisch zum Essen und koch nicht immer alles auf Schmalz! Wir haben erst kürzlich in der Schule die Folgen der industriellen Fleischerzeugung behandelt und haben dabei gelernt, dass diese erhebliche Folgen für die Umwelt und unsere Gesundheit haben. Wenn dir also so unsere Gesundheit am Herzen liegt, solltest du vielleicht öfters vegetarisch kochen.»
«Oh. Professor Neunmalklug hat sich wieder gemeldet.» höre ich meinen Vater spotten. «Du wirst noch froh sein, so eine Frau wie deine Mutter zu Hause zu haben, die dir noch vernünftig kocht und nicht diesen Fastfood Mist vor die Nase setzt. Außerdem ist Fleisch gut. Jeder der hart arbeitet, muss viel davon essen. Und seit wann hast du so ein Umweltbewusstsein. Fängst du jetzt an wie die Kornfresser. Das sind doch alles Querulanten! Hast du schon gesehen, wie teuer der Sprit geworden ist wegen dieser Sorte von Menschen? Bald kann sich doch kein einfacher Bürger mehr leisten, mit dem Auto zu fahren.»
«Ist doch für unsere Umwelt.» sage ich und wundere mich über meine Worte. Denn eigentlich habe ich keine wirkliche Meinung zu diesem Thema.
«Ich habe einen Katalysator in meinem Auto. Sollen erst die, die keinen haben, dazu verdonnert werden, sich einen einzubauen.» antwortet dieser mit einer merklich erhöhten Stimme.
«Nun reg dich doch nicht auf. Wir reden doch nur.» versucht meine Mutter, die Situation zu beschwichtigen.
«Ach.» bricht es aus meinem Vater heraus. «So ein dummes Gerede kann ich einfach nicht mehr hören. Immer hat er etwas zu meckern. Er sollte froh sein, dass er überhaupt was zu Essen hat. Und was lernt ihr eigentlich heutzutage in der Schule. Habt ihr noch solche Fächer wie Mathematik, Deutsch und Physik? Das sind Fächer, mit denen ihr euch auseinander setzen solltet und nicht irgendetwas über Tierhaltung. 40 Jahre war alles gut und nun soll alles plötzlich schlecht sein? Das verstehe ich nicht. In welchem Fach lernt ihr nur so einen Mist? Was ist das für ein Lehrer? Bestimmt so ein Kornfresser! Oder? Die sollte man alle einsperren mit dem Rest der Verrückten auf dieser Welt!»
«Ach Bernd. Nun rede doch nicht so einen Unsinn.» sagt meine Mutter, womit sie die volle Aufmerksamkeit meines Vaters auf sich zieht.
Die Gunst der Stunde nutzend, nehme ich meine Schokolade in die Hand und verschwinde in meinem Zimmer. In meiner kleinen Welt ankommend, setze ich mich gemütlich auf das Sofa und nehme einen herzhaften Bissen von der Schokolade, während ich mit der rechten Hand den Fernseher anschalte. Die öffentlichen Kanäle wie immer ignorierend, schalte ich auf die privaten Sender um.
Zufrieden wieder etwas anderes machen zu können, als Computer zu spielen, schalte ich den Teletext ein, um mich über das Programm von heute zu informieren. Nachdem das Abendprogramm feststeht, werfe ich noch einen abschließenden Blick auf das Programm von Samstag.
«Cool!» sage ich an den Fernseher gerichtet. Aus dem Teletext ist zu erkennen, dass am Samstag ein guter Actionfilm läuft, gefolgt von einem interessanten Science-Fiction Film. Der Samstagabend ist somit also verplant. Zufrieden über die Aussicht, sich am Wochenende gut zu unterhalten, werfe ich noch einen abschließenden Blick auf das Vormittagsprogramm am Wochenende. Zu meiner Überraschung stelle ich fest, dass das Wochenende noch mehr gute Unterhaltung zu bieten hat. Um ein Uhr am Vormittag soll ein Science-Fiction Film über einen Monsteraffen gesendet werden. Diese Art von japanischer Science-Fiction Film hat mich schon immer fasziniert. Nun ist das Wochenende endgültig verplant.
Plötzlich fällt mir jedoch ein, dass ich mich mit Sebastian am Samstag verabredet habe. Und zwar genau zu der Zeit, in der der japanischer Science-Fiction Film gesendet wird.
Mist. Doch bereits einen Augenblick später entscheide ich, mich von diesem kleinen Problem nicht abhalten zu lassen. Ich überlege mir, die Verabredung morgen in der Schule zu revidieren. Als Grund irgendeine Art von Familientreffen, in der meine Anwesenheit Pflicht ist, vorzugeben. Anschließend den Enttäuschten heraushängen zu lassen und im nächsten Satz zu versprechen, dass das nächste Mal alles ganz anders sein wird.
Schließlich habe ich mir auch etwas Entspannung verdient.
«Na alles klar bei dir?» fragt Johannes am nächsten Morgen auf dem Weg zur Schule.
«Ja, alles bestens. Hab nur kein Bock auf Schule.» antworte ich müde. «Was haben wir heute eigentlich für Unterricht?»
«Zwei Stunden Deutsch, Mathe und zum Schluss Englisch. Wieso fragst du?» sagt dieser und schaut mich verwirrt an. «Du solltest es doch wissen. Schließlich hast du doch deine Schultasche gepackt!»
«Schultasche gepackt! Ich habe seitdem das Schuljahr angefangen hat, die Tasche nicht mehr gepackt. Seitdem trage ich alles mit mir rum.» erwidere ich mit einem Lächeln auf den Lippen. «Und weißt du was? Der Vorteil an dieser Vorgehensweise ist, dass man nie mehr in die Verlegenheit kommt, etwas zu vergessen.»
«Das erklärt jetzt einiges.» gibt Johannes mit einem Blick auf meine Schultasche zu verstehen.
«Bitte. Was meinst du?»
«Nun. Deine Tasche, die sieht so überladen aus. Ich hab mich schon öfters gefragt, was du alles so mit dir herum schleppst?» antwortet Johannes.
In dem Klassenzimmer angekommen, nehmen wir unsere Plätze ein und packen die Schulbücher aus.
«Guten Morgen.» begrüßt uns Frau Thal zu unserer ersten Unterrichtsstunde. «So. Bevor wir mit dem Unterricht beginnen, möchte ich eure Hausaufgaben einsammeln.»
«Hausaufgaben?» klingelt es plötzlich in meinem Kopf.
So ein Mist. Ich hab die Hausaufgaben wieder vergessen. Oh nein. Jetzt regt sich die Alte wieder auf.
Während ich verzweifelt nach einer Lösung meines Dilemmas suche, beobachte ich wie alle anderen Schüler ihre Hefte abgeben. Hinter dem Rücken von Stefan verborgen, warte ich erst einmal ab. Vielleicht habe ich Glück. Und sie guckt sich die Hefte erst zu Hause durch und merkt erst dann, dass mein Heft nicht dabei ist.
Während ich gespannt so da sitze, nimmt Frau Thal die Hefte in ihre Hand und zählt sie durch. Vielleicht bemerkt sie es nicht. Schon am Montag musste ich mir eine Standpauke von ihr anhören wegen nicht gemachter Hausaufgaben. Heute wäre es zuviel des Guten.
Nachdem Frau Thal ihre Zählung beendet hat, schaut sie sich im Klassenzimmer um. Anschließend nimmt sie die Schulhefte noch einmal in die Hand und beginnt von Neuem an zu zählen, während sich ihr Gesichtsausdruck langsam aber stetig verändert. Einen Augenblick später schaut sie erneut hoch, wobei sie diesmal der Reihe nach in die Gesichter der Schüler schaut, bis sie schließlich bei mir stehen bleibt.
Mist!
«Wo sind deine Hausaufgaben Sven?» höre ich ihre Stimme in meinen Ohren donnern.
Mein Hund hat sie aufgefressen.
Aber das kann ich nicht sagen. «Ich…äh.. ich habe…äh..» stammle ich vor mich hin, während ich angestrengt überlege. Nachdem mir aber einfach nichts Gescheites einfallen will, beschließe ich, mich dem Unvermeidlichen zu stellen. «Ich… ich habe sie nicht gemacht.» gebe ich kleinlaut von mir und hoffe, mit dieser Antwort schnell die Dinge ohne großes Theater hinter mich zu bringen.
«Oh, nicht schon wieder Sven.» höre ich meine Lehrerin sagen. «Das ist jetzt das zwölfte Mal in diesem Halbjahr, dass du deine Hausaufgaben nicht gemacht hast. Wie stellst du dir das vor? Wie soll es mit dir weiter gehen? Du hast dieses Jahr kein einziges Mal deine Hausaufgaben gemacht! Du scheinst kein Interesse am Unterricht zu zeigen. In keinster Art und Weise. Du bist unkonzentriert, müde, fällst bei deinen Mitschülern durch Pöbeleien, Handgreiflichkeiten und Wutausbrüche auf. So geht das nicht weiter.»
«Ach, jetzt übertreiben Sie. Das stimmt doch gar nicht.» erwidere ich leicht gereizt. «Zugegeben. Ich habe die letzten zwei, drei Male meine Hausaufgaben nicht gemacht. Aber dass ich diese, kein einziges Mal in diesem Jahr gemacht haben soll, ist doch nichts anderes als purer Quatsch. Ich sehe ein, ich habe wiederholt einen Fehler gemacht. Entschuldigung. Kommt nicht mehr vor!»
«Die letzten zwei, drei Male.» wiederholt Frau Thal ungläubig. Dreht sich im nächsten Augenblick um, nimmt das Klassenbuch, schlägt es auf und hält es mir unter die Nase. Anschließend blättert sie langsam die Seiten der letzten Monate durch bis heute.
Während die meisten Schüler keine Bemerkungen neben ihren Namen vorzuweisen haben, sind neben meinem Namen durchgehend Bemerkungen verzeichnet. Oft am selben Tag von zwei unterschiedlichen Handschriften.
Das war mir nicht so bewusst. Wie konnte das…
«Das kann nicht sein,» sage ich, durch eine wachsende Wut in mir angetrieben. «Die anderen Lehrer übertreiben. Die haben es gegen mich abgesehen. So oft kann ich meine Hausaufgaben nicht vergessen haben. Diese Einträge sind falsch.»
«Sven. Ich weiß nicht, ob du das selbst nicht merkst oder es einfach nicht wahr haben willst. Fakt ist aber, dass du dich in der letzten Zeit stark verändert hast. Du machst keine Hausaufgaben mehr, interessierst dich nicht für den Unterricht und schlägst deine Mitschüler. Inzwischen haben sich drei besorgte Eltern von deinen Mitschülern bei mir gemeldet. Sie beklagen, dass die Oberarme ihrer Kinder überseht von blauen Flecken sind. Im Englisch- Unterricht hast du aus Wut, als man dir eine Computerzeitschrift aus den Händen gerissen hat, mit deiner Trinkflasche geschmissen. So geht das einfach nicht weiter. Inzwischen haben ich und die anderen Lehrer genug von deinem Benehmen. Wenn du nicht endlich Verantwortung übernimmst...»
Von einem Augenblick auf den anderen sehe ich nur noch rot. Nichts bringt mich mehr auf die Palme als eine Drohgebärde. In meinen Gedanken sehe ich, wie ich aufstehe, zu meiner Lehrerin hinübergehe und ihr eine verpasse. Genauso wie ich das bei meinen Gegnern in „Die Helden des Krieges“ auch tue.
«dann müssen wir dich von der Schule verweisen.» beendet sie ihren Satz.
«Ach ja!» sage ich aufgeregt. «Kein Problem. Tu es doch. Ich brauche dich und deine dumme Schule nicht. Du und deine Schule, ihr ödet mich sowieso an.»
Ohne irgendeine Reaktion seitens meiner Lehrerin abzuwarten, stehe ich mitten im Unterricht auf und verlasse das Klassenzimmer Richtung Schulhof.
«Was wollt ihr alle eigentlich von mir. Ich will doch nur meine Ruhe haben. Ich brauche euch nicht. Ich brauche nur meinen Computer und meinen Fernseher. Der Rest kann mir gestohlen bleiben.» sage ich, auf dem Schulhof ankommend, nach einer Dose tretend.
«Scheiße!»
Genauso schnell wie die Wut ausgebrochen ist, verschwindet sie auch und das Denken setzt wieder ein. Dieser Ausraster würde Folgen haben. Und diese mussten nach Möglichkeit abgemildert werden.
Nun gilt es, Schadensbegrenzung zu betreiben.
Der einfachste Weg den Schaden abzumildern ist, Reue zu zeigen, auch wenn dies nicht so gemeint ist. Vereinfacht gesagt, bedeutet das: Mund halten, Blick nach unten senken und die Standpauke der Lehrerin über sich ergehen zu lassen. Anschließend die nächsten zwei, drei Male Hausaufgaben abschreiben, um den guten Willen zu zeigen und dann ist auch schon Gras über die Sache gewachsen.
Zehn Minuten später stehe ich vor dem Klassenzimmer, hole noch einmal tief Luft und öffne die Tür. Der Blick der gesamten Klasse fällt, wie zu erwarten, auf mich.
«Nimm bitte deinen Platz ein und öffne dein Deutschbuch.» fordert Frau Thal mich auf, noch bevor ich selbst ein Wort sagen kann.
Gefügig nehme ich Platz auf meinen Stuhl und öffne das Buch. Im Gegensatz zu den letzten Deutschstunden mache ich aufmerksam mit und melde mich sogar einmal. Aus dem Gesichtsausdruck von Frau Thal lässt sich nichts erkennen, ob sie erstaunt ist über die nun vorherrschende Aufmerksamkeit meinerseits oder auch nicht. Auf jeden Fall nimmt sie immer jemand anderen dran. Der Rest der Stunde verläuft ohne weitere Zwischenfälle.
Als es zu Pause klingelt, verlassen alle Schüler den Klassenraum.
«Sven, du bleibst noch einen Moment hier. Ich möchte noch kurz mit dir unter vier Augen reden.» sagt Frau Thal bestimmend und packt die Schulhefte mit den Hausaufgaben in ihre Tasche.
Als schließlich alle Mitschüler draußen sind, setzt sich Frau Thal auf einen Stuhl mir gegenüber und schaut mich an.
«Ich möchte mich mit deinen Eltern treffen.» höre ich sie sagen. «Bitte teil Ihnen mit, dass ich sie morgen besuchen möchte, um mit ihnen über dein Verhalten in der Schule zu sprechen. Wenn ich mich recht erinnere, arbeitet dein Vater am Freitag nicht so lange. Aus diesem Grund würde ich gern so gegen 16 Uhr bei euch vorbei schauen!»
«Frau Thal, können wir das nicht anders regeln? Müssen wir unbedingt gleich meine Eltern damit hineinziehen.» frage ich sie mit einem flehenden Gesichtsausdruck.
Plötzlich ergreift mich die Angst, meinen Computer und den Fernseher durch diese dummen Hausaufgaben zu verlieren.
«Nein Sven. Das können wir nicht.» gibt sie bestimmend von sich. «Wenn du auch ehrlich zu dir selbst bist, dann weißt du auch, dass wir diese Unterhaltung nicht zum ersten Mal in diesem Jahr führen. Du hast mir immer glaubhaft versichert, dass du dein Verhalten ändern wirst. Aber deinen Worten sind bisher keine Taten gefolgt. Nein Sven. Bis hier hin und nicht weiter!»
«Aber…» versuche ich verzweifelt, noch einmal das Blatt zu wenden, werde aber so gleich von Frau Thal unterbrochen.
«Kein aber. Teil deinen Eltern mit, dass ich morgen gegen 16 Uhr bei ihnen bin.» beendet sie die Unterhaltung. Steht auf, geht zum Schreibtisch, nimmt ihre Tasche und verlässt das Klassenzimmer.
«Hey!» vernehme ich die Stimme von Johannes, als ich aus dem Klassenraum trete. «Hast du nicht am Dienstag, als du bei mir zu Besuch warst, behauptet, dass du schnell nach Hause musst, um die Hausaufgaben für den Deutsch-Unterricht erledigen musst.»
O Mann! Hat es jetzt jeder auf mich abgesehen?
«Ja, das wollte ich auch, aber zu Hause haben meine Eltern Stress gemacht und da bin ich einfach nicht mehr dazu gekommen.» antworte ich.
«Nee, ist schon klar.» sagt Johannes und verzieht die Augen. Dreht sich anschließend auf der Stelle um und geht davon.
«Hey, wo willst du hin?» ruft Frank Johannes hinterher, der die ganze Szene mitbekommen hat.
«Keine Ahnung. Nur bloß weg von Sven.» antwortet Johannes, ohne sich umzudrehen bzw. in seinem Gang zu halten.
«Warte. Ich muss sowieso in die Richtung.» sagt Frank. Dreht sich noch einmal zu mir um, wobei er den Blickkontakt vermeidet und sagt: «Also bis später.» und läuft Johannes hinterher.
«Ach, geht doch.» brumme ich vor mich hin. Solche Freunde wie euch brauche ich nicht.
«Na?» sagt Sebastian von hinten, «Das ist wohl nicht dein Tag!»
«Nein. Das ist er wohl nicht.» sage ich immer noch verärgert über Johannes und Frank.
«Komm, lass uns auf den Schulhof gehen.» sagt Sebastian. «Das bringt dich auf andere Gedanken.»
«Ja, du hast Recht. Lass uns raus gehen und frische Luft schnappen. Doch vorher will ich dir die Videokassette geben mit der Sendung, die ich für dich aufgenommen habe.»
Gemeinsam gehen wir in das Klassenzimmer, in welchem sich auch Franziska befindet.
«Was starrst du sie so an?» flüstert Sebastian leise.
«Bitte?» erwidere ich, wie aus einer Trance gerissen, und muss feststellen, dass ich anfange Franziska in einer Art anzuschauen, die mir bis dahin völlig neu ist. «Ich äh… starre sie gar nicht an.» antworte ich, nicht wirklich überzeugend.
«Genau. Ist schon klar.» erwidert Sebastian und grinst mich von der Seite an. «Ich darf dich wohl herzlich in der Pubertät willkommen heißen. In einer Zeit, in der die Hormone verrücktspielen und man plötzlich sogar die Mädels aus der eigenen Klasse interessant findet. Schrecklich!»
Der Tag kann nur noch besser werden. Zuhause angekommen, steht wie gewohnt das Essen auf dem Tisch. Hackbällchen mit Kartoffeln und zwei Bohnen.
«Wie war die Schule?» fragt meine Mutter während des gemeinsamen Essens.
Das Letzte, wozu ich Lust habe, ist, in diesem Moment mit meiner Mutter, über die Schule zu reden. Um jedoch das Bevorstehende schnell hinter mich zu bringen, entscheide ich mich, mit der Sprache herauszurücken. «Meine Lehrerin möchte sich mit euch morgen Nachmittag treffen.»
«Aha, und wieso?» fragt meine Mutter mit erstaunter Miene.
«Nun ja. Ich habe ein paar Mal meine Hausaufgaben vergessen und mich etwas außerhalb der Norm verhalten.» sage ich und verschweige, dass ich ein paar Mädels malträtiert habe. «Und jetzt macht meine Klassenlehrerin einen großen Aufruhr drum.»
«Oh Sven. Ich habe dich immer wieder gefragt, ob du nicht Hausaufgaben zu erledigen hast! Und du hast ständig behauptet, dass ihr keine aufbekommt. Hast du mich etwa die ganze Zeit über angelogen?»
«Nein, Mama. Ich habe dich nicht angelogen. Ich habe einfach meine Hausaufgaben vergessen zu machen. Das kann jedem passieren. Nur bei mir machen alle gleich ein Theater daraus.»
«Und du bist dir sicher, dass es nicht um mehr geht?» fragt meine Mutter und schaut mich mit großen Augen an.
«Was meinst du?» frage ich überrascht.
«Z.B. Rauchen oder Drogen.»
«Ach, Mama.» antworte ich leicht genervt. «Du übertreibst gleich wieder. Ich war doch immer derjenige, der dich dazu gedrängt hat, mit dem Rauchen aufzuhören, da ich den kalten Rauchgeruch widerlich fand. Außerdem ist mir das Geld viel zu schade, um es für Zigaretten auszugeben. Lieber spare ich das Geld und kaufe mir davon ein Computerspiel. Davon kann man nicht süchtig werden wie von Zigaretten! Nein, nein. Ich kaufe mir lieber ein Computerspiel. Denn wie du vielleicht weißt, fördert das Spielen die Entwicklung!»
«Aber ob hierbei auch Computerspiele mit eingeschlossen sind. Na, ich weiß nicht.» sagt meine Mutter und schaut mich etwas unsicher an.
«Wieso den nicht? Was spricht dagegen?» erwidere ich und fahre, nachdem meine Mutter keine Anstalten mehr macht zu antworten, fort: «Wenn die Spiele nicht für uns geeignet wären oder uns schaden würde, hätten sie keine Altersfreigabe. Du musst einfach ein wenig mehr vertrauen haben in die Industrie und die Kontrollsysteme unseres Staates.»
«Hm.» erwidert meine Mutter und belässt es bei dem Thema. «Iss jetzt auf und geh dich anschließend für die Schule vorbereiten.»
Nachdem das Essen beendet ist, gehe ich in mein Zimmer und mache den Fernseher an.
«Jetzt erst einmal etwas entspannen.» sage ich, an den Fernseher gerichtet. Den Computer, nach der gestrigen Betrugsaktion kein Blick würdigend, schalte ich durch die Kanäle.
«Den Zeichentrickfilm, den habe ich doch schon mal gesehen.» sage ich, nachdenklich an den Fernseher gerichtet.
Das ist doch. Och, welch ein Glück. Die galaktischen Vier mit ihrem Superkampfschiff, das sich in ein Roboter verwandeln kann. Super. Sofort macht mein Herz ein rissen Sprung in die Höhe. Ein schneller Blick in den Teletext zeigt, dass die Sendung erst vor wenigen Augenblicken angefangen hat. Zur dieser freudigen Überraschung gesellt sich die Tatsache, dass heute eine Doppelfolge gesendet wird. Welch ein Glück!
Etwa 10 Minuten nachdem die Sendung begonnen hat, klingelt es an der Tür. Ein Augenblick später öffnet meine Mutter die Tür und tritt in mein Zimmer ein.
«Ja?» sage ich genervt.
«Sebastian und ein anderer junger Mann sind an der Tür und möchten mit dir sprechen.»
«Danke.» erwidere ich, genötigt aufzustehen und mich um das Problem zu kümmern. Wieso müssen die Leute immer dann auftauchen, wenn mal etwas Wichtiges im Fernseher läuft. Nie sind sie da, wenn man sich langweilt!
«Hallo.» begrüßt mich Sebastian, an der Haustür gelehnt, als er mich aus meinem Zimmer kommen sieht.
«Na, wie geht’s? Was kann ich für euch tun?» frage ich Sebastian und John, einen Jungen aus der Parallelklasse.
«Wir waren grade in der Gegend und da fiel mir unser gestriges Gespräch ein. Du hast gestern von „Die Helden von Umbar“ geschwärmt und mir mitgeteilt, dass du Lust hättest, wieder das Spiel zu spielen.» sagt Sebastian, wobei er von mir zu John und wieder zurück zu mir schaut. «Na ja und nachdem ich John auf dem Spielplatz getroffen habe, kamen wir auf die Idee, dass wir bei dir vorbeikommen und fragen, ob du nicht Lust hast, mit uns das Spiel zu spielen.»
«Och.» antworte ich überrascht und wusste plötzlich nicht, was ich erwidern sollte. Von einem Moment auf den anderen legt sich plötzlich Stille über den Raum.
In meinem Inneren verspüre ich, wie ein Teil von mir unbedingt „Die Helden von Umbar“ mit Sebastian und John spielen möchte, während ein anderer Teil die Sendung zu Ende sehen möchte.
«Nee du.» sage ich schließlich an Sebastian gewandt. «Die Idee ist echt super. Aber ein wenig zu spontan nach meinem Geschmack. Es läuft grade eine wichtige Sendung im Fernseher, die ich sehen möchte. Lass uns ein anderes Mal „Die Helden von Umbar“ spielen. Das Spiel kann uns ja schließlich nicht weg laufen.»
Auf meine Antwort hin schauen sich Sebastian und John verdutzt an und ziehen, ohne dass sie lästig werden, von dannen.
Der restliche Vormittag gehört dem Fernseher. Gegen vier Uhr geht die Haustür auf und mein Vater kommt nach Hause.
Ich hoffe, er macht mir keine Szene, denke ich mir, während ich ein Kribbeln in mir verspüre. Nach etwa 10 endlos langen Minuten des Wartens, dass mein Vater in mein Zimmer hereinstürmt, um mir die Ohren lang zu ziehen, halte ich es nicht mehr aus und gehe in den Flur hinein.
Schon von weitem ist eine Diskussion aus der Küche zu vernehmen.
«So, tu doch was! Rede mit ihm! Von Mann zu Mann. Vielleicht hört er dir mehr zu als mir.» fleht meine Mutter meinen Vater an.
«Ach.» höre ich meinen Vater sagen. «Er ist alt genug. In seinem Alter musste ich schon weitaus wichtigere Entscheidungen treffen. Jetzt muss er seine eigenen Entscheidungen treffen. Und wenn er jetzt nicht lernen will, dann muss er eben später hart arbeiten. Wenn er erst 8 Stunden auf dem Bau schuftet, dann wird er sich an unsere Worte erinnern. Dann wird er darum flehen, wieder zur Schule gehen zu können.»
Einen Augenblick später vernehme ich wie mein Vater mit einem Getränk in der Hand ins Wohnzimmer geht und sich aufs Sofa setzt. Nach einem Schluck aus seinem Glas greift dieser nach der Fernsehzeitung, blättert sie durch und macht den Fernseher an.
Der Rest des Tages verläuft entspannt vor dem Fernseher. Gegen Abend sendet ein Privatsender einen Film, der auf wahren Begebenheiten basiert.
«Schön!» sage ich an den Fernseher gerichtet, in der rechten Hand eine Tüte Chips haltend.
Der Freitagmorgen beginnt wie gewohnt mit den üblichen täglichen Ritualen. Auf dem Weg zur Schule spielen sich die Bilder von den gestrigen Fernsehsendungen in meinem Kopf ab. Erst an der Schule angekommen, fällt mir auf, dass mich Johannes, wie sonst auch, nicht auf dem Schulweg begleitet hat. Keinen weiteren Gedanken an Johannes verschwendend, betrete ich das Klassenzimmer.
«Hallo Sven.» begrüßt mich der Klassenstreber. «Na, du siehst heute zufrieden aus! Was ist los?»
«Hallo. Nichts Besonderes. Eine alte Zeichentrickserie, die ich früher gern gesehen habe, läuft wieder im Fernseher. Die Fröhlichkeit ist wohl die Vorfreude auf eine weitere Folge.» antworte ich zufrieden.
Kurz darauf kommt Johannes in die Klasse, sieht in meine Richtung, dreht sich, ohne ein Wort zu sagen, um und nimmt Platz auf seinem Stuhl.
«Was für ein kindisches Benehmen. So einen Freund wie dich brauche ich nicht. Wahre Freunde verhalten sich nicht so. Außerdem ist es deine Schuld, dass ich mir eine Ausrede für meinen Rückzug bei unserem Treffen ausdenken musste. Du hättest dich etwas beeilen sollen, als du am Zug warst. Du hättest nicht immer zweimal dieselbe Burg bzw. dieselbe Armee anschauen müssen, um noch einmal sicherzugehen, dass es wirklich auch noch die gleiche ist wie vor zwei Minuten. Nein, du bist selber schuld. Außerdem, echte Freunde verhalten sich nicht so. Echte Freunde stehen füreinander ein und verzeihen sich, auch wenn der eine Mal falsch gehandelt hat. So ähnlich wie die vier Freunde aus der Zeichentrickserie. Deswegen verzeihe ich dir. Denn ich weiß, was es bedeutet, ein Freund zu sein!»
«Wie bitte?» fragt der Klassenstreber. «Was hast du noch mal gesagt? Du hast so genuschelt, dass ich dich nicht verstehen konnte.»
«Oh. Ja? Ah. Nicht so wichtig.» sage ich und nehme den Blick von Johannes.
Der einzige, der an diesem Tag zu mir hält, ist Sebastian. Im Gespräch bedauern wir beide, dass wir gestern nicht zum Spielen von „Die Helden von Umbra“ kamen.
«Das nächste Mal klappt es bestimmt.» sage ich.
«Ist schon OK. Aber danke noch einmal, dass du mir die Sportsendung aufgenommen hast. Das war wirklich nett von dir.»
Zuhause angekommen, verspüre ich, wie sich mein Wohlbefinden steigert. Die Vorfreude eine weitere Folge meiner Lieblingszeichentrickserie zu sehen, sowie die Lust Computerspiele zu spielen, bestimmen meinen Gefühlszustand.
Zum Mittagessen gibt es Steak mit Kartoffeln und einem kleinen Salat.
«Super.» sage ich zu meiner Mutter. «Ich habe wirklich einen großen Hunger. Ich könnte ein Pferd verschlucken.»
Nach diesen Worten stürze ich mich auf das Essen und verschlinge es innerhalb von ein paar Minuten.
«Freut mich, dass es dir geschmeckt hat.» sagt meine Mutter mit einem Lächeln auf den Lippen. «Das Essen war wirklich gut.» erwidere ich und stehe vom Tisch auf. «So, jetzt muss ich aber los. Will noch etwas am Computer spielen und anschließend meine Lieblings- Zeichentrickserie sehen.»
Nach dem der Computer das Spiel „Der Strategische Krieg“ hochgeladen hat, muss ich mich entscheiden, ob ich das alte Spiel zu Ende spielen möchte oder, ob ich ein Neues starten will.
Ein Moment später entscheide ich mich schließlich, das alte Spiel zu Ende zu spielen. Ich bin schließlich Kane. Und Kane gibt nie auf.
«Deine Niederlage wird schmachvoll sein und dein Held, der meinen Held zur Strecke brachte, wird dafür bluten.» sage ich an den Computer gerichtet.
Die Truppen stehen bereit. Es ist nur noch eine gegnerische Burg zu erobern. Nirgendwo sonst kann der Held des feindlichen Königreiches mehr hin. Einst herrschte ein Bündnis zwischen meinem und seinem Königreich. Aber er hat es gebrochen. Er hat in einem Akt von Feigheit meine Städte angegriffen. Hätte er das nicht gemacht, hätte ich ihn vielleicht am Leben gelassen. Aber nein. Er wollte Krieg. Obwohl ich so gütig zu ihm war. Ich habe immer unsere Grenzen respektiert. Meine Truppen zwei, drei Tage länger marschieren lassen, um unser Bündnis nicht zu gefährden. Aber er musste eine Stadt von mir angreifen und somit unser Bündnis brechen. Jetzt ist die Zeit gekommen, wo er für seine Taten bezahlen muss. Auf seiner letzten Burg sind, außer seinem Haupthelden, nur noch vier Minotauren und ein Dämon übrig. Um die Burg herum steht eine Armee unter meinem Kommando, zusammengesetzt aus vier Bataillonen. Jedes Bataillon besteht aus acht Soldaten. Dazu zählt ein Bataillon berittener Soldaten, ein Bataillon Kriegselefanten, ein Bataillon Minotauren und ein Bataillon Bogenschützen.
«Dein Ende ist nun gekommen.» sage ich zum Computer. «Erst einmal werden die Bogenschützen angreifen. Danach die Kriegselefanten. Das soll erstmal genügen. Los, in den Kampf meine Bogenschützen.» erteile ich den Befehl zum Angriff.
Der Kampf beginnt verlustreich. Es fallen 4 Bogenschützen, bevor eine der gegnerischen Einheiten zu Boden fällt. Anschließend wendet sich das Blatt und die noch verbleibenden Bogenschützen vernichten alle feindlichen Truppen samt den Helden.
«So ein Betrug. Rein rechnerisch müssten meine Bogenschützen untergehen. Aber stattdessen schlagen diese wenigen einen weitaus stärkeren Gegner. Was sind das bloß für Pfeifen, die dieses Spiel programmiert haben.» kommentiere ich den Ausgang des Kampfes kopfschüttelnd.
Nach dem Sieg über den Computer ist es an der Zeit, sich meiner Zeichentrickserie zu widmen. Den Fernseher anmachend, lehne ich mich im Sofa zurück, die Beine hoch gelegt und schaue mir das Intro der galaktischen Vier an.
«Ach, ist das schön. Wenn es bloß immer so sein könnte!» sage ich.
Gegen drei Uhr nachmittags öffnet sich die Haustür und mein Vater kommt nach Hause. Zur selben Zeit geht auch meine Sendung langsam zu Ende. Kurz vor Schluss der Sendung taucht noch einmal, wie auch sonst, eine der Hauptfigur auf und erklärt den Zuschauern den Sinn der Folge.
«Heute, liebe Kinder, war das Thema der Sendung die Art und Weise, wie man mit den Aufgaben umgehen soll, die einem erteilt wurden. In der Sendung haben wir gesehen, dass, wenn man eine Aufgabe nicht richtig erledigt, diese im Nachhinein einem selber oder jemand anderem, der darauf angewiesen ist, schaden kann. Also denkt daran. Was immer ihr auch tut, tut es richtig!»
«Ja, du hast recht. Ich hätte das Königreich gleich unterwerfen sollen. Stattdessen habe ich mich hinter falschen Prinzipien versteckt und mein Held musste dafür sterben. Dass wird mir nicht noch einmal passieren.» verspreche ich mir selbst.
Der Fernsehvormittag dauert bis vier Uhr an. Das Klingeln an der Tür markiert das Ende eines entspannten Vormittages. Nun gilt es sich mit Frau Thal und meinen Eltern auseinanderzusetzen.
«Kommen Sie bitte rein, Frau Thal. Meine Eltern erwarten Sie schon bereits.» begrüße ich Frau Thal mit einem freundlichen Lächeln an der Tür.
Freundlich nickend tritt Frau Thal über die Türschwelle, zieht sich die Schuhe aus und begleitet mich ins Wohnzimmer, wo bereits meine Eltern mit Kaffee und Kuchen auf sie warten.
Das ist meine Mutter. Das ist ihr Leben. Immer bemüht, den Gästen das Gefühl vom Willkommen sein zu geben. Den halben Tag verbringt sie in der Küche. Backt einen Sahnekuchen, einen kleinen russischen Zupfkuchen sowie einen Käsekuchen. Dazu stellt sie eine Karaffe mit Saft, eine Kanne Kaffee und eine Kanne Tee auf. Bei diesem Anblick ist Frau Thal so überwältigt, dass ihr die Sprachlosigkeit im Gesicht geschrieben steht.
«Sie haben sich aber Mühe gegeben. Das ist ja sehr nett von Ihnen. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.» sagt Frau Thal, von dem ihr Dargebotenen erschlagen.
«Ach, das war nicht so viel Arbeit, wie es aussieht. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?» fragt meine Mutter freundlich lächelnd.
«Ja, gern.» antwortet Frau Thal, während sie auf der Couch Platz nimmt.
Immer das gleiche. Sobald sich Besuch ankündigt, dreht meine Mutter durch. Stets behauptet sie: „Ach, das war nicht so viel Arbeit“. Dabei ist der Schweiß literweise von ihr geflossen. Leicht kopfschüttelnd, setze ich mich ebenfalls auf die Couch und verfolge reserviert das sich vor mir abspielende Szenario.
Währenddessen fühlt meine Mutter den Kaffee in eine Tasse und reicht ihn an Frau Thal. «Bitte. Nehmen Sie sich ein Stück Kuchen!» fordert sie unseren Gast auf.
Nach einem Schluck Kaffee und dem ersten Stück Kuchen meldet sich Frau Thal zu Wort. «Der Kuchen ist wirklich lecker.»
«Ich hab den Kuchen in einer Zeitschrift gefunden und ich muss zugeben, ich war hin und weg, als ich ihn dort erblickt habe. Bei der nächsten Gelegenheit, nahm ich mir vor, diesen zu backen. Sie haben mir somit also einen Gefallen getan.» erwidert meine Mutter.
«Und wie schön Sie die Wohnung eingerichtet haben.» fährt Frau Thal fort.
Sie reden noch etwa eine halbe Stunde über Gott und die Welt, bis meine Lehrerin schließlich den eigentlichen Grund ihres Besuches anspricht.
Gott sei dank!
Nach dem Gesichtsausdruck meines Vaters zu urteilen, bin ich wohl nicht der einzige, der so denkt. Während der Unterhaltung hat mein Vater zwei Mal versucht, die Fernsehzeitung in die Hand zu nehmen, um das Abendprogramm durchzulesen. Ein strafender Seitenblick meiner Mutter ließ ihn jedoch immer zurückweichen.
«Der Grund meines Besuches, wie Sie schon vielleicht von Sven gehört haben, ist grade nicht so angenehm, wie ich mir das wünschen würde. Seit 1 ½ Jahren bin ich nun die Klassenlehrerin Ihres Sohnes. In dem letzten halben Jahr lässt jedoch Svens Benehmen und seine Leistung, erheblich zu wünschen übrig.»
«Inwiefern?» fragt mein Vater knapp.
«Nun, unter anderem…» beginnt Frau Thal, ihr ernstes Gesicht aufsetzend, «ist Sven im Unterricht ständig unkonzentriert. Auf die Rügen seiner Lehrer reagiert er äußerst aufbrausend und manchmal auch aggressiv.»
«Und das ist alles?» erwidert mein Vater, wobei er den zornigen Blick meiner Mutter erntet.
Bemüht die Situation zu retten, versucht mein Vater, an sein Gesagtes anzuknüpfen. «Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich meine, mein Sohn ist grade 13 Jahre alt und kommt langsam in die Pubertät. Da verhält man sich eben etwas anders.»
«Sie haben sicher Recht,» beginnt meine Lehrerin vorsichtig. «aber da liegt auch das Problem. Mit unkonzentriert meine ich nicht nur, dass Ihr Sohn durch Fehlverhalten den Unterricht stört. Das Problem vielmehr liegt darin, dass Ihr Sohn, während des Unterrichts, nicht geistig anwesend ist. Hinzu kommt, dass er ständig müde ist. Ein weiteres Problem ist, das Sven in diesem Halbjahr kein einziges Mal Hausaufgaben, die von den Lehrern aufgegeben wurden, erledigt hat.»
«Wie keine Hausaufgaben gemacht?» sagt mein Vater und schaut mich an.
«Ich mache mir wirklich Sorgen um Ihren Sohn. Irgendetwas ist mit ihm los. Ich weiß nicht was es ist, aber so kann es nicht weiter gehen. Bitte, ich möchte nicht, dass Sie den Grund meines Besuches falsch verstehen. Ich bin nicht hier, um Ihrem Sohn zu schaden. Es geht hier vielmehr um die Zukunft Ihres Sohnes. Und um die sieht es an der Schule grade nicht rosig aus.» beendet sie ihre Ansprache.
«Wieso hast du nichts gesagt?» richtet mein Vater schließlich das Wort an mich.
«Ich verstehe das nicht.» fährt meine Mutter fort, «Ich habe dir doch gesagt, dass du immer zu mir kommen kannst, wenn du Probleme hast. Wie oft habe ich dich auf deine Hausaufgaben angesprochen. Was ist los mit dir Sven? Wieso kapselst du dich so von uns ab?»
«Ich…», höre ich mich sagen, werde aber so gleich von meinem Vater unterbrochen. «Wie stellst du dir deine Zukunft vor? Willst du wie ich, den ganzen Tag auf dem Bau arbeiten?»
«Ich weiß nicht.» antworte ich.
«Mensch Junge. Deine Mutter und ich, wir möchten, dass du es besser hast im Leben als wir. Damit dich nicht jemand rumschupst auf der Arbeit und nach Gutdüngen über dich verfügt. Das musst du doch verstehen!»
«Ständig sagt ihr mir, ich soll lernen, um es einmal besser zu haben als ihr. Dabei fragt ihr mich nicht einmal, wie es mir geht?» platzt es schließlich aus mir raus. «Vielleicht gefällt mir dieses Leben so wie es jetzt ist. Wenn ihr mit eurem Leben unzufrieden seid, dann ändert doch euer Leben und versucht nicht eure Vorstellungen, eure Fehler auf mich abzuwälzen!»
«Du machst es dir zu einfach.» sagt meine Mutter. «Ich habe mich mein Leben lang um dich gekümmert. Jetzt bin ich zu alt! Und dein Vater arbeitet den ganzen Tag. Was soll er deiner Meinung nach machen. Seinen Job kündigen und zur Schule gehen? Was glaubst du, wer uns die Miete bezahlt?»
«Nimmst du vielleicht Drogen?» wirft mein Vater die Frage dazwischen.
«Nein. Nein!» antworte ich. «Das habe ich auch schon Mama gesagt.» erwidere ich genervt.
In diesem Moment kam unerwartet Schützenhilfe aus der Richtung von Frau Thal. «Nun, ich denke nicht, dass Drogen das Problem hier sind. Sven treibt sich nicht mit den Rauchern in der Schule herum. Ihr Sohn ist nicht der Typ dafür. Außerdem gibt es keine Drogen auf unserer Schule! Davon ist mir jedenfalls nichts bekannt.»
Wenn du nur wüsstest, wie einfach es ist, an Drogen an unserer Schule zu kommen. Aber Ihr merkt einfach nichts.
«Irgendetwas muss aber der Auslöser für dein Verhalten sein! Wenn es keine Drogen sind, was ist es denn?» fragt mein Vater in die Runde hinein, ohne mich dabei zu beachten.
Plötzlich schien die Unterhaltung länger zu werden als erwartet.
«Vielleicht ist er nur faul!» wirft meine Mutter in die Runde hinein.
Nach dieser Aussage schauen sich meine Eltern und Frau Thal an. Nach einem Moment der Stille beginnen meine Eltern zustimmend zu nicken, während Frau Thal nur da sitzt und die Szene beobachtet.
Im selben Moment merke ich, wie die Diskussion an einen Punkt ankommt, an dem ich mich zu fragen beginne, was ich hier eigentlich soll. Ich bin weder faul noch dumm. Die Wahrheit ist, dass mich die Schule nicht interessiert. Ich habe einfach andere Dinge im Kopf als die Schule. Aber das verstehen sie einfach nicht. Oder sie wollen es nicht verstehen. Aber was sie am wenigsten verstehen, ist die Tatsache, dass ich in Ruhe gelassen werden will. Weil ich im Grunde, so wie ich lebe glücklich bin. Aber das gefällt ihnen nicht und nun versuchen sie mein Glück kaputt zumachen.
Während der nächsten halben Stunde reden meine Eltern und Frau Thal über meine angebliche Faulheit und ihre Ursachen. Dabei entwerfen sie die wildesten Szenarien. Immer wieder taucht dabei der Satz auf: „Es muss etwas geschehen!“. Nur was, das wissen sie nicht.
Während das Gespräch weiter seinen Lauf nimmt, verspüre ich ein Gefühl in mir aufsteigen. Um was für eine Art von Gefühl es sich handelt, weiß ich nicht. Woher es auch kommt, kann ich auch nicht sagen. Aber nach einer halben Stunde steht für mich folgendes fest: So geht es nicht weiter. Also gut, sage ich zu mir selbst. Wenn ihr drauf besteht und es euch glücklich macht, dann werde ich mich ein wenig ändern. Aber erst im nächsten Halbjahr. Nächste Woche beginnen die Weihnachtsferien und diese Zeit möchte ich genießen!
«Vielleicht habt ihr Recht und ich bin tatsächlich etwas faul in der letzten Zeit gewesen.» beginne ich zögernd. «Vielleicht hat es auch mit der Pubertät zu tun! Ich weiß es nicht. Aber was ich sagen möchte, ist, dass ich mich in der nächsten Zeit bemühen werde, mehr am Unterricht teilzunehmen.»
Mit meiner plötzlich einkehrenden Einsicht ändert sich schlagartig die Stimmung in der Runde. Augenblicklich ist zu sehen, wie die Anspannung von meinen Eltern abfällt.
«In Wahrheit ist Sven ein guter Junge. Er macht nur wie alle anderen Jungs in seinem Alter Fehler.» höre ich meine Mutter sagen.
Nach etwa einer weiteren halben Stunde macht sich schließlich Frau Thal, zufrieden über den Verlauf des Gespräches, auf den Heimweg. Als sich schließlich die Tür hinter ihr schließt, wendet sich mein Vater an mich und beginnt zu sprechen. «Also dann. Du weißt, was zu tun ist. Übernimm also endlich Verantwortung für dein Leben.»
Als er grade noch einmal das Wort an mich richten will, wird er durch ein knallendes Geräusch aus dem Wohnzimmer unterbrochen.
«Was ist passiert?» fragt mein Vater, sobald er mit mir im Schlepptau das Wohnzimmer betritt.
«Nichts.» sagt meine Mutter verärgert und fährt einen Augenblick später fort. «Mir ist nur die Tasse aus der Hand gerutscht und auf dem Wohnzimmertisch zerbrochen. Dabei ist der Kaffee über die Fernbedingung gelaufen.»
«Gib mir die Fernbedienung!» sagt mein Vater und reißt ohne weiteres meiner Mutter diese aus der Hand. Anschließend wischt er sie trocken, drückt mehrmals auf die Tasten, schlägt zwei-, dreimal mit ihr gegen seinen Handballen und grunzt verärgert.
«Na typisch. Mit euch gibt es nur Ärger. Immer macht ihr was kaputt oder ihr könnt euch nicht um eure eigenen Probleme kümmern. Immer muss ich mich darum kümmern. Nicht einmal in Ruhe kann man sich abends vor den Fernseher hinsetzen.»
«Es tut mir leid. Ich habe es ja nicht mit Absicht getan.» höre ich meine Mutter sagen, aber dafür ist es zu spät. Er ist schon wütend und in Rage.
Ohne mich weiter für den Vorfall zu interessieren, verschwinde ich in meinem Zimmer. Der Tag war heute sowieso stressig genug. Nun ist es wieder an der Zeit, sich etwas zu entspannen.
«Sven. Abendbrot ist fertig. Kommst du bitte.» ruft meine Mutter eine halbe Stunde später aus der Küche.
«Nicht einmal in Ruhe spielen kann man hier!» sage ich an den Computer gerichtet, drücke auf Pause und gehe in die Küche.
Am Tisch herrscht entspannte Atmosphäre zwischen meinen Eltern. Es wird kein Wort über Frau Thal oder über die Fernbedienung verloren.
«Morgen gegen Mittag muss ich das Auto reparieren. Wir haben nämlich ein Loch im Auspuff. Ich möchte, dass du mir dabei hilfst.» wendet sich mein Vater kurz vor dem Ende des Abendessens an mich.
Oh nein. Wie viel Pech kann ein einzelner Mensch haben. Erst nervt Frau Thal und nun das! Dabei ist die zweite Angelegenheit, jene vor der es mir am meisten graut. Jedes Mal wenn ich meinem Vater bei irgendetwas helfen soll, artet es am Ende immer in einem Streit aus. Und das bereits bei Kleinigkeiten oder bei Dingen, für die man nichts kann.
«Ich wollte morgen zum Fußball.» beginne ich am Küchentisch sitzend, mit meinem Vater zu reden.
«Das ist wichtiger. Außerdem ist das eine Sache, die deine Familie betrifft. Also hat sie Vorrang. Und soviel ich mich erinnere, wolltest du morgen dein Fahrrad putzen und nicht Fußball spielen. Was ist denn jetzt nun?» fragt mein Vater.
«Johannes und ich, wir haben uns in die Haare gekriegt, so dass nun das Putzen erst einmal ausfällt.»
Verdammt! Die Sache mit dem Fahrrad putzen. Ich wollte Johannes darauf ansprechen. Hab es aber wegen dem Stress in der Schule vergessen. Zum Glück haben wir uns gestritten, so dass ich jetzt nicht lügen muss.
«Kein Respekt, vor nichts und niemanden. Weißt du? Ich hatte keinen Vater im Gegensatz zu dir, der mir ein Fahrrad kaufen konnte. Ich musste mir selbst vom Schrottplatz ein Fahrrad holen und zusammenbauen. Anschließend habe ich es geputzt wie ein Verrückter, bis es glänzte. Mensch! In welcher Zeit leben wir eigentlich. Kein Respekt vor nichts und niemanden und immer eine Ausrede parat.» sagt er und schüttelt ungläubig mit dem Kopf.
«Ich mach es gleich Morgen früh.» antworte ich, ein schlechtes Gewissen in mir spürend.
«Ach komm.» erwidert mein Vater, winkt mit seiner Hand, so wie er das immer tut, wenn er von etwas oder jemanden nichts hält. Steht auf, geht ins Wohnzimmer und setzt sich auf sein Sofa. Nimmt die Fernbedienung in die Hand und macht den Fernseher an.
«Sei einfach morgen um 13 Uhr bereit.» ruft er, ohne sich von dem Fernseher wegzudrehen.
«Können wir das nicht etwas später machen? Sagen wir so um 15 Uhr!» frage ich mit der Hoffnung, den Film doch noch sehen zu können.
«Nein, das geht nicht.» antwortet er. «Ich habe nachher noch was vor. 13 Uhr ist schon die richtige Zeit.»
Nach dem Abendbrot gehe ich in mein Zimmer und setzte das Computerspiel fort, bis ich schließlich gegen Mitternacht vor Erschöpfung ins Bett falle.
Der nächste Morgen bringt neue Herausforderungen, denen man sich mit voller Hingabe stellen muss. Sofort nach dem Frühstück ist es wieder an der Zeit, sich vor den Computer zu setzten.
«Nur noch ein Level und dann habe ich „Die Helden des Krieges“ durchgespielt!» gebe ich selbstzufrieden von mir, den Blick auf den Computer gerichtet.
Was das Computerspielen betrifft, scheint die nächste Woche, fest verplant zu sein. Seitdem Johannes mir die Computerzeitschrift gezeigt hat, in dem die Veröffentlichung von „Die Tore von Hall“ und „Die 6 Armada“ angekündigt wurden, kann ich Weihnachten kaum noch erwarten. Immer und immer wieder habe ich in den letzten Tagen meine Mutter auf diese beiden Spiele aufmerksam gemacht, so dass diese mit hoher Wahrscheinlichkeit unterm Weihnachtsbaum ihren Platz finden werden.
Das letzte Level von „Die Helden des Krieges“ bietet alles, was das Herz eines Spielers zum Finale erhofft. Spannung, gewaltige Explosionen und einen Gegner, der es einem nicht leicht macht, zu gewinnen. Letzteres führt des Öfteren zum Neustart des Levels. Aber am Ende zeichnen sich Geduld, analytisches Vorgehen und ein sicherer Umgang mit dem Gewehr als die Schlüsselkriterien zum Sieg heraus. Den Endgegner, zu meinen Füßen liegend, breitet sich ein gutes Gefühl in mir aus. «Ich wusste doch, dass ich gut bin.» sage ich zufrieden über meinen Triumph.
Noch während ich selbstzufrieden auf meinem Computerstuhl sitze und mich im Glanze meines Sieges sonne, geht plötzlich die Tür zu meinem Zimmer auf und meine Mutter erscheint ihm Türrahmen. «Kommst du bitte in die Küche. Das Essen ist fertig.» sagt sie kurz angebunden und verlässt das Zimmer genauso schnell, wie sie es betreten hat.
Mit gutem Gefühl im Bauch gehe ich in die Küche. Zum Essen gibt es einen Eintopf mit Fleischstücken.
«Heute ist es etwas vegetarisch.» sagt meine Mutter entschuldigend, als sie mich auf das Essen schauen sieht.
Und was macht dann das Fleisch in der Suppe? Aber anstelle etwas zu sagen, verkneife ich mir eine Bemerkung. Der Tag hat bisher gut begonnen. Schade nur, dass ich aufgrund dieser nervigen Sache mit dem Auto auf meinen Film verzichten muss.
Wieso kann er es einfach nicht in eine Werkstatt fahren? Geld genug haben wir auf dem Konto, um solche Dinge zu bezahlen. Also wozu der Umstand? Ich verstehe das nicht. Egal was es auch ist, er muss es immer selbst reparieren. Na ja. Meine Mutter versteht das manchmal auch nicht. Aber inzwischen vermeidet sie es, mit ihm über dieses Thema zu diskutieren. Denn wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann ist es schwer, ihn davon abzubringen.
Das Essen läuft wie gewöhnlich ab. Alle zwei Minuten versucht meine Mutter, ein Gespräch in den Gang zu bekommen, in dem sie die eine oder andere Geschichte, die sie von ihrer Nachbarin erfahren hat, zum Besten gibt. Und als das keine Wirkung zeigt, fragt sie immer wieder, wie das Essen schmeckt, bis schließlich mein Vater genervt seufzt und uns damit ein paar Minuten Ruhe am Esstisch verschafft.
«Such dir ein Job oder leg dir ein Hobby zu. Dann kommst du wenigstens hier raus und kannst anderen Leuten deine Geschichten erzählen.» sage ich leise, in mein Essen murmelnd. Kurze Zeit später legt mein Vater seinen Löffel zur Seite, nimmt einen letzten Schluck Saft aus seinem Glas und richtet das Wort an mich. «So, bist du bereit?»
Nein, bin ich nicht! Außerdem würde ich lieber meinen Film im Fernseher schauen. Aber das interessiert sowieso hier keinen.
«Ja, ich bin’s.» erwidere ich stattdessen und beuge mich meinem Schicksal.
Schweren Herzens stehe ich auf und gehe mit meinem Vater nach draußen. Innerlich bete ich, dass während der Reparatur nicht etwas Unvorhersehbares geschieht, wodurch mein Vater ein Ausraster kriegt.
Am Auto angekommen, drückt mein Vater mir den Wagenheber in die Hand.
«Hier!» sagt er knapp. «Heb schon mal den Wagen auf der rechten Seite hoch!»
Das wird wohl nicht so schwer sein. Im Fernsehen hab ich schon mal gesehen, wie das die Leute machen. Auf der rechten Seite stelle ich den Wagenheber ein Stück weiter links von dem Vorderrad auf dem Boden ab und beginne zu kurbeln.
«Was machst du da?» fragt mein Vater ungläubig, auf mich herunterschauend.
«Na, dass was du gesagt hast. Den Wagen auf der rechten Seite hoch heben.» antworte ich verunsichert.
«Doch nicht so!» sagt er. «Auf der rechten und linken Seite des Fahrzeugs befinden sich kleine Ansätze, an denen du den Wagenheber positionieren musst. Ansonsten machst du mir noch den Unterboden kaputt. Außerdem sind wir hier auf einem sandigen Boden, d.h. du musst dir ein Brett holen, auf dem du den Wagenheber draufstellen kannst. Sonst kannst du ewig kurbeln.»
Nachdem der Wagenheber auf einem Brett positioniert ist und der Wagen endlich seine Arbeitshöhe erreicht hat, beugt sich mein Vater herunter und schaut, so gut es geht, unter den Wagen.
«Ok. Von hier kann ich nichts erkennen. Es kann sich also nur um kein großes Loch handeln. Gut. D. h., wenn alles gut läuft, dann sind wir in einer halben Stunde fertig und ich kann im Anschluss Skispringen im Fernseher gucken.» gibt mein Vater zufrieden von sich.
«Skispringen?» murmle ich verärgert.
Das hast du also vor. Deswegen konnten wir nicht später anfangen, weil du deinen geliebten Sport sehen willst. Bei mir heißt es gleich, ich soll meine Bedürfnisse, wenn es um familiäre Angelegenheiten geht, unterordnen, aber du selbst hältst dich nicht dran.
Skispringen. Seit ich denken kann, hat er zu Weihnachten immer diesen langweiligen Sport gesehen. Inzwischen avanciert diese Sportart zu den meist gehassten Sportarten, die ich kenne. Und mein Vater trägt einen großen Beitrag dazu bei, dass es auch so bleibt.
«So. Als erstes robbst du unter das Auto. Sobald du unten bist, beginnst du von vorne nach hinten den Auspuff nach Löchern abzusuchen. Ich bin der Meinung, dass es nur ein Loch ist. Aber wenn du schon dabei bist, dann schau mal genau hin!».
Unter dem Auto angekommen, beginne ich den Auspuff Schritt für Schritt sorgfältig nach Löchern abzusuchen. Dabei kratze ich mit einem kleinen Schraubenzieher Dreck und leicht abblätternden Rost von dem Auspuffrohr, um ja kein Loch zu übersehen.
«Was machst du da so lange? Suchst du das Auspuffrohr. Weißt du etwa nicht, wie es aussieht?» erklingt unverholt die Stimme meines Vater.
«Ich mach genau das, was du gesagt hast. Und stell dir mal vor, ich weiß wie ein Auspuffrohr aussieht!» antworte ich verärgert. «Ich versuche nur, die Arbeit sorgfältig zu machen.»
«Schon gut, schon gut.» antwortet er zähneknirschend und beruhigt sich wieder.
Kurz darauf sehe ich auch das Loch. «Ich habe es gefunden. Es ist etwa so groß wie eine 10 Pfennig Münze. Weitere Löcher sind nicht zu erkennen. Um das Loch herum sieht der Auspuff gut aus. Du musst auf irgendetwas drauf gefahren sein oder hast einen Steinschlag abbekommen.» versuche ich die Schadensursache so gut wie möglich zu deuten.
«Sehr schön. Dann ist alles halb so schlimm. So! Du musst jetzt einen Augenblick warten. Ich gehe jetzt noch einmal in den Keller und hole eine spezielle Klebemasse. Anschließend kannst du mit dieser und einem kleinen Blech das Loch verschließen.» sagt er und geht in den Keller.
Während mein Vater in den Keller geht, um den Kleber und das Blechstück zu holen, warte ich geduldig unter dem Auto.
«Gleich kann ich meinen Film sehen.» singe ich erfreut vor mich hin.
Ein Augenblick später sind auch schon Schritte aus dem Keller zu vernehmen
«So. Hier ist das Blechstück.» plaudert mein Vater vergnügt und gibt es an mich weiter. Das Blechstück ist bereits zu einem Halbkreis gebogen und mit Kleber beschmiert. Es bleibt also nichts weiter zu tun, als es mit der beschmierten Seite gegen den Auspuff zu drücken.
«Wie lange muss ich dagegen drücken.» hake ich neugierig nach.
«Ca. eine Minute.».
Von unten gegen das Blechstück drückend, zähle ich konzentriert bis 90. Lieber etwas länger gegen drücken und es gleich richtig machen. So wie es der Anführer der galaktischen Vier in der letzten Sendung gesagt hat.
Als ich schließlich mit dem Zählen fertig bin, nehme ich die Finger vorsichtig vom Blechstück und stelle zufrieden fest, dass dieses am Auspuffrohr haften bleibt. Als ich grade unter dem Auto hervor kommen will, fällt jedoch das Blechstück nach unten.
«So ein Mist.»
«Was ist los?» fragt mein Vater.
«Der Kleber hält nicht. Das Blechstück ist wieder abgefallen.»
«Du musst auch schon ordentlich gegen drücken.» gibt mir mein Vater den Rat.
«Das habe ich auch.» erwidere ich. «Warte, ich versuche es noch einmal.»
Von Verzweiflung und Angst getrieben, bloß keinen Wutausbruch meines Vaters über mich ergehen lassen zu müssen. Drücke ich mit aller Kraft gegen das Blechstück, bis meine Fingerkuppel anfangen weh zu tun. Aber es hilft alles nichts. Egal was ich mache, das Blechstück hält nicht.
«Bist du da endlich fertig?» fragt mein Vater schließlich in einem gereizten Ton.
Den Tränen nah, erwidere ich halb verzweifelt: «Das Blechstück hält nicht. Egal wie sehr ich mich auch bemühe. Ich…»
«Komm da raus!» ertönt schließlich donnernd seine Stimme. «Alles muss man selbst machen. Sogar zum Festkleben eines Blechstücks taugt der Junge nicht.»
«Ich habe…» setze ich an, als ich unter dem Auto heraus krieche.
«Geh lieber!» unterbricht mein Vater mich und winkt, wie so oft wenn er von etwas oder jemanden nichts hält, mit der Hand abschätzig.
Diese Geste sagt mehr als tausend Worte.
«Ich…» versuche ich von neuen, werde aber sogleich unterbrochen.
«Du bist genauso unfähig wie dein Onkel Bruno. Zu nichts zu gebrauchen.»
Langsam trete ich einen Schritt zurück. Im Kopf eine Stimme sagend: «Ich wollte doch… »
Neben dem Gefühl der Enttäuschung breitet sich Verzweiflung in mir aus.
Mit geröteten Augen und Zorn erfüllten Gesicht laufe ich zum Fahrrad. Ziehe es vom Fahrradständer, schwinge mich auf den Sattel und fahre los. Weg. Einfach nur weg. Das ist das Einzige, was ich nur will.
Auf dem Fahrrad sitzend, die Straße herunterfahrend, spiele ich das Geschehene noch einmal vor dem geistigen Auge ab und lasse Zweifel an meiner Person hervorkommen. Hab ich mich einfach nur zu wenig bemüht? Hätte ich doch noch mit mehr Kraft gegen drücken sollen? Bin ich wirklich unfähig ein Blechstück an einen Auspuff zu kleben? Dieses verdammte Auto. Musste es auch unbedingt kaputt gehen! Wieso hab ich immer so ein Pech? Wieso ich? Warum…
«Hey, da bist du ja. Hast es doch noch geschafft vorbeizukommen.» erklingt plötzlich die Stimme von Sebastian.
Unsicher schaue ich mich um. Der Sportplatz. Wie lange bin ich in meinen Gedanken versunken herum gefahren?
«Hallo.» gebe ich schließlich kurz von mir, die Tränen wegwischend.
«Alles in Ordnung bei dir?» fragt Sebastian ein wenig unsicher.
«Ja. Ja. Alles bestens. Hatte nur etwas Stress mit meinem Vater.»
«Oh.» gibt Sebastian zurück. «Verstehe. Wenn du nicht willst, dann brauchst du nicht, mit uns hier zu spielen. Du kannst…»
«Nein. Nein. Ist schon in Ordnung. Komm! Lass uns spielen!» fordere ich Sebastian auf.
«Ich muss zugeben,» beginnt Sebastian vorsichtig, «dass ich überrascht bin, dich hier zu sehen.» und beendet den Satz kleinlaut, so als ob er bedauert, dass er das Thema überhaupt angesprochen hat.
«Wieso?» frage ich neugierig.
«Na ja. Ach ist auch egal.» gibt er von sich, «Lass uns einfach spielen!» und versucht im nächsten Augenblick vom Thema abzulenken.
«Nein, Nein. Du hast damit angefangen und nun will ich es wissen! Komm sag es. Wir sind doch Freunde! Oder nicht?»
«Ach es ist nur so. In der letzten Zeit hast du öfters davon gesprochen, dass wir wieder das eine oder das andere unternehmen sollten. Aber am Ende ist dir immer etwas dazwischen gekommen. Hier eine Sendung, da ein Computerspiel, hier eine Verabredung. Da hab ich einfach nicht mehr daran geglaubt, dass du vorbeikommst. Entschuldige. Aber in der letzten Zeit da hatte man das Gefühl, dass du mehr an einer fiktiven Welt interessiert warst, als an der Realen.» antwortet Sebastian verlegend, den Augenkontakt meidend. «Aber,» beginnt er von Neuem, diesmal in mein Gesicht schauend, und mit einem Lächeln auf den Lippen, «vielleicht sehe ich das einfach nur etwas zu einseitig. Auf jeden Fall freue ich mich, dass du hier bist.»
Die Worte von Sebastian, egal wie sie gemeint waren, erzielen ihre Wirkung. In diesem Moment wird mir bewusst, dass Sebastian Recht hat. Ich war in der letzten Zeit wirklich wie ausgewechselt. Alle merkten es, nur ich selbst nicht. Die Schule wurde zu einer Nebensache. Die meiste Zeit meines Tages verbrachte ich vor dem Computer. Spielte Kriegsspiele, Strategiespiele usw.
«Dabei übernahm ich jede Rolle, nur nicht die meine» fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
Ich saß vor dem Fernseher oder Computer und nahm an den fiktiven Handlungen von nicht realen Charakteren teil.
«Dabei lebte ich in jeder Welt, nur nicht in der meinen.» fällt es mir erneut wie Schuppen von den Augen.
Ich war Kane. Aber Kane ist nicht real und nun stehe ich da. Fast hätte ich die reale Welt um mich herum vergessen und wäre ein Teil einer Ersatzwelt geworden.
Noch vor ein paar Tagen da redete ich mit Freunden über Sebastian und seine Eltern und urteilte über sie in einer abschätzigen Art und Weise.
Und nun stehe ich hier und Sebastians Worte holen mich in die Wirklichkeit zurück. Nein! Er ist nicht der Trottel, der nervt. Nein. Wir sind die Dummköpfe, die sich in einer Welt verfangen, die nicht real ist.
Gestern bei dem Besuch von meiner Klassenlehrerin, da überkam mich ein Gefühl, dessen Bedeutung ich nicht verstand. Ein Gefühl, das mir sagte, dass etwas nicht stimmt. Doch jetzt in diesem Moment begreife ich erst, welchen Ursprung dieses Gefühl hatte.
Ich weiß nicht, wie lange ich mit Sebastian, Tim und Hauke zusammen Basketball spielte, aber es tat gut und es entspannte mich. Bei dem Spiel fiel mir jedoch noch eine weitere Sache auf. Die Süßigkeiten, die ich abends so gern vor dem Fernseher oder dem Computer naschte, machen mich träge. Und das fiel auch den anderen auf.
Gegen 18 Uhr löst sich unsere kleine Spielgruppe auf dem Sportplatz auf. Sebastian und ich nehmen denselben Weg nach Hause. Aufgrund unserer körperlichen Erschöpfung wechseln wir kaum ein Wort. Erst kurz vor meiner Haustür drehe ich mich zu Sebastian um und frage: «Was machst du heute Abend noch?»
«Meine Eltern und ich, wir fahren zu einem Musical.» antwortet dieser, fügt aber hastig hinzu: «Aber Morgen habe ich noch nichts vor. Wenn du Lust hast, können wir etwas unternehmen?»
«Super. Ich melde mich Morgen dann bei dir.» antworte ich.
Anschließend setzt Sebastian seinen Weg fort, während ich mich auf den Weg zu der Eingangstür unserer Mietswohnung mache. Kaum dass ich die Haustür ein Stück offen habe, da steht auch schon meine Mutter vor mir.
«Ach, da bist du ja.» gibt meine Mutter sichtlich erleichtert von sich. «Wo bist du gewesen?»
«Auf dem Sportplatz. Hab mit Sebastian und ein paar Freunden Basketball gespielt.»
«Bei dieser Kälte?»
«Mama.» antworte ich. «Es sind 7 Grad draußen. Globale Erwärmung.»
«Schon gut, schon gut!» höre ich meine Mutter hastig einlenken. «Das Essen ist fertig! Kommst du auch?» fragt sie mit einem flehenden Gesichtsausdruck.
«Ja. Ich muss mich aber vorher noch etwas frisch machen.» erwidere ich und gehe so gleich ins Badezimmer.
In der Küche angekommen, erblicke ich meinen Vater am Esstisch sitzen.
«Na wie geht’s?» richtet mein Vater freundlich das Wort an mich.
«Bestens!» antworte ich knapp und ignoriere ihn anschließend.
«Hm.» gibt er brummend von sich und konzentriert sich wieder auf seinen Teller.
Nach dem Essen mache ich mich auf ins Badezimmer, um mich erst einmal richtig abzuduschen. Anschließend gehe ich in mein Zimmer und lege mich auf mein Bett. Kurz darauf geht die Tür auf und meine Mutter tritt ins Zimmer. Verstohlen macht sie die Tür leise zu und setzt sich auf die Couch neben mich.
«Ich habe mit deinem Vater geredet und ihn gefragt, was vorgefallen ist.» beginnt sie in einem flüsternden Ton zu sprechen. «Du weißt ja. Wir Frauen merken sofort, wenn etwas nicht stimmt! Dein Vater wollte natürlich nicht so recht mit der Sprache herausrücken. Aber ich ließ nicht locker und stellte ihn schließlich zur Rede. Anschließend berichtete er mir, was draußen vorgefallen ist. Dabei stellte sich heraus, dass dein Vater den Kleber verwechselt hat. Du hast also nichts falsch gemacht.» sagt sie mit einem milden Lächeln auf den Lippen.
Im selben Augenblick in dem ich den Satzinhalt verinnerlichte, manifestiert sich Enttäuschung in mir. Typisch mein Vater. Auch wenn er falsch gehandelt hat, kann er es nicht zu geben. Aber nur so kenne ich ihn. Er darf Fehler machen, alle anderen nicht. Er verzeiht auch keine Fehler, insbesondere die der anderen nicht.
«Kopf hoch!» sagt meine Mutter und legt mir ihre Hand auf die meine.
Kurze Zeit später, nachdem ich immer noch kein Wort von mir gebe, steht sie auf und geht zur Tür. «Wenn du was brauchst, dann sag es mir. Ok?»
Danach dreht sie sich um und verlässt das Zimmer.
Kurz darauf nehme ich die Fernbedienung in die Hand. Mitten auf dem Weg zum Anschaltknopf bleibt jedoch mein Finger in der Luft stehen.
«Fast wärst du wieder in mein Leben getreten. Aber heute nicht!» sage ich zu dem Fernseher. Anschließend stehe ich auf und blicke mich in meinem Zimmer um, bis schließlich mein Blick auf „Die Helden von Umbar“ fällt.
Viele Male hab ich mir vorgenommen, die kleinen Plastikfiguren anzumalen. Aber irgendwie hab ich das immer vor mich hin geschoben. Heut jedoch nicht. Heute male ich euch an.
Im gleichen Moment, in dem ich mir das vorgenommen habe, breitet sich Zweifel in mir und meinen Fähigkeiten aus. Anschließend tauchen ein paar Erinnerungen von heute Mittag vor meinem geistigen Auge auf.
«Du bist genauso unfähig wie dein Onkel Bruno. Zu nichts zu gebrauchen.» höre ich die Stimme meines Vater in meinen Gedanken.
«Nein. Das bin ich nicht!»
Nachdem alle Utensilien bereit liegen, fange ich schließlich an, die Figuren zu bemalen.