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Auch Schmetterlinge weinen

Franziska

Ihr Gesicht spiegelte sich verschwommen im Glas. Ein aggressives Karmesinrot strömte ihr in kräftigen Pinselstrichen entgegen. Sie bewegte den Kopf leicht nach allen Seiten. Eigentlich schade, dachte sie. Diese schimmernde Fläche brachte eine Distanz zu dem Gemalten, die sie nicht mochte. Aber Cosima, ihre Galeristin, hatte darauf bestanden. Gerade die Distanz zwischen Gemälde und Betrachter sei es, die dem Bild den letzten Kick gebe, und von Spiegelung könne bei diesem neuen Material gar nicht die Rede sein.

Undeutlich konnte Franzi ihre Augen erkennen. Mein Gesicht schwimmt in meiner Arbeit, wie schön, stellte sie trotz des leichten Unbehagens fest. Zufrieden schaute sie um sich und betrachtete nacheinander Bild für Bild. Am Ziel ihrer Wünsche! So viele Jahre hatte sie darauf hingearbeitet. Hatte sich immer wieder vorgestellt, wie es sein würde. Hatte sich danach gesehnt wie nach einem Geliebten. Jetzt war es so weit. Ich stehe inmitten meiner ersten eigenen Ausstellung!

Immer wieder waren es Gemeinschaftsprojekte gewesen, an denen sie teilgenommen hatte. Ein paarmal hatte sie dabei sogar einen Preis eingeheimst. Aber eine Einzelausstellung, das war schon etwas ganz Großes.

Gestern Abend war sie noch einmal durch die drei Räume gegangen, die sie hell und weit umfingen. Alles war so still gewesen und ein Gefühl hatte sie ergriffen, als wäre sie alleine auf der Welt. Es gab nur sie und Farben, leuchtende Farben. Kritisch hatte sie die gehängten Bilder betrachtet. Eines nach dem anderen. Doch, hatte sie zufrieden gedacht, die Auswahl ist uns gelungen.

Natürlich war sie nicht mit jedem der Gemälde gleich einverstanden. Wäre ja auch komisch, wenn ich sie nach all den Jahren noch alle gleich gut fände. Einige waren ihr so vertraut, als wären es ihre Kinder, andere wieder hatte sie unter Herzschmerz entlassen und es gab ein paar, die hatte sie erleichtert von sich fortgeschoben, schon vor langer Zeit. Sie erkannte sie kaum wieder. Es waren diejenigen, die zu ganz bestimmten Anlässen entstanden waren oder die gefühlsbetont ihre damaligen Befindlichkeiten zum Thema hatten.

Mit einigen wenigen der ausgestellten Bilder war sie heute überhaupt nicht mehr einverstanden. Das soll ich gemalt haben, hatte sie verwundert gedacht, oje! Aber auch einige von denen, die nur damals stimmig gewesen waren, mussten hier ihren Platz finden. Darauf hatte die Galeristin bestanden. Schließlich war es eine Ausstellung, die ihre Entwicklung zur ganz großen Künstlerin dokumentieren sollte.

Ja, das hatte sie so gesagt bei der Auswahl der Gemälde: ganz große Künstlerin. Diese Auszeichnung, die Cosima ihr damit verlieh, verursachte ihr ein wunderbares und warmes Gefühl, das ihren ganzen Körper durchströmte. Cosima Blume war eine weithin anerkannte Galeristin, die ihre Künstlerinnen und Künstler sorgfältig aussuchte. Schon diese Ausstellung bei ihr war etwas Besonderes, Franzi war sich dessen sehr wohl bewusst.

Noch während die Freude sie wärmte, hatte Franzi, wie immer, wenn sie ihre Werke zeigte, an sich zu zweifeln begonnen. War sie wirklich gut genug? Waren ihre Gemälde tatsächlich etwas Besonderes. Waren sie nicht ebenso gut oder bedeutungslos, wie viele andere auch? Hatte sie nicht doch die falschen ausgewählt? Waren die, die sie vor Jahren gemalt hatte, nicht schon veraltet?

Nein, hatte sie in der letzten, fast schlaflosen Nacht beschlossen, ich will jetzt die ganz große Künstlerin sein. Ich habe etwas zu zeigen, ich habe etwas zu sagen.

Weshalb sie nicht früher in diese Kategorie aufgestiegen war, hatte sicher mit ihrem bisherigen Leben zu tun. Das Studium war noch anregend und aufregend gewesen. Die Exkursionen, die vielfältigen Maltechniken, die Professoren mit ihren Korrekturwünschen. Wenn sie zurückdachte, fielen ihr zudem die unendlich langen Nachmittage und Abende ein, die sie in ihrem damals noch winzigen Atelier verbracht hatte.

Wie unglaublich kreativ ich doch damals war. Sie musste lächeln, wenn sie an diese frühen Jahre dachte. Auch wenn sich eine Reihe von Bildern auf vergangene Liebschaften und einige stürmische Affären bezog, nie war ihr einer ihrer Partner wichtiger gewesen als die Malerei. Sie hatte Vorrang vor allem anderen gehabt. Wie oft hatte ihre Schwester Luisa ihr vorgeworfen, sich immer mehr zu vergraben. Aber das war es doch, was sie wollte! Alleine sein mit ihrer Arbeit, mit ihrer Kunst und malen, malen, malen.

Sicher waren deshalb ihre Freundschaften oft leidenschaftlich und intensiv, doch wenig dauerhaft gewesen. Wer wollte schon mit einer Frau zusammen sein, die ihre Tage und oft auch die Abende lieber im Malerkittel zubrachte als im kleinen Schwarzen oder im Segellook.

Das hatte sie allerdings auch besessen, ein kleines Schwarzes, besaß es noch und trug es sogar heute Abend. Erfreut hatte sie festgestellt, dass es ihr immer noch passte. Als sie es aus der Hülle befreite, hatte sie zunächst daran gedacht, sich ein neues, ein moderneres Kleid anzuschaffen, es dann jedoch wieder verworfen. Wie oft brauche ich so etwas, das kann ich mir doch sparen, hatte sie überlegt und den Einkaufsbummel, zu dem ihre Schwester sie drängte, abgesagt.

Am Eingang tat sich etwas. Cosima empfing die ersten Gäste. Selbst aus der Entfernung bemerkte Franzi, wie chic und elegant die beiden Frauen gekleidet waren. Nervös strich sie sich den kurzen Rock glatt. Die Spaghettiträger rutschten ihr auch schon wieder über die Schultern. Gott sei Dank hatte sie Luisas Rat, noch zum Friseur zu gehen, befolgt. Vorsichtig griff sie in die ungewohnte Fülle, die ihren Kopf umgab. Irgendwie kam sie sich fremd vor, hier zu stehen mit diesen gelockten Haaren. Andererseits fühlte sie sich durch die aufgelegte Schminke und das dezente Augen-Make-up irgendwie gut aussehend. Sie brauchte sicherlich den Vergleich mit all den herausgeputzten Besucherinnen, die sich heute Abend hoffentlich einstellen würden, nicht zu scheuen, versuchte sie sich beim Anblick dieser ersten Besucherinnen trotzig einzureden.

Die Glastüren öffneten und schlossen sich jetzt im Sekundentakt. Das strömt ja nur so, dachte sie erfreut. Da kam auch schon die Galeristin auf sie zu und stellte sie einer Gruppe von Journalisten vor, die sofort die Kameras auf sie richteten. Sie fühlte sich peinlich berührt und überwältigt zugleich, als Cosima Blume sie in den höchsten Tönen lobte. Sie musste aufhören, ständig die Hände hinter dem Rücken zu halten. Während sie lächelte und in die Kameras blickte, kam ihr ein Gedanke, der sie überraschte. Sie sprach ihn nicht aus, dachte aber selbstbewusst, ich brauche kein Lob, meine Bilder sprechen für mich.

Anscheinend musste das jedoch sein, dieses Verklären der Künstlerin, und auch das Erklären der Gemälde. Das sollte wohl sie selbst übernehmen. Ich will das nicht, aber ich muss es tun, Cosima erwartet es von mir.

Dabei fiel es ihr schwer, über ihre eigenen Werke zu sprechen. Wie sollte sie ihre Stimmungen und Absichten erklären, die sie zu diesem oder jenem Gemälde inspiriert, ja geradezu getrieben hatten? Wie sollte sie die Trauer und Begeisterung, die Leidenschaft und Todessehnsucht, die in ihren Bildern steckte, heute wieder mit Worten hervorholen? Mit Farben und Formen wollte sie sichtbar machen, was sie bewegte. Sie war keine große Rednerin, was sie sagen wollte, tauchte sie in Farbe.

So hielt sie sich bei ihren Erklärungen an Äußerlichkeiten: an Rahmen, die Auswahl, die Hängung, die Farben, den Gesamteindruck. Sie beantwortete auch Fragen zu den einzelnen Gemälden, war aber dankbar, als eine Journalistin sich sehr interessiert nach ihrem Werdegang erkundigte. Dieser sogenannte Werdegang war nun nicht schwer zu erklären. Steht doch alles im Katalog! Diese Bemerkung, die ihr spontan in den Sinn kam, konnte sie gerade noch für sich behalten.

Es fiel ihr leicht, die Frage zu beantworten, weil sie sich schon intensiv mit den Daten ihrer Vita für den Katalog beschäftigt hatte. Und wann ihr Maltalent sich das erste Mal gezeigt hatte, war natürlich nicht auf den Tag genau festzumachen. Sie lächelte freundlich. „Ich wollte immer schon malen, schon als Kind. Diese Leidenschaft hat mein bisheriges Leben ausgefüllt. Sie hat mich nun hierher in diese wunderbare Galerie zu Cosima Blume getragen. Cosima, dir verdanke ich das alles.“

Eine freundschaftliche Umarmung und die Fotoapparate wurden aufs Neue gezückt. Cosima und sie zusammen vor dem Lieblingsbild der Galeristin. Hoffentlich sehe ich gut aus. Ich darf nicht mit offenem Mund lächeln, mein Zahn ... Mehr konnte sie nicht denken. Lächeln, lächeln!

Jetzt war Cosima gefragt. Sie sagte so unglaublich kluge Dinge, fand Franzi und interpretierte die Ausstellung mit viel Sachverstand.

Kurzzeitig war sie selbst in den Hintergrund gerückt. Sie hörte sich wieder sagen: „Ich wollte schon immer malen, schon als Kind.“ Irgendwie irritierte sie dieser Satz plötzlich. Als Kind wollte ich noch etwas ganz anderes, dachte sie, ich wollte singen und Musik machen und zusammen mit meiner Schwester auf den Bühnen der Welt stehen. Jetzt steht sie alleine dort im Rampenlicht. Alleine.

Luisa war Sängerin geworden, wie sie es sich gewünscht hatte. Sie war berühmt, gab ein Konzert nach dem anderen, drehte jetzt sogar einen Film.

Und Pläne für die Zukunft? Die Frage erreichte Franziska und holte sie in die inzwischen gut gefüllten, vor Gesprächen summenden Räume zurück. Auch das konnte sie beantworten: „Malen will ich, malen, immer nur malen.“ Und auch wenn sie es lächelnd sagte, es war ihr tief ernst damit. Sie war wieder bei ihrer Kunst angekommen.

Langsam gingen sie weiter, von Bild zu Bild. Dass die drei großen Zeitungen Redakteure und Fotografen schicken würden, war völlig überraschend und auch, dass sich die Kulturredaktionen der beiden örtlichen Radiosender für die neue Ausstellung interessierten, hatte Franzi nicht erwartet. Auch die überregionale Presse hatte schon im Vorfeld um einen Katalog gebeten. Cosima hatte wohl alle ihre Kontakte spielen lassen. Alle zeigten großes Interesse, scharten sich um sie und notierten sich ihre Kommentare.

Franzi sonnte sich. Sie sonnte sich in dieser aufmerksamen Menge. Das hatte sie nicht gedacht, dass sie sich so fühlen würde. So emporgehoben und umarmt von einer Menge Menschen, die alle ihre Bilder sehen wollten. Sie fühlte sich anerkannt und geliebt und glücklich. Sie fühlte sich in ihrem Element.

Da hatte sie sich jahrelang in ihrem Atelier vergraben, hatte gearbeitet und war kaum jemals aus der Stadt hinausgekommen. Auch Freundschaften waren spärlich geworden. Liebschaften auch. Nur die Familie war ihr noch wichtig gewesen. Aber was hieß bei ihr schon Familie. Der Vater war in einer neuen Beziehung versunken, die Mutter schon lange tot und nur Luisa, die geliebte, kleine Schwester, war noch greifbar. Wo sie nur blieb? Sie hatte fest versprochen zu kommen.

Reisen war verpönt. Das konnte sie immer noch machen. Später einmal, beruhigte sie die Schwester, wenn ich irgendwann in fernen Jahren meinen Pinsel nicht mehr halten kann, dann reise ich. Sie wollte arbeiten, malen, so viel und so oft es ging.

Und jetzt also der Lohn für all diese Abgeschiedenheit, für diese Mühen. Franzi gestand sich ein, dass es nicht immer leicht gewesen war, sich nichts als die Arbeit zu gönnen. Wie oft war sie verzweifelt gewesen, wenn ihr die Umsetzung ihrer Gedanken und Gefühle nicht gleich gelang. Wie viele Male hatte sie Bilder neu begonnen und wieder verworfen und übermalt. Wie oft hatte sie ihre Pinsel in die Ecke geworfen und beschlossen, nicht mehr zu malen. Nie mehr.

Mit Kellnern und Messebegleitungen hatte sie sich über Wasser gehalten. Immer wieder hatte sie auch kleinere Arbeiten weit unter Wert verkauft, um ihr Leben zu finanzieren. Leicht war es nicht gewesen.

Und jetzt das. Sie war angekommen in der Kunstwelt. War anerkannt mit ihren Werken. Würde sicher hervorragende Kritiken bekommen. Ganz sicher. Die Gedanken schossen ihr nur so durch den Kopf, als die Gruppe der Begleiter wieder bewundernd vor einem der Gemälde stehen blieb.

Am Eingang wurde es laut. Die Journalistin vor ihr reckte den Hals. Franzi spürte eine kleine Unruhe um sich entstehen. Ich will jetzt nicht wissen, was hinter mir los ist. Ich drehe mich nicht um. Doch sie konnte die Aufmerksamkeit nicht mehr auf sich lenken. Die Frau bedankte sich freundlich für das Gespräch und wandte sich ab. Auch die anderen Presseleute hatten ganz plötzlich einen interessanteren Focus gefunden. Mehrere wandten sich um und eilten zum Eingang. Franzi biss die Zähne zusammen. Sie war wütend auf dieses Ereignis, das ihr die endlich errungene Zuwendung und Aufmerksamkeit der Presseleute entzog. Was war los?

Luisa! Sie hätte es sich denken können. Luisa war erschienen. Der schillernde Vogel hatte die Bühne betreten. Wie immer war sie nicht alleine. Die Schar ihrer Begleiter schwänzelte um sie herum. Carsten nahm ihr das weiße Cape von den Schultern und reichte es an Christina, ihre Freundin, weiter.

Du meine Güte, wie sie strahlte! Viele Besucherinnen und Gäste im vorderen Raum hatten sich ihr zugewandt. Franzi spürte eine Welle der Zuneigung in sich aufsteigen. Diese wunderbare Frau dort war ihre Schwester. Wie schön sie war. Alle waren sie in diese Luisa verliebt. Alle bewunderten sie. Sie kam und schon schien nur noch sie im Raum zu sein. Nur noch sie war anwesend. Nur noch sie wurde wahrgenommen und bestaunt.

Heute trug sie ein wunderschönes Kleid aus grüner Seide. Ihre Haare hatte sie so nach oben gesteckt, dass sie in einer wilden Kaskade seitlich auf ihre Schulter fielen. Und was für Haare sie hatte! Dieses Rot war echt und glänzte ohne kosmetische Zutaten. Franzi hatte es Mühe bereitet, diese Farbe genau zu treffen.

Wie oft hatten sie sich früher zusammen vor dem Spiegel gedrängt und ihre Gesichtszüge und Haare verglichen. Franzi hatte sich meist mit der Feststellung zufriedengegeben, dass ihre kleine Schwester einfach die Schönere sei. Und Luisa hatte das auch nie abgestritten, sondern es immer wieder betont. Sie sei die Schönere und auch die Jüngere und die ältere Schwester müsse immer für sie da sein.

Da stand sie nun. Ihre Bilder schienen mit einem Mal unwichtig zu sein. Was hatte Franziska schon mit ihren großen und kleinen Rechtecken aufzubieten gegen die lebendige Schönheit dieser Frau? Sicher, einzelne Grüppchen standen noch vor den Bildern, aber die meisten Gäste hatten sich ihr zugewandt, wollten neugierig geworden sehen, wer die Aufmerksamkeit der Kritiker und Fotografen so ausschließlich auf sich zog. Luisa hielt sie gefangen. Sie unterhielt sich wie immer charmant lächelnd und wortgewandt mit den Journalisten. Ihr hohes, sinnliches Gelächter schnitt Franzi plötzlich ins Ohr. Alle lachten sie mit. Was war es Amüsantes, das ihre Schwester da von sich gab? Lachten sie etwa über sie und ihre Bilder? Lachten sie darüber, wie einsam sie vor einem ihrer Gemälde stand, alleine mit sich und ihrer Kunst?

Mit einem Mal stieg eine ungeheure Wut in Franzi auf. Sie musste die Augen schließen, so sehr überschwemmte sie dieses Gefühl von Ohnmacht und Hass und Liebe. Sie drückte eine Hand auf den Magen, um das heiße Gefühl von Angst und Zorn in den Griff zu bekommen. Diese Schwester hatte ihr alles genommen, alles entwertet. Schon immer war sie diejenige gewesen, die in der Mitte des Universums kreiste. Schon als Kind hatte sie ihr entgegenkommendes, strahlendes Lächeln eingesetzt, um alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Immer war sie die Bewunderte gewesen. Nichts hatte sie dazu getan. Gar nichts. Weder ihre Zensuren noch sonstigen Leistungen waren überragend gewesen. Und doch, alle Zuneigung war ihr entgegengeströmt. Sie musste sie nur aufnehmen und sich darin sonnen. Und das hatte sie auch getan.

Immer und immer wieder war sie selbst, Franzi, daneben gestanden und hatte sie geliebt, die kleine Schwester. Sie hatte sie bewundert und war in ihrem Schatten groß geworden. Groß bin ich geworden, ja, erwachsen ja, aber nicht schön. Nicht strahlend. Nicht geliebt. Nicht bewundert!

Da kam sie auf sie zu, umgeben von ihrem Schwarm. Mit ausgestreckten Armen. Sie wird mich umarmen. Sie will mir einen kleinen Teil ihres Glanzes abgeben. Nie hat sie sich für meine Kunst interessiert. Jetzt, wo ich endlich auch einmal Erfolg habe, stiehlt sie mir noch die Schau.

Franzi drückte die Arme fest an den Leib. Sie ließ sich umarmen, konnte jedoch vor Wut kaum ein Wort hervorbringen. Das war auch nicht nötig. Luisa beglückwünschte sie überschwänglich zu ihrem Erfolg, redete, redete und redete. Sie nahm die Schwester um die Taille und schlenderte mit ihr durch die Räume der Galerie, gefolgt vom Tross der Bewunderer. Plaudernd wies sie auf dieses und jenes Bild, blieb stehen, fand die Farbgebung ausgezeichnet, das Sujet interessant und eines der Bilder war ihrer Meinung nach sogar sehr hübsch und irgendwie gelungen, wie sie überzeugend kundtat.

Da war er, der Dolch, den sie in Franzis Herz stieß. Sie kann das nicht unbewusst tun. Sie will mich treffen und sie weiß, wie sie mich trifft!

Es war Franzis Lieblingsbild, dieses „irgendwie gelungene“ Bild. Sie sah sich und Luisa eng umschlungen vor einer tief leuchtenden, gelben Wand stehend. Gelb wie die Sonne sollte er sein, dieser Hintergrund, der sie beide umfloss. Er sollte sie umstrahlen und ihre Gemeinsamkeit hervorheben. Zwei Schwestern in einer Einheit. Franzi hätte es schon oft verkaufen können. Das Interesse daran war groß. Aber sie liebte es zu sehr, um sich davon zu trennen. Obwohl verfremdet, war Luisas Schönheit deutlich zu erkennen. Und auch, dass sie, Franzi, die junge Frau an ihrer Seite voller Bewunderung betrachtete.

Hübsch war das also, hübsch!!! Franzi blieb stumm vor Wut.

Der Rundgang dauerte nicht sehr lange. Als sie wieder an der Eingangstüre ankamen, hatte Franzi noch kein Wort von sich gegeben. Luisa schnappte sich ihr weißes Pelzchen, gab Franzi auf beide Wangen ein Luftküsschen und weg war sie. Sie hatte nicht einmal das angebotene Glas Sekt geleert, das sie bei ihrem Rundgang mit sich getragen hatte. Süß lächelnd hatte sie es ihrer Schwester in die Hand gedrückt und war mit Tschüss! und Ciao! entschwunden.

Mit ihr hatte sich auch gut ein Drittel der Interessenten auf den Weg gemacht. Franzi versuchte das Gefühl von Ohnmacht und Wut herunterzuschlucken. Sie bemerkte den mitleidigen Bick Cosimas und versuchte ein Lächeln. Ihr war übel. Schon als Kind hatte sie in Stresssituationen mit Übelkeit reagiert. Cosima blickte auf die Hand, mit der sie ihre Kehle umfasste, ließ ihr aber keine Zeit, ihren Zustand zu beklagen.

„Komm mit, wir müssen uns um die anderen Gäste kümmern.“ Sie wandte sich wieder den Bildern zu. Eine Stunde später war mehr als die Hälfte der Gemälde mit roten Punkten versehen. Sogar der Leiter des örtlichen Museums hatte eine Gemälde angekauft. „So viele Verkäufe, ein voller Erfolg, du bist berühmt!“, gratulierte die Galeristin Franzi begeistert.

Franzi versuchte ein Lächeln. Sie spürte, wie sich nur ihr Mund in die Breite zog. Ihr Herz blieb kalt. Sie konnte Cosimas Begeisterung nicht teilen, konnte sich nicht freuen. Ihre Hochstimmung war mit dem Auftritt der Schwester verflogen. Es war ihr nicht mehr wichtig, dass ihre Kunst endlich die Aufmerksamkeit erfuhr, die sie ihrer Meinung nach verdiente. Ihr ganzes bisheriges Leben hatte sie sich abgemüht, ihre Kunst zu verwirklichen und ja, das gestand sie sich jetzt bitter ein, auch anerkannt und berühmt zu werden. Und dann kam Luisa, tat nichts als lächeln und alle liebten sie.

Einiges musste noch erledigt werden, nachdem die letzten Besucherinnen und Interessenten die Ausstellung verlassen hatten. Cosima zögerte, hatte aber doch Verständnis, als Franzi um den Schlüssel bat. Sie wolle noch einige Minuten ganz alleine bei ihren Bildern verweilen, nachdem viele davon sie bald verlassen würden.

Eigentlich hatte Cosima Blume mit der neugebackenen Kunstgröße im nahe gelegenen italienischen Restaurant auf den großartigen Erfolg anstoßen wollen. Gefeiert musste er werden, dieser aufgehende Stern am Kunsthimmel. Keine Frage! Jetzt ging sie eben alleine zu der kleinen Runde, die sie dorthin eingeladen hatte. Franzi versprach nachzukommen und verschloss hinter ihr die Türe.

Endlich, endlich konnte sie ihre Gefühle platzen lassen. Endlich war sie alleine, ganz alleine. Sie blickte hinein in den Raum und fühlte die aufsteigende, kalte Wut. Sie verkrampfte die Hände ineinander und biss sich auf die Fäuste. Sie spürte ihre Schultern hart und starr werden. Einige Minuten wiegte sie sich hin und her. Hilflos, ohne zu wissen, was sie tun sollte, wie sie diese Wut in Schach halten könnte.

Mit fest zusammengebissenen Zähnen strich sie dann wie ziellos entlang ihrer Bilder durch die Räume. Sie kannte sie nur zu gut, sie alle, nahm sie nur schemenhaft wahr, bis sie auf das traf, das ihr das Leben bedeutete. Scharf gezeichnet sprangen ihr die beiden Gestalten ins Auge. Groß und klein, klein und groß. Dicht nebeneinander. Ganz nahe ging sie an die beiden Gestalten heran. Sah ihr ins Auge, dieser kleinen Figur, die so selbstbewusst lächelte. Die Franzi jetzt anlächelte hinter der Scheibe mit diesem Ausdruck von ... War es Liebe, was sie dieser kleinen Schwester in die Augen gemalt hatte? Hatte sie sich das gewünscht, geliebt zu werden von ihr, dieser Schönen, die neben ihr stand in all ihrem Glanz? Ja, sie hatte es sich gewünscht, aber die Realität sah anders aus. Das hatte sich heute gezeigt. Die Liebe war nur gemalt, sie existierte nicht wirklich.

Du hast mich getötet. Du, du meine geliebte Schwester, hast mich getötet. Sie spuckte es ihr laut und wütend ins Gesicht. Warum hast du mir das angetan?

Hilflos ließ sie sich zu Boden sinken. Minutenlang konnte sie ihr verzweifeltes Weinen nicht stillen. Alles war nass von Tränen, die Fäuste, die sie auf den Mund presste, die Nase, die Wangen und die zusammengekniffenen Augen.

Das Bild einer lachenden Luisa tauchte vor ihr auf. Zu zweit standen sie vor dem Krankenhaus, um die Mutter nach einem ihrer vielen Aufenthalte dort zu begrüßen. Sie selbst hatte die kleine Schwester an der Hand gehalten und mit leiser Stimme zum Abwarten gemahnt. Die Mutter war vor dem Vater aus der Türe getreten. Da hatte Luisa sich losgerissen und war auf den Eingang zugestürmt. Mama hatte die Arme weit geöffnet und Luisa war wie ein kleines Äffchen an ihr emporgehüpft. Sie hatte sich auf ihren Armen eingenistet und den Kopf an ihren Hals geschmiegt. Liebevoll hatte ihr die Mutter Haare und Rücken gestreichelt, immer wieder. Und ich, und ich, wollte sie damals rufen, hatte aber kein Wort herausgebracht und die Tränen hinuntergewürgt. Ganz alleine hatte sie dagestanden, bis der Vater sie an der Hand genommen hatte.

So war es immer gewesen. Wie oft hatte Luisa alles an sich gerissen, was ihr in den Weg trat und was ihr wert war, es für sich zu haben.

„Ich habe immer, immer zurückgestanden. Du hast mir alles genommen, immer hast du mir alles genommen!“, schrie sie jetzt mit sich überschlagender Stimme. Wieder flammte ihr Zorn auf und verzog ihr Gesicht zu einer grimmigen Maske. Sie sprang auf die Füße, schlug mit beiden Fäusten auf die beiden Mädchen ein, die ihr entgegenblickten, sie zerschlug die Sonne, die alles vergoldete, sie zerstörte das Gras des Gartens, in dem die beiden standen. Allen Zorn, der in ihr wütete, legte sie in ihre Schläge. Hart und wie ohne Besinnung hämmerte sie auf das Glas des Bildes ein. Immer wieder und wieder, bis es zersprang, dann zersplitterte und in tausend Scherben zu Boden fiel. Zufrieden betrachtete sie ihre Hände und das Blut, das aus den Schnitten tropfte.

Plötzlich wurde es ganz kalt und ruhig in ihrem Inneren. Sie lief in Cosimas Büro, griff sich eine große Schere und vollendete ihr Werk.

Luisa

Luisa wollte nicht mitkommen zu der kleinen Feier, zu der Cosima Blume sie alle eingeladen hatte. Aber wir wollen doch deine Schwester feiern, hörte sie sie sagen. Ein solches Talent und eine so wunderbare Ausstellung muss doch begossen werden. Und sie als die Schwester dürfe da doch nicht fehlen!

Natürlich bemerkte sie die Enttäuschung der Freunde, als sie sich vor der Türe verabschiedete. Sie sprach von Kopfschmerzen und Unwohlsein. Es tue ihr leid, aber sie brauche Ruhe. Sollten sie doch alleine feiern mit dieser „kommenden Größe am Kunsthimmel“! Das war es also, weshalb Franziska sie so im Stich gelassen hatte. Diese Ausstellung war ihr wichtiger gewesen als ihre Verzweiflung und ihr Hilferuf.

Carsten wollte sie nach Hause bringen. Wie immer, wenn ihr etwas nicht passte, konnte er es nicht einordnen. Sie spürte, wie verunsichert er war. Woher sollte er auch wissen, weshalb sie sich so unglaublich schlecht fühlte. Ihn hatte sie damals nicht gefragt, ihn hatte sie einfach übergangen. Sie spürte, dass er kurz zu ihr herübersah, bevor er fragte: „Soll ich dich noch irgendwo absetzen? Oder fahren wir zu mir?“

Sie gab ihm keine Antwort. Sie schaute nach vorne auf die Fahrbahn und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Mit beiden Händen umklammerte sie das kleine Perlentäschchen auf ihrem Schoß. Carsten bemerkte erschrocken ihren vorgereckten Kopf und den zusammengekniffenen Mund.

„Habe ich dir etwas getan oder warum bist du plötzlich verstummt?“, fragte er unsicher. Sie musste mit ihm reden, es half nichts. Sie holte tief Atem und ließ die Luft hörbar ausströmen. „Bring mich bitte nach Hause, zu mir nach Hause, Carsten. Und nein, du hast nichts falsch gemacht. Gar nichts. Es hat nichts mit dir zu tun.“

„Möchtest du darüber reden? Soll ich mitkommen?“

„Nein, bitte, ich muss allein sein, ich fühle mich wirklich nicht gut.“

Während der nächsten Viertelstunde saß Luisa stumm und abweisend neben ihm. Bei ihrer Wohnung angekommen, stieg sie ohne Abschiedskuss und nur mit einem kurzen Gruß aus dem Wagen und hastete auf ihren hohen Schuhen zur Eingangstüre. Sie sah sich nicht mehr um.

Noch ehe die Türe ins Schloss fiel, hatte sie ihre Sandaletten von den Füßen geschleudert. Kurz lehnte sie sich mit dem Rücken an die Wohnungstüre. „Nein, Carsten, du hast nichts falsch gemacht“, flüsterte sie, „aber ich vielleicht.“

Sie hatte plötzlich das Gefühl, dass alle Kraft, all der schöne Schein wie etwas Verdorrtes von ihr abfiel.

Langsam und mühevoll zog sie sich die Stufen empor. In ihrem Wohnraum ließ sie sich auf die Liege sinken und schloss die Augen. Franzi! Franzi stand vor ihr. Wunderschön in ihrer Schlichtheit. Das markante Gesicht hatte heute etwas von einer gotischen Madonna gehabt. Die langgezogenen Locken hatten das Holzschnittartige des Gesichtes noch verstärkt. Sie war einfach etwas Besonderes, diese Schwester. Und dieses wunderschöne Kleid, woher sie das wohl hatte? War sie doch noch einkaufen gewesen?

Sie hatten sich lange wochenlang nicht gesehen. Seit damals, als sie ihre Schwester um Rat gebeten hatte, hatten sie nur noch telefonischen Kontakt gehabt. Ja, Rat, ihren Rat hätte sie gebraucht, dringend. „Hilf mir, sag mir, was ich tun soll! Einige Male hatte sie versucht, Franzi zu überreden. Hatte versucht, ihr die Möglichkeiten eines Lebens zu dritt schmackhaft zu machen. Hatte in den schönsten Farben die gemeinsame Zukunft ausgemalt. Auch sich selbst hatte sie damit ködern wollen. Auch ihr Leben würde sich entscheidend verändern, das wusste sie nur zu gut.

Franzi hatte sich geweigert. Sie wolle und könne sich da nicht einmischen. Sie wolle nicht an einer solch einschneidenden Entscheidung beteiligt sein, hatte sie Luisas Bitten vehement abgewehrt.

Dabei war alles von ihrer Zustimmung abhängig. Ohne ihre Hilfe ging es nicht. Gemeinsam wäre es ihnen sicher gelungen. Es wäre etwas so Wunderbares für sie beide gewesen. Ein Mädchen hätte es sein sollen. Luisa war sich auch jetzt noch sicher, dass sie es hätten schaffen können. Ein Kind mit zwei Müttern, eine so schöne Vorstellung.

Aber nein! Franziska hatte sich in keine Richtung entschieden. Hatte nicht Ja und nicht Nein gesagt. Hatte sie hängen lassen. Sie selbst aber musste sich entscheiden, und zwar schnell. Alleine war es ihr unmöglich gewesen, Ja zu sagen. Und so war es trotz aller Sehnsüchte doch ein Nein geworden. Wie dringend ich sie gebraucht hätte!

Bis heute wusste Franzi nicht, wie die Sache ausgegangen war. Nie hatte sie nachgefragt. Nie! Nie hatte sie sich darum gekümmert, wie es ihr jetzt ging.

Egal wie die Entscheidung ausgefallen war, man fragte doch irgendwann einmal nach, ob alles in Ordnung sei. Aber so war sie, ihre große Schwester! Wann hatte sie sich jemals um sie gekümmert?

Luisa drückte ihr Gesicht in das Kissen. Sie fühlte, wie ihre Lippen zu zittern begannen. Nur nicht weinen. Auf keinen Fall Tränen. Sie musste heute Abend wieder auf der Bühne stehen. Wütend schleuderte sie das Kissen von sich und atmete stoßweise aus.

Immerhin hatte Franzi sie zu ihrer Vernissage eingeladen. Allerdings telefonisch! Zu diesem Anlass hätte sie doch wenigstens vorbeikommen können. So war es immer gewesen. Immer! So viele Jahre hatte sie mit dieser Schwester verbracht. Mit dieser Schwester, die sich immer weiter in ihr Schneckenhaus zurückgezogen hatte. Immer weiter war sie verschwunden. War mit der Zeit fast unsichtbar geworden.

Aber sie, sie musste sichtbar bleiben. Eine musste doch das verwirklichen, was sie sich vorgenommen hatten. Sie wollten die ganz große Kunst machen. Vom Schönen hatten sie geträumt, das sie in die Welt bringen würden. Gemeinsam würden sie auftreten und Erfolge über Erfolge feiern.

Die ganzen Jahre ihrer Kindheit waren sie sich sicher gewesen, dass sie singen würden. Gemeinsam würden sie die Opernbühnen der Welt erobern und wenn nicht die, dann wenigstens die allergrößten Hallen mit ihren Fans füllen. Und die Chansons würde sie, Luisa, komponieren. Alles würden sie gemeinsam machen, immer würden sie zusammenbleiben.

Dann jedoch hatte sich das Talent, wie alle es nannten, das Franzi besaß, als übermächtig herausgestellt. Sie wollte nicht mehr singen. Wie hatte sie sich betrogen gefühlt, als Franzi ihr das nach einem Kinobesuch eröffnet hatte. Es war ein Film über Picasso gewesen, wie er malte und gestaltete hinter einer durchscheinenden, riesigen Leinwand. Großartig war das gewesen, aber Franzi war doch nicht Picasso! Sie konnte doch singen! Noch heute fühlte sie einen Kloß im Magen bei der Erinnerung an jenen Abend.

Und doch, heute hatte es sich gezeigt, Franzis Entscheidung war richtig gewesen. Neidvoll dachte Luisa an die großartigen Gemälde, die Franzi geschaffen hatte.

Sie war ihren eigenen Weg gegangen, ohne sie und hatte sie im Stich gelassen.

Wehmütig erinnerte sich Luisa, wie es früher gewesen war. Sie selbst konnte singen, das ja, aber das wurde nicht als etwas Besonderes gesehen. Singen konnte jede.

Immer war Franzi das „kreative Mädchen“. Wie hatte sie die Schwester beneidet! Geburtstage oder andere Feste fielen ihr ein. Die Augen der Mutter hatten geleuchtet, wenn Franzi ihr die wunderschönen Bilder schenkte. Aber auch der Vater und die Verwandten waren wie verzaubert von ihrem Können. Schon damals. Wie sie Franzi gelobt hatten! Von den schulischen Erfolgen ganz zu schweigen. Sie war immer eine glatte Eins gewesen, ihre ganze Schulzeit über und fast in allen Fächern.

Und sie, was hatte sie vorzuweisen gehabt? Sie konnte bestenfalls ein selbsterdachtes Liedchen trällern, und auch das gelang am besten zusammen mit der großen Schwester.

Sie musste sich aufsetzen, um ihre Tränen abzuwischen. Jetzt ließen sie sich nicht mehr halten. Als die Mutter so krank geworden und am Ende gestorben war, war Franzi die einzige, die ihren Schmerz mit ihr teilte. Mit dem Vater hatten sie keine gemeinsame Sprache gefunden, er war damals zu tief in seine eigene Trauer versunken. Franzi war ihre Mutter geworden. Was hatte sie für Ängste um sie ausgestanden. Jahrelang hatte sie gebangt, auch sie noch zu verlieren. Diese schreckliche Zeit hatte sich tief in Luisas Bewusstsein eingegraben und verursachte ihr heute noch Atemnot.

Sie sprang auf, lief in die Küche und leerte hastig ein Glas Wasser. Langsam spürte sie, wie sie ruhiger wurde. Sie atmete tief ein und trocknete sich mit einem Küchentuch die Augen.

Die Ereignisse von damals waren einfach noch nicht vergangen. Alles schien ihr wieder so nahe zu sein. Alle Bitten und Vorhaltungen hatten nichts genützt. Franzi hatte sich dann doch ganz für die Malerei entschieden und alle Pläne waren zusammengebrochen. Es hatte lange gedauert, bis sie selbst ihren Weg gefunden hatte, ohne die Schwester, alleine. Ganz, ganz alleine.

Luisa fröstelte. Sie ging zurück zur Couch und hüllte sich in ihre Lieblingsdecke.

Und heute? Heute steht sie da, dachte sie bitter, meine Franzi, inmitten ihrer Kunst und alles wirkt so selbstverständlich, so mühelos, so großartig und ist so weit von meiner Arbeit und von mir entfernt wie nie zuvor. Du hast mich verlassen, große Schwester, murmelte sie. Jetzt bin ich ganz allein.

Du hast endlich den Erfolg, den du dir so sehnlich gewünscht hast, und ich bin nicht mehr schwanger und ich werde diesen Musikfilm drehen. Aber um welchen Preis?

Plötzlich war aller Zorn verschwunden. Zusammengesunken saß Luisa auf der Couch. Sie fühlte sich müde und zerschlagen. Da stand ihr unerwartet das Bild vor Augen, das sie beide vor dem unglaublich tiefen Gelb zeigte. Wie sie sich an ihre Schwester lehnte, wie Franzi auf sie niederschaute. So liebevoll! Wir beide inmitten einer Sonne. Es ist das schönste Gemälde, das sie je gemalt hat, meine begabte Schwester.

Sie musste sie sehen, ihre Franzi. Sie würde mit ihr sprechen. Sie würden reden, so wie früher. Sie würden sich in die Arme nehmen. Sie würde ihr zu diesem großartigen Erfolg und zu ihren Arbeiten gratulieren. Von ganzem Herzen.

Luisa atmete noch einmal tief durch und griff nach ihrer Handtasche. Als sie das Handy zu fassen bekam klingelte das Telefon.

Himbeertage

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