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Der Tod in Flandern
Оглавлениеie waren sehr verschieden und doch immer beieinander — die vier Primaner. Sie gingen gemeinsam in die Schule, aber sie saßen auf sehr verschiedenen Plätzen. Sie zeichneten sich in sehr verschiedenen Fächern aus, aber sowohl in den Pausen wie auf den abendlichen Spaziergängen sah man sie immer beisammen. Sie regelten alles gemeinsam — die mathematischen Aufgaben und die Religion der Zukunft, Liebeskummer und väterliche Konflikte. Es war ganz selbstverständlich, dass alle vier sich bei demselben Regiment meldeten, als der Krieg ausbrach.
Alle vier wurden angenommen. Das heißt, einen Augenblick sah es aus, als ob Budde Beermann zurückgewiesen werden sollte wegen seiner dicken Brille.
Aber — wie er später sagte — er riss seine Augen mit aller Gewalt zusammen, und so erreichte er gerade noch die richtigen Buchstaben.
Sie wurden zehn Wochen lang ausgebildet. Ihre Gestalten wurden noch länger und hagerer. Aber die Uniform machte sie männlich. Ihre Verschiedenheiten schwanden, weil es keine Zeit mehr gab, über sie zu reden. Sie aßen, tranken, schliefen wie nie in ihrem Leben. Und alle ihre weltenweiten Zukunftsträume waren verdichtet zu dem einzigen Wunsch: in diesen unbekannten, lockenden Strudel hinein, der sich „Krieg“ nannte.
Was war der Krieg? Er war auch heute noch jenes problematische Ungeheuer, über das die Primaner in ihrem Diskutierklub „Schiller“ sich so oft und so schön gezankt hatten. Aber zugleich war er auch noch etwas anderes geworden: eine Musik und eine flatternde Fahne, etwas wie selige Verliebtheit und holder Wahnsinn, eine schimmernde Zukunft — die aber ganz nahe war, und über die kein Erwachsener lachte. Ja, das war die erschütternde Neuigkeit für alle diese jungen Leute: jetzt durfte man öffentlich schwärmen. Man durfte sagen, dass man eine Schlacht entscheiden, dass man höchst eigenhändig mit einer Bombe das Zelt des russischen Zaren vernichten wolle — und alle nahmen einen ernst, und selbst die ältesten Knacker klatschen in die Hände. So war der Krieg: heute noch war man ein dummer Primaner, dem der Lehrer eine Ohrfeige anzubieten wagte, und morgen stand man in hunderttausenden Blättern, und die stolzesten Mädchen kauften sich Bilder von einem und hängten sie in ihrem Zimmer auf. So war der Krieg.
Bis auf den Sohn des Pastors Kuhn, der auf den Monismus schwur und Chemie studieren wollte, waren sie übrigens alle verliebt. Das heißt mit sehr großen Unterschieden. Budde Beermann liebte zwei junge Mädchen zugleich. Der junge Frerichs betete die Frau des Hilfslehrers an, obschon er nie ein Wort mit ihr geredet hatte. Richtig und ernsthaft verliebt war nur Jürgen Pens — in die einzige Tochter des Pastors.
Das ist nicht unwichtig. Denn die kleinen und großen Herzensfreuden dieser jungen Leute spielten auch in den Krieg hinein. Und wo in einsamer Stunde ein Zweifel, eine kleine Angst oder nur ein Zurseitespringen der Gedanken aufmachte, da waren es die Bilder dieser Frauen und Mädchen, die alles wieder einrenkten — lockend, drohend, besänftigend.
So zogen die vier in Reih’ und Glied aus dem Städtchen aus — alle in derselben Kompagnie. Am stolzesten schritt Frerichs dem Bahnhof zu. Denn sein Rivale, der Hilfslehrer, war ein elender Landsturmmann ohne Waffe und brauchte nicht mit. Ja, das war eine Ehre und ein Ruhm, schon bevor es losging, unter den lächelnden Augen einer geliebten Frau durch die Straßen zu ziehen — in Gefahren, Sieg oder Tod.
Durch ganz Deutschland ging es wie im Triumph. Der ganze Zug war voll von jungen Menschen, die kaum zwanzig Jahre zählten. Alles durcheinander, Primaner, Studenten, Bauern, Arbeiter und Kaufleute. Die Männer und Frauen auf den Bahnhöfen, an den Chausseeübergängen, in den Straßen der Städte — sie winkten und jubelten. Nur einige alte Leute, die diesen Strom von Jugend sahen, zogen das Taschentuch und weinten.
Kurz hinter der belgischen Grenze sahen sie die ersten Verwundeten. Es waren zunächst zwei junge frischgebackene Leutnants. Der eine hatte den ganzen Kopf in Watte, der andere hatte den Arm verbunden. Sie hatten ihren Zug verlassen und gingen auf dem Bahnsteig auf und ab. Die vier Primaner standen stramm vor ihrem Waggon. O, wie bewunderten sie diese beiden Helden. Und ohne dass sie etwas sagten, dachte ein jeder: „Ach, käme ich mit solchen Ehren heim!“ Aber dann liefen sie nach dem Verwundetenzug hinüber und guckten neugierig bald hier, bald da hinein. Überall roch es — nach Blut, nach Karbol — meistens nach Blut. Die schönen grauen Röcke der Soldaten waren starr von Dreck. Ihre Gesichter sahen bleich aus. Viele humpelten. Einige wurden getragen. Aber alles war still. Man hörte keinen Klagelaut. Alles half sich gegenseitig.
Die Kriegsfreiwilligen standen herum. Die vier Primaner auf einem Haufen. Das war nun das erste offene Gesicht des Krieges nicht sein bestes. Die Primaner erschauerten.
Aber da rief aus einem Kupee ein graubärtiger Hauptmann: „Heda, ihr Jungens, hier mal ran und helft mir!“ Sie sprangen hinzu. Der Alte hatte ein blessiertes Bein und wollte hinaus. Die vier packten an und hoben ihn herunter. Und indem sie das taten, war ihr Schauer weg. Und sie fühlten, dachten und marschierten wieder in Reih’ und Glied.
Es kamen die ersten zerstörten Häuser und Dörfer — es kamen die ersten Schlachtfelder. Zunächst auch hier ein jugendliches Staunen, ein leiser Versuch zu fragen, wie und weshalb. Aber doch nur einen ganz kleinen Augenblick. Dann wurden es gerade diese Stätten des Schreckens, die die jungen Leute fest und mutig machten. Das kam, indem die Leute des Landes vor ihnen den Hut zogen, indem Frauen vor ihnen zitterten und alte Männer gehorsam ihren Willen taten. Die jungen Menschen sahen, was Besiegte sind. Und sie lernten reden und handeln, wie Sieger es tun. Ihr Stolz und ihre Eigenwilligkeit erhoben sich im Verhältnis zu ihrer Jugend. Einige wurden frech.
Aber die vier blieben auch als Sieger Primaner. Eines Mittags — ihr Regiment lag jetzt als Besatzung in irgendeinem Dorf Südbelgiens — eines Mittags nach dem Essen rekelten sie sich in der Septembersonne auf der Wiese neben einem kanalartig verbreiteten Flusse, dessen Wasser träge dahin schwomm. „Kinder, es ist halb eins“ — sagte Frerichs — „jetzt hätten wir zu Hause Horaz. Der Alte würde uns erklären, was Freundschaft ist, Pens würde schlafen, sein Schwager würde Darwin lesen — und jetzt liegen wir im Krieg zwei Tage hinter der Front. Eheu fugaces Postume, Postume . . .“ „Wisst ihr noch“ — meinte nun Pens — „als der Alte in seiner Abschiedsrede auf ‚die sittlichen Gefahren des Krieges‘ zu sprechen kam? Und er sah dabei den Beermann ganz scharf an. Gewiss, Beermann, sei ruhig! Er tat es. Aber nun sage mir bloß einer, wo sind diese sittlichen Gefahren?“
„Na, Pens, ich meine, mit Beermann hatte der Alte schon recht. Oder will Beermann bestreiten, dass er mit der kleinen Schwarzen aus dem Gärtnerhaus hier dick in der Tinte sitzt?“
„Brotneid, Brotneid, purer Brotneid, Kinder“ — antwortete Beermann — „ich werde gar nichts bestreiten, aber auch gar nichts behaupten. Ich möchte vielmehr fragen, wo sind überhaupt die Gefahren, von denen wir träumten? Wir liegen hier jetzt drei Wochen und werden dick und rund. Auf dem rechten Flügel soll es hapern. Warum schickt man uns nicht hin? Ich kann doch nicht als ordinärer Muskote zu meinen Eltern zurückkehren. Und hier scheint mir die Gelegenheit zum Eisernen verdammt schlecht zu sein.“
In diesem Augenblick wurden die Augen der vier auf einen Gegenstand gerichtet, der vor ihnen im Wasser auftauchte. Es war der Arm eines Menschen — in blauem Tuch — der Arm eines Soldaten — die Hand war schneeweiß — der Arm zog langsam auf dem Wasser an ihnen vorbei.
„Da hast du’s, Beermann — verflucht und zugenäht! — Es ist ein Menschenarm — vielleicht aus Deutschland.“
„Wahrhaftig, ein Arm“ — sagte Budde Beermann und hustete verlegen — „er muss von einer Granate weggerissen sein. Aber ich glaube, er liegt schon lange im Wasser. Er ist ganz weiß.“
Alle waren innerlich entsetzt. Jeder hätte am liebsten geschwiegen. Aber jeder schämte sich, und so redeten sie los.
„Granatschüsse sollen das Schrecklichste sein, schlimmer als Dum-Dum. Der Leutnant neulich im Zuge hat es auch gesagt. Ich bin für einen glatten Gewehrschuss.“
„Ich auch, — ich habe sogar vorgestern geträumt, wir wären im Gefecht, — und ich bekäme einen Schuss mitten ins Herz. Aber es tat gar nicht weh — es war ein Gefühl wie dicht vorm Einschlafen.“
„Geträumt habe ich auch mal davon — aber ich weiß nicht mehr was. Ich weiß nur, als ich aufwachte, da hatte ich den ganzen Tag in Händen, Schultern, Beinen das seltsame Gefühl, als müssten Kugeln kommen und sie treffen. Ich hatte direkt eine Art körperlicher Sehnsucht nach den Kugeln — aber natürlich war es Spielerei.“
„Es war noch weniger als Spielerei. Pens will sich interessant machen. Aber ich glaube ihm nichts mehr“ — rief der Sohn des Pastors — „ich weiß nur, dass Pens als Amulett ein paar Schuberische Noten auf der Brust trägt. Und das finde ich sentimental, und ich lobe mir dafür meinen gefüllten Brustbeutel. Amen.“
„Und den Tierentwickler Darwin, den du in deinem Tornister trägst? Oder willst du etwa leugnen, dass du ihn mitgenommen hast? Die Geschmäcker sind eben verschieden, Herr Pillendreher. Und eine Schubertsche Ecossaise ist etwas anderes als gewärmter Froschlaich.“
So neckten sich die beiden. Sie waren immer sehr derb gegeneinander. Das kam, weil der eine die Schwester des andern liebte. Des Abends saßen sie und tranken. Keiner hatte gewusst, dass in Belgien so viel Rotwein war. Mit den Kameraden ihrer Kompagnie standen sie sehr gut. Einmal veranstalteten sie eine regelrechte kleine Kommentkneipe mit Gesang. An dieser nahmen sowohl ein paar Arbeiter wie auch zwei junge Leutnants teil. So vergingen einige Wochen. Endlich traf der langersehnte Landsturm zur Besetzung des Dorfes ein. Und unsere Freiwilligen rückten ab in die Front. Es gab niemanden, der nicht innerlich jubelte.
Wie waren sie alle gewachsen in den zwei Monaten, seit sie damals auf dem Kasernenhof in der Heimat antraten. Sie waren zwar auch jetzt noch keine Männer — nein, wenn sie marschierten und sangen, dann schwebte trotz des strammen Schrittes etwas Zartes, Elastisches, etwas Rührendes um ihre Reihen. Und dennoch — welch ein Unterschied! Damals wie Knaben von morgens bis abends gehütet — jetzt standen sie allein die Nacht hindurch auf Posten — Tod und Leben in der Hand.
Und je tiefer und je länger sie hineinkamen in diese Riesenmaschinerie des Krieges — desto einfacher wurde sie ihnen. Denn sie sahen nur immer ein winziges Stück von ihr — ein kleines Stück mit kleinen Schrecken. Und ihre harten Aufgaben ließen ihnen keine Zeit, über die Schrecken zu grübeln und zu greinen. So war ihre Laune immer froh und voll Erwartung. Manchmal so voll Erwartung, dass sie sich gottloserweise irgendetwas Schreckliches wünschten, nur damit überhaupt etwas passierte.
Natürlich schrieben sie oft nach Hause. Und auch die zu Hause merkten an den Briefen, wie die viere wuchsen. Sie erhielten auch viele Antworten aus der Heimat. Manche aber waren wie aus einer fremden Welt. So verschieden war das, was sie in ihrer Kompagnie, und das, was man im Kreisstädtchen daheim den Krieg nannte.
Acht Tage, nachdem sie in der Front lagen, machten sie ihre erste wichtige Nachtpatrouille. Es war eine Freiwilligenpatrouille von zehn Mann. Natürlich waren die vier unter denen, die sich meldeten.
Sie hatten zunächst einen Fluss zu durchschwimmen — einer nach dem andern. Die Nacht war dunkel. In dem kräftigen Oktoberwind verhallten ihre plätschernden Geräusche.
Dann krochen sie über einen losen Acker — dreihundert Meter weit. Da begann der Wald — und nun verteilten sie sich. Der Auftrag lautete, aus den Wipfeln der Bäume heraus den ganzen nächsten Tag alle Bewegungen des Feindes zu beobachten und in der nächsten Nacht auf dem Wege über Acker und Fluss zurückzukehren.
Sie sahen böse aus, als sie in dem Walde ankamen — nass, voll Ackererde, klappernd vor Kälte. Sie verteilten sich auf die höchsten und stärksten Bäume. Es war nicht leicht, in voller Ausrüstung zu klettern. Aber ein Kriegsfreiwilliger liebt gerade das Schwere und Unmögliche. Und so saßen sie nach einer Stunde alle zehn oben in den Zweigen.
Es wurde ein Tag wie aus den Indianergeschichten der Jugend. Zwar drei von den Leuten, unter ihnen der Sohn des Pastors, hatten sich völlig verklettert. Als die Sonne herauskam, zeigte es sich, dass sie nach keiner Seite hin Aussicht hatten. Sie saßen mitten in Blättern und Zweigen und ihnen wurde der Tag auf diese Weise zu einem Tage innerer Einkehr.
Aber die andern saßen und lugten kilometerweit. Zwar waren sie ganz ohne Verbindung miteinander. Nur einige konnten sich sehen. Aber niemand konnte mit dem andern reden. Jeder sah durchs Glas und schrieb und zeichnete, als ob er ganz allein ausgesandt wäre.
Sie sahen feindliche Reiter und Pioniere, Ponton-Abteilungen und Kolonnen afrikanischer Infanterie. Manchmal so nah, dass es ihnen in den Fingern zuckte. Aber manchmal gab es auch Minuten der atemlosen Spannung. Dann standen oder marschierten feindliche Gruppen gerade unter ihnen, und alles, was sie tun konnten, war, sich still und mausetot zu halten.
Unerträglich lang war der Tag. Wie gern hätte Pens einmal hinüber gerufen zu Beermann! Einen kleinen Scherz, einen kleinen Juchzer nur! Wie gern hätte er dieser unerträglichen riesenhaften Spannung seiner Nerven einmal ein ganz klein wenig Luft gemacht. Aber so mussten sie gerade das Größte des bisherigen Krieges stumm verrichten. Und waren doch noch so jung.
Abends kletterte der Leutnant zuerst hinab. Dann die übrigen. Sie waren kalt und steif wie Gefrierfleisch. Erst jetzt merkten sie es. Der Rückweg dauerte stundenlang. Sie mussten jetzt noch vorsichtiger sein als am Abend vorher, — da sie nicht wussten, wo heute die Posten am Ufer standen. So krochen sie einzeln auch über den Acker — in Zwischenzeiten von einer halben Stunde. Kurz nach Mitternacht kam der letzte drüben an.
Obschon die vier hundemüde waren, schlief keiner von ihnen vor morgens ein. So lange hatten sie zu erzählen. Und jeder hatte etwas ganz Neues, etwas ganz Unerhörtes erlebt — beim Kriechen durch die Ackerkrume, beim Schwimmen durch das dunkle Wasser, als die Eichkätzchen in den Zweigen neben ihnen huschten, und als ein französischer Kapitän mit seinem Glase den Wald beäugte.
Das militärische Ergebnis der Patrouille war ausgezeichnet. Ihre Meldungen ergänzten sich gegenseitig zu einem klaren Bilde über alle Absichten des Feindes in den nächsten Tagen. Sie sollten nur so weiter machen — hieß es am anderen Morgen — dann könntest sie vielleicht schon Weihnachten im Unteroffiziersrock feiern.
Aber bis Weihnachten war noch lange hin. Und manches kam ganz anders, als die jungen Freiwilligen es sich strahlend ausgemalt hatten — anders auch, als mancher alte Schlachtenlenker es in seinen kühlsten Rechnungen erwartete.
Schon Ende Oktober sollte der Hauptschlag in Flandern fallen. Aber bis Mitte November war noch kein Ende abzusehen. Wie in Verzweiflung hatte sich der Engländer zum Schutze seiner Küsten hier festgekrallt — Belgier, Franzosen, Afrikaner und Asiaten als Lehnsvolk sich pressend. Indem die Verbündeten mit dem Rücken nach England fochten, zeigten sie den Preis des Sieges an. Und die Deutschen hatten ihn begriffen. Wie Sturmflut wälzten sie sich an die Heere der Gegner ’ran — sie zernagend, zerfressend, unterhöhlend, überflutend.
Im Gefolge jener großen Truppenverschiebungen, die diese harten Kämpfe erforderten, kamen auch unsere vier Freiwilligen nach Flandern hinauf. Sie hatten bisher an keiner regelrechten Schlacht teilgenommen. Wie jeder rechtschaffene Soldat wussten sie nichts von den großen und kleinen Plänen, die mit dem Hin und Her der Truppen verfolgt wurden. Aber dass es da oben ums Ganze ging, das wussten sie. Das sahen sie auch an der Unmasse von Verwundeten, die ihnen entgegenströmten.
Sie marschierten eine gerade Chaussee entlang. An der rechten Seite, soweit sie sehen konnten, neue Truppen, Wagen, Geschütze und Munition sich vorwärtsdrängend. Rückwärts flutend auf der linken Seite ein endloses Heer von frisch verbundenen Kriegern. Das Ganze wie eine Maschine — rechts strömte zu, was links abging.
Der Anblick dieses Heerwurms von Verwundeten war erschütternd. Aber erschütternd doch mir für den, der abseits stand. Nicht für die Soldaten, die vorwärts zogen, auch nicht für unsere vier Freiwilligen von der Primanerbank. Sondern so weit waren sie schon: jeder verwundete Arm, jeder blutende Wattekopf, jedes humpelnde Bein ward für sie zu einem neuen Aufschwung. Schnelligkeit, Mut, Kampflust, Selbstbewusstsein, alles wuchs. Grimmige Witze flogen hin- und herüber.
Sie lagen noch drei Tage in der Reserve. Als solche halfen sie die Toten sammeln und beerdigen. Sie taten es alle ohne großes Erstaunen. Beermann und Pens hatten vor dem Kriege überhaupt noch keinen toten Menschen gesehn. Aber jetzt waren ihre Sinne gestählt, ihre Herzen gehärtet. Sie taten es wie selbstverständlich mit ihren ehemals so zarten und jugendlich weichen Händen, die so schnell schmutzig und hart geworden waren. War das nun Natur oder war es bewusste Menschentechnik von höchstem Raffinement? Denn alles wurde ihnen hier draußen selbstverständlich mit der Zeit. So sicher, so Schritt bei Schritt, so ohne sich umzusehen glitten sie in alles hinein. Manchmal hätte man denken können, auch der Tod könnte hier draußen selbstverständlich werden.
Dann eines Abends hieß es plötzlich: Morgen Sturm. Es ging zuerst von Zelt zu Zelt, von Graben zu Graben — leise flüsternd. Um neun Uhr vor versammelter Mannschaft ward es laut bekannt. Der Kommandeur hielt eine kleine Rede. Die schloss mit den Worten: „Denkt an Tsingtau!“ Die Soldaten schrien Hurra. Und alles lief und redete und sang und trank und schrie und putzte, und am liebsten wären sie sofort aufgesprungen. Aber erst gegen drei Uhr morgens sollte es losgehn.
Der Kommandeur ging durch die Kompagnie.
„Kriegsfreiwilliger Pens vor!“
„Zu Befehl, Herr Hauptmann.“
„Sie sind musikalisch und können gut singen?“
„Jawoll, Herr .Hauptmann.“
„Dann werden Sie mir dafür sorgen, Pens, dass morgen das Lied beim Sturme klappt.“
„Jawoll, Herr Hauptmann.“
„Es soll nämlich morgen beim Angriff gesungen werden. Und zwar, Kinder, das alte Lied: Deutschland, Deutschland über alles. Die Kompagnie kann dieses Lied?“
„Jawoll, Herr Hauptmann.“
„Also sofort nach dem Kommando, wenn sich die Kompagnie in Bewegung setzt, beginnt das Lied. Das Lied wird im Takte des Sturmlaufs gesungen. Und es wird immer weiter gesungen — auch ohne Kommando — ihr könnt es meinetwegen noch singen, wenn ihr das schwarze Gesindel schon auf dem Bajonett habt.“
„Jawoll, Herr Hauptmann.“
„Und nun geht schlafen, Kinder, und denkt, dass ihr morgen nicht nur die Kerle da drüben zu vermöbeln habt, sondern auch ein paar Quasselfritzen zu Hause, die sich herausgenommen haben, unsere jungen Regimenter zu beschimpfen. Als ob wir so nicht ganz erste Klasse wären. Zeigt ihnen, Kinder, was ’ne Hacke is. Und schlagt euch, dass auch denen ein für alle Male das Maul gestopft ist. Gute Nacht, Kompagnie“
„Gute Nacht, Herr Hauptmann.“
Nach einer Stunde war alles ruhig.
Die vier Primaner lagen zusammen. Aber sie schliefen nicht. Pens schrieb noch eine Karte. Beermann lag auf dem Rücken und rauchte. Frerichs feilte noch einen kleinen Nagel aus seiner rechten Stiefelsohle. Und Kuhn schnallte seinen Tornister zu. Budde Beermann versuchte zu Pens einen etwas groben Witz zu machen. Aber keiner reagierte drauf. Keiner hatte eigentlich viel Lust zu reden. Aber erst recht nicht, zu schlafen. Beermann ging hinaus und kam zurück:
„Der Mond ist verschwunden. Die Wolken ziehen alles dicht.“
„Wann geht die Sonne auf?“
„Erst spät — ich glaube um sieben Uhr herum.“
„Es ist draußen wie in Macbeth — Kinder — ich sage nichts mehr.“
„Meine Schubert-Partitur ist übrigens neulich beim Schwimmen ziemlich aufgeweicht, und ich habe sie gestern in den Tornister umgepackt. Ist ja auch überflüssig jetzt, wo ich zum Kompagnie-Vorsänger avanciert bin.“
„Na, sei ruhig, Pens — es war sehr nett heute abend — der Alte ist doch ein Prachtkerl. Habt ihr seine Stimme zittern hören, als er sagte: ‚Das alte Lied‘?“
Außer Kuhn hatte es keiner gehört.
„Ja, ja“ — gähnte Beermann — „jetzt geht es auf elf Uhr. Jetzt sind sie zu Hause schon längst zu Bett — Lisbeth, Margret, Frieda, Else. Und die Laternen sind halb ausgedreht — die Brotbeutel an die Türhaken gehängt. In der Alten Bierquelle erhebt sich Pickel zum Heimweg. Aber die andern bleiben noch. — ,So früh schon, Herr Kollege? — ‚Die Pflicht — die Pflicht‘ — ruft Pickel. Aber alle wissen, dass es die Angst vor seiner Alsche ist. Das ist übrigens jetzt ganz sicher festgestellt, hört mal, dass Pickels Pensionäre Margarine zu essen bekommen haben. Ganz fest — Meerfeld hat ein Stück nach Hause geschickt, und seine Mutter hat es untersuchen lassen.“
In diesem Augenblick ließen einige Flintenschüsse ihr knackerndes Geräusch hören. Alles sprang hinaus. Aber es war nichts zu sehen. Vielleicht ein paar Posten-Kugeln, vielleicht der Irrtum einer Patrouille. Aber durch die Flintenschüsse wurden die Vier wieder aufgemuntert, und an die Stelle einer zeitweisen inneren Müdigkeit und Abwehr trat jetzt bei ihnen allen eine Stimmung von aufgeräumter Offenheit, wie sie nur bei Menschen möglich ist, die sehr lange zusammengelebt haben.
Sie redeten jetzt von ihrer Heimatsstadt, als ob sie schon jahrelang von Hause fort wären, von den Schulausflügen und den gelungenen Streichen gegen Pickel und andere unbeliebte Lehrer. Beermann erinnerte an die sommerlichen Radfahrtouren nach Kniephof Holz, zusammen mit den Mädchen der Höheren Töchterschule, und an den missglückten Versuch der beiden Karlsruher Obersekundaner, auf den holsteinischen Wiesen im letzten Winter Schneeschuh zu fahren. So redeten sie vom Hundertsten ins Tausende. Und immer mehr entschwand ihnen die Wirklichkeit ringsum — das Stroh, die lehmigen Wände, die blanken Gewehrläufe, der ganze Krieg. Sie schliefen endlich ein wie Kinder auf dem Schoß der Mutter einschlafen — wenn sie Geschichten erzählt.
Es schliefen außer den vieren noch 37 junge Menschen in diesem Grabenabschnitt — 37 junge namenlose Anfänge. Eine winzig kleine Schar in der großen Zahl, die zwischen Ostende und dein Sundgau lag. Wie winzig klein! Und doch wie viel — wie grenzenlos unendlich viel Mal viel! Leute, bedenkt es: 37 Geburten — 37 Jugendleben — 37 Aufwärtswollen — 37 Schicksalsknoten — 37 Welten — lagen dem Tode dicht auf der Schwelle. Und schliefen.
Alles schlief.
Nur der alte Hauptmann nicht. Dieser lag auf einem alten zerbrochenen Plüschsessel und dachte über den kommenden Tag nach. Denn er war es gewesen, der sich sozusagen verbürgt hatte für dieses junge Regiment. Es waren nämlich Zweifel entstanden, ob die Aufgabe nicht zu schwer, ob das Ganze nicht ein nutzloses Opfer jungen Blutes sei. Aber er hatte sich mit aller Kraft für die Freiwilligen eingesetzt. Und in dem Maße, wie er diese frischen, jungen Kerle liebte — mit seiner ganzen alten Soldatenseele, deren einzige Freude das gehorsame Spiel von jungen Menschenkörpern war — in dem Maße groß war seine Sorge. Er lag und sah jede halbe Stunde nach der Uhr. Die Tritte der Wache hallten. Sonst war kein Sterbenslaut zu hören.
Aber um drei Uhr begann ein Schleichen und Krabbeln, ein fast lautloses Schieben und flüsterndes Sich ordnen. Alles in schwärzester Finsternis. Du sahst keinen Baum und keinen Menschen, kein Feld und keinen Graben. Es war, als gingen die Menschen mit schwarzen Fackeln umher. Du konntest nur manchmal hören: da eine Reihe — und vielleicht auch hier — hier viele und da wenige — da ein Offizier — ein Flügelmann — eine Lücke — hier muss der Hauptmann stehn. Sonst aber nichts.
Und dann versank auch der kleinste Laut — eine atemlose Stille brach an — abgerissene Hirngedanken — Bilder — kurze Reden mit sich selbst — ein Streicheln der Waffe — ein Seufzen — ein Wippen — ein innerliches Jauchzen —. Und dann ein Kommando am rechten Flügel — scharf — hell — blitzhell schwirrt es durch die Stille — ein zweites — ein drittes — ein viertes springt hinter ihm her — noch zittert das letzte Wort in der Stille —. Und dann ein Gesang — ein lufterschütterndes Jauchzen — Deutschland, Deutschland — Vögel flattern kreischend auf — der Boden dröhnt — von drüben kracht der erste Schuss — über alles — eine wandelnde Kirche — ein himmlisch-irdischer Schrei — über alles in der Welt—plötzlich flackern Scheinwerfer über das Feld — du siehst graue Menschen schleichen, sich werfen, aufspringen, klettern, springen, fallen — drüben spritzt aus hundert Läufen blutigrotes Feuer — aber lauter, heller stürmt es flackernd in die Nacht — wenn es stets zum Schutz und Trutze — jetzt klackern die ersten Maschinengewehre — die ersten Schreie brechen ab, vergurgeln, überschlagen sich — seht da den jungen Pens mit blutender Brust — auf allen Vieren kriecht er vorwärts — stöhnend, jubelnd — brüderlich zusammenhält — doch auch die andern wollen nicht schweigen — schon sind die ersten am feindlichen Graben — Beermann und Frerichs, Schulter an Schulter — ein Doppelbajonett — stürzen sie vor — Von der Maas bis an die Memel — und nun beginnt das Ringen und Sterben im Graben, das Schlagen und Würgen, das Zerren und Werfen, Mann gegen Mann, Faust gegen Faust — und klanglos, abgerissen, nur geronnener Atem, keucht es noch im Gewühl — von der Etsch bis an den Belt — Deutschland — das war der Hauptmann, der da fiel — drei Schwarze stürzten tot neben ihm hin — der ist gerächt — aber immer noch von allen Seiten dröhnt es, stöhnt es, leucht es durch das Dunkel — da — plötzlich schreit es irgendwo Hurra — Wie? Was? — Jawohl — Sieg? — Sieg! — Hier? Hier! — Hurra! — Hurra! — und über die blutdampfenden Gräben, über das dunkle Feld, in dem Gestöhn der Verwundeten ein leises Echo weckend — wälzt sich das Lied jauchzend gen Himmel — Deutschland-Deutschland über alles, über alles in der Welt.
Als die Sonne aufging, da flatterte auf den feindlichen Gräben und von dem Kirchturm des Dorfes die Fahne unserer Freiwilligen. Da war ein neues Stück heiligen Bodens von Flandern dem Feinde abgerungen. Und die hurtigen Drähte trugen den Ruhm unserer Jugend in alle Länder. Einen Tag lang sprach Europa von der Tapferkeit der deutschen Jungmannschaft.
Aber von den Tapferen selber hörten nur wenige ihr eigenes Lob. Und von den vier jungen Primanern kein einziger.
Budde Beermann lag mit offener Schädeldecke im feindlichen Graben. Den jungen Pens fand man mit durchschossener Brust dreißig Meter davor — sein Gesicht eine Grimasse. Frerichs hatte ein Zuavenmesser im Leib — seine Fäuste umklammerten wie Eisenring den Hals seines erwürgten Gegners. Der Sohn des Pastors allein sah die Sonne dieses Tages aufgehn. Aber auch er sah ihren Untergang nicht mehr. Gegen Mittag schon starb er dem Arzt unter den Händen.
So starben die vier auf einen Schlag. Sie waren immer beisammen gewesen — nun auch im Tode. Sie waren sehr verschieden — nun waren sie ganz gleich.
Sie waren jung und tapfer — nun waren sie kalt und tot.