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Kapitel 5 - Michael

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„Michael, Sie haben mich um sechs Uhr morgens hier antanzen lassen, wieder einmal ohne Termin, und jetzt schweigen Sie seit einer Viertelstunde. Sie wissen, Ihretwegen kann ich meine Tochter nach Harvard schicken, dennoch hätten Sie mehr davon, wenn Sie in unseren Sitzungen tatsächlich mit mir sprechen würden. Finden Sie nicht?“

Linda Forrester verzieht ihre geschminkten Lippen nach unten. Sie ist meine Therapeutin. Auch wenn ich sie nicht wirklich regelmäßig konsultiere, lasse ich Linda ab und an zu mir kommen. Doch wenn sie dann hier ist, schweige ich öfter, als ich rede. Es fällt mir schwer, mich zu öffnen, und ich kann mit niemandem außerhalb dieser vier Wände über die Dinge reden, die mir im Kopf herumschwirren. Deshalb dachte ich, dass Lindas Schweigepflicht mir helfen würde, aber etwas hält mich immer zurück, auch wenn ich das Gefühl habe, ihren schonungslosen und einsichtigen Verstand zu brauchen. Frustriert, aber geduldig sieht sie mich an und wartet darauf, dass ich endlich sage, warum ich sie in aller Früh zu mir bestellt habe.

„Sie haben recht.“ Erstaunt heben sich ihre Brauen. Trotz ihrer fünfzig Jahre sieht Linda erstaunlich gut aus. In dem perfekt sitzenden Leinenkostüm und mit den platinblonden Haaren erinnert sie mich ein wenig an meine Mutter, auch wenn Linda ihre Haare immer in einem französischen Knoten trägt, während Mom sie meistens offen bevorzugt.

„Könnte ich das womöglich schriftlich haben?“

Ihr gutmütiges Lächeln erwidere ich mit einem missmutig verzogenen Mund.

„Worüber möchten Sie sprechen?“

„Es gibt da eine Frau.“

„Eine Frau. Das ist eine Abwechslung. Ist die eine Frau vielleicht die Antwort auf Ihre Probleme in der letzten Zeit mit den vielen Frauen?“

Ich schnaube, weil ich kaum glauben kann, wie sich das anhört, aber Linda trifft einen wunden Punkt. In meinen letzten Sitzungen ging es oft darum, dass ich mich immer mehr langweile, dass die Frauen, mit denen ich mich zwanglos treffe, nicht in der Lage sind, mich zu fesseln, und dass in den letzten Monaten selbst der Sex, den ich immer freizügig und reichlich genossen habe, nicht mehr wirklich in der Lage ist, mich zufriedenzustellen. Und nun ist ausgerechnet sie wieder in mein Leben getreten. Was für ein Timing.

„Wenn ich das wüsste, bräuchte ich Sie nicht, Doc!“

„Okay, dann erzählen Sie mir von ihr.“

„Ihr Name ist Madison. Wir kennen uns von früher, vom College, aber entweder will sie das nicht zugeben, oder sie erinnert sich nicht daran, was sogar noch schlimmer wäre.“

Fragend sieht Linda mich an. Ich gebe zu, dass das alles nicht viel Sinn ergibt.

„Okay, noch mal von vorne. Ich hatte neulich ein Meeting, es ging um den Verkauf eines Familienbetriebes an mein Unternehmen, und da stand sie plötzlich, zehn Jahre später, und ich wusste sofort, dass sie es ist, auch wenn ich ihren Namen bis dahin nicht kannte.“

„Ist Ihnen bewusst, dass sich Ihre Stimme verändert, wenn Sie über sie sprechen, Michael?“

Ertappt starre ich Linda an. Das war mir keineswegs klar.

„Und was glauben Sie, was das bedeutet? Nein, halt … jetzt werden Sie gleich den Spieß umdrehen und mich das Gleiche fragen.“

„So langsam machen Sie sich. Aber das hier ist kein Trick. Ich versuche, Ihnen zu helfen, oder ich ermögliche es Ihnen eher, sich selbst zu helfen.“

„Na, mal sehen, ob Sie das noch wollen, wenn ich Ihnen erzähle, wie die Begegnung mit dieser Frau ausgegangen ist.“

„Ich traue mich kaum zu fragen.“ Rügend beißt sie die Lippen aufeinander. Ja, sie erinnert mich an Mom.

„Sie müssen das verstehen, Doc. Nach all den Jahren, in denen ich mich immer wieder gefragt habe, was aus dem Mädchen geworden ist, das ich in einer völlig verrückten Nacht am Strand getroffen habe, das so anders war als alle anderen, dieses eine besondere Mädchen, das ich nie hatte und das weg war, ehe ich es für mich gewinnen konnte, steht plötzlich vor mir. Als erwachsene bildschöne Frau, stark und unabhängig. Und habe ich schon erwähnt, dass sie wunderschön ist?“

„Das haben Sie, Michael, und ich merke zum ersten Mal, seit ich Sie kenne, wie begeistert Sie von einer Frau sind. Das ist ein gutes Zeichen. Beschreiben Sie sie mir? Wie hat sie ausgesehen, als sie vor Ihnen stand? Was haben Sie gefühlt?“

„Sie ist jetzt neunundzwanzig, und statt der Sommersprossen trägt sie Make-up, aber nicht übertrieben, gerade so viel, um ihre gebräunte Haut zu betonen. Sie hat sehr sinnliche Lippen, und der rote Lippenstift, den Sie getragen hat, hat sofort die wildesten Fantasien in mir ausgelöst. Sie kam mir etwas schlanker vor als in meiner Erinnerung. Ihre Taille ist so zart, ihre Beine sind lang, und in diesem strengen Etuikleid sah sie nicht nur elegant aus, sie bewegt sich auch so. Ihre Haare sind karamellfarben, genau wie damals, und ihre Augen klar und blau. Und sie ist clever, sogar mehr, als sie weiß. Und sie scheint keine Angst vor mir zu haben, auch wenn ich es darauf anlege, oder sie ist zumindest gut darin, keine Angst erkennen zu lassen. Sie fasziniert mich. Damals wie heute.“

Linda sieht aus, als hätte ich gerade verkündet, ab sofort wieder an den Weihnachtsmann zu glauben. Wortlos habe ich diese Frau bisher nie erlebt, aber nun ist es so weit.

„Und wann werden Sie nun mit dieser faszinierenden Frau ausgehen?“, fragt sie hoffnungsvoll. Ich presse die Lippen aufeinander, etwas, was ich oft tue, wenn mir etwas unangenehm ist oder ich etwas getan habe, worauf ich nicht stolz bin. Im Arbeitsalltag habe ich dieses verräterische Anzeichen unter Kontrolle, aber hier gerade eben nicht. Die Geste bleibt Linda nicht verborgen.

„Michael?“

„Ich habe Madison nicht direkt um ein Date gebeten.“

„Worum haben Sie sie dann gebeten?“ Ihre manikürten Finger halten den Block in ihrer Hand sehr streng fest.

„Um ehrlich zu sein, habe ich Madison darum gebeten, mir sieben Nächte lang zur Verfügung zu stehen, und dafür werde ich in ihr Familienunternehmen investieren, anstatt es wie geplant aufzukaufen. In der Geschäftswelt nennt man das eine Win-win-Situation.“

„Und in der Welt der Therapie nennen wir das ein gestörtes Verhalten.“ Kopfschüttelnd holt Linda Luft. „Sie haben also die Frau, die Sie mehr fasziniert als jede andere, gebeten, Ihnen als Geliebte zur Verfügung zu stehen, und sie auch noch mit der Rettung ihres Familienbetriebes erpresst. Also für einen angeblich klugen Mann machen Sie erstaunlich dumme Dinge.“

Linda schüttelt nochmals den Kopf, aber ich habe den Eindruck, lieber würde sie meinem eine verpassen wollen. „Und diese Madison hat sich darauf eingelassen?“

„Zuerst nicht, aber ich wusste, sie würde es doch tun. Ich konnte sehen, dass ein Teil von ihr es wagen wollte, dass ein Teil von ihr mich begehrt, so wie ich sie, auch wenn sie das nicht zugeben will.“

„Und da hielten Sie es für eine gute Idee, die Dame Ihres Herzens in einen Gewissenskonflikt zu stürzen, um mit ihr ins Bett zu können, anstatt mit ihr auszugehen. Haben Sie eine Ahnung, was Sie da anrichten? Was das für Madison bedeutet? Oder für Sie?“

„Ich hatte keine Wahl. Ich musste sicherstellen, dass Sie in meiner Nähe bleibt. Sie wäre doch einfach wieder aus meinem Leben verschwunden, und ich hätte keine Chance gehabt, herauszufinden, warum sie sich nicht an unsere gemeinsame Nacht erinnert oder warum sie so tut, als ob. Jetzt habe ich eine Möglichkeit, sie zu verführen und ihr dabei auf den Zahn zu fühlen. Wenn sie sich erinnert, werde ich einen Weg finden, dass sie das auch zugibt, und wenn nicht, werde ich alles tun, um entweder ihre Erinnerung zu wecken oder eben neue zu schaffen. Durch meinen zugegeben risikobehafteten Plan habe ich sieben Nächte Zeit dafür. Und ich habe vor, jede davon zu nutzen.“

„Das haben Sie sich ja fein zurechtgelegt. Und wieder einmal haben Sie die Kontrolle über alles und gehen kein unkalkulierbares Risiko ein. Wir hatten doch schon oft darüber gesprochen, dass Sie dazu neigen, nur dann Risiken einzugehen, wenn es ums Geschäftliche geht, und wenn es um Menschen geht, sind die einzigen Risiken, die Sie bereit sind, zu akzeptieren, derart kalkuliert und vorhersehbar, dass es ist, als würden Sie nicht wirklich welche eingehen. Michael, so kann man keine ehrlichen Beziehungen aufbauen oder Gefühle zulassen. In Ihrem Inneren wissen Sie das auch, dennoch manipulieren Sie sich ständig selbst. So wie Sie bisher nur mit Frauen ausgegangen sind oder geschlafen haben, bei denen Sie genau wussten, dass Sie Ihnen gefühlsmäßig nicht zu nahekommen konnten, weil Sie sich nur körperlich zu ihnen hingezogen fühlten. Und jetzt, mit dieser Frau, haben Sie die einmalige Gelegenheit, alles anders zu machen. Und was tun Sie? Sie machen eine Art Spiel daraus, einen Plan. Aber Gefühle halten sich nicht an Regeln, und wenn Sie das hier durchziehen und Erfolg haben, wenn diese Madison sich an Sie erinnert, denken Sie, dass sie davon begeistert wäre, von Ihnen dorthin dirigiert worden zu sein?"

Unzufrieden schließt Linda ihr Notizheft. Sie ist enttäuscht von mir, etwas, was ein professioneller Therapeut nicht sein dürfte, aber Linda hat längst den Abstand zu mir verloren. Aber das liegt an mir, schließlich habe ich unser letztes Therapiegespräch per Handy begonnen, in einem Hotelzimmer, in dem ich es eine Stunde zuvor mit zwei Schönheiten getrieben habe. Als mir dämmerte, dass sogar ein heißer Dreier mich mehr runterzieht als glücklich macht, musste ich mit ihr darüber sprechen, und sie war für mich da. Irgendwie haben wir seitdem die professionelle Distanz zueinander eingebüßt. Deshalb legt sie ihre Therapeutenrolle kurz mal ab, um mir gehörig die Meinung zu sagen.

„Klug und mutig wäre es gewesen, Madison zu fragen, ob sie mit Ihnen ausgehen hätte wollen. Vielleicht hätte sie Ja gesagt, aber vielleicht auch Nein. Doch jetzt haben Sie ein riskantes Geschäft abgeschlossen, ein Spiel daraus gemacht, und ich bin mir nicht sicher, ob Ihnen bewusst ist, dass Sie dieses Spiel auch verlieren können. Und was dann?“

„Ich werde nicht verlieren!“, halte ich dagegen. Das ist keine Option. Madison wird sich an mich erinnern, und ich werde sie verführen, bis sie mir nicht widerstehen kann.

„Wie gut, dass Ihre Arroganz Ihnen nicht im Wege steht. Ich frage mich nur, weshalb ich dann hier bin, wenn Sie sich doch so sicher sind.“

Und da ist sie, die Frage, auf die ich keine Antwort habe, und der Grund, weshalb ich Linda in mein Leben gelassen habe: weil sie keine Ja-Sagerin ist und weil sie die Fragen stellt, die ich von mir aus nicht stellen würde.

„Sie sind hier, weil der nicht ganz so arrogante, nicht ganz so überzeugte Teil von mir es vielleicht nicht verkraften kann, wenn ich doch verlieren würde, was aber nicht passieren wird. Dennoch möchte ich vorbereitet sein, falls doch.“

Linda verlässt ihren Sessel und setzt sich zu mir auf die lange Sofareihe. Mit einem warmen Blick sieht sie mich an und nimmt meine Hand in ihre.

„Natürlich werde ich da sein, aber Sie müssen mir etwas versprechen. Sollte sich Madison nicht an Sie erinnern und Sie merken, dass Sie echte Gefühle für sie haben, dann haben Sie den Mut, es ihr zu sagen.“

Ohne mit der Wimper zu zucken, lüge ich Linda an, weil ich das gut kann, weil ich gelernt habe, das einfach zu tun, wenn es nötig ist, auch wenn ich mich innerlich dabei nicht gut fühle.

„Ja, das werde ich.“

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