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Die Extrafahrt

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Reisen oder Nichtreisen? – Ich hatte eigentlich keine große Lust. Zwar hatte ich Hamburg noch nicht gesehen – eine der interessantesten Städte Deutschlands, wie alle Welt sagt – die größte Handelsstadt des Vaterlands, die Stadt der Millionäre, der sauren Enten und der »Rumstücks« – sieben Stunden von Berlin – es war eine Schmach! Aber ich war den größten Theil des Sommers auf der Reise gewesen, ich sehnte mich nach Ruhe; Arbeiten in Fülle hinderten mich. Ich war sehr unentschlossen. Noch dazu bedurfte die Sache einer raschen Entscheidung. Der Extrazug ging am folgenden Morgen ab; meine Bekannten drängten. Genug, ich ging in unbehaglicher Stimmung nach Hause und überlegte unterwegs.

Es war der letzte August; das Wetter schien schön werden zu wollen. Am Ende waren es ja auch nur ein paar Tage, die ich zu opfern hatte, und dafür das reiche Hamburg, die Pavillons, der Hafen, der Stintfang, Blankenese, vielleicht Kiel und Helgoland! Auf der anderen Seite ein Bedürfniß nach Ruhe, drängende Arbeiten, eine angenehme Aussicht für das nächste Jahr, wenn ich die Reise bis dahin verschob. Ich schwankte und schwankte, und mein Entschluß arbeitete wie die Kurbel einer gehemmten Locomotive, die nicht weiß, ob sie vor- oder rückwärts stoßen soll.

Zu Hause dieselbe Unentschiedenheit. Nun erst noch packen, wenn auch wenig, einige Briefe schreiben, um Einladungen abzulehnen – nein, ich reise nicht! Und doch wieder – einige Tage fort zu sein, frei und ledig in fremder Luft zu athmen, die lange Zeit der Rast und des Winters um ein paar Tage zu betrügen – es bohrte und bohrte fort, heimlich und nervös aufregend, wie das Bohren des Holzwurmes, wie jeder verführerische Gedanke, den uns der Zufall in den Weg wirft. Mag das Loos entscheiden! Kopf oder Schrift!

Ehe ich das Geldstück aus dem Portemonnaie genommen, klingelte es. Es war der Briefträger; er brachte mir einen Brief; ich kannte die Handschrift. Es war das Schreiben eines Freundes aus der Provinz.

»Lieber Freund! In aller Eile und bis auf Weiteres diese wenigen Zeilen. Sie sollen zur Empfehlung einer Dame dienen, die wahrscheinlich morgen ober übermorgen in Berlin eintreffen wird. Sie ist eine der geistreichsten Damen unseres Städtchens. Ich habe sehr angenehme Abende in ihrer Gesellschaft erlebt. Aber nicht meinetwegen sollst Du sie freundlich aufnehmen . . .«

Freundlich aufnehmen? Ich? Aber was in aller Welt geht mich die Dame an? Doch weiter!

»Im Gegentheil, ich denke Dir selbst einige freundliche Stunden zu bereiten, indem ich dieser Dame die Gelegenheit erleichtere, Dich zu sehen. Sie ist eine erklärte Bewundererin Deines Talentes. Sie hat mir offen gestanden, daß sie von Deiner edlen Auffassung des weiblichen Charakters entzückt sei.«

O weh! O weh! Aber weiter!

»Sie wünscht deshalb nichts sehnlicher, als Dich kennen zu lernen, und ich habe ihr natürlich eine so verlockende Schilderung von Dir gemacht, daß ihre Sehnsucht aufs Höchste gestiegen ist. Fürchte nichts! Sie ist kein schwärmerisches Kind mehr, keine Bettina, so wenig wie Du ein Goethe!«

Malitiös! Kein Kind mehr? Um so schlimmer! Wahrscheinlich so eine alte Jungfer von – halt! Ich werde mich hüten, meinen Leserinnen zu sagen, wie weit ich die Grenze hinausrücke, bis zu der das schöne Geschlecht mir gefährlich ist! Weiter! der Kelch muß ausgetrunken werden!

»Sie ist ein verständiges und überlegendes Mädchen, aber zugleich geistreich und gefühlvoll. Daß sie ein Faible für Dich hat, wirst Du ihr wohl am ersten verzeihen. Sie wird sogleich nach ihrer Ankunft Dich aufsuchen oder Dir ihre Adresse schicken. Sie hat in Berlin wenig Verwandte, und diese Wenigen sind alt. Wahrscheinlich wird sie es also mit Dank annehmen, wenn Du sie ins Theater, in die Museen etc. führst. Das Vergnügen, hoffe ich, wird dabei ganz auf Deiner Seite sein . . .«

Weiter las ich nicht. Ich behielt den Brief in der Hand und stand da versunken in schwarze Gedanken.

Dieser Besuch, der Besuch einer alten, sentimentalen Dame, die ich ins Theater führen sollte, weil mein Freund bei ihr Thee getrunken und Butterbrot gegessen – und gerade ich der Auserwählte, der Verdammte! Entsetzlich!

Es mag sein, es ist sogar wahrscheinlich, daß es Autoren giebt, die sich gern ins Gesicht loben lassen Es mag sein, daß es deren sogar giebt, denen selbst das Lob einer alten sentimentalen— Dame angenehm klingt. Es mag auch Autoren geben, die Seelenstärke und Gemüthsruhe genug besitzen, um das Lob, das ihnen ins Gesicht geworfen wird, mit jenem Gleichmuth und jenem Selbstbewußtsein hinzunehmen, die das sicherste Zeichen wahrer Größe sind.

Ich bekenne demüthig, daß ich nicht zu diesen gehöre und daß ich mich noch nicht zur Höhe dieser großen Geister emporgeschwungen. Es ist wahr, daß etwas Lob mich ermuthigt und anregt. Aber es muß mir mit Maß gespendet werden. Und am allerwenigsten kann ich das Lob vertragen, das mir ins Gesicht geschleudert wird, wie eine Düte Confect beim Nachtisch, käme es selbst von der liebenswürdigsten Dame. Ich werde roth, verlegen, stammle einige Worte der Entschuldigung und suche zu verschwinden.

Aber Tadel, ja das ist eine andere Sache! Da gilt es, sich zu vertheidigen, sein Recht zu behaupten. Ich fordere den Tadel heraus, wenn es möglich ist, ich kämpfe mit meinem Gegner, ich suche ihn zu widerlegen, ich finde tausend Entschuldigungs- und Rechtfertigungsgründe, die mir beim Niederschreiben auch nicht im Entferntesten in den Sinn gekommen, und ich bin stolz darauf, wenn mein Gegner sich für besiegt erklärt und mir zugesteht, daß er die Sache nicht von dem hohen objectiven Standpuncte aufgefaßt, auf dem ich, der Schriftsteller – natürlich! gestanden.

Genug, ich hielt den Brief in der Hand, und vor meinem geistigen Auge malte sich die ganze folgende Scene, deren trauriges Opfer ich sein sollte. – — —

Ich halte mich den Tag über zu Hause, ich erwarte die Dame. Bei jedem Klingelzug schrecke ich zusammen, aber ich bleibe; denn wenn ich einmal Ja gesagt, so bin ich ein geduldiges Opferlamm.

Endlich grade in dem Augenblick, in dem ich mich zum Ausgehen angekleidet und in dem ich für diesen Tag glücklich der Gefahr entronnen zu sein glaube, klingelt es noch einmal. Ich öffne selbst.

Da ist sie. Es kann keine Andere sein. Ich erkenne sie augenblicklich. Eine schmächtige, kleine Gestalt, etwas blaß, mit langen, dünnen Locken, mit modernem Hut und überhaupt passabel gekleidet, ein wenig im Geschmacke der Provinz. Schüchtern schlüpft sie durch die Thür, schüchtern, aber unaufhaltsam, wie die Redactrice eines Modejournals, wie ein junger Commis, der zum ersten Male abgesandt, um einen alten hartnäckigen Schuldner zum Zahlen zu zwingen, und der entschlossen ist, zu siegen oder zu sterben.

Habe ich die Ehre, Herrn M. zu sprechen?

Ich bin es selbst, mein Fräulein. Vermuthlich . . .

Herr K. hat Ihnen, wie ich hoffe, von mir geschrieben.

Herr K., ja ganz richtig. Er hat mir . . .

O, mein Herr, es giebt nichts, was die Kühnheit meines Schrittes rechtfertigen könnte! Ich weiß, wie Sie darüber denken werden, aber . . .

O, bitte wollen Sie nicht gefälligst eintreten! – Ich führe sie in meinen Salon, denn ich bin so glücklich einen Salon zu besitzen, einen Miniatur-Salon, in dem eine Gesellschaft von fünf Personen sich bewegen kann, ohne Gefahr zu laufen, die Tische umzuwerfen und die Spiegel zu zerbrechen.

Ach, wie niedlich! reizend! Sollte man es glauben, daß ein Gelehrter an einem solchen Zimmer Behagen finden könnte? Hier würde ja selbst eine Dame glücklich sein!

Sie sieht bewundernd auf das unschuldige Zimmer und richtete dann einen lächelnden Blick auf mich, einen Blick holder Ueberraschung und ungläubigen Zweifels. Sie lächelte überhaupt nur schwach, denn um den Mund zeigten sich bereits einige Falten.

Sie sind zu gütig, mein Fräulein! Aber dies ist nicht mein Arbeitszimmer. Dort allerdings . . .

Ah, Ihr Arbeitszimmer! O, entschuldigen Sie! Aber das muß ich sehen! Die Werkstätte, in der das Rüstzeug solcher Gedanken geschmiedet wird, das Atelier, in dem der Gedanke sich zur Gestalt verkörpert, die enge Clause, in welcher sich der Mikokros – entschuldigen Sie! der Mikrokosmos eines ganzen Universums entfaltet! O, welches ist die Thür?

Aber mein werthes Fräulein, es ist wirklich kein geeigneter Aufenthalt für Damen! rufe ich abwehrend.

O, wir lieben die geniale Unordnung bei großen Geistern! erwidert sie mit einem schmachtenden Blicke und legte die Hand auf den Thürgriff. Darf ich?

Ich zucke die Achseln und weiß nicht, ob ich lachen oder verdrießlich sein soll. Wer kann so vieler Liebenswürdigkeit widerstehen! Sie schlüpft hinein. Ich folge ihr, tief betrübt und schwerathmend, wie ein überführter Verbrecher.

Wie ich voraus gewußt, sieht es unordentlich genug in meinem Zimmer aus. Verschiedene Toilette- Gegenstände und Bestandtheile meines Arbeits-Anzuges liegen in harmloser Unordnung auf denjenigen Plätzen, wohin sie am allerwenigsten gehören.

Aber meine Dame hat keinen Blick dafür.

Himmlisch! Reizend! ruft sie. Gerade so stellte ich mir das Arbeitszimmer eines Dichters vor.

Natürlich. Ich avancire zum Gelehrten, zum Dichter, und bin doch nichts, als ein Novellist. Unterdessen mustert die Dame meine Bücher, meinen Schreibtisch, die Bilder an den Wänden. Dann kehrt sie zu mir zurück. Ich habe unterdessen einen Stuhl für sie frei gemacht. Sie setzt sich. Ich nehme ihr gegenüber Platz mit der Miene eines Mannes, der so eben zehntausend Thaler an der Börse verloren hat.

Gestehen Sie nur, mein Herr, daß Sie mein Benehmen, meine Kühnheit unbegreiflich, unverantwortlich finden.

O, ich bitte, mein Fräulein, im Gegentheil! Es schmeichelt —

Nein, nein, ich weiß wohl, Sie sind zu galant, um mir die Wahrheit zu sagen! Herr K. hat mir gesagt, daß Sie die Galanterie selbst seien. Aber mögen Sie über mich urtheilen, wie Sie wollen, ich mußte dem Drange meines Herzens genügen. Ihre Schilderungen weiblicher Charaktere sind so vollkommen, daß ich den Mann sehen mußte, der uns so wahr beurtheilt und das Edle in unserer Natur so treffend zu schildern weiß. Kein neuerer Schriftsteller —

Aber, mein Fräulein! stammelte ich unwillkürlich erröthend, und es ist mir zu Muthe, als hielte sie mir ein brennendes Licht dicht vor die Augen, und ich müßte fortwährend blinken.

Während dessen verwendet sie keinen ihrer Blicke von mir. Ich fühle mit vollständigster Gewißheit, daß sie meine Toilette und meine sterblichen Gebeine Stück für Stück durchmustert, kritisirt und ihrem Gedächtnisse einprägt. Sie weiß ganz genau – denn das ist die Hauptsache! – daß ich leinene und keine Shirtinghemden trage, welcher Art meine Hemdknöpfchen, meine Manchetten sind, was für eine Cravate ich trage, daß meine Augen zwischen Grau und Braun schillern, daß ich auf der Nase zwei rothe Fleckchen habe et cetera et cetera! Ich sitze wie auf Kohlen, mir wird himmelangst und höllenheiß.

Ich parire ein Dutzend Elogen, die sie mir in Quarten, Terzen, und Primen über Kopf Schultern, Brust und Gesicht schleudert. Dann wendet sich das Gespräch auf Literatur. Meine Dame läßt durchblicken, daß sie Goethe und Schiller kennt – was allerdings jetzt eine Seltenheit ist. Sie fordert mein Urtheil über Geibel, Redwitz, über die Psychographen und tausend andere Dinge. Sie ist entzückt, daß ich in alten Puncten vollständig ihrer Ansicht bin. Endlich läßt sie durchblicken, daß sie selbst Schriftstellerin sei. Sie macht eine verdächtige Bewegung nach einem Täschchen, das sie bei sich trägt.

Mir stehen die Haare zu Berge, und ich werde so blaß, daß sie mich fragt ob mir unwohl sei. Ich versichere ihr, daß mir nie angenehmer zu Muthe gewesen, greife nach meinem Eau-de-Cologne Fläschchen, um doch wenigstens einen freien Augenblick zu haben.

Sie erhebt sich. Ich athme auf. Mit dem Täschchen scheint es doch nichts gewesen zu sein. Sie dankt mir für meine Freundlichkeit und so weiter. Ich werde jetzt in der That galant und freundlich, denn ich hoffe, daß sie nun gehen wird.

Meine Zeit in Berlin ist mir kurz gemessen! sagte sie, ihren Shawl ordnend, mit einem süßen Lispeln und einem abermaligen Kalypso-Blick. Und leider werde ich wenig sehen können. Meine Verwandten hier sind alte Leute, denen ich keine Mühe machen darf. Sie gehen des Abends nie ans. Ich werde also vielleicht nicht einmal das Opernhaus sehen.

Aber weshalb nicht? Haben Sie sonst keine Bekannten?

Gar keine und allein darf man doch nicht gehen.

Ich könnte antworten: Weshalb nicht? Welche Gefahr ist dabei wenn eine Dame allein das Theater besucht, falls sie vielleicht von einem Diener am Ausgange erwartet wird und Geistesgegenwart genug besitzt, um die Nummer ihres Platzes zu finden? Die einzige Gefahr droht ihrem Gehör, wenn sie zufällig in der Nähe des Orchesters sitzt, oder im Schauspielhause das Vergnügen hat, Herrn *** als Helden zu sehen – eine Gefahr, die kein männlicher Begleiter von ihr abwenden könnte!

Aber ich sage das nicht. Ich erinnere mich der Mahnung meines Freundes, und mit einem letzten Aufwand von Kraft biete ich mich als Begleiter an. Sie ist entzückt, lehnt ab, kommt wieder darauf zurück, kann ihr Glück nicht begreifen, meine Liebenswürdigkeit nicht genug bewundern – ich bin für den Abend engagirt, sie empfiehlt sich, ich stoße einen herzbrechenden Seufzer aus und falle in meinen Sessel!

Nein, nein! Ich reise! Schon diese Vision ist zu viel für mich! Fort, fort!

Hoffentlich haben meine geehrten Leser nicht vergessen, daß es nur eine Vision ist, die ich ihnen und mir hier vorgeführt, daß ich noch mit dem Briefe in der Hand brütend über meinem Schreibtisch lehnte. Aber es war eine furchtbare Vision. Klar sah ich mein ganzes Elend vor Augen, ich hörte die Armesünder-Glocke, die dem Delinquenten zum letzten Gange läutete, ich schoß pfeilschnell dem Abgrund des Verderbens zu, wie die drei Indianer dem Niagara-Fall, und wäre meine musicalische Bildung nicht auf einer so niedrigen Stufe, so würde ich meinen Todtengesang dazu gestöhnt und gewimmert haben.

Der Brief zerknitterte sich unwillkürlich in meinen Händen. Aber meine Vision war noch nicht vorüber. Selbstquälerisch fand meine Phantasie ein cannibalisches Vergnügen darin, mir die Hölle, deren Pforten sich für mich öffneten, bis in die kleinsten Einzelheiten zu schildern.

Narziß – d h. der Brachvogelʼsche – sieht sich in der Vision mit einer hübschen jungen Frau auf einem fröhlichen Spaziergange, sie kehren ein in ein lustiges Estaminet, sie tanzen – juchhe! – Narziß fingert den Tact dazu und bricht endlich in ein wahnsinnig-hysterisches Lachen aus.

So – si vis parva componere magnis – sehe ich mich mit meiner Schönen aus der Provinz im Parquet des Opernhauses, in den Museen, unter den Linden – denn sie weiß mich festzuhalten; wie die Dionoea muscipola saugt diese Pflanze der Provinz den letzten Blutstropfen der Geduld aus meiner armen Seele. Arm in Arm wandern wir durch das schöne Berlin, sie vor Freude und Glück strahlend, ich wie eine wandelnde Leiche. Meine Freunde flüstern mir von fern spöttisch zu: – Wen hast du denn da? Ah? wir gratuliren! Aus der Provinz? Desto besser! Geld, viel Geld, Bravo! Hört, hört die große Neuigkeit! M. heirathet fünfzigtausend Thaler und Matthissonʼs Gedichte mit einem italienischen Strohute!

Nein, nein, und dreimal nein! Ich reise! Schon die blose Vorstellung schüttelt mich wie ein Fieberfrost! O, wärst du doch gewesen wo der Pfeffer wächst, mein theurer Freund K.! Ich bin galant, ja ich kann es sein, aber wenn ich will! Welcher Mensch kann mich zwingen, galant zu sein gegen eine Dame, die ich nicht kenne, die ich jetzt schon hasse! es ist bestimmt – ich reise! – — —

Der Brief flog zerknittert in eine Ecke des Zimmers. Ich setzte meinen Hut auf und eilte fort. Es war ungefähr vier Uhr Nachmittags. Ich flog zu dem Weinhändler Murchel, dem einen meiner Reisegefährten.

Murchel, sagte ich zu ihm statt jeder weitern Begrüßung, ich reise mit! Morgen um drei Viertel auf Zehn spätestens treffen wir uns auf dem hamburger Bahnhof.

Famos, alter Junge! rief er vergnügt, aber wie haben Sie sich denn so schnell entschlossen?

Fragen Sie nicht! sagte ich feierlich. Nehmen Sie diese angenehme Fügung des Schicksals mit derselben Seelenruhe auf, als hätten Sie das große Loos gewonnen, und kümmern Sie sich nicht weiter darum. Ich reise!

Aber wollen Sie nicht wenigstens ein Glas Wein trinken?

Ich danke! Morgen um drei Viertel auf Zehn!

Das war nun abgemacht. Ich ging direct nach Hause zurück, um einige Billets an Bekannte zu schreiben, um sie von meiner Abwesenheit zu benachrichtigen.

Unglückseliges Schicksal! Unglückselige Feder! Welche Qualen hast du mir schon bereitet! Kann ich dich denn nie in die Hand nehmen, ohne jenes eigenthümliche Prickeln und Jucken zu empfinden, das mich unwillkürlich zu Thorheiten hinreißt, die ich später bitterlich bereue? Kann ich dich nie aus der Hand legen, ohne eines jener Verbrechen begangen zu haben, entweder gegen die gute Sitte zu verstoßen, oder gegen einen bestimmten Stand, oder gegen ein einzelnes Individuum – für das die weltlichen Gesetze allerdings keine Strafen kennen, das mir aber schon so unsäglichen Kummer bereitet, mein Herz mit tiefster Reue erfüllt und alle Welt gegen mich in Harnisch gebracht hat? Dämon der Feder! Du bist Schuld an allem, was ich verbreche! Nicht ich selbst! Du bist das wahre Elixir des Teufels, du blaue Alizarin-Dinte, die du schmeichlerisch und im blauen Gewande der Unschuld aus der Feder rinnst, um nachher als schwarze Galle mir hohnlächelnd entgegen zu grinsen! Dich klage ich an! Ich hätte nie gesündigt, hätte ich die schwarzen Folgen meiner Thaten sogleich vor Augen gesehen. Dein trügerisches Blau war es, das mich verführte, wie die blaue Fluth den Fischerknaben! Halb zogst du mich, halb sank ich – leider, leider! – freiwillig. Buchdruckerschwärze und Alizarin-Dinte – wenn ich einst gesteinigt werde, so wird die Nachwelt sagen, daß ihr meine Mörder gewesen.

Also – während ich die Briefe schrieb, begann der Dämon der Malice in mir zu hüpfen und zu springen wie ein cartesianisches Teufelchen. Diese Provincial-Schöne – hatte sie mich nicht genug gequält? Hatte ich nicht um ihretwillen die Folter einer entsetzlichen Vision auszuhalten? Und sind die Leiden der Einbildungskraft nicht stärker, als die der Wirklichkeit selbst? Hatte sie mich nicht zu dieser Reise gezwungen? Rache! Rache!

Ich wählte einen feinen Briefbogen mit einem Vergißmeinnicht und gezacktem Rande. Ich tauchte eine neue Feder in die flüssigste Dinte, und ich schrieb einen Brief.

Er lächelte mich noch einmal freundlich an, als ich ihn schloß, um ihn zu couvertiren – so blau, so unschuldig! Ich schloß ihn mit dem Bewußtsein, eine große That vollbracht zu haben, und da mir K. den Namen seiner Freundin nicht mitgetheilt, so adressirte ich: »An die schöne Fremde!«

Unglückseliger Brief! Erbärmlichster, Elendester deines Geschlechts? Was hätte ich darum gegeben – bald, bald nachher! – wenn du nie geboren worden, wenn das Papier, auf das sich deine verderblichen Zeilen niedersenkten, wie Legionen von verwüstenden Krähenfüßen auf eine jungfräuliche Schneedecke – wenn es harmlos; rein und unschuldig geblieben wäre, wie es früher in dem Laden meines Freundes, des Papierhändlers Kitschotutsch, lebte!

Ich rief das Mädchen. Friederike, sagte ich, es wird in diesen Tagen eine Dame kommen aus der Provinz, die eine Empfehlung von Herrn K. bringt und mich sprechen will. Sage ihr, daß ich nach Hamburg gereist und daß der Zeitpunkt meiner Rückkehr höchst unbestimmt sei, da ich mich von Hamburg aus wahrscheinlich einer Expedition nach Binnen-Afrika anschließen würde, und gieb ihr diesen Brief.

Um Gottes willen, Herr M., das ist doch nicht ihr Ernst? Wollen Sie wirklich nach Afrika?

Friederike, erwiderte ich gelassen, das hängt von den Umständen ab. Ich fahre vielleicht auch nur nach Blankenese. Auf jeden Fall gieb der Dame diesen Brief.

Ich bin fest überzeugt, daß Friederike das Wort Blankenese für eine Beleidigung hielt, die ich ganz speciell gegen sie richtete. Weshalb? Das weiß ich nicht. Die Gedanken-Associationen der berliner Dienstmädchen sind manchmal eigenthümlicher Art. Aber daß sie pikirt war, sah ich. Denn sie nahm hastig den Brief, warf mir einen bitterbösen Blick zu und verschwand.

Auch ich verschwand. Der Abend war schön, wie der Tag es versprochen. Ich ging aus. Es war noch hell. Ich schlenderte durch die Straßen, durch den Thiergarten und war um halb zehn Uhr wieder zu Hause.

Herr M., sagte Friederike, als sie mir öffnete, denken Sie sich, die Dame ist schon hier gewesen.

Was, wirklich? rief ich, und zu meiner Ehre muß ich gestehen, daß mir in diesem Augenblicke bereits ein Stich der Reue durch das Herz fuhr.

Ja, ich ließ sie eintreten, berichtete mir Friederike weiter. Ich gab ihr den Brief. Aber weiß Gott was Sie darin geschrieben haben mögen! Denn kaum hatte sie hineingeblickt, als sie ihn hastig zumachte, mir einen finstern Blick zuwarf und aus der Thür ging, ohne Adieu zu sagen.

Ohne Adieu zu sagen? wiederholte ich mechanisch, und wahrscheinlich mit einer Miene, als hätte ich den Lieblingshund einer angebeteten Dame zu Brei zertreten.

Ohne Adieu zu sagen? Allerdings seltsam!

Seltsam fand ich es nun eigentlich nicht, und ich ging gedankenvoll nach meinem Zimmer. Ich ermannte mich jedoch bald. Es ist ihr recht geschehen! murmelte ich in mir selber. Meinetwegen kann sie den Brief drucken lassen, desto besser!

Aber zwischen diesem innern Gemurr flüsterte und wimmerte ein eigenthümliches Adieu! Es wollte nicht aufhören. Es tönte aus allen Ecken, es stand in sichtbaren Tönen überall geschrieben: Adieu, Adieu! Es umwehte mich wie ein Geisterhauch, als ich mich schlafen legte, es rauschte wehmütig in den Bäumen unter meinem Fenster. Ja wohl, Ade, Ade, für immerdar!

Dennoch, so seltsam es meine Leserinnen finden mögen, und so räthselhaft es mir selbst jetzt erscheint, schlief ich sehr bald darüber ein. Ich schlief sogar den Schlaf der Gerechten, obgleich die Last eines furchtbaren Verbrechens auf meiner Brust lag. Ich fühlte weder Alpdrücken noch Herzbeklemmungen.

Aber, bei meiner armen Seele, ich würde sie gefühlt haben, hätte ich den Schleier der Zukunft lüften können! —

Mein leichtes Gepäck war am andern Morgen bald geordnet. Der Hauptgrund zur Reise war nun allerdings fortgefallen. Aber der Entschluß war einmal gefaßt; er mußte ausgeführt werden.

Eine Droschke führte mich in jenem mäßigen Tempo, das vor Gefahr und Ueberstürzung schützt, die Friedrichsstraße hinunter. Sie war bei dem schönen Wetter natürlich offen, und ich hatte Gelegenheit, einen Blick auf eine Droschke vor mir zu werfen, die mir ein holdes weibliches Wesen zu enthalten schien, das der Beachtung ernster, biederer Männer nicht ganz unwerth sei.

Die Droschke vor mir war ungefähr dreißig Schritt von der meinigen entfernt, und ich glaube, daß sich diese Entfernung auch um keinen halben Zoll veränderte, während beide die Friedrichsstraße hinabrasselten.

Die Dame saß auf den Rücksitz, ich konnte sie also deutlich sehen. Ihr Anzug war sehr elegant, verrieth aber jene einfache Bescheidenheit, mit der Damen von gutem Ton sich auf eine so vortheilhafte Weise von allen andern zu unterscheiden wissen, die nur nach Eleganz streben. Sie schien nicht mehr ganz jung zu sein. Sie war in jenem Alter, in welchem ein oder zwei Jahre mehr oder weniger keinen Unterschied machen, in dem das gereifte Weib sich in gleicher Schönheit auf der Sonnenhöhe hält. Ihre Züge schienen mir – soweit ich sie in solcher Entfernung unterscheiden konnte – sehr regelmäßig und so anmuthig ernst zu sein, wie ich es liebte. Ich gestehe es mit dem Freimuth, der alle meine Geständnisse auszeichnet, daß sie einigen Eindruck auf mich machte.

Ich wagte nicht, meinen Operngucker hervorzuholen, den ich auf Reisen immer bei der Hand habe. Das hätte sie aufmerksam machen und beleidigen können. Auch hieraus ersieht man meine grenzenlose Bescheidenheit. Aber ich wappnete meine Augen mit der Sehkraft eines Eifersüchtigen, der seine Geliebte verfolgt, und ich entdeckte auf dem Kutschersitze einen Koffer und zwei Reisetaschen.

Also sie reiste! Ein warmes Gefühl rieselte mir durch das Herz. Vielleicht nach Hamburg, mit dem Extrazuge! O, das wäre göttlich! Ich kenne nichts Angenehmeres, als schon bei Beginn einer Reise ein kleines Abenteuer vor Augen zu sehen. Es ist ungefähr dasselbe, als wenn man vor einem Diner, bei dem man füglich nur Rothwein erwarten durfte, in einem entfernten Zimmer Champagnerkorke knallen hört. Man weiß noch nicht, ob es wirklich welchen geben wird, ob man sich nicht getäuscht hat. Aber eine warme Ahnung durchrieselt das Herz.

Noch war es indessen bedenklich! Die Friedrichsstraße führt auch nach dem Stettiner Bahnhofe. An der Karlsstraße mußte es sich entscheiden. Bogen sie in diese ein, so . . .

Ja, sie bogen ein! Triumph!

Fahren Sie etwas schneller, Kutscher! rief ich, Etwas näher an die vordere Droschke! Aber nicht vorbei!

Der Rosselenker erhob das Instrument, das zum Antreiben der Pferde erschaffen sein soll, und auch wohl wirklich antreibt, wenn es nicht gerade auf animalische Substanzen niederfällt, die absolut für alle Peitschen- und Schicksalsschläge dieser Welt erstorben sind. Aber er ließ es wenigstens niederfallen, und eine starke Einbildungskraft konnte sich geneigt fühlen, an einen schnelleren Trab zu glauben.

Sei dem aber, wie ihm wolle – ich constatirte zu meinem Verdruß eine andere Thatsache. War es Zufall, war es Sympathie – der vordere Gaul schien ebenfalls seinen Trab zu beschleunigen, die Entfernung zwischen den beiden Droschken blieb dieselbe. Ich habe später viel über diese Thatsache nachgedacht und zweifle nicht mehr, daß es Sympathie war. Der vordere Gaul hörte die Schläge und fühlte sie mit. Ich sah sogar, wie er die Ohren schüttelte und den Kopf warf, als hätte er wirklich die Peitsche gefühlt. Mich auf dieses Factum stützend, habe ich später meine Beobachtungen über die Sympathie zwischen Droschkenpferden fortgesetzt und habe gefunden, daß sie nicht nur rührend ist, sondern an die schönsten Züge erinnert, die uns aus der Geschichte unterdrückter und gehetzter irdischer Wesen überliefert worden, ja daß sie die Sympathie gemeinschaftlich leidender Menschen bei Weitem übertrifft. Doch davon ein ander Mal!

Ich ergab mich also in mein Schicksal, überzeugt, daß keine menschliche Kraft den Zwischenraum zwischen zwei sich bewegenden Droschken verringern könne, so wenig wie es möglich wäre, die Erde der Sonne zu nähern. Die Bekanntschaft war meiner Ansicht nach bereits gemacht. Es blieben mir ja vier, fünf, vielleicht sechs Tage, um sie fortzusetzen.

Die Bahnhofs-Uhr mahnte mich überdies zur Eile. Drei Viertel auf zehn Uhr war schon vorüber, und ich Neuling glaubte, der Zug würde wirklich um zehn Uhr abgehen. Ich sprang mit meinem Reisetäschchen aus der Droschke. Meine Unbekannte war schon ausgestiegen. Ihre Gestalt war mittelgroß, so angenehm, wie ich vermuthet. Ein alter Herr und eine alte Dame waren ihre Begleiter, entweder die Eltern oder Verwandte.

Vorn an der Casse empfingen mich meine drei Reisegefährten. Ein entsetzliches Gewühl herrschte in dem sonst so bequemen Raume. Im Nu hatte ich meine Dame aus den Augen verloren und drängte mich der Casse zu.

Zweite Classe? Nicht wahr? rief ich Murchel zu.

Natürlich! antwortete er. Machen sie nur!

Das Billet war gelöst, die Paßkarte producirt. Thörichte Leute! Es gab deren, die im Geheimen murrten, daß man sie auch bei einem Extrazuge vorzeigen müsse. Absichtliche Verblendung! Kann uns das Wohlwollen der Polizei mit einem angenehmeren Talismann beglücken? Kann man sicherer reisen, als im Schutz einer Paßkarte, die uns die sicherste Gewähr bietet, daß welches Unglück auch über uns hereinbrechen möge. eine höhere Hand schützend über uns schwebt? Cook wäre sicherlich nicht erschlagen worden, hätte er sich mit seiner Paßkarte bei den Indianern des Archipels legitimiren können, Franklin würde nicht vergebens gesucht werden, hätte er seine Paßkarte bei Eskimos deponirt und auf diese Weise Identität festgestellt, und ich habe starken Grund, zu vermuthen, daß die glücklichen Erfolge D. Barthʼs zum großen Theil durch den Umstand unterstützt wurden, daß er sich bei Zeiten in den Besitz eines so schätzbaren Amulets zu setzen gewußt. Ueberhaupt habe ich bei dieser Gelegenheit mit Bedauern die moral-philosophische Bemerkung gemacht, daß nur diejenigen über die Paßkarten murrten, die keine hatten, oder bei denen sie nicht in Ordnung waren. Eine traurige Welt!

Nun nach dem Perron! Neues Gewühl, neues Drängen nach guten Plätzen. Endlich sind sie gefunden. Wir sitzen in einem guten Coupé. Gott sei Dank!

Und Gott sei Dank sagen auch meine Leser! Still, Still, keine Schmeicheleien, keine Einwendungen! Ich kenne das menschliche Herz genug, ich habe die Schwäche der sterblichen Natur genugsam durchforscht, um zu wissen, woran ich bin. Und war es übrigens meine Schuld, daß ich nicht eher in das Coupé gelangte? Also keine Schmeicheleien, ich bitte darum! Der Leser kennt meine Ansichten in dieser Beziehung, und ich erlaube mir jetzt, ihm meine Reisegefährten vorzustellen.

Zuerst Herr Murchel, Weinhändler en gros, Inhaber der Firma Gotthold Abraham Murchel u. Comp., zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt, fünf Fuß hoch, drei Fuß im Durchmesser, d. h. nur in der Magengegend, sehr jovial, gutmüthig, wie alle dicken Leute, ehrlich und bieder, mit heller Cravate, heller Weste und modernem Hut, als wolle er unter den Linden spazieren gehen – die lustigen kleinen Augen von angenehmer Aufregung und Erwartung der zukünftigen Dinge strahlend. Diese Zukunft wird auch dazu dienen, die anderweitigen Tugenden Herrn Murchelʼs in das gebührende Licht zu setzen. Gleich vielen großen Männern imponirt er mehr durch seine Thaten, als durch seine Persönlichkeit.

Zweitens Herr Joseph Kitschotutsch, Papierhändler, mit dem eigenthümlichen und einschmeichelnden Beinamen »Vampyr«. Ungefähr vierzig Jahre alt, schlank, mit grauem Haar, dito Bart, und Backen, die immer das Ansehen hatten, als ob sie geschwollen wären, was sie in der That auch waren. Pflanzer-Anzug, d. h. Strohhut, heller Rock und dito Beinkleider. Charakter: ohne hervorstechende Eigenschaften wie es sich für einen Papierhändler ziemt. Besondere Kennzeichen: ahmt den sächsischen Dialekt nach, wenn er guter Laune ist, und unterläßt es nie, sowohl dieses edelste Idiom deutscher Zunge, als die deutsche Muttersprache überhaupt mit Fremdwörtern zu versehen, die zwischen seinen Lippen eine fast unkennbare Gestalt annehmen. Woher er den Namen »Vampyr« erhalten, ist noch bis heute zweifelhaft. Vielleicht haben seine geschwollenen und gerötheten Backen die erste Veranlassung dazu gegeben, vielleicht auch seine eigenen Mittheilungen über sein Vaterland, das südlich von der Donau liegt und bekanntlich die Heimath jener unheimlichen und räthselhaften Classe von Gespenstern ist, die sich bisher mit dem besten Erfolge dem Blicke jedes unparteiischen Beobachters zu entziehen gewußt haben. Möglich ist es auch, daß kleine Kunstgriffe des geschäftlichen Lebens ihm jenen schmeichelhaften Beinamen verschafft. Ich meinestheils war von jeher der Ueberzeugung und bin es heute noch, daß er den Beinamen Vampyr nur von der Gier erhalten, mit der er sich auf jedes Fremdwort stürzte und es bis auf das Blut aussaugte, so wie daß seine geschwollenen Backen nur von den riesenhaften Anstrengungen herrührten, jedes derartige Wort bis zum Unerkennbaren und Unfaßlichen zu zerkneten. Im übrigen harmlos.

Drittens Herr August Friedrich Klapschig, Materialist vom reinsten Wasser, ohne allen Charakter. Seine einzigen bemerkbaren Eigenschaften sind ungefähr vierzig Jahre, seine Aehnlichkeit mit einem Känguruh, wenn er sitzt, und sein zurückgeschobener Hut, der ihm das Aussehen eines verdorbenen Engländers giebt. Seine Existenz in der Welt ist so problematisch, daß er selbst in Verlegenheit sein würde, wenn er sie zufällig beweisen sollte.

Das waren meine Reisegefährten.

Ich sehe mich unwillkürlich genöthigt, hier eine Pause zu machen, um meine Leser sich von ihrem Erstaunen erholen zu lassen. Jetzt brechen die Fragen los!

Wie? Was? Sind das Reisegefährten für einen Schriftsteller, für einen Gelehrten, für einen Dichter (die gewöhnlichen Beinamen, die man uns giebt)? Drei der unbedeutendsten Menschen, die langweiligsten Subjecte, zu denen sich der einfachste Spießbürger nicht inʼs Coupé setzen würde, aus Furcht, vor langer Weile gezwungen zu sein, aus dem Fenster zu springen? Warum wählen Sie sich nicht bessere Gesellschaft, Herr? Wie können sie es wagen, uns mit solchen Leuten ennuyren zu wollen? Weshalb wählen Sie sich nicht geistreiche Leute zu Reisegefährten?

Nur zwei Minuten Geduld! Ich will die Frage beantworten, noch ehe der Zug abgeht, kurz, summarisch.

Ich liebe geistreiche und geistvolle Leute, ich verehre sie, ich bewundere sie. Aber ich gebrauche ihren Umgang wie Medicin, wie starken Kaffee, ich wähle sie selten zu meinen Freunden und nie zu meinen Reisegefährten.

Geistreiche Leute haben immer Schrullen, sind aber selten Originale. Geistreiche Leute wollen immer dominiren, und ich mag nicht gern gehorchen. Geistreiche Leute sehen die Welt nie, wie sie ist, sondern nur durch die Brille ihres vielleicht sehr raffinirten und spirituellen Vorurtheils. Von geistreichen Leuten kann man nur lernen, wie man das Leben nicht auffassen soll. Am unausstehlichsten sind sie auf der Reise. Sie amüsiren sich nicht; sie verachten die harmlose Heiterkeit. Sie haben keinen Drang, etwas zu sehen; denn sie kennen schon Alles. Sie betrachten alle Gegenstände als nur deshalb existirend, um ihr Urtheil darüber abgeben zu können. Sie sprechen an einem Tage zwölf Stunden hinter einander, und am folgenden keine Silbe. Sie loben und tadeln je nach ihrer Laune; denn sie sind fast alle Hypochonder. Sie wollen sich nie Euren Wünschen fügen, und sind mürrisch, wenn eine Wolke am Himmel aufzieht. Gewöhnlich haben sie auch kein Geld.

Deshalb reise ich nie mit geistreichen Leuten. Ich kenne sie aus dem Grunde, denn – ich gehöre selbst zu ihnen. Ja, trotz aller meiner Bescheidenheit erkläre ich, eben so viel Geist zu haben, wie die meisten von denen, die behaupten, sie hätten welchen!

Wenn ich reise, so reise ich mit den Leuten, die mir gerade passend erscheinen. mögen sie sein, wie sie wollen. Der einfachste Seifensieder hat mehr Originalität, als der geistreiche Gelehrte.

Womit ich diesen Gegenstand für erledigt erkläre!

Es ist zehn Minuten über zehn Uhr! sagte Herr Murchel und wischte sich den Schweiß von der Stirn, eine Operation, die er regelmäßig und unter allen Umständen in Zwischenräumen von fünf Minuten wiederholte.

Ei Herr Jäses! So späte schon? rief der Vampyr.

Klapschig, der Materielle, behielt ruhig seine Känguruhstellung, die beiden Hände auf den Regenschirm stützend und mit gleichgültigen Blicken gerade vor sich hinstarrend.

Es könnte losgehen! sagte Murchel, sich aus dem Fenster legend. Hoioh! Conducteur, beilegen!

Ich sah ihn erstaunt an. Die nautischen Kenntnisse des Dicken waren mir noch nie aufgefallen. Auch der Vampyr schien überrascht. Klapschig rührte sich nicht.

Kein Conducteur in Sicht! sagte Murchel, sich zu uns zurückwendend. Und die Locomotive pfeift noch nicht!

Herr Murchel, sagte ich, Ihre Kenntniß der Seemannssprache überrascht mich. Waren Sie auf der See?

Nein, aber wir reisen nach Hamburg, mein Herr, nach Hamburg! antwortete er lustig. Hoioh!

Und Sie haben geglaubt, daß es gut sei, sich ein wenig mit der Sprache der dortigen fremden Völkerstämme bekannt zu machen?

So ist es! antwortete er wohlgefällig. Ich habe den »kleinen Seemann« durchgelesen.

Den kleinen Seemann? Wer ist denn das? fragte ich.

Ein Buch mit Seegeschichten, das mein ältester Junge mit aus der Schule brachte, antwortete der Dicke mit unverwüstlicher Laune. Ich sage Ihnen, meine Herren, die Theerjacken werden Respect vor mir bekommen.

Famos! Dölitschös! lachte der Vampyr, sich die Hände reibend.

Klapschig war noch immer in ernste Gedanken versunken.

Aber ich wünschte, es ginge fort! sagte ich.

Halloh! da ist ein Conducteur! rief Murchel. He, beilegen! Wann stechen wir in See, alter Knabe? Hoioh!

Der Conducteur, der den »kleinen Seemann« noch nicht gelesen haben mochte, war soeben bemüht, zwei Passagiere in das nächste Coupé zu zwängen, und achtete nicht auf Herrn Murchel.

He, Conducteur, wiederholte dieser, gehtʼs noch nicht bald los? Es ist ja ein Viertel auf Eilf!

In einer Viertelstunde vielleicht, mein Herr!

Was! in einer Viertelstunde? Ist das Pünktlichkeit?

Mein Herr, dies ist ein Extrazug.

Das weiß ich! Aber er soll um zehn Uhr abgehen.

Silanz, Murchel! sagte Kitschotutsch. Was wäre denn Extraʼs bei dem Zuge, wenn er pünktlich abführe!

Sie haben Recht, Vampyr! antwortete der Dicke. Und ich denke, wir benutzen die Windstille, um einen Theil unserer Fracht auszuladen! He, Materialist!

Was meinen Sie? fragte der aufgeschreckte Klapschig verstört.

Ich meine, daß wir die erste Flasche Portwein anbrechen, antwortete der Dicke.

Um Klapschigʼs dünne Lippen zog sich etwas, das einen Schmunzeln ähnlich sah und ihm das Aussehen eines lächelnden Häschens gab. Klapschig hatte wirklich ein Hasengesicht auf einem Känguruh-Leibe.

Nun, wie ist es mit Ihnen, junger Jöthe? fragte mich Murchel, mir das kleine Glas hinreichend.

Der »junge Jöthe« – ich bitte den »jungen Goethe« par excellence in Herrn Murchels Namen tausend Mal um Verzeihung! – dachte jedoch in diesem Augenblick an ganz andere Dinge. Eine Viertelstunde Zeit – vielleicht noch länger! – Die mußte benutzt werden.

Verwahren Sie mir meinen Platz, Murchel! sagte ich. Heben Sie mir mein Glas auf. Ich komme sogleich wieder.

Im nächsten Augenblicke war ich auf dem Perron. Es handelte sich darum, meine Unbekannte zu entdecken.

Das war nicht so leicht, wie es scheinen mag. Noch immer stürzten neue Massen von Ankommenden auf die Waggons zu, wie Eisschollen auf eine Brücke.

Mit männlicher Standhaftigkeit erduldete ich den Anprall der Verspäteten, die wie Tiger auf die Waggons losstürzten, und deren Nähe ich erst ahnte, wenn sie mich einige Fuß weit fort und beinahe den Perron hinab geschleudert hatten. Denn meine Augen waren nicht auf die Gefahr, sondern auf den Gegenstand meiner Sehnsucht gerichtet, und ich wünschte mit einem süßbangen Herzklopfen, einer von den Sturmlaufenden möge mich in ein Coupé schleudern, in dem ich mit einem tiefen Seufzer zu den Füßen meiner Unbekannten aus der Betäubung des Sturzes erwachte.

Unterdessen hatte ich die ganze Reihe der Wagen zweiter Classe durchmustert und kehrte zu meinem Ausgangspuncte zurück, als ich – schmähliches Schicksal – meine Unbekannte in demselben Waggon, im anstoßenden Coupé entdeckte.

Ein jäher Schreck – ich hoffte, daß sie ihn bemerken würde! Dann ernste Sammlung. Dicht neben mir war ein eiserner Pfeiler. Ich lehnte mich an denselben, mit der Grazie Damonʼs, der an einen Baum gelehnt die Flöte bläst, und in Ermangelung einer Flöte drehte ich feierlich mit der linken Hand die rechte Spitze meines Schnurrbarts, während meine Augen sich wie glühende Kohlen in die Tiefe des erwähnten Coupéʼs bohrten.

Es war eine Million gegen Eins zu wetten, daß meine Unbekannte mich in dieser Stellung bemerken mußte, um so mehr, da sie dicht neben der Thür saß. In der That richtete sie sogar ihre schönen dunklen Augen mit einem Ausdruck des Befremdens auf mich, senkte sie dann aber sogleich wieder auf den kleinen Sonnenschirm, den sie in der Hand hielt.

Ich hatte das erwartet. Der Augenblick war günstig, und ich holte einen jener tiefen Seufzer aus der Brust, die nach der Ansicht der Novellisten auf jahrhundertlange Leiden deuten und eine täuschende Aehnlichkeit mit jenen schauerlichen Tönen haben sollen, die verdammte Geister ausstoßen, wenn sie durch den Bannspruch eines mächtigen Zauberers gezwungen werden, die geliebten Stätten ihrer nächtlichen und unangenehmen Störungen zu verlassen.

Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß dieser Ton, dem nichts Irdisches mehr eigen war, seine Wirkung nicht verfehlt haben würde – hätte nicht in demselben Augenblick die Glocke das erste Signal gegeben.

Die Extrafahrt

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