Читать книгу Morphium / Nach dem Tode / Doctor Cäcilie - Adine Gemberg - Страница 4
Morphium I.
ОглавлениеIn einer Ecke des städtischen Kirchhofes war großer Kehraus. Zusammengetürmt lagen dort welke Kränze und Palmen, alle gleichmäßig graubraun, als wären sie nie bunt und farbenprächtig gewesen. Hie und da sah das schmutzige Ende einer Atlasschleife oder eine schwarz gewordene Goldfranze aus dem Gewirr hervor. Alte Weiber mit braunen, welken Armen und hässlichen, gleichgültigen Gesichtern stachen mit Mistgabeln hinein in den Haufen ehemaliger Gaben der Pietät, oder vielleicht auch nur der Konvenienz. Gedankenlos schleuderten sie die Kränze auf einen Karren, und ein altes, blindes Pferd humpelte mühsam damit fort, um die Abfälle des Friedhofes dahin zu bringen, wo aller Müll und Schutt aus der Stadt abgeladen wurde.
Mariä Himmelfahrt stand vor der Tür; deshalb war es notwendig, den Kirchhof frei und sauber zu machen für die Aufnahme neuer Liebesgaben, neuer Kränze, neuer Palmen.
»Gelobt sei'st du Maria,« sagte eines der alten Weiber und riss die braune Girlande von dem Steinbilde der Heiligen Jungfrau los, um sie zu den übrigen Kränzen zu werfen.
»Und gebenedeite in Ewigkeit, Amen,« fügte die andere Alte hinzu.
Dann grüßten sie beide ehrerbietig und traten zur Seite, um zwei Nonnen Platz zu machen, die mit Blumen und Kerzen erschienen, das Bild der Himmelskönigin zum Feste zu schmücken.
Die Schwestern beugten die Knie vor der roh gearbeiteten Statue und begannen darauf, sie so freundlich und farbig wie möglich heraus zu putzen.
Eine schlanke, bleiche Dame in eleganter Sommertoilette betrat den Kirchhof. Sie grüßte das Marienbild und dann die Schwestern. »Zünden Sie auch für mich eine Kerze an,« sagte sie näher tretend und drückte ein Geldstück in die Hand einer der Nonnen. Darauf nickte sie den Schwestern zu und ging langsam nach der Reihe der Erbbegräbnisse.
Neugierig näherten sich die beiden alten Arbeiterinnen dem Gnadenbilde. »Was mag denn die Frau Geheimrätin für Kummer haben, dass sie eine Kerze opfert,« begann die Eine.
»Wer weiß denn, ob es wegen einer Fürbitte ist; so reiche Leute haben der Allerheiligsten nur zu danken und können nicht genug danken, wenn sie auch alle Tage zehn Kerzen opfern wollten,« meinte die Andere.
»Es ist wohl nur eine Festgabe zu morgen, die Geheimrätin Bremer ist eine liebe, gläubige Seele,« sagte die ältere der beiden Schwestern.
»Nicht einmal Kränze hat sie mitgebracht für die Gräber ihrer Eltern,« bemerkte wieder die Alte, der die freundliche Äußerung der frommen Schwester durchaus nicht zu gefallen schien.
Ja, die reichen Leute haben so ihre besonderen Moden,« stimmte die andere Alte ihr bei, »fromm nennt man sie doch, wenn sie auch viel weniger thun als Andere, denen es sauer genug wird.«
»Die Fürsprache der Heiligen ist mehr wert als Gaben und Opfer,« verwies die jüngere der beiden Nonnen in strengem Tone. Darauf verließ sie mit ihrer Gefährtin den Kirchhof.
Die alten Weiber rafften mit ihren Mistgabeln eine zweite Karre voller Kränze zusammen; die Geheimrätin Bremer ging an ihnen vorbei und ließ sich müde und langsam auf einer kleinen Bank nieder, die zur Seite von zwei, mit schwarzen Granitplatten gedeckten Gräbern aufgestellt war.
»Das Andenken der Gerechten bleibt im Segen.« – Mit Goldbuchstaben war dieser Spruch in die glänzend schwarze Steinplatte eingemeißelt. Als unbesoldeter Stadtrat hatte der Mann, dessen Leib hier ruht, gewirkt. In uneigennütziger Weise hatte der umsichtige Leiter eines großen industriellen Unternehmens seine Arbeitskraft in die Dienste seiner Mitbürger gestellt, nachdem er die eigenen Geschäfte in die Hände seines Sohnes gelegt hatte. Als er dann heimging, um an der Seite seiner vorangegangenen Gattin von den Werken des Lebens auszuruhen, erfuhr man, dass er in seinem Testamente fast alle wohltätigen Anstalten seiner Vaterstadt mit Legaten bedacht hatte. Nun hatten ihm die dankbaren Mitbürger den Denkstein gesetzt, auf dessen flimmernder Schrift die Blicke der einzigen Tochter sinnend ruhten. Die untergehende Sonne warf einen rötlichen Schein über ihr durchsichtig blasses Gesicht. Langsam hob sie die breiten dunklen Lider, die Augen entschleierten sich nur zum Teil, halb blieben die Lider über den unnatürlich weiten Pupillen liegen, was dem ganzen Gesichte etwas unbeschreiblich müdes, krankes gab. Sie richtete dann ihre Blicke gerade auf den untergehenden glutroten Sonnenball, aber trotz des scharf einfallenden Lichtes zogen sich die Iris nicht zusammen, sondern blieben weit und dunkel geöffnet, wie bei manchen Blinden.
Langsam stellte sie die Füße auf den Rand von ihres Vaters Grab, lehnte sich zurück in der bequem geschweiften Bank und atmete mit Genuss die von Blütenduft durchtränkte Luft des Sommerabends.
Eine himmlische Ruhe war um sie her. Duft, Wärme, Licht und Frieden. Wohin das Auge sah, waren herrlich gepflegte Blumen, freundlich schimmernde Steine mit Goldschrift und Kränzen bedeckt. Die Vögel zwitscherten in den Kronen der alten Bäume, es war so schön und so still an der Stätte des Todes, wie es selten da ist, wo das Leben mit all seinen Rechten noch herrscht.
Wie ein Gebet ging der Hauch des Windes durch Blumen und Blätter. Die scheidende Sonne verklärte den Garten des Herrn. Alle Inschriften flammten und leuchteten auf, auch die auf dem Grabe des alten Stadtrates: »Das Andenken der Gerechten bleibt im Segen.«
Mit nervöser Hast sah die junge Frau um sich her. Sie war allein, ganz allein mit den Toten. Ein befriedigtes Lächeln zeigte sich einen Augenblick auf ihrem Gesicht. Das gab ihren traurigen müden Zügen eine eigenartige Schönheit.
Sie hatte aus der Tasche ihres Kleides ein kleines schwarzes Etui und ein fest verkorktes Fläschchen genommen. Mit stiller, tief innerlicher Befriedigung sah sie auf den Inhalt des Fläschchens, der wasserhell und ganz unschuldig aussah. Nur einige kleine weiße Crystalle, die nicht ganz aufgelöst darin schwammen, zeigten, dass es eine starke Morphiumlösung war. Dieser kleine, so schwer zu erlangende Vorrat bildete einen überaus kostbaren Besitz für die junge Frau, an dessen Anblick sie sich erfreute und berauschte, ehe sie sich entschloss, das Fläschchen zu öffnen.
Langsam füllte sie die kleine Spritze – fünf Strich, – sechs Strich – nein, es war nicht möglich zu widerstehen, sie zog, bis die Glasröhre voll war. Dann verkorkte sie erst sehr sorgfältig das Fläschchen und überzeugte sich, dass der Verschluss wasserdicht war. Ein verlorener Tropfen war ja unersetzlich.
Vorsichtig schob sie das Kleinod in die Tasche des Kleides zurück. Erst als es da in Sicherheit war, steckte sie mit energischem Druck die Nadel auf das kleine Instrument. Ihre Hände zitterten dabei, teils in der Vorfreude des zu erwartenden Genusses, teils in der Schwäche, in der das Bedürfnisse nach diesem Genuss beruht.
Sie schob den Ärmel ihres Kleides vom Handgelenk zurück. Ein Leinwandstreifen wurde sichtbar. Sie riss ihn rasch los. Der kleine Verband bedeckte eine breite, wenn auch nicht tiefe Wunde, die durch den Morphiumgebrauch entstanden war. Seit Jahren bedurften die kranken Nerven des anregenden Mittels, und um die Schönheit ihrer Arme nicht zu opfern, hatte sie diese eine Stelle ganz preisgegeben. Der misshandelte Körperteil wehrte sich zwar durch Schmerzen und anhaltende Eiterung gegen das ihm aufgezwungene Gift, aber schließlich wurde die Stelle doch ziemlich unempfindlich.
Sie senkte auch jetzt, wie immer die Nadel hier ein. Ein leichter Schmerz zog für einen Augenblick ihre Brauen zusammen, aber das dauerte nicht lange. Der Inhalt der Morphiumspritze verschwand unter der Wunde, der Leinwandstreifen bedeckte rasch wieder die Stelle. Sorgfältig reinigte sie mit einem kleinen Stück Draht das gebrauchte Instrument, dann klappte sie das Etui zu, steckte es ein und lehnte sich gegen den Rücken der Bank, um die Wirkung zu erwarten.
Mit wonnigem Behagen fühlte sie, wie ein berauschendes Empfinden ihr Gehirn, ihre Glieder erfüllte und zugleich lähmte. Alle Wünsche, alle Bedürfnisse des Körpers und Geistes lösten sich in Befriedigung und süße Mattigkeit. Der kranke stumpfe Ausdruck der Augen schwand und machte einem lebhaften, sprühenden Blicke Platz. Die Nerven wussten nichts mehr von Abspannung und Schwäche.
Sie hätte jetzt auf jedem Feste glänzen, jede Arbeitsleistung übernehmen können. Dabei waren ihre Glieder aber doch schwer, so dass sie es entschieden als Annehmlichkeit empfand, zu seiner Bewegung genötigt zu sein. Nur der Kopf war leicht und frei – so frei, so klar, als ob ein vorher auf dem Gehirn lastender Druck plötzlich entfernt wäre. Sie hatte Durst empfunden, das war jetzt vorbei, sie fühlte sich wohl, namenlos wohl und zufrieden. Ihr vorher gelblich blasses Gesicht nahm etwas Farbe und Wärme an, sie drückte die kühlen, weißen Finger gegen ihre Wangen. Dann zog sie langsam, gedankenlos lächelnd die Handschuhe wieder an, die auf der Bank lagen.
Sie hatte den Augenblick für ihren Genuss gut gewählt, denn mit der, vorher herrschenden Ruhe war es nun vorbei. Ein Leichenwagen fuhr durch das große Portal, hielt vor der Kapelle, und ein Sarg wurde zu einer offenstehenden Gruft getragen. Viele Menschen folgten; der Geistliche begann eine Rede, und wenn die einsame Frau auch davon nichts hören konnte, so war sie in ihrem Alleinsein dennoch gestört.
Außerdem näherte sich ihr jetzt auch ein Herr, der geradeswegs auf sie zukam.
»Was für ein entzückendes kleines Refuge Sie hier besitzen. Sie sind zu beneiden, gnädige Frau,« begann er, sie begrüßend.
Sie sah lächelnd zu dem großen blonden Manne empor. »Es sind die Gräber meiner Eltern, Herr Doctor Turnau,« antwortete sie mit einer einladenden Bewegung auf die freie Hälfte der Bank deutend.
Er nahm sofort augenscheinlich erfreut Platz. »Ist das Stück Rasen, auf dem diese Bank steht für Sie reserviert, gnädige Frau?«
»Nein, die Eltern kauften es für meine unverheiratete Schwester. Elise wird voraussichtlich einsam bleiben, bis sie den Rollstuhl mit dem Sarge vertauscht. Für meinen Mann und mich ist noch Platz im Bremerschen Erbbegräbnisse.«
»Ich finde, es hat einen ganz eigenen Reiz, genau die Stätte zu kennen, die uns einmal bestimmt ist,« bemerkte er, indem er den leichten Sommerhut abnahm und das blonde Haar aus der hübschen weißen Stirn strich. Sie lachte: »Das ist wieder eine von Ihren paradoxen Ansichten, mit denen Sie sich manchen Menschen vielleicht interessant machen, andrerseits aber sich nicht nur Widerspruch zuziehen, sondern auch viele ungünstige Urteile über sich hervorrufen.«
»Ah – ein offenes Wort, ich danke Ihnen dafür, gnädige Frau. Die ungünstigen Urteile muss ich zu tragen wissen, aber ich strebe weder darnach Widerspruch zu erregen, noch mich interessant zu machen. Nur aus einer nervösen Beunruhigung heraus empfinde ich zuweilen das Bedürfnis, irgend einen Gedanken, selbst einen sonderbaren Gedanken auszusprechen, wenn er mir grade durch den Kopf geht.«
»Dieses Bedürfnis; ist natürlich,« antwortete sie, »viel natürlicher für einen gut situierten Mann Ihres Alters, als der Wunsch, die Stätte zu kennen, an der Ihr, jetzt so jugendkräftiger Körper einst zu Staub werden wird.«
Ein trübes Lächeln glitt über die Züge des jungen Mannes. »Dieser jugendkräftige Körper ist der Auflösung und Verwesung näher, als es den Anschein hat. Wenn wir morgen übers Jahr Mariä Himmelfahrt feiern, brennen vielleicht auch für mich schon die Kerzen auf dem Altar.« –
Sie sah ihn ruhig und forschend an. »Warum spielen Sie mit dem Gedanken an das Ende des Lebens?« fragte sie ernst. »Glauben Sie nicht, dass auch für Sie noch Stunden der Befriedigung und des Genusses möglich sind, die mit dem Tode aufhören müssen?«
Wie sie ihn so ansah, leuchtete der rote Strahl der Sonne in ihre erweiterten Pupillen hinein, er sah aufmerksam darauf hin, dann lächelte er: »Ich danke Ihnen, gnädige Frau, dass Sie mich mit einer moralischen Bewertung verschont haben. Ich war eigentlich schon darauf gefasst gewesen. Sie haben übrigens recht, ja – auch ich glaube noch an Stunden des Genusses, an Momente höchster, auf Erden möglicher Befriedigung. – Was ich damit meine, verstehen Sie sicherlich, denn ich sehe, Sie gebrauchen Atropin. Bitte, versuchen Sie nicht, den Mediziner darüber zu täuschen, Sie gebrauchen Atropin, um die Einbuße an Schönheit, die das Auge des Morphinisten erleidet, damit auszugleichen.«
Sie senkte betroffen den Blick. »Ja, ich gebrauche Atropin,« entgegnete sie zögernd, »aber nicht aus Eitelkeit, wie Sie vielleicht annehmen. Wenn Sie selbst Morphinist sind, so wissen sie auch, dass die Koketterie des Weibes ebenso wie der Ehrgeiz des Mannes in der Seele des Morphinisten erlischt.«
Er nickte verständnisvoll. »Gewiss gnädige Frau,« entgegnete er, »ich billige den an sich gefährlichen Atropingebrauch, weil er Ihnen den Dienst leistet, Ihre Umgebung über Ihren Morphinismus zu täuschen. In Ihrem Falle ist gewiss keine Koketterie im Spiele. Sie riskieren Ihr Augenlicht, aber Sie müssen es ja. Wer gönnte Ihnen den Genuss, der Ihnen unentbehrlich ist, und wer verdiente wohl in Ihr Geheimnis eingeweiht zu werden? Sie sind, wie alle Morphinisten gezwungen, eine Umgebung zu täuschen, die getäuscht sein will.«
Erleichtert atmete Lydia auf. Es tat ihr unsagbar wohl, verstanden zu werden. Nur Beurteilung Ihrer Leidenschaft, im günstigsten Falle Mitleid mit einem krankhaften Zustande hatte sie überall angetroffen, wo sie es je gewagt hatte, leise Andeutungen über die Erbitterung zu machen, die sie oft empfand, wenn es ihr fast unmöglich erschien, sich Morphium zu verschaffen. Die Aufregung dieser Erbitterung brachte sie dann zuweilen zum Sprechen.
»Sie finden also meine Schwäche nicht unbedingt unmoralisch, Herr Doktor?« fragte die junge Frau.
»Im Gegenteil,« antwortete er lebhaft. »Alle Religionsstifter der Welt empfehlen den Menschen, ihre Leidenschaften zu bekämpfen. Die natürliche Beschaffenheit unserer Nerven setzt diesen Bestrebungen unüberwindliche Hindernisse entgegen. Das Morphium allein besiegt die Leidenschaften in jeder Brust. Wenn ein neuer Prophet seinen Anhängern zur Bekämpfung ihrer natürlichen, menschlichen Triebe Morphium zur freien Verfügung stellte, so würde er bald eine Gemeinde um sich sehen, der jedes Laster fremd wäre.
»Ich habe augenblicklich nicht genug Morphium genossen, um dem kühnen Fluge einer prophetischen Phantasie bis zu dieser Höhe folgen zu können,« bemerkte Lydia lächelnd, erstaunt den leidenschaftlich erregten Mann ansehend.
»Soll ich Ihnen geben, was etwa noch fehlt?« fragte er eifrig.
Sie nickte glückselig und sah erwartungsvoll zu ihm auf:
»Wie viel Prozent gebrauchen Sie, gnädige Frau?«
»Sechs,« gestand sie mit ängstlichem Zögern.
»Da steht Ihnen also noch manche herrliche Steigerung bevor,« sagte er seufzend und zog aus seiner Brusttasche ein kleines Glas. Wie wenig er ihr gab, das war ja fast nichts – ah diese Enttäuschung –! War das ein Scherz oder – – –
Da ging es wie ein Ruck durch all ihre Nerven – wie ein Schlag traf die ungekannt starke Lösung ihr Gehirn. Sie griff nach der Stirn und dann nach der Brust. Es rieselte ihr unter der Haut wie Sand ein angstvolles Unbehagen erfasst sie.
Er sah, wie kalte Schweißtropfen auf ihre Stirn traten und wie ihr Gesicht sich entfärbte. »Habe ich Ihnen zu viel gegeben, gnädige Frau?« fragte er.
»Nein,« stammelte sie halb bewusstlos, »bitte beobachten Sie mich nicht, es wird mir schon wieder wohl – sehr wohl. –
Ihre Hände zitterten, wie sie das sagte, wie aus weiter, weiter Ferne hörte sie ihre eigene Stimme – die Steigerung des Genusses! –
»Ich schreibe ein Buch über den Missbrauch der verschiedenen Narkotika und mache zu dem Zwecke meine Beobachtungen, bitte entschuldigen Sie daher den indiskreten ärztlichen Blick,« sagte er höflich.
Ein Buch?« – Sie nahm alle Willenskraft zusammen, um zu sprechen, als sei nichts geschehen. Er sollte nicht denken, die Dosis sei zu stark für sie gewesen; sie wusste nicht, dass sie den Ehrgeiz, recht viel vertragen zu können, mit all ihren Leidensgenossen teilte.
»Ein Buch,« – wiederholte sie noch einmal langsam und mit schwerer Zunge. Es war ihr, als hätte sie Sand im Munde, sie konnte kaum sprechen, aber sie sprach nun doch. »Wollten Sie Ihrer ärztlichen Tätigkeit nicht entsagen, sagten Sie das nicht kürzlich?«
»Nein,« entgegnete er, »vorläufig muss ich noch als Assistenzarzt in der Nervenheilanstalt tätig sein. Ich habe keine Privatpraxis, und der Chef lässt mir so viel freie Zeit wie möglich. Er interessiert sich selbst für meine Arbeit, zu der mir meine Erfahrungen in seiner Anstalt den Stoff bieten. Nach Fertigstellung meiner Broschüre werde ich allerdings meine jetzige Stellung verlassen.
Der Professor sagte neulich, Sie wollten Universitätslehrer werden? O wie mühsam brachte sie die Worte über die Lippen!
»Ich will gar nichts werden,« antwortete er dumpf. »Mein Buch,« – er lachte in sich hinein, es war ein so eigenes Lachen, dass Lydia selbst in dem Taumel ihrer Sinne davon erschreckt den Kopf hob.
»Nun was ist denn mit ihrem Buche, weshalb lachen Sie?«
»Ach, Verzeihung, es kann ja niemand wissen, wie komisch ich mir das denke, wenn einmal, natürlich nach meinem Tode, der kluge Professor, der den Morphinismus mit allen Waffen der Wissenschaft bekämpft, das Werk seines ehemaligen Assistenten lesen wird.
»Aber weshalb schreiben Sie denn das Buch, wenn Sie den Standpunkt der anderen Nervenärzte nicht zu teilen vermögen?« fragte Lydia, sichtlich unangenehm berührt von dem sonderbaren Benehmen ihres Gefährten.
»Mein Buch wird ein wissenschaftlicher Protest gegen das Verbot des freien Verkaufes der narkotischen Mittel,« sagte er nun beinahe feierlich.« »Persönlich leide ich nicht unter diesem Verbote, denn ich bin Arzt, aber ich kenne die Verzweiflung und den Jammer des Morphinisten, der sich der Unmöglichkeit gegenüber sieht, sich Morphium zu verschaffen.
Anständige, hochachtbare Leute greifen in ihrer Verzweiflung zu den ehrlosesten Mitteln, und von diesem Jammer will ich sie zu erlösen versuchen. Ich habe ein Material gesammelt, welches entsetzliche Schlaglichter auf diese Zustände wirft. Gegen das Versprechen ihnen zu helfen, für ein einziges Rezept haben zahlreiche Unglückliche mir gebeichtet. Ach – ich weiß, wie tief sich einige, sonst reine, unnahbare Naturen gedemütigt haben, um durch Bestechung, durch Betrug, einerlei wie, zu dem zu gelangen, was sie bedürfen, wie der Hungrige Brod bedarf, um sich zu erhalten.«
Sie erhob sich halb und sah mit gefalteten Händen zu ihm herab. »Sie wollen helfen, Sie könnten helfen – o Gott Herr Doktor, nein, nein, Sie können auch den Wall von Härte und Verständnislosigkeit nicht niederreißen, an dem Tausende rütteln und an dem Alle, Alle ohnmächtig abprallen.«
»Ob ich es kann, weiß ich allerdings nicht, aber ich will es wenigstens versuchen«, sagte er, etwas zur Seite rückend, so dass sie wieder Platz nehmen konnte. »Ich will wenigstens vor der Welt die dunklen Wege erhellen, auf die man mit erbarmungsloser Härte eine Menge kranker Menschen gedrängt hat. Ich will es zeigen, wohin ein Gesetz führt, das nur dazu da ist, umgangen zu werden, weil es nicht befolgt werden kann. Die ganze Kraft meiner geistigen Fähigkeiten stelle ich in den Dienst dieser Aufgabe, dieses Strebens, das mir edel und würdig erscheint, weil es dem willkürlich Unterdrückten, der nichts verbrach, zu Hülfe kommen will. Die Menschheit soll darüber aufgeklärt werden, wie weit die Bevormundung der Polizei geht, und auch Nicht-Morphinisten hoffe ich für die Frage zu interessieren, die ihnen jetzt gleichgültig ist.«
»Und dann?«
»Und dann?« Träumerisch wiederholte er die bange Frage, die sie leise aussprach. »Ja dann, gnädige Frau – zu Ende führen werde ich den Kampf nicht. Ich kann nur noch so lange leben, wie ich zu genießen vermag. Nennen Sie es Egoismus, Krankheit, Schwäche, wie Sie wollen, aber wenn einmal die Stunde kommt, in der meine Nerven aufhören zu reagieren, die Stunde, in der auch die letzte Steigerung und Komplikation nicht mehr zum Genuss führt, dann lege ich die Feder aus der Hand. Mit dem Leben hört auch die Verpflichtung auf, weiter zu kämpfen.«
»Mit dem Leben?«
»Natürlich, liegt denn nicht das Ende des Lebens ebenso in unserer Hand, wie der Genuss, dem wir uns ergeben?«
Sie schauderte doch bei dieser letzten Konsequenz, zu der er so leicht und ruhig gelangte. Sie befand sich ja auf demselben Wege wie er. »Das Andenken der Gerechten bleibt im Segen«. – Wie Feuer tanzten die Buchstaben der Inschrift vor ihren Augen. Genuss, Genuss des Lebens, und dann das Ende. Das Leben fortwerfen, das nichts mehr bietet, tönte es neben ihr. Sie glaubte, alles drehe sich im Kreise um sie her, nur der schwarze Grabstein vor ihr stand fest in dem Wirbel, aber er glühte und flammte von der untergehenden Sonne beleuchtet, es tat ihr weh, darauf niederzusehen.
Vorher hatte sie sich so leicht, so frei gefühlt, und nun dieser Schwindel und dieser Druck um die Stirn, wie von einem eisernen Bande. Das war also die Steigerung ihrer Genüsse.
»Ist das ein Lebenszweck, Genuss, nur Genuss, der sich steigert, bis er aufhört, weil der Körper versagt?« fragte sie leise.
»Gewiss, Frau Bremer, der Genuss ist ebenso gut ein Lebenszweck, wie die Arbeit,« sagte er, »es kommt nur darauf an, dass man seine moralischen Grundsätze damit in Einklang zu bringen versteht. Indirekt dient so mancher ausschließlich dem Genuss des Lebens. Der Künstler schafft seinen Nebenmenschen und sich selbst geistige Genüsse, Andere wieder begnügen sich damit, sich in den Dienst des materiellen Behagens zu stellen. Es gibt aber noch ein Drittes im Menschen, das außer den groben Organen des Körpers, außer dem Geiste, fähig ist zu genießen, das sind die Nerven. Warum soll ich nicht meinen Lebenszweck darin suchen. Anderen zugänglich zu machen, was mir eine so große Befriedigung der Nerven bringt? Es haben schon Leute sich mit geringeren Aufgaben für ihr Dasein begnügt, und ich habe nicht umsonst gelebt, wenn ich auch nur einen Stoß führe, der das Gesetz in's Schwanken bringt, das ich bekämpfe.«
»Ich wollte, ich könnte an Ihren praktischen Erfolg glauben, Sie kämpfen ja gegen eine empörende Ungerechtigkeit.«
»Der Drogist, der Arzt, selbst Krankenwärterinnen vermögen sich stets Morphium zu verschaffen. So lange es unter einigen dieser Leute Armut und Bestechlichkeit gibt, wird das süße Gift auch käuflich bleiben, indirekt käuflich, – allerdings nur um sehr hohen Preis.«
»Ich glaube auch, dass es dem Unbemittelten sehr häufig positiv unmöglich gemacht wird, die Hindernisse zu besiegen, die das Geld überwindet. Ist das nicht auch eine soziale Seite unserer Frage?« meinte Turnau.
»Der Arme hat den Alkohol,« wandte sie ein.
»Den Alkohol? Ja,« er wurde bitter, fast leidenschaftlich in seinem Ton. »Die Genusssucht des Volkes ist eben eine brutale Macht, der man nicht mit einem einfachen Verbot des Verkaufs begegnen kann. Feinere Nerven brauchen raffiniertere Genüsse. Der Alkohol verhält sich zum Morphium wie ein bluttriefender Schauerroman zu einer geistvollen psychologischen Studie. Das Leben ist so öde und traurig; die Mittel, die es erträglich machen können, sollte man nicht beschränken.«
Sie sah müde zu ihm auf. »Öde und traurig,« wiederholte sie sinnend. »Nein, ich kann das eigentlich von meinem Leben nicht behaupten; mein Mann ist sehr rücksichtsvoll und die Kinder – aber Sie, wieso finden Sie Ihr Dasein nicht nach Ihren Wünschen?«
Er antwortete nicht, und sie empfand es unbehaglich, dass sie den jungen Mann beinah zu einem persönlichen Vertrauen aufgefordert hatte, das er ihr nicht in der freundschaftlichen Weise entgegenbrachte, in welcher er sich bisher gegen sie ausgesprochen hatte.
»Befinden Sie sich jetzt wohler, gnädige Frau?« fragte er nach einigen Minuten des Schweigens.
»O vollkommen wohl!«, versicherte sie rasch aufstehend.
Er bot ihr den Arm, und sie nahm ihn unbefangen an. Er bemerkte in diesem Augenblicke, dass sie elegant gekleidet war. Ihre Anmut und Grazie berührten ihn sympathisch, aber es lag ihm fern, sich in das schöne Weib eines anderen zu verlieben. Nicht sein sittliches Bewusstsein schützte ihn davor; es hatte Zeiten gegeben, wo er den Vorteil seiner Lage erkannt und benutzt haben würde, aber diese Zeiten waren vorüber. Wie eine Lähmung lag der gewaltige Einfloss des Morphiums und des Äthers auf seinen Nerven und Sinnen.
Auch Lydia, die Gattin eines älteren, pedantischen, trockenen Mannes, dachte nicht daran, dass in ihrem vertraulichen Verkehr mit dem jungen Arzte irgendetwas Unerlaubtes sein könne. Aber auch sie handelte nicht in vollem Bewusstsein tugendhafter Ehrbarkeit, sondern ebenfalls unter dem Einfluss einer krankhaften Abstumpfung ihrer natürlichen Gefühle und Triebe.
»Das Andenken der Gerechten bleibt im Segen,« sagte sie leise mit einem Abschiedsblicke nach ihres Vaters Grab.
»Wenn ich mein Vermögen der Stadt hinterlasse, bekomme ich am Ende auch einmal eine so schöne Grabschrift,« scherzte Turnau. Es war wieder das, was Lydia kokettieren mit Weltschmerz und Todesahnungen nannte. Andere urteilten noch härter über diesen eigentümlichen Charakterzug des jungen, wohlhabenden Mannes. Man hielt ihn im allgemeinen auch nicht für so krank wie er war, und sah in dem aus seinem Wesen sprechenden Lebensüberdrusses nur die Folgen einer übermäßigen Blasiertheit, der nichts mehr genügte, was sich an Genüssen des täglichen Lebens ihm bot.
»Soll ich dafür sorgen, dass man auch Sie nach Ihrem Tode zu den Gerechten erhebt?« fragte Lydia, lächelnd auf seinen Ton eingehend,
»Es wäre unbescheiden, gnädige Frau; für einen armen Morphinisten wird sich schon noch ein demütigeres Verslein finden.« »Wohl der Menschheit, wenn jeder seine Grabschrift verdient hätte,« antwortete sie, mit einem Blick über alle die Kreuze und Steine hin schweifend, die in steinernen Lettern so viel von Liebe und Tugend zu erzählen wussten, wie man im Leben wohl selten beisammen finden wird.
Dann trat sie auf das Weihwasserbecken zu, bekreuzte sich mit dem Wasser, verließ an Turnaus Arm den Kirchhof und fuhr mit ihm zusammen in ihrem Wagen, der auf sie gewartet hatte, nach Hause.
Vor der Bremerschen Villa dehnte sich ein von Rosenbeeten unterbrochener Rasen aus, dessen Mitte ein zierlicher Springbrunnen bildete. Eine Allee von Kastanienbäumen führte zu dem etwas von der Straße zurückliegenden Gebäude und an demselben vorbei nach dem dahinter liegenden Garten.
Auf dem Kieswege unter den schattigen Bäumen spielten zwei hübsche Kinder unter der Aufsicht einer Bonne. Als sie ihre Mutter aus dem Wagen steigen sahen, wollte das junge Mädchen sie zu der Ankommenden führen, um diese zu begrüßen. Die Kinder aber hingen sich an ihre Pflegerin und steckten die Köpfe in die Falten des einfachen schwarzen Wollkleides, welches das Fräulein trug.
Die Bonne versuchte, sich von ihnen los zu machen und zeigte bei diesen lebhaften Bewegungen, in dem eng anschließenden, schlichten Kostüm eine vollendete Grazie. Sie war tadellos gewachsen, jede Bewegung war schön, so dass Turnau, der sonst wenig Sinn für weibliche Reize hatte, davon ganz betroffen war.
»Wer ist die junge Dame?« fragte er leise.
»Fräulein Wagner, eine Fröbel'sche Kindergärtnerin, erst seit kurzer Zeit bei mir,« sagte die Geheimrätin; dann begrüßte sie die Kinder, die endlich widerstrebend, mit scheuen Blicken auf den Begleiter ihrer Mutter, herbeikamen.
Auch das Fräulein begrüßte jetzt ihre Herrin. Das Gesicht des jungen Mädchens war breit und gewöhnlich. Die Züge waren grob, selbst die freundlich blickenden grauen Augen zu klein und zu tief liegend, um dem Gesichte irgend welchen Reiz geben zu können. Trotz der schönen Gestalt war das Mädchen nicht hübsch, nur die Lippen waren blühend und rot, die Zähne glänzend weiß, und ein Ausdruck von Jugendlust, Frohsinn und Güte verklärte die ganze Erscheinung.
»Mein Gott, Fräulein, wie albern sich die Kinder noch immer benehmen, wenn Gäste da sind, gewöhnen Sie ihnen das doch ab,« tadelte die junge Frau.
Die Bonne schwieg, sie wusste nur zu wohl, dass die Kinder sich jedes Mal weigerten, wenn sie ihre Spiele verlassen sollten, um auf einen Augenblick der Mutter zugeführt zu werden.
Mit nervöser Hast streichelte Lydia die rosigen Gesichter und die feuchten Blondhaare der Kleinen. »Wie sie erhitzt sind, ist es hier denn so heiß?« wandte sie sich wieder an Fräulein Wagner.
»Wir haben Federball gespielt, gnädige Frau, wir waren so sehr vergnügt dabei und haben uns so oft gebückt, davon sind wir so rot.«
Dabei strahlten die Augen des jungen Mädchens und der Mund schien ein schelmisches Lächeln kaum unterdrücken zu können.
»Es ist gut Fräulein, beschäftigen Sie die Kinder aber jetzt ruhiger,« entschied die totenblasse Frau. Dann wandte sie sich mit ihrem Begleiter von der heiteren Gruppe der an das Mädchen geschmiegten Kinder ab.
»Wollen sie meinen Mann nicht noch begrüßen?« fragte sie dann den Doktor, der Haustür zugehend.
»Es ist mir unmöglich, gnädige Frau, ich bin nicht wohl genug dazu.«
»So danke ich Ihnen umso herzlicher für Ihre Begleitung.«
»O bitte, das ist kein Umweg für mich, außerdem will ich Ihnen auch im Vertrauen gestehen, gnädige Frau, dass der kurze Aufenthalt in Ihrem Garten für mich ein Genuss war.«
»Ein Genuss? Ah – da wäre ich doch begierig.«
»Ja, auf die Gefahr hin, dass Sie mich auslachen. Es war ein Genuss für mich, Ihr neues Kinderfräulein zu sehen.«
Ein sehr erstaunter Blick der Geheimrätin suchte das junge Mädchen. »Fräulein Wagner ist vorzüglich gewachsen, sonst aber doch beinahe hässlich zu nennen,« meinte sie dann.
Doctor Turnau folgte mit einem unsagbar müden, schwermütigen Blicke der blühenden Mädchengestalt. »Sehen Sie einmal das glatte, glänzende, natürliche Haar an, gnädige Frau.«
Lydia lachte auf. »Aber bester Doktor, dieses schlichte, glatt zusammengedrehte braune Haar ist doch etwas außerordentlich Gewöhnliches, was finden Sie denn daran so schön?«
»Die körperliche Gesundheit, die diesen Haarwuchs bedingt,« antwortete er nachdrücklich. »Ich behaupte durchaus nicht, dass diese junge Person schön sei; ich weiß auch, was schön ist, aber sie ist gesund, durch und durch gesund. Ein Hauch von Jugendfrische und Kraft umgibt sie und macht sie reizend.«
»Wäre das etwa Ihr Geschmack?« Sie zweifelte noch immer an dem Ernst seiner Worte.
»Ich bin schon seit mehreren Jahren Kliniker,« antwortete er. »Alles, was mich umgibt, ist krank und hinfällig. Auch unsere Pflegerinnen sind zum größten Teil überarbeitet und nervös, die meisten Kollegen sind noch nicht in den gewissermaßen behaglichen Ruhestand der Privatpraxis eintreten, sie arbeiten mit Feuereifer, keiner schont sich. Die entsetzliche Luft des Laboratoriums vergiftet uns alle. Viele von uns bedürfen auch in dieser Zeit übermäßiger, geistiger Anstrengung künstlicher Anregungsmittel. Es vergehen oft Tage, an denen ich faktisch keinen einzigen normalen, gesunden Menschen sehe, – ist es da nicht erklärlich, dass ein solches Bild blühender jungfräulicher Frische und Kraft für mich etwas sehr Anziehendes hat? Bitte, sehen sie nur die roten ausgearbeiteten Hände des Fräuleins, die leidet nicht an Blutarmut – ah, die ist schön!«
»Ich gönne Ihnen den Anblick dieser Päonie von Herzen, lieber Freund. Möchten Sie sich dadurch veranlasst fühlen, die Villa Bremer nicht mehr so zu vernachlässigen, wie es bisher geschah.«
»Ich werde von Ihrer gütigen Erlaubnis demnächst Gebrauch machen, gnädige Frau.«
Er berührte mit seinen Lippen einen Augenblick die wachsbleiche Hand der Morphinistin, verbeugte sich von weitem gegen Fräulein Wagner und verließ darauf den Garten.
»Bitte, liebes Fräulein, besorgen Sie mir etwas Himbeerwasser,« sagte Lydia zur Bonne, dann setzte sie sich auf einem bequemen Gartenstuhl und nahm ihr zweijähriges Töchterchen auf den Schoß.
»Der dumme Onkel« sagte der kleine Knabe, sich jetzt auch der Mutter nähernd mit einem zornigen Blick nach der Thür, hinter der soeben Doktor Turnau verschwand.
»So etwas sagen artige Kinder nicht,« tadelte die junge Frau.
Jetzt erschien die Bonne wieder mit der gewünschten Erfrischung im Garten. Hinter ihr ging der Geheimrat Bremer, ein schlanker, eleganter Mann mit schon leicht ergrauendem, dunklen Haar.
»Wie kam denn dieser blasierte Turnau dazu, Dich zu begleiten?« fragte er, neben seiner Gattin Platz nehmend. »Er hält es doch sonst für tief unter seiner Würde, ein weibliches Wesen mit seiner interessanten Unterhaltung zu beglücken.«
»Ich traf ihn zufällig auf dem Kirchhofe, und wir unterhielten uns so angenehm, das, mir seine Begleitung natürlich erschien.«
»Wie kann dieser unnatürliche, gezierte Mensch eine vernünftige Frau angenehm unterhalten«, sagte Bremer beinahe ärgerlich. »Unter Männern ist seine Unterhaltung gar nicht geschätzt, das kann ich Dir sagen. Jung und sorgenfrei wie er ist, sucht er etwas darin einen Pessimismus zur Schau zu tragen, der eines Greises würdig wäre, dem alles im Leben gescheitert ist. Er leugnet jeden Genuss jeden Glauben, er leugnet die Liebe, er widerspricht der Natur – – –«
»Mit einem Worte, er ist Dir unsympathisch,« unterbrach Lydia ihren Mann.
»Gewiss, das ist er mir und vielen anderen Leuten. Gefällt Dir zum Beispiel dieses Andeuten einer geheimnisvollen Krankheit, dieses Spielen mit dem Gedanken an Tod und Grab – – –«
»Vielleicht fühlt er die Annäherung eines Gemütsleidens.«
»Ach was, Gemütsleiden. Davon hat er Dich wohl unterhalten? Er hat nichts zu tun, da steckt die Wurzel des Übels. Wenn er wie andere junge Ärzte des Morgens in seiner Sprechstunde sitzen und auf Patienten warten müssten, um seinen Lebensunterhalt zu gewinnen, so würde er wohl frei bleiben von seinen interessanten Ahnungen. An ihm siehst Du, dass es unter Umständen sogar ein Unglück sein kann, wenn Eltern ihrem Sohne ein Vermögen hinterlassen.«
Die kleine Lotte wurde unruhig, als sie sah, dass Fräulein Wagner mit dem größeren etwa vierjährigen Bruder fortgehen wollte, ohne sie mitzunehmen.
»Bitte, Fräulein, nehmen Sie Lottchen mit«, sagte Lydia.
Die kräftigen warmen Hände des jungen Mädchens hoben die kleine hoch empor, jauchzend legte das Kind sein Gesichtchen an ihre weiche volle Wange dann entfernten sich die Kinder mit ihrer Bonne.
»Eine allerliebste, frische Person«, bemerkte der Geheimrat, »ich glaube, wir haben da einen glücklichen Griff getan.«
»Auch Turnau fand sie reizend«, sagte Lydia lachend. »Was für ein Geschmack – dieses Vonmondsgesicht!«
»So! – Turnau auch? Solch einen unverdorbenen Geschmack hätte ich diesem Wüstling nicht zugetraut«, meinte Bremer nachdenklich. »Nun, er wird keine Gelegenheit haben, ihr etwas in den Kopf zu setzen; sonst wäre das Mädchen am Ende dumm genug, ihr Herz an diesen abgelebten Egoisten zu verlieren.«
»Was für eine Idee!«
Lydia fand den Gedankengang ihres Mannes unbegreiflich trivial. Warum sollte es denn nicht möglich sein, dass ein junges Mädchen einem Manne gefiel, ohne dass das Herz dabei gleich in Frage kam.
Sie schwieg und trank ihr ganzes Glas Limonade leer, denn die Nachwirkung des Morphiums ist Durst.
Ein Diener brachte dem Geheimrat Zeitungen und Briefe. Bald war der Hausherr in seine Lektüre vertieft, während die junge Frau sich leise erhob, um ihr Zimmer aufzusuchen. Dort vertauschte sie ihre Straßentoilette mit einem bequemen Hauskleide und legte sich nieder, einer bleiernen Müdigkeit, die in ihren Gliedern lag, nachgebend.