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Der Romantische und der Rösige in Rio

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Frank Richter arbeitete als als Lehrer für Geschichte und Geographie an einem Kölner Gymnasium. Er war hochgewachsen und schlaksig, ein introvertierter Leptosom, der sich bemühte, die Zumutungen des Alltags wie unvermeidliche Prüfungen zu ertragen. Zumutungen des Alltags waren: seine missgünstige Nachbarin, die die Korrektheit seiner Mülltrennung überwachte, die Schüler, die die Texte entweder oberflächlich oder überhaupt nicht lasen, sein Facebook-Account, auf dem ihm lauter Ereignisse mitgeteilt wurden, die ihn nicht interessierten, und vieles andere mehr.

Die größte Zumutung seines Lebens aber war die Liebe. Vier Semester lang war er während seines Studiums für das höhere Lehramt mit der rehäugigen Meike zusammen gewesen, hatte ihr die Hausarbeiten geschrieben, regelmäßig ihren alten Volkswagen repariert, die Schränke zusammengebaut, um nach ihrem erfolgreich bestandenen Staatsexamen wegen eines Prädikatsjuristen verlassen zu werden. Meike residierte längst mit ihrem Juristenmann und ihren zwei Juristenkindern in einem prächtigen Juristenhaus am Tegernsee, während Frank Richter noch immer in seinem Zweieinhalbzimmer-Apartment im Kölner Westen lebte. Und zwar alleine, denn nach der rehäugigen Meike hatte es in Franks Leben keine wirkliche Beziehung mehr gegeben. Die Frauen, mit denen er ausgegangen war, hatten ihn deprimiert - zu stark erschien ihm der Kontrast zu seiner Meike, zu gewöhnlich ihr Gehabe, zu berechnend ihre sequentielle Polygamie.

Nachdem er eine Enttäuschung nach der nächsten hatte hinnehmen müssen, ließ er es schließlich ganz. Seine Beziehungen zur Frauenwelt beschränkten sich auf den Kontakt zu seiner älteren Schwester und auf die Grußkarten, die er Meike zu ihrem Geburtstag an den Tegernsee schickte. Immerhin war er gesund und durch seinen Beruf finanziell so abgesichert, dass er der einzigen Passion, die ihm geblieben war, ungehemmt frönen konnte: dem Reisen. Denn Reisen - und waren sie auch noch so beschwerlich - erschienen ihm nicht als Zumutungen, sondern als die Enklave in seinem Leben, in der er die Schönheit und die Erbauung finden konnte, die er daheim vermisste.

Was ihm aber noch fehlte, war Brasilien. Existierten in Minas Gerais nicht die wunderbaren brasilianischen Barockkirchen mit den Werken des begnadeten Aleijadinho? Stürzte nicht im Süden Brasiliens in der Nähe von Iguazu der Größte aller Wasserfälle in die Tiefe, und war Rio de Janeiro nicht die schönste Stadt der Welt?

Sein Kollege und Tennispartner Dr. Eddy Fischer war zweiunddreißig Jahre alt und Studienrat für Deutsch und Sport an der gleichen Schule. Eddy Fischer hatte über „Schillers Theorie des Spiels“ promoviert, hatte an akademischen Hierarchien geschnuppert und wusste immer mit einem klugen Spruch zu glänzen. Schlank und sportlich kam er am liebsten mit seinem Sportfahrrad zur Schule, was seine schüler „cool“ fanden, auch wenn ihm als Lehrer eine gewisse Launenhaftigkeit nachgegesagt wurde.

In der Liebe war er allerdings mehrfach auf die Nase gefallen, so dass er sich zu einem überzugten Single entwickelt hatte, der festen Bindungen nach Möglichkeit aus dem Wege ging. Ehrlicher Sex ohne jedes Tam-Tam, das war sein Ding, und wenn er dafür bezahlen musste, hatte er damit auch kein Problem. Natürlich nicht zuhause, denn das hätte ihn auf den Status eines gewöhnlichen Freiers herabgedrückt, sondern in der Fremde, wo das Gras grüner, das Wetter besser und der Sex eine vollkommen unsentimentale Sache war. In der Patpong Road von Bangkok kannte er sich aus wie in seiner Westentasche, und was die Mabini Street in Manila betraf, konnte ihm keiner was vormachen. China mied er, da gefielen ihm die Frauen nicht, in Japan war es zu teuer, und in Afrika war es ihm viel zu gefährlich.

Aber was war mit Südamerika? Was war mit Brasilien? Nach allem, was er hörte, kam keine Frau an die Brasilianerin heran. Wild und willig, vor allem aber billig, existierte jenseits des großen Teichs ein bisher noch unbekanntes Paradies, das er unbedingt erforschen wollte.

Irgendwann, war es im Lehrerzimmer oder beim Sport, stellten Frank Richter und Eddy Fischer fest, dass sie unabhängig voneinander eine Brasilienreise planten. Spontan beschlossen sie, gemeinsam zu fahren. Dass sie sich in Brasilien in die Quere kommen würden, war nicht zu erwarten, dafür waren sie zu unterschiedlich. Was also sprach dagegen, sich die Reisekosten auf das Angenehmste zu teilen? „Der Rösige und der Romantische fahren nach Rio“, spotteten die Damen im Schulsekretariat, doch Frank und Eddy störte das nicht.

Am ersten Tag der großen Ferien bestiegen sie den Flieger der brasilianischen Fluggesellschaft Varig und flogen nach Rio.

Es war ein unruhiger Flug. Wie alle Südflüge passierte die Maschine eine Klimazone nach der nächsten, und über dem Atlantik musste wegen heftiger Turbulenzen die Essensausgabe verschoben werden.

„Wenn es schon kein Essen gibt, dann kann mir die Stewardess wenigstens einen blasen“, tönte Eddy. Kaum weg von zuhause befleißigte sich der prommovierte Germanist einer derben Diktion, wobei er darauf vertraute, dass im Ausland nicht alles so genau verstanden wurde, was er von sich gab.

Frank waren solche Sprüche peinlich. Er überhörte sie und vertiefte sich in seinen Lonely Planet Guide, seinen Kulturführer und die Texte, die er sich auf seinen E-Reader geladen hatte. Mehrere Artikel warnten vor der hohen Kriminalität in den großen Städten Brasiliens. Über fünftausend Menschen werden jedes Jahr alleine in Rio de Janeiro ermordet. Das war die schlechte Nachricht. Neunzig Prozent davon in den Favelas und im Drogenmilieu. War das eine gute Nachricht? Ganz bestimmt nicht. Auf der anderen Seite war das Land nach diversen Staatsbankrotten und Währungsreformen relativ preiswert. Das war wieder eine gute Nachricht. Außerdem, so vermerkte ein findiger Reiseschriftsteller, fiel der Tourist in Rio nicht so stark auf, weil die brasilianische Bevölkerung einfach keinen vorherrschenden Phänotyp kennt - schwarz und weiß oder gemischt, groß und klein, dick oder dünn, alles kam aus dem gleichen Melting Pot.

Frank schlief ein, träumte einen wirren Traum vom Tegernsee und wachte erst wieder auf, als sich die Maschine schon im Anflug auf Rio befand. Zerfetzte Wolken hingen wie ein zerrissener Vorhang über der Guanabarabucht, die Sonne war gerade aufgegangen und beschien eine bizarr geformte Küstenlandschaft. Zahlreiche Kegelberge, die sogenannten Morros, erhoben sich wie grüne Burgen über einer unübersehbaren Masse grauer Häuser.

Eddy hatte in der Nacht kein Auge zugemacht und sah zerknittert aus. Dankbar nahm er den Kaffee entgegen, den die Stewardess verteilte. Die junge Frau hatte ihre schwarzen Haare hochgebunden, ihr Gesicht war ebenso rund wie ihr Körper. Schutzlos war ihren ihre Rundungen Eddys Blicken preisgegeben. Eddy sah es und fragte: „Du hast dich doch so gut auf unsere Reise vorbereitet. Kennst du denn wenigstens die durchschnittliche BH-Größe der brasilianischen Frau zwischen Zwanzig und Dreißig?“

„Nein.“

„Siehst du, die wirklich wichtigen Sachen kennst du nicht“, sagte Eddy und bat die Stewardess um einen weiteren Kaffee.

Es regnete heftig, als sie nach der Landung und Abfertigung vom Flughafen Santos Dumont in das Zentrum von Rio fuhren. Weite Strandstraßen, auf die der Regen nieder prasselte, dicht bewachsene Kegelberge, von Wolkenfransen umnebelt, Hochhausfassaden, deren Balkone wie Löcher wirkten, durchfeuchtete, ungepflegte Rasenflächen, auf denen Abfallhaufen herumlagen – der erste Anblick einer Stadt im Regen ist selten ein Vergnügen.

Eddy schaute missgelaunt durch die Fensterscheiben, „Wo sind denn all die scharfen Bräute?“ wollte er wissen.

„Die schlafen noch. Es ist doch noch früh.“

Das Hotel „Monte Blanco“ befand sich in an einer belebten Durchgangsstraße im Stadtteil Catete mitten in Rio. Von hier aus war es gleichweit zum Strand von Copacabana wie zu den nördlichen Geschäftsvierteln. Der Rezeptionist war ein drahtiger Mensch mit grauen Schläfenhaaren und einer langen, fleischigen Nase. In einem gutturalen Englisch verlangte er eine Vorauszahlung für die erste Nacht, ihre Ausweise und das Ausfüllen diverser Anmeldeformulare, ehe er die Schlüssel herausrückte. Der Safe, in dem sie ihre Wertsachen verstauten, war in Ordnung, doch in ihrem Zimmer dröhnte der Krach der Rua do Catete durch die geschlossenen Fenster. Dafür war das Bad geräumig, die Matratzen gut, und es existierte sogar ein Balkon, von dem aus man die Straßenhändler und die Prostituierten gleich neben dem U- Bahn Eingang sehen konnte. „Nur hässliche Vögel“, meinte Eddy, als er vom Balkon aus einen Blick auf die Tagesschicht geworfen hatte.

Als sie zu ihrem ersten Rundgang durch Rio aufbrachen, hatte der Regen aufgehört. Übergangslos war die Sonne hinter den Wolken hervorgekommen, vom nassen Asphalt waberten feine Nebelschwaden über die Bürgersteige. Obwohl es noch früh am Tag war, hatten die meisten Geschäfte bereits geöffnet, Stühle und Tische wurden abgewischt, und überfüllte Busse transportierten die Leute zu ihren Arbeitsstätten. Neben einem Parkeingang nahmen die ersten Bettler ihre Positionen ein, die sie den ganzen Tag über gegen andere Bettler verteidigen würden. Aus einer Seitengasse wurde eine mobile Garküche herbeigerollt, die Polizei verscheuchte die Obdachlosen aus den Hauseingängen.

Als Frank und Eddy sich in einem Restaurant ein frühes Mittagessen bestellten, verblüffte sie das Ausmaß der Fleischportionen. Die Riesensteaks lappten über die Tellerränder, von dem Berg Pommes Frites, der auf einem extra Teller mitgeliefert wurde, ganz zu schweigen. Eddy war es recht, denn mit einem Steak verhielt es sich für ihn wie mit einem Geschlechtsverkehr – beides war ihm zu jeder Tageszeit willkommen. Der Saft lief ihm das Kinn herab, als Frank einen kleinen Jungen heranwinkte, der schon einige Minuten vor dem Eingang des Lokals herumschlich. Er sah aus, als könnte er ein halbes Filetsteak gut vertragen.

„Halt“, rief Eddy. „Gib mir den Rest des Filetsteaks. Der Kleine kann mein halbes Rumpsteak haben.“

„Warum hast du dir denn nicht selbst ein Filetsteak bestellt?“

„Das war mir zu teuer. Ich muss die Kröten für die Mädels zusammenhalten“, erklärte Eddy und schaufelte das halbe Filetsteak auf seinen Teller.

Der kleine war auch mit dem halben Rumpsteak zufrieden. Er trug nichts als eine Turnhose und ein Unterhemd, lachte aber über das ganze Gesicht, als er das halbe Steak entgegennahm und flitzte zur nächsten Ecke, wo er die Beute mit zwei Kameraden teilte.

„Was machen wir jetzt?“ fragte Eddy, als sie fertig gegessen hatten. „Der Tag ist noch lang, und für mich geht die Post ohnehin erst am Abend ab.“

„Was du machst, weiß ich nicht, aber ich werde mir jetzt erst einmal einen Überblick über die Stadt verschaffen“, erwiderte Frank. „Du bist herzlich eingeladen, mitzukommen. Es tut nicht weh und macht auch nicht dümmer.“

Eddy machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich bin dabei, aber nur ohne Klugscheißerei.“

Mit Hilfe seines Stadtführers machte Frank schnell die richtige Haltestelle an der Rua do Catete ausfindig. Der Kartenverkäufer, ein kleiner Mulatte von unbestimmbarem Alter, saß als Schaffner auf einem Schemel hinter einer Absperrung.

„Corcovado?“fragte Frank.

„Si, si“ nickte der kleine Schaffner und nannte den Preis der Fahrkarte. Da Frank den Preis für die Fahrkarte nicht verstand, zeigte der kleine Schaffner dreimal alle seine zehn Finger und legte einen seiner beiden nackten Füße auf das schmale Schaffnerpult. Ein Zeh fehlte, es waren nur vier. „Ich glaube, die Fahrt kostet 35 neue Cruzeiros“, meinte Eddy. „Den fehlenden Zeh darfst du nicht abrechnen.“

Die Busfahrt von der Rua Catete zum Corcovado dauerte länger als gedacht, denn die breiten Avenidas verwandelten sich schon einen Block jenseits der Durchgangsstraße in enge Straßenschluchten. Eine endlose Menge von Taxen, Bussen und Motorrädern blockierten die Fahrbahn, und manchmal ging es nur noch schubweise vorwärts. Frank sah von seinem erhöhten Sitz, wie der Besitzer einer großen Limousine, der durch einen Karren an der Ausfahrt gehindert wurde, den Karrenfahrer durch das offene Autofenster beschimpfte. Muskelbepackt und sorgfältig frisiert saß er mit seinem blütenweißen Hemd behäbig in seinem Ledersitz und schien sich an seinen Flüchen zu ergötzen. Der Karrenmann, eine ausgemergelte Gestalt mit einem gelben Gesicht, war barfuß unterwegs. Er trug löchrige, abgerissene Kleidung und streckte dem Wagenbesitzer vor dem heruntergekurbelten Fenster zuerst seine entsetzlich lange Zunge heraus und rotzte ihm anschließend einen vollen Gelben in den Wagen. Von ihrem Busfenstersitz aus konnten Frank und Eddy aus nächster Nähe beobachten, wie eine dicke, konsistente Sputumkugel aus dem zahnlosen Maul des Alten schoss und den Autobesitzer voll am linken Auge traf. Gerade in diesem Moment setzte sich der Bus wieder in Bewegung, und die Szene entschwand aus ihrem Blickfeld.

Nach einer halben Stunde gab der kleine Schaffner mit den neun Zehen Frank und Eddy ein Zeichen, dass sie aussteigen sollten. Schnell fanden sie die Zahnradbahn, die sie von der Talstation zum Corcovado brachte. Über wenig vertrauenserweckende Holzbrücken, durch Tunnel und Kurven ratterte die Schienenbahn im Zeitlupentempo den Berg hoch, bis sie an der Endstation unterhalb des Gipfels stoppte. Nun ging es noch einmal die 220 Stufen einer Marmortreppe empor, ehe die Plattform des Cristo Redentor erreicht war.

Achtunddreißig Meter hoch ragte der segnende Christus samt Sockel über ihnen in den Himmel, und selbst wenn man sich vor dem Monument auf den Rücken legte, bekam man die Statue in ihrer Gesamtheit nicht auf das Kamerabild.

„Wie alt ist diese Statue?“ fragte Eddy. „Das hast du doch bestimmt schon herausgefunden.“

„Nicht so alt, wie man vielleicht glauben möchte“, antwortete Frank. „Sie sollte im Jahre 1922 aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums der brasilianischen Unabhängigkeit errichtet werden. Fertig wurde sie aber erst 1931. Dafür sieht sie aber noch ganz gut aus.“

Die meisten Besucher hielten sich nicht lange am Cristo Redentor auf sondern liefen gleich weiter zur Aussichtsplattform unterhalb der Statue. Tausendfach auf Bildern gesehen, war es doch ein Schock, dass die Panoramaaussicht von der Corcovadoterrasse genauso überwältigend war wie erwartet. Der erste Blick erfasste ganz Rio, die ganze Bucht, die ganze Küste, geradeaus den Pao de Acucar, den Zuckerhut, nördlich von ihm die Strände von Botofago und Flamengo und links davon noch weiter nördlich das Geschäftszentrum und die Niteroibrücke, die die Guanabarabucht überspannte. Südlich des Corcovado waren die Strände von Copacabana und Ipanema zu erkennen und davor wie ein bizarres Meer in der Stadt, der Cariocasee mit dem Botanischen Garten. Das war der erste Blick. Der zweite Blick aber sah mehr, er sah das Blau des Ozeans, der das Gesamtbild im Osten wie ein Rahmen umgab, erkannte die wuchtigen Ausläufer des Tijucamassivs, das sich vom Westen her wie eine steinerne Brandung in die Stadt ergoss. Überall ragten die dicht bewachsenen Morros über die Stadtviertel hinaus, und hellgelb glitzerten die Strände, die in der Ferne wie zarte, dünne Federstriche Land und Meer begrenzten. Frank erinnerte sich an den Golf von Neapel, an Istanbul und den Bosporus, an Hongkong, San Francisco oder die Bucht von Vancouver – alles Höhepunkte menschlicher Siedlungskunst, doch nichts schien diesem Anblick gleichzukommen. Für Frank war es schlichtweg das Schönste, was er in seinem Leben bis dahin gesehen hatte.

So hoch wollte Eddy nicht gehen. Für ihn war es nur der zweitschönste Anblick. Der schönste Anblick an den der sich erinnern konnte, war der Hintern seiner thailändischen Freundin Yona, mit der er im letzten Jahr seine Ferien auf Koh Tau verbracht hatte.

Die zweite Sightseeing-Station des Tages war der Zuckerhut. Wieder bestiegen sie nach einer komplizierten Anreise eine Zahnradbahn und fuhren mit ihr zuerst auf einen kleineren Kegelberg, um dann in eine Gondel umzusteigen, die sie auf das Plateau des 395 Meter hohen Zuckerhutes brachte. Vom Zuckerhut aus war das Panorama nicht ganz so umwerfend wie die Aussicht vom 700 Meter hohen Corvocvado, dafür war er selbst zu sehen, der monumentale Christus hoch über Rio vor der Kulisse des Tijucamassivs. Eine Schönwetterwolke hatte sich wie ein Heiligenschein über den Kopf des steinernen Erlösers gelegt, eine vergängliche Aureole, die an die Verheißung erinnerte, dass die Stadt trotz all ihrer Sünden so lange nicht untergehen würde, wie der Cristo Rendetor auf seinem Sockel stand. Im Südwesten des Zuckerhutes war hinter dem niedrigen Morro do Urubu die Copacabana, der Strand der Strände, aus vierhundert Metern Höhe in seiner kilometerweiten Ausdehnung zu erkennen. Aus der Höhe betrachtet besaß der Strand die Gestalt einer halbmondförmigen Sichel, oder, wie Eddy sofort erkannte, die Form eines weiblichen Hinterteils.

Sie hatten es nicht eilig, den Zuckerhut wieder zu verlassen und setzten sich in ein Café, das eine ausgezeichnete Aussicht auf die Bucht bot. Nun erst war zu erkennen wie riesig die Guanabarabucht war, fast ein Meerbusen mit Inseln und Küsten, die im fernen Dunst verschwommen.

„Die Bucht sieht so aus, als sei sie ein Delta“, meinte Eddy. „Aber hier mündet doch gar kein Fluss, oder?“

„Stimmt, aber es sieht so aus“, erwiderte Frank. „Und genau deswegen nannten die Portugiesen, als sie im Jahre 1502 ihre erste Siedlung an dieser Stelle gründeten, den Ort `Rio de Janeiro´, die Stadt des Januarflusses.“

Eddy nickte, schwieg aber.

„Weißt du eigentlich, warum man die Einwohner von Rio Cariocas nennt?“ setzte Frank nach.

„Nö. Ich weiß noch nicht einmal, dass man sie Cariocas nennt.“

„Carioca ist ein zusammengesetztes Wort aus einer Indianersprache und bedeutet `Cari´, also `weißer Mann´ und `Oka´, das heißt `Haus´, also `weißes Haus´. Die ersten Siedler in Rio wurden von den Indianern als Weiße bezeichnet, die in weißen Häusern leben. Daraus entstand Carioca als Sammelbezeichnung für die Einwohner von Rio.“

„Was für eine lahmarschige Geschichte. So ein Bildungsschrott. Wen interessiert das?“ fragte Eddy.

„Von wegen Bildungsschrott“, widersprach Frank. „Ohne den Begriff des Carioca kannst du Brasilien überhaupt nicht verstehen. Der Carioca, also der Einwohner von Rio, ist der Widerpart des Paulista, des Einwohners von Sao Paulo. Der Carioca ist der Ausgelassene, der sein Leben am liebsten am Strand, beim Fußball oder beim Karneval verbringt - der Paulista ist der Strebsame, der Fleißige, der seine Siebensachen zusammen hält und für morgen vorsorgt.“

„Also bin ich ein Carioca und du bist ein Paulista? fragte Eddy.

Frank zuckte mit den Schultern. „Wenn du so willst. Mach dich ruhig lustig.“

„Ich mach mich nicht lustig, ich frage mich nur, inwieweit solche Kenntnisse das Reiseerlebnis vertiefen. Manchmal kommt es mir so vor, als liefen die Leute mit so vielen Fakten im Kopf herum, dass sie vor Ort nur noch Schablonen sehen“, erläuterte Eddy. „Außerdem wissen wir ja, dass du die wirklich wichtigen Fakten ja überhaupt nicht kennst.“

„Zum Beispiel?“ fragte Frank.

„Ein Beispiel kannst du haben“, erwiderte Eddy. „In welchen Jahren wurde Brasilien zum Beispiel Fußballweltmeister?“

„Was hat das denn mit Rio zu tun?“

„Wieso? Wir sind in Brasilien. Die Antwort kennt doch jedes Kind.“

„Ich kenne sie nicht.“

„Gott, bist du ungebildet“, stichelte Eddy. „Brasilien wurde Fußballweltmeister in den Jahren 1958, 1962, 1970, 1994, und 2002. Das ist schon das zweite Mal, dass ich dich kalt erwische. Das nächste Mal gibst du einen aus.“

Die Avenida Copacabana war eine kilometerlange Prachtstraße direkt am Meer mit breiten Fahrbahnen, großzügigen Parkmöglichkeiten und einem Hochhaushotel neben dem nächsten. Zum Meer hin besaß die Copacabana einen puderweißen Strand, der sich breit und flach von den Kegelbergen in der Nähe des Zuckerhutes bis zu einem Landvorsprung im Süden erstreckte. Als sie die Copacabana erreichten, herrschte tadelloser Sonnenschein, doch der Strand der Strände war für den Badebetrieb gesperrt. Die Unwetter der letzten Tage hatten sich zwar verzogen, aber das Meer war noch immer so unruhig, dass die Brandungswellen ein gefahrloses Baden unmöglich machten. Das war unerfreulich, aber noch viel unerfreulicher war, dass von schönen, braungebrannten Brasilianerinnen nirgendwo etwas zu sehen war. Nur die Garde der Händler, Kuppler und Taschendiebe hatte sich vollständig eingefunden, ohne dass auf Anhieb genau zu erkennen gewesen wäre, wer nun Händler, Kuppler oder Taschendieb war.

Es war schon früher Abend, als Frank und Eddy ins Hotel „Monte Blanco“ zurückkehrten. Eddy war fest entschlossen, nur kurz zu duschen, um sich dann in das Nachtleben von Rio zu stürzen. Wenn schon am Strand nichts lief, in den Bars an der Copacabana würde auf jeden Fall was gebacken sein, verkündete Eddy. „Und dass du mitgehst, bist du mir schuldig“, fügte er hinzu. „Ich habe mir den ganzen Tag Kultur reingezogen. Jetzt ist Action angesagt.“

Leichter gesagt, als getan. In Wirklichkeit steckte ihnen die Zeitumstellung noch in den Knochen. Die Müdigkeit, die sie schon den ganzen Tag wie ein lästiges Gepäck mit sich herumgeschleppt hatten, wurde übermächtig, und als sie sich nach dem Duschen nur kurz auf das Bett legten, schliefen sie sofort ein.

*

Als Frank am nächsten Morgen erwachte, war es noch dunkel. Eddy lag leise schnarchend in seinem Bett. Es war fünf Uhr in der Frühe. Die letzte Stunde der Nacht ging gerade zu Ende.

Frank zog sich leise an und verließ das Zimmer. Im Rezeptionsraum schlief der Angestellte auf einem Sofa, eine Bedienstete hatte im Nebenraum schon damit begonnen, das Frühstück vorzubereiten. Mit einem Kaffee, den er sich an dem Automaten gezogen hatte, ging Frank auf die Straße und setzte sich auf die steinerne Brüstung vor dem Hotel. Im Osten der Rua du Cateche wurde es hell, außer einigen wenigen Taxen waren die Fahrbahnen noch leer. Zwei Nachtschwärmer kamen aus dem Metroeingang und liefen die Straße entlang, ein Taxi hielt und entließ ein Paar, das sofort in einer Seitengasse verschwand. Erst jetzt erkannte Frank, wie viele Menschen in den Hauseingängen schliefen. In dem Hotel auf der anderen Straßenseite gingen die Lichter an, einige Frauen verließen das Hotel und stöckelten davon.

Ein mittelalter Mann trat aus dem „Monte Blanco“. Mit einem Kaffee und einem Stuhl setzte er sich auf die andere Seite der Türe und grüßte. Ein paar Worte, ein Name, er hieß Martin, und war ein Deutscher. Frank schätzte ihn auf gut vierzig Jahre, er war schlank, besaß ein scharf ausgeprägtes Profil und graue, kurzgeschnittene Haare. Ein Polizeiwagen fuhr langsam vorbei, die Beamten blickten misstrauisch auf die beiden Kaffeetrinker vor dem Hotel und fuhren weiter. Martin zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug, lehnt sich zurück und schloss die Augen. Nun gingen auch im Hotel „Monte Blanco“ die Lichter an, der Rezeptionist war endlich aufgestanden. Die Obdachlosen in den Hauseingängen erwachten - war nicht eines der Kinder drüben im Toreingang der Junge mit der grünen Turnhose, der gestern ihr halbes Steak erhalten hatte? Straßenfeger kamen vorüber und kehrten den Unrat von den Bürgersteigen in die Gullys. Die Straßenbeleuchtung ging aus, und langsam, wie bei einem sich einstimmenden Orchester, begann die Kakophonie der erwachenden Stadt. Hupen, Bremsen, Kreischen Klirren und Stimmen übertönten das leise Heulen des Morgenwindes. Ein neuer Tag.

Als Frank in das Hotel zurückging, saß noch niemand im Frühstückszimmer. Auf dem Buffettisch standen Toast, Konfitüre, Eier, Würste und Käse. Martin holte sich einen frisch gebrühten Kaffee und setzte sich zu Frank an den Tisch.

„Wo kommst du her?“ fragte Frank.

„Aus dem Schwarzwald.“

„Und was machst du hier?“

„Willst du das wirklich wissen?“ fragte Martin und sah Frank zweifelnd an.

„Klar, warum nicht?“

Wie sich herausstellte, war Martin ein Eheflüchtling. Eines Tages hatte er von seiner keifenden Gattin und den verzogenen Sprösslingen einfach die Nase voll gehabt. Er hatte seine Konten aufgelöst, war in einen Flieger nach Caracas gestiegen und verschwunden. Ein halbes Jahr war das nun schon her, und wie lange er noch unterwegs sein würde, wusste er nicht. Martin erzählte es langsam, Wort für Wort, konzentriert und ernst, als werde er sich jetzt erst darüber klar, was mit ihm geschehen war.

Inzwischen hatten die ersten Gäste den Frühstücksraum betreten. Leise Musik tönte aus einem Transistorradio neben der Anrichte. Auch Eddy betrat den Raum, studierte das Buffet und setzte sich zu ihnen an den Tisch.

Martin nickte Eddy zu und erzählte weiter. Zuerst sei in den Llanos herumgereist und habe auf den Farmen die Motoren repariert. Davon habe er in Venezuela ganz gut leben können. Dann sei er nach Buenos Aires geflogen und habe in der Pampa das gleiche gemacht. „Argentinien, ein großartiges Land mit einer Scheißregierung“, sagte er. „Und mit den schönsten Frauen des Kontinents.“

„Schöner als die Brasilianerinnen?“ wollte Eddy wissen.

„An die Gaucha kommt niemand heran“, antwortete Martin.

„Und was macht deine Frau daheim? Hast du noch was von ihr gehört?“ fragte Frank.

„Nein, aber die hatte ohnehin einen Liebhaber. Einen Nachbarn, dem die Frau gestorben war. Das muss man sich mal vorstellen. Soll der sich jetzt um Haus und Kinder kümmern. Mich sehen die jedenfalls nie wieder.“

„Und deine Kinder?“

Martin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Zwei Idioten.“

Vier Nordamerikaner hatten am Fenster platzgenommen und begonnen, sich lautstark zu unterhalten. Ein Pärchen saß in der Sitzecke und tuschelte. Zwei weitere Tische waren von Alleinreisenden besetzt, die jeder für sich ihr Frühstück zu sich nahmen, möglicherweise Sextouristen, die gestern Nacht nichts abbekommen hatten und nun mit langen Gesichtern am Frühstückstisch saßen.

Eddy hatte sein Rührei verspeist, dazu mehrere Toast mit Streichkäse. Nun schob er den Teller von sich weg und blickte Martin an. „Hast du nicht einen Tipp für uns? Wo kann man denn hier die wirklich guten Frauen angraben?“

Martin blickte auf ohne eine Miene zu verziehen. „Überall, da brauchst du keinen Tipp. An der Copacabana, in Ipanema, in den Restaurants, in den Bussen. Und besonders ins Zeug zu legen, brauchst du dich auch nicht. Die kommen schon auf dich zu. Allerdings nicht um diese Tageszeit. Da schlafen sie noch oder müssen ihre Kinder versorgen. So richtig los geht es hier erst am späten Abend.“

Martin griff in die Tasche und holte eine Schachtel heraus, aus der er eine Tablette entnahm und schluckte. „Außerdem“, fügte er hinzu, „ist heute der Strand noch immer wegen des unruhigen Meeres für den Badebetrieb gesperrt. Aber morgen soll es besser werden.“

Eine Falte erschien auf Eddys Stirn. „Und was sollen wir jetzt den ganzen Tag machen?“ jammerte er.

„Keine Ahnung, schaut euch die Stadt an.“

„Ich mache das sowieso“, sagte Frank. „Was ist mit dir, kommst du mit?“ fragte er Eddy.

Der zuckte nur mit den Schultern und nickte.

Die Stadtbesichtigung von Rio war kein Vergnügen. Fast alle Gebäude aus der Kolonialzeit waren abgerissen worden. Im Centro nur triste Hochhausfassaden, gesichtslose Straßenzüge und jede Menge Bettler, die die Zugänge zu den Geschäften versperrten. Dann baufällige Kirchen, in die sich in Europa niemand hineintrauen würde, und ein groteskes Weltkriegsdenkmal, das zwei großen Krücken glich. Die berühmten Spiegeleffekte am Palacio Cultura Tower waren nicht zu erkennen, dafür wurden sie Zeugen einer innerstädtischen Verfolgungsjagd von Polizei und Straßendieben. Vor dem Teatro Muncipal, einem Fake der Pariser Oper, gerieten sie in eine Demonstration, die in eine wüste Rangelei ausartete. Weder die Polizei noch die Demonstranten legten sich irgendwelche Zurückhaltung auf, es wurde kräftig zugelangt, und Frank und Eddy machten, dass sie weiterkamen. Von flotten Cariocas, die sambatanzend durch die Straßen hüpften, war nirgendwo etwas zu sehen, dafür hockten die Drogensüchtigen in den Parks, und alte Mütterlein boten Tierföeten vor den Macumbageschäften zum Verkauf an. Die Nova Catedral, Rios zentrale und größte Kirche, die mehr als 20.000 Gläubigen fassen konnte, war leer und sah aus wie ein pyramidales Parkhaus.

Auch Martins Vorhersage, dass sich die schönen Frauen wie von selbst zu ihnen gesellen würden, erfüllte sich nicht. „Langsam verliere ich den Glauben an Rio. Zwei Tage lang ist der Strand gesperrt, und nirgendwo eine gut aussehende Frau“, maulte Eddy.

In Wirklichkeit begegnete ihnen in der Stadt, im Bus oder in der Metro jede Menge attraktiver junger Frauen. Sie befanden sich auf dem Weg zu ihren Arbeitsplätzen oder zur Universität. Sie wirkten selbstbewusst, aber dezent und sahen ganz und gar nicht so aus, als würden sie von sich aus einen spontanen Kontakt zu einem Fremden herstellen. Auf dem Weg zum Arcos de Carioca saßen Frank und Eddy im Bus einer jungen Frau gegenüber, die versonnen aus dem Fenster blickte. Sie hatte lange Wimpern, eine schnurgerade lange Nase, lange Beine und trug ein Amulett an einer langen Kette um den Hals.

„Warum versuchst du es denn nicht einmal hier?“ fragte Frank hämisch.

„Um Frauen anzusprechen, bin ich doch nicht nach Rio gefahren“, kommentierte Eddy. „Hier muss das ganz anders laufen.“

Der Arcos de Caioca war ein nach römischen Vorbildern erbauter Aquädukt aus dem 18. Jahrhundert, der die längste Zeit der Stadtgeschichte die Wasserversorgung Rios sichergestellt hatte. Inzwischen war die knapp zwanzig Meter hohe steinerne Wasserleitung längst außer Dienst und diente nur noch als malerische Brücke für die „Bonde“, eine uralte Straßenbahn, mit der man über den Aquädukt zum Künstlerviertel Santa Theresa fahren konnte. Beim Anblick des Arcos fiel Frank eine Szene aus seinem Lieblingsfilm „Orfeo Negro“ ein, in dem der Straßenbahnschaffner Orfeo mit seiner Geliebten Euridice im offenen Straßenbahnwaggon durch das alte Rio fuhr. „Cancion de Orfeo“ war eine Zeitlang Franks und Meikes Lieblingslied gewesen, und einmal hatte Meike es ihm zu Ehren vor allen Gästen zu seinem Geburtstag gesungen. Wenn er es von heute aus betrachtete, hatte dieses Ereignis den Höhepunkt ihrer Beziehung markiert. Nie vorher und nie nachher war er so glücklich gewesen.

Eddy protestierte, aber Frank bestand darauf, sich in den offenen Waggon zu setzen und wie Orfeo und Euridice mit der alten Straßenbahn über den Aquädukt nach Santa Theresa zu fahren. Aber der Schaffner war noch nicht da, ebenso wenig der Fahrer, und nirgendwo konnte man ein Ticket kaufen. Das war merkwürdig. Anwohner kamen und gingen, hielten ein Schwätzchen, verkauften sich gegenseitig das eine oder andere, ehe sie wieder ausstiegen. Kinder saßen auf der Rückbank und wetteiferten darin, wer den meisten Dreck zwischen den Zehen hatte. Sie hielten sich die kleinen Füße gegenseitig unter die Nase, jauchzten, lachten und hauten wieder ab. Es dauerte eine geschlagene halbe Stunde, ehe Frank und Eddy begriffen, dass die Straßenbahn heute nicht fahren würde, weil es an Strom fehlte und nicht abzusehen war, wann dieser Mangel behoben werden würde.

Die Kirche Nossa Senora da Gloria de Outeira lag hoch über der Praia do Flammengo und galt als die schönste Kirche Rio de Janieros, nicht wegen ihrer Azulejokacheln oder Holzschnitzereien, sondern wegen ihrer Aussicht auf Stadt und Bucht. Frank setzte sich auf die Terrassenbrüstung, sah die Schiffe am Ufer, die Morros und die Favelas, die sich im Westen wie steinerne Geschwüre die Berge hochzogen. Er spürte den warmen Wind, der über die Bucht wehte und versuchte sich für einen Moment den Anblick der Stadt im 18. Jahrhundert vorzustellen. Eine kleine Siedlung zu Füßen der Kegelberge, Fluchtpunkt der portugiesischen Könige vor der napoleonischen Aggression, eine Stadt voller kleiner Alleen, mit Kolonialbauten, Palmenstränden, schon damals traumhaft gelegen aber noch ohne eine Ahnung davon, dass sie sich einmal zur schönsten Stadt der Welt entwickeln sollte. Allerdings besaß diese Schönheit nichts Historisches, es war eine Schönheit, die sich allein in der Gegenwart erschöpfte. Das enttäuschte Frank. Was er bei dem Besuch von Städten so schätzte, die Rekonstruktion ihrer Geschichte hinter der Fassade der Gegenwart, würde ihm in Rio versagt bleiben.

Eddy hatte sich neben Frank auf die Brüstung gesetzt, seine Füße baumelten über dem Boden. „War es das?“ fragte er. „Oder kommt noch irgendetwas Großartiges?“

„Nein.“

„Hätten wir uns das nicht sparen können? Das alte Rio gibt es ja gar nicht mehr.“

„Stimmt leider“, gab Frank zu. „Aber was noch da ist, kann man sich ja wenigstens ansehen.“

„Klar. Warum nicht? Aber mit dem, was Rio wirklich ausmacht, hat dieser alte Kram doch gar nichts zu tun.“ Eddy lehnte sich zurück und wies über das Häusermeer. „Was Rio ausmacht, was es in der ganzen Welt so berühmt macht, ist doch nicht dieses komische Opernhaus oder diese Kirche, sondern seine Lebendigkeit, seine Vitalität.“

„Bist du jetzt ein Rio-Versteher?“ fragte Frank.

„Das weiß ich nicht. Aber vielleicht weiß ich besser als du, wo und wie sich diese Vitalität am ehesten zeigt“, gab Eddy zurück.

„Ich weiß schon. Im Sex.“

„Vielleicht, aber auf jeden Fall im Fußball“ korrigierte Eddy. „Deswegen schlage ich jetzt auch einmal ein Ziel vor. Was hältst du davon?“

„Nur zu, ich bin gespannt.“

„Wir nehmen uns jetzt einmal ein Taxi und fahren zum Maracanậ Station, dem größten Fußballstadion der Welt.“

Als sie das Stadion erreichten, war es geschlossen, doch es war kein Problem, für einige Cruzeiros an den Wächtern vorbei zu kommen und das Innere des Stadions zu betreten. Frank fand den Anblick von der oberen Sitzreihe auf das Stadionrund enttäuschend. Da im Maracanậ-Stadion die in Europa üblichen Tartanbahnen um das Spielfeld fehlten, wirkte das Stadion längst nicht so groß wie erwartet.

„Blödsinn“, meinte Eddy, „Tartanbahn hin, Tartanbahn her. Wir befinden uns hier an einem historischen Ort. In diesem Stadion sahen mehrfach über 175.000 Menschen ein Fußballspiel, das hat es vorher und nachher in der Welt nicht mehr gegeben.“ Begeisert lief Eddy einmal über das Spielfeld, sprang zwischen den Torpfosten hin und her, und stellte sich auf die Stühle, um auch alle Winkel und Ansichten genießen zu können.

Frank hatte sich auf die Treppe gesetzt und beobachtete die beiden Wächter, die sie herein gelassen hatten. Eddys Treiben war ihnen nicht geheuer.

Schließlich kam Eddy zurück und setzte sich neben Frank. „Du hast mir doch gestern etwas von Carioca und Paulista erzählt“

„Daran erinnerst du dich noch?“

„Selbstverständlich. Aber weißt du auch, dass es ein nationales Trauma gibt, das Carioca und Paulista gleichermaßen plagt? Es hat mit diesem Stadion zu tun.“

„Was denn für ein Trauma?“ wollte Frank wissen.

„Im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft von 1950 unterlagen die hoch favorisierten Brasilianer in diesem Stadion vor 175.000 Landsleuten dem Erzrivalen aus Uruguay mit 1:2. Daran leiden die Brasilianer bis heute.“

*

Endlich wurde das Wetter besser. Wolkenloser Horizont über der Copacabana, die Augen taten weh, so weiß glitzerte der Strand in der Sonne. Und auch die Mädels waren da - nicht alle eine Venus, aber fast alle großartig gebaut, braungebrannt und genauso drall wie Eddy es mochte. Fast noch besser sahen die Männer aus. Sie reckten ihre athletischen Körper beim Strandvolleyball, sprangen, liefen, und boten Anblicke prachtvoller Gesundheit im Vollgefühl ihrer Kraft. Für die Frauenwelt in ihrer Umgebung hatten sie kaum ein Auge. Es ging um Sport und Spiel, um Sieg und Niederlage, nur Weicheier machten dabei den Mädchen hinter den Seitenlinien schöne Augen. Sehr gesund, dachte Frank. Sport war Sport, und Liebe war Liebe.

Wie weiß und mickrig sie dagegen aussahen. Eddy kam sich wahrscheinlich stattlich und begehrenswert vor, wie er leicht und locker in seinen Strandshorts durch den Sand lief, aber bei sich selbst hegte Frank erhebliche Zweifel. Eigentlich hatte Frank, abgesehen von Meike, das Äußere nie so wichtig genommen, aber je älter er würde, desto mehr wünschte er sich, er sähe ein wenig attraktiver aus, seine Beine wären etwas kräftiger, sein Oberkörper breiter und seine Arme muskulöser.

Sie suchten sich einen Liegeplatz mitten in der Copacabana, gleich weit vom Zuckerhut wie vom Ipanema-Strand entfernt, legten sich auf ihre Decke und begannen eine Partie Schach.

Der Besitzer eines Erfrischungsstandes trabte heran und offerierte seine Angebote. Ungefragt stellte er sich als Joseph vor, er war von unbestimmbarem Alter, wahrscheinlich schon weit über Fünfzig, hatte ein zerfurchtes Gesicht, eine Glatze und einen wabbeligen Bauch, der gar nicht zu diesem Strand der Schönen und der Gesunden passen wollte.

Eddy winkte ab.

„Wenn ihr keinen Durst habt, vielleicht kann ich den beiden Amiga da vorne einen Drink bringen?“ krächzte er in schlechtem Englisch und wies mit dem Kopf auf zwei junge Frauen, die sich zehn Meter neben ihnen auf ihren Strandmatten räkelten.

Eddy hatte sie natürlich schon längst gesichtet. Aus der Entfernung sahen die beiden verheißungsvoll aus. Alleine und gut gebaut, das musste nicht so bleiben. Eddy nickte, Joseph winkte, und wie auf Kommando erhoben sich die beiden sofort von ihren Matten und kamen herüber. Sie stellten sich vor, kicherten angetan und orderten sofort zwei der teuersten Drinks, die Joseph im Angebot hatte.

Frank war über den Auftritt der beiden nicht begeistert, denn er fürchtete um seine aussichtsreiche Damen-Gambit-Stellung. Allerdings erinnerte ihn eine der beiden, die sich Janina nannte, an Meike vom Tegernsee. Nicht wegen ihrer schlanken Beine, die in einem superkurzen Short verschwanden, nicht wegen des kugelrunden Hinterns und auch nicht wegen der pechschwarze Haare, die ihr lang über die Schulter fielen – sondern wegen ihrer braunen Rehaugen, mit denen sie in unbegreiflicher Unschuld auf das sündige Arrangement blickte, das Joseph einfädelte.

Janinas Freundin hieß Anita. Sie war eine großgewachsene Mulattin mit einem Busen, der so voluminös war, dass er Frank wie eine Köperbehinderung vorkam. Ihr Gesicht glich den Idolen westafrikanischer Gottheiten, der Kopf war langgezogen, die Augen groß und schwarz, und etwas Kraftvolles, Gewalttätiges ging von ihr aus, eine urwüchsige Aura von Körperlichkeit machte sich breit, als sie sich mit ihrem Drink in den Sand setzte.

Eddy schwanden die Sinne vor Begeisterung, er konnte kaum den Blick von Anitas Riesenbrüsten wenden, und Frank hätte es nicht gewundert, wenn er sich im nächsten Augenblick auf sie gestürzt hätte. Er begann allerlei halbgares Zeug zu stammeln, so dass Joseph übersetzen musste.

„Sag den beiden, wir würden gerne mit ihnen woanders hingehen“, befahl Eddy, und Joseph tat wie ihm geheißen.

Anita hörte es ohne sonderliche Überraschung. Sie hatte sich in den Sand gesetzt, öffnete wie zum Einverständnis ihre Beine und erlaubte einen Blick auf ihre Oberschenkelinnenseiten. „Vamos a minha casa“ sagte sie mit so rauher, rauchiger Stimme, dass kein Zweifel aufkommen konnte, was gemeint war.

Frank blickte zu Janina, die neben ihm saß und ihn anlächelte wie ein brasilianisches Schneewittchen. Sie wirkte wie eine geschmackvollere Kopie ihrer dunkelhäutigen Freundin, wie ein erotisches Angebot minderer Dringlichkeit, das ihrem Gegenüber wenigstens eine Wahl zu lassen schien.

„Willst du wirklich mit den beiden in eine fremde Wohnung gehen?“ fragte Frank, im Ton so neutral wie möglich. „Bist du da nicht etwas leichtsinnig?“

Janina und Anita begannen miteinander zu reden und schienen nichts von Franks Einwänden zu bemerken.

„Nicht, wenn du mitgehst“, gab Eddy zurück. „Ich nehme mir diese Anita vor und du hältst die Stellung. Und lass bloß unseren Rucksack nicht aus den Augen.“ Bei diesen Worten nickte er Anita zu und griff ihr in die schwarzen Haare. Sie ließ es geschehen, warf den Kopf zurück, und reckte ihren Atombusen in athletischem Winkel gurrend der Sonne entgegen. „Junge schau dir das an“, lachte Eddy, während er mit seiner Hand ihren Nacken massierte. „Das ist genau das, was ich in Rio suche. Jetzt lass mich bloß nicht hängen.“

Frank schaute sich um, Joseph nickte ihnen aufmunternd zu. Anita rekelte sich noch immer, Janina nippte an ihrem Capirinha, es war entschieden.

Eddy erhob sich und gab das Zeichen zum Aufbruch. Gleichmütig mit ihren Riesenbusen wippend und die Hüfte locker ausschwingend ging Anita vorweg, gleich dahinter Eddy, halb rasend vor Erwartung. Ihnen folgte neutral und freundlich lächelnd die edle Janina, und Frank bildete mit den Wertsachen im Rucksack die Nachhut.

Als sie den Strand verließen und die andere Straßenseite der Avenida Copacabana entlanggingen, winkten die Straßenhändler und Kellner den Mädchen zu. Man kannte sich und wusste, was abging. Alles vollzog sich ohne Heimlichkeit und Scheu, wunderte sich Frank, wie in Houellebecqs Roman „Ausweitung der Kampfzone“, in dem vollkommen Fremde, die miteinander schlafen wollten, sich einfach nur kurz in die Dünen zurückzogen. Nur, dass es hier nicht die Dünen, sondern Apartmentzimmer an der Copacabana waren.

Eddy hatte inzwischen den Arm um Anita gelegt, Beide bewegten sich synchron, das Vorspiel hatte bereits begonnen.

Schon nach wenigen Minuten war ein Hochhaus erreicht, das aus lauter Apartments bestand. Der Eingangsbereich des Hauses wirkte unauffällig, der Aufzug war sauber. Im siebten Stock erwartete sie ein langer dunkler Flur, an dessen Ende sich das Apartment der Mädchen befand. Es bestand aus einem einzigen Raum, einer Art Wohnschlafzimmer mit einem Tisch und zwei Stühlen, einem Bett, einer kleinen Nasszelle und einer Kochnische. Vom Fenster aus sah man die Hochhausfassaden der Nachbargebäude. Durch einen Spalt in der Bebauung war sogar ein Stück Strand zu sehen. Zimmer mit Aussicht an der Copacabana.

Als sich Frank wieder umwandte, sah er, dass Anita bereits den Raum mit einer großen Decke in zwei nicht einsehbare Bereiche aufgeteilt hatte: einen an der Fensterseite, in dem sich das Bett befand, einen zweiten mit Tisch und Kochnische, in der sich Janina zu schaffen machte

Kurz darauf kamen Eddy und Anita nackt aus der Dusche und verschwanden hinter dem Vorhang. Frank sah es, während er auf dem Stuhl saß und auf den Kaffee wartete, den Janina in aller Seelenruhe zubereitete, und konnte nicht glauben, was um ihn herum vorging. Er befand sich in einem völlig falschen Film mit vier unbekannten Hauptdarstellern, von denen der ihm Fremdeste er selbst war. Er hatte seine historische Recherche nach den Ursprüngen Rios viel zu früh aufgegeben, er hätte doch heute noch die Benediktinerabtei von Sao Bento oder das historische Museum besuchen können, stattdessen saß er in einem obskuren Apartment mit einer bildschönen jungen Frau und wartete auf einen Kaffee, während Eddy hinter der Decke seinen Hormonkoller auslebte und keuchte wie ein atemloser Bulle. Frank kannte dieses Keuchen von ihren Tennisduellen und wunderte sich, dass sich das Keuchen beim Vorspiel vom Keuchen beim Grundlinienspiel nicht unterschied. Die Töne, die Anita von sich gab, hatten etwas Dunkles, Gurgelndes. Hoffentlich kam Eddy heil hinter dieser Ecke wieder hervor.

Janina kam mit dem frisch gebrühten Kaffee und zwei Tassen an den kleinen Tisch. Der Cafezinho war pechschwarz. „Lecche?“ frage sie treuherzig. Frank verneinte.

„Yes, yes“, flüsterte Anita hinter dem Vorhang, gefolgt von einem „Baby! Baby! Baby!“ und Geräuschen, als begänne ein Ringkampf zwischen zwei gleichwertigen Gegnern. Die Aufhängung des Bettenrostes begann zu quietschen, eine Lampe wurde umgestoßen. Schmatzen, Klatschen, Körper rubbelten aneinander, Glieder wurden in Stellung gebracht.

„Azucar? “Janina schlug artig die Augen auf und blickte Frank an.

„Du brasilianischer Bomber, jetzt geht es dir an den Kragen!“ rief Eddy. Ein Klatschen folgte, es hörte sich wie eine Ohrfeige an, wobei unklar blieb, wer wen geschlagen hatte. Ein Handgemenge war hinter der Decke in Gang gekommen.

Frank nickte Janina zu und deutet mit zwei Fingern die Menge des Zuckers an, die er in einem Kaffee wünschte. Janina beugte sich über den Tisch und gab zwei Löffel Zucker in Franks Kaffee. Sie kam ihm dabei so nahe, dass er ihr Parfum riechen konnte. Es war süß, zuckersüß und voller Assoziationen. Frank blickte auf und sah ihr aus kürzester Entfernung in die rehbrauen Augen. Meike, bist du wirklich hier, fuhr es ihm durch den Kopf, und er wollte nach Janina greifen, als plötzlich Eddys schrille Stimme ertönte: „Verdammt, das Kondom ist gerissen!“ schrie er. „Los, Frank, gib mir ein anderes.“

Anitas raues Lachen war zu hören, das Gerangel hinter der Decke war zum Stillstand gekommen.

„Woher soll ich denn jetzt ein Kondom nehmen?“ fragte Frank. Janina blickte ihn fragend an und setzte sich wieder.

„Verdammt, im Rucksack rechts befindet sich ein Kondom, hol es heraus und wirf es mir über die Decke.“

Jaina nippte an ihrem Cafezinho und blickte über den Rand ihrer Tasse auf Frank, der im Rucksack herumsuchte. Er fand das Kondom und warf es über die Decke. Ein Kichern quittierte die Lieferung, dann folgte eine Phase gespannter Ruhe. „Jawohl jetzt sitzt er“ jubelte Eddy. „Los dreh dich um, Baby.“

Janina öffnete den kleinen Kühlschrank und holte zwei Stücke Kuchen heraus. Zwei Vanilleschnitten auf einem Teller, den sie auf den Tisch stellte.

Rutschen und Ziehen hinter der Decke, der Endlauf wurde eingeleitet. „Uuuaaah!!“ kreischte Anitas rauchige Stimme, nun schon einige Oktaven höher, dann ertönte ein „Fuck me, fuck me, fuck me“, untermalt wieder von den rhythmischen Geräuschen quietschender Bettenroste.

„Na, gefällt, dir das, du Monster?“ triumphierte Eddy.

„Fuck me, fuck me, fuck me“, heulte Anita weiter, „yeah, yeah, yeah!“

Frank nahm eines der beiden Kuchenstücke von dem Teller und aß es mit dankbarer Miene. Auch Janina biss in den Kuchen, große Zähne wurden sichtbar, weiß hinter rot, dachte Frank, die Farben Polens.

„Ich komme, ich komme“, rief Eddy hinter der Decke. Das Quietschen wurde schneller. Anita röhrte weiter fuckfuckfuckfuckfuck, es klang wie das Rattern einer Maschine, die ihre Umdrehungszahl erhöhte.

„Matchball!“ brüllte Eddy.

„Uuahhh, Uuahhhh!!“ gab Anita zurück.

Janina blickte Frank treuherzig an und fragte „Outro Cafezinho?“ Frank hob die Hand und lehnte dankend ab.

Ruhe im Zimmer. Erschöpfung hinter der Decke. Ratlosigkeit am Tisch.

Janina strich mit der flachen Hand über die Tischplatte, hob den Kopf und schaute Frank an. „Fazer sexo?“ fragte sie und zeigte mit dem Finger zuerst auf ihn, dann auf sich und schließlich auf die Decke.

Frank spürte wie er puterrot wurde. Er schüttelte den Kopf. „Sou casado“, ich bin verheiratet, antwortete er und hoffte, dass sie ihm die Lüge abnehmen würde. Aber es war nicht nur eine Lüge, es war auch eine Blödheit. Nie wieder in seinem Leben würde er einer Frau wie Janina begegnen, nie wieder würde er die Gelegenheit haben, mit einer Frau zu schlafen, die Meikes Augen besaß, die sogar noch viel schöner war als Meike. Aber sie war eben nicht Meike! Wenn er nun mit Janina schlafen würde, wäre das ein Verrat an seiner Liebe. Seine Liebe zu Meike war zwar eine lächerliche Liebe, die keinen außer ihn interessierte, aber es war eine Liebe, die aber ihm allein gehörte und die er unverfälscht behalten wollte.

Er legte seine Hand auf Janinas Arm und blickte sie an. „Danke für das Angebot, du bist sehr schön, aber ich kann nicht.“

Eddy kam aus dem Bad. Er hatte seine Jeans schon wieder angezogen und suchte sein Hemd. „Was ist mir dir?“ fragte er. „Willst du nicht auch hinter die Decke?“

„Nein“

„Bist du sicher?“

„Ja.“ erwiderte Frank. „Und jetzt lass uns abhauen.“

Eddy entlohnte Anita und Frank legte für Kaffee und Kuchen noch was drauf. Anita, frisch geduscht und eingeölt, zählte die Scheine, als erhielte sie ein Geschenk und bedankte sich mit einem Wangenkuss. Janina räumte das Geschirr weg, und winkte Frank zu, als sie die Wohnung verließen.

Es war schon dunkel, als sie nach einer langen Taxifahrt durch den Berufsverkehr das „Monte Blanco“ erreichten. Sie duschten, wechselten ihre Sachen und suchten ein Lokal in der Nachbarschaft, um zu Abend zu essen. Frank stocherte in seinem Salat herum, Eddy aß mit gutem Appetit und zufriedener Miene. Auch der Junge in der grünen Turnhose war mit seinen Freunden wieder da. Aber da Frank kein Steak aß, würde für ihn heute nichts abfallen.

Frank wandte den Kopf ab und blickte zum Fenster heraus. Dass er mit der jungen Frau in dem Apartment nicht geschlafen hatte, entsprach genau seinen Grundsätzen, fühlte sich aber trotzdem falsch an. Eddy schien das zu spüren, aber er schwieg und aß. Draußen war es dunkel geworden, flackernde Lichter überall, Gesichter kamen und gingen, Männer und Frauen spazierten eng umschlungen vor dem Fenster vorüber.

„Schau mal, wer da kommt“, sagte Frank. „Das ist doch dieser Schwarzwälder.“

Martin, ihr Frühstücksgefährte, hatte das Restaurant betreten und blickte sich um. Als er sie sah, winkte er und kam an ihren Tisch. Er hatte Ringe unter den Augen und machte ein missmutiges Gesicht. Das erste Bier stürzte er sofort herunter und bestellte gleich ein weiteres. Als er auch das getrunken hatte, wischte er sich den Mund ab und fragte: „Wie war euer Tag?“

„Ganz entspannend“, entgegnete Eddy. „Wir haben den Tag ganz locker an der Copacabana verbracht. Und bei dir? Wie war dein Tag?“

„Bescheiden.“

„Bescheiden? Darf man fragen wieso?“

„Ich habe eine brasilianische Freundin im Krankenhaus besucht. Sie ist ausgeraubt worden, und weil sie sich gewehrt hat, hat man sie übel zusammengeschlagen.“

„Hier in Rio?“ fragte Frank.

„Ja, in der Gegend von Manguinhos. Das ist im Norden, wo sich diese Volkskirche mit den 365 Stufen befindet. Sie kam vom Einkaufen und wurde von zwei jungen Kerlen angehalten und ausgeraubt. Wahrscheinlich kann sie froh sein, dass sie nicht ermordet wurde.“ Martin schüttelte den Kopf. „So umwerfend diese Stadt auch sein mag, die Kriminalität macht sie noch kaputt.“

„Ist es wirklich so schlimm?“ wollte Frank wissen. „Wir haben bisher noch nichts bemerkt.“

„Du merkst erst etwas, wenn es passiert, das ist ja das Tückische. In Rio herrscht keine Atmosphäre der Angst, das macht die Leute unvorsichtig. Du schlenderst durch die Straßen und im nächsten Augenblick hast du ein Messer im Rücken.“ Martin fuhr sich mit der Hand durch die Haare und steckte sich eine Zigarette an.

„Hast du selbst schon so etwas erlebt?“

„In Salvador de Bahia wurde ich im Busbahnhof überfallen. Ich wollte gerade in die Duschkabine gehen, als mir zwei Kerle eine Pistole an den Kopf hielten und mein Geld wollten.“

„Und? Hast du es ihnen gegeben?“

„Nein, es war eine Wasserpistole, und die beiden waren fast noch Kinder. Ich zog mein Messer, und sie hauten ab.“

„Und hier in Rio?“ wollte Eddy wissen.

„Hier ist mir noch nichts passiert. Wohl aber einigen meiner Freunden und Bekannten. Einer wurde letzte Woche in Santa Theresa ausgeraubt. Die Bahn über den Aquädukt fährt nicht mehr, da ist er zu Fuß gegangen, und in einer Seitengasse ist es dann passiert. Sie haben ihm nicht nur alles abgenommen, was er bei sich trug, sondern auch noch einen Zahn ausgeschlagen, als er seine Sachen nicht schnell genug herausrücken wollte.“

„Wie sieht es denn an der Copacabana aus?“ wollte Eddy wissen „Werden die Touristen da auch ausgeraubt?“

„Kann passieren, aber die Unterweltbosse scheinen inzwischen darauf zu achten, dass gerade in den Touristenzonen nichts allzu sehr aus dem Ruder läuft. Das würde langfristig das Geschäft ruinieren. Aber sicher sein kann man natürlich nicht“, antwortete Martin. „Warum fragt ihr? Wollt ihr da heute Abend noch hin?“

„Nein“, antwortete Eddy. „Für heute reicht es uns.“

*

Am nächsten Morgen wachten sie auf, als es an ihrer Türe klopfte. „Pecueno almoco!“ rief eine weibliche Stimme, es klang leise und lockend „Pecueno almoco!“ Frank öffnete die verklebten Augen. Er hatte geträumt und brauchte einige Sekunden, um sich zu orientieren. Er war wieder mit Meike zusammen gekommen, sie hatten zusammen geschlafen, aber plötzlich hatte Meike kein Gesicht mehr gehabt.

„Da will uns jemand Frühstück aufs Zimmer bringen“, brummte Eddy, der auch wach geworden war. „Hast du Frühstück aufs Zimmer bestellt?“ Seine Haare standen ihm zu Berge, er hatte in der Unterwäsche geschlafen.

„Nein“, antwortete Frank.

Das Klopfen hörte plötzlich auf, und setzte einige Sekunden später an der Nachbartüre wieder ein. Ein Sicherungsriegel wurde zurückgeschoben, und auf der Stelle war die morgendlcihe Ruhe zu Ende. tühle fielen um, Glas klirrte, eine Frau kreischte, ein Mann brüllte, dann ein klatschender Schlag, ein Schrei und Fluchtgeräusche. Irgendjemand rannte in großer Eile die Treppe herunter. Frank lief zum Balkon und sah, wie zwei Gestalten, ein junger Mann und ein Mädchen, aus dem Hotel rannten und über die Straße flüchteten. „Meine Güte, das war ein Überfall“, stieß Frank hervor „Da hauen zwei ab, und andere rennen hinterher.“

Nun waren nebenan wieder Stimmen zu hören. Ein Mann sprach besänftigende Worte, andere Stimmen kamen hinzu. Eddy öffnete die Türe und sah, wie der Rezeptionist mit einem älteren Paar sprach, das vollkommen entgeistert im Türrahmen stand. Der Mann trug einen Pyjama und ein Unterhemd und gestikulierte wild mit den Händen. Seine Gattin, eine verlebte Person mit grauen, strähnigen Haaren, stand neben ihm und weinte. Überall auf der Etage waren die Gäste aufgewacht, hatten die Türe geöffnet, um das Desaster zu sehen.

Als sie nach dem Duschen zum Frühstück herunterkamen, trafen sie auf zwei Polizisten in der Eingangshalle. Einer von ihnen, korpulent, kahlköpfig und von undefinierbarer Hautfarbe, verhörte den Portier, der andere, ein junger Mann mit glatten schwarzen Haaren und tückischem Blick, schaute sich um, ohne Fragen zu stellen.

Martin erzählte, dass offenbar zwei Diebe, ein junges Mädchen und ein junger Mann, mit einem Messer in das Hotel eingedrungen waren. Im ersten Stock hatten sie auf gut Glück mit ihrer Frühstücksnummer an den Türen geklopft, um die Gäste, sobald sie öffneten, zu überraschen und auszurauben. Unklar war, wie sie am Portier vorbeigekommen waren oder ob der Portier mit den Dieben unter einer Decke steckte.

Kurz darauf verließen die Polizisten das Hotel. Sonderlich intensiv recherchiert hatten sie nicht.

Frank, Eddy und Martin holten sich Kaffee, Brot und Konfitüre vom Buffet und setzten sich an den Tisch. „Was macht ihr heute?“ fragte Martin.

„Ich gehe an den Strand“, antwortete Eddy. „Frank geht in die Kirche.“

„Nein, ich gehe heute auch an den Strand“ widersprach Frank. „Es muss auch mal Kulturpause sein.“

„Wollen wir heute Abend zusammen auf die Copacabana gehen? Ich kenne einen guten Laden. Der wird euch gefallen.“

„Gute Idee, ich bin dabei“, stimmte Eddy zu.

„Mal sehen“, meinte Frank.

Eine Stunde später packten Frank und Eddy ihre Strandtasche und fuhren mit dem Bus zur Copacabana. Der kleine Schaffner mit den vier Zehen war wieder im Einsatz und begrüßte sie wie alte Bekannte. Kaum hatten Frank und Eddy ihre Decke an der gleichen Stelle ausgebreitet wie gestern, kam Joseph auch schon herbeigeeilt. Ob denn gestern alles zu ihrer Zufriedenheit verlaufen sei, wollte er wissen.

„Ja, alles wunderbar“, antwortete Eddy.

Und ob sie nicht neue Amigas kennenlernen wollten?

Ehe Eddy antworten konnte, fragte Frank: „Sind denn Janina und Anita auch da?“

Joseph grinste und entblößte eine respektable Zahnlücke. Nein, nein, Anita sei heute geschäftlich unterwegs, gab er zurück, was immer das bedeuten sollte. Und wo Janina stecke, wisse er nicht. Ob er denn nun einen Caipirinha bringen solle oder etwas anderes?

Aber Eddy hatte keinen Durst, und Frank vertröstete Joseph auf später.

Da es noch nicht einmal Mittag war, legte sich Eddy lang auf die Decke, um für den Rest des Tages seine Kräfte zu schonen. Der Nachmittag gestern hatte ihm gut gefallen, und wer wusste, welche Höhepunkte heute noch anstanden.

Frank brauchte seine Kräfte nicht zu schonen. Erotische Abenteuer standen nicht auf dem Programm, Kirchen waren nicht in Sicht, und zum Baden hatte er keine Lust. „Mir ist es zu langweilig, nur hier rumzuliegen“, sagte er, während er aufstand. „Ich laufe mal die Strände entlang. Vielleicht gehe ich sogar bis nach Ipanema.“

„Von mir aus, ich bin hier, und wenn ich wirklich mal weg bin, sage ich einfach Joseph Bescheid“, antwortete Eddy und dreht sich wieder um.

Als Frank seine Strandwanderung begann, fühlte er sich glücklich und frei, ohne zu wissen warum. Der Tag war noch jung, der Wind wehte sachte über den Sand, der Ozean glitzerte, und die wenigen Menschen, die schon zu dieser frühen Stunde an der Copacabana lagen, boten ein Bild des Friedens. Er blickte auf die Galerie der grün bepelzten Morros, die wie freundliche Riesen hinter den Hochhäusern herausragten und nahm sich vor, die gesamte Copacabana und den gesamten Ipanema-Strand bis zur Praia do Vidigal abzulaufen. Vielleicht hatte Eddy ja Recht, vielleicht erschloss sich Rio tatsächlich nicht in erster Linie in seinen Kirchen und Hochhäusern, sondern am ehesten in seinen Menschen, und die hielten sich eben am liebsten an den großen Stränden auf. Vielleicht lief ihm sogar Janina an einem dieser Strände über den Weg. Dass er schon wieder an diese rehäugige junge Frau denken musste, beunruhigte ihn. Andererseits dachte er ja nicht an Janina um Janinas willen, sondern er dachte an Janina, weil sie ihn so fatal an Meike erinnerte. Er durfte auf keinen Fall vergessen, Meike eine Ansichtskarte aus Rio zu schicken.

Nach einer halben Stunde Strandgang hatte sich an der Szenerie, die Frank umgab, kaum etwas geändert – Ozean zur Linken, die Avenida zur Rechten, hinter den Hotelhochhäusern erhoben sich die Morros, alles beschienen von einer tropischen Sonne, vor der heute kein Schatten schützen würde. Ein Erfrischungsstand folgte auf den nächsten, ein Volleyball, ein Fußballfeld, lange Passagen, in denen Familien mit Kindern auf Matten und Liegen lagen. Das Rauschen des Verkehrs vermischte sich mit dem Brausen der Brandung, mit Stimmengewirr und Musikfetzten, die von überall her herüberschallten, eine einlullende Strandsinfonie, auf- und abschwellend, aber immerwährend wie die Brandung des Meeres.

Frank passierte einen Strandabschnitt, in dem vorwiegend homosexuelle Männer ihre Liegen und Decken aufgeschlagen hatten. Manche lagen nackt in der Sonne, andere liefen die Brandung ab und ließen ihr Gemächt im Wind baumeln. Junge Männer umschwirrten alte Knacker, denen die Muskeln erschlafft vom Körper hingen. Ein nackter Mann mit Strohhut saß im Sand und sang ein sehnsüchtiges Lied zur Gitarre, ein anderer Mann, nur mit einem Strandtuch bekleidet, stand vor ihm und bewegte seinen Oberkörper im Rhythmus des Liedes. Dann wieder gemischte Strandzonen mit plärrenden Kindern, Paaren, Freundinnen, die ihre Köpfe zusammensteckten und jungen Männern, die miteinander Karten spielten.

Mehr als einmal kam es Frank so vor, als hätte er Janina gesehen. Einmal war es eine junge Frau, die in die Brandung lief, die ihr bis auf Haar zu gleichen schien. Als sie herauskam, und ihn ansah, blickte er in ein bestürzend fremdes Gesicht. Ein anderes Mal lag eine Pseudojanina eng umschlungen mit einem Strandadonis auf einer Liege, aber gottlob, sie war es nicht. Aber was würde er tun, wenn er sie wirklich treffen würde? Erinnern würde sie sich an ihn, doch nur als den merkwürdigen Kauz, der in ihr Apartment kam und statt dem Sex dem Kaffee frönte.

Inzwischen hatte er fast das Ende der Copacabana erreicht. Der Morro do Cantagaio, der flache Hügel vor der Arpador Halbinsel, der den Copacabana Strand von Ipanema trennte, war schon deutlich zu sehen. Als er sich kurz vor der Arpador Halbinsel in den Sand setzte, um sich auszuruhen, bemerkte er, dass sich ihm einige Männer näherten. Ihr Näherkommen war ungewöhnlich und unverkennbar. Sie kamen ihm nicht in einer Gruppe entgegen, sondern wie ein Netz, einer vorne, einer hinten, einer von der Seite, so dass er bald umzingelt wäre, wenn er sich nicht davon machen würde.

Frank stand auf und ging mit strammen Schritten zur Strandstraße. Die drei zogen weiter, ohne ihn zu beachten.

Auf den ersten Blick kam ihm der Ipanema-Strand schmaler vor als die Praia do Copacabana. Das Publikum war gehobener und die Polizeipräsenz war ausgeprägter, als bedürfe die Oberschicht, die hier zugegen war, besonderer Behütung. Aber das Strandleben war das gleiche: Sehen und gesehen werden, Spielen, Sonnenbaden, Schlafen, sich im Meer erfrischen, Flirten – Männer mit Frauen, Frauen mit Frauen, Männer mit Männern, alte Männer mit Jugendlichen, alles vollzog sich im langsam kreisenden Tageslauf dieses Strandes, ohne dass einer vom anderen Notiz zu nehmen schien. Die Cariocas von Ipanema schienen die Fähigkeit zu besitzen, sich mit ihren Freunden allein zu fühlen, gerade so, als besäßen sie den gesamten Strand nur für sich und als wären die Tausende links und rechts von ihnen gar nicht da. Jeder eine Monade im ewig kreisenden Rad des Lebens.

Als Frank am südwestlichen Ende der Praia do Ipanema den Morro Vidigal und die Häuser an seinen Abhängen erkennen konnte, setzte er sich an den Strand und dachte an Meike. Merkwürdig, dass sie ihm seit Jahren schon keine Karte mehr zu seinem Geburtstag geschrieben hatte, und als sie das letzte Mal zu Besuch in Köln gewesen war, hatte sie ihn noch nicht einmal angerufen. Aber war das überhaupt wichtig? Er hütete ein Bild von ihr, von dem er wusste, dass es der realen Meike nicht entsprach – es war eine Projektion, ein Ideal, doch Ideale waren für ihn keine Hirngespinste. Ideale waren für Frank wie Gartenzäune, um das eigene Leben einzuhegen, um der zu bleiben, der er war. Umso merkwürdiger, dass ihm das Bild Janinas nicht aus dem Kopf ging. Er sah sie genau vor sich, in der Sekunde, in der sie sich vorbeugte, um ihm die Milch einzuschenken - und in dem Augenblick, als sie ihn fragte, ob sie sich lieben sollten. Dass er diese Möglichkeit ausgeschlagen hatte, war richtig gewesen, machte ihm aber unzweifelhaft zu schaffen.

Frank stand auf und warf einen letzten Blick auf Praia do Vidigal und die bunten Häuser, die sich an den Hang des Kegelberges schmiegten. Hier war die Strandzone Rios zu Ende, weiter ging es nicht. Frank dreht sich um, ging zur Bushaltestelle und nahm den Bus zur Copacabana.

Als er zurückkam, erwartete ihn eine Überraschung. Eddy lag genau an der Stelle des Strandes, an der er ihn vor einigen Stunden verlassen hatte und schlief. Ob noch immer, oder schon wieder, wusste Frank nicht. Aber um Eddy herum lagen eine offene Geldbörse, ein Gürtel und ein Buch. Der Rucksack, auf den der schlafende Eddy seinen Kopf gelegt hatte, war geöffnet worden, jemand hatte Eddy bestohlen, und er hatte nichts bemerkt.

Als Frank Eddy an der Schulter rüttelte, wurde Eddy zuerst überhaupt nicht wach. Dann rekelte er sich, bekam kaum die Augen auf und blickte Frank überrascht an.

„Du bist beklaut worden“, stieß Frank hervor und wies auf die Gegenstände im Sand. „Du bist beklaut worden, während du gepennt hast. Wie ist denn so was möglich?“

Frank blickte sich um und sah die gleichmütig in der Sonne brutzelnden Strandnachbarn, eine Familie, einen jungen Mann, zwei mittelalte Frauen. Wie tief auch immer Eddys Schlaf gewesen sein mochte, den Dieb und den Diebstahl mussten alle gesehen haben, und niemand war eingeschritten.

Eddy fasste sich an den Kopf und schien noch nichts zu verstehen. „Herrje, mir brummt der Schädel, ich könnte glatt weiterschlafen. Der Capirinha am Strand bekommt mir nicht.“

Frank sammelte die Sachen auf, die im Sand lagen. Die Geldbörse war leer, einige Meter weiter lag Eddys Hose, durchsucht und achtlos weggeworfen.

Frank reichte Eddy die leere Geldbörse. „Gute Nachricht: der Ausweis ist noch drin. Schlechte Nachricht: das Geld ist weg. Wieviel war denn drin?“

Eddy durchsuchte seine Geldbörse. „Knapp einhundert Dollar. So ein Mist“

Frank sah, dass Josephs Erfrischungsstand nicht mehr da war. „Hast du dir bei Joseph was zu trinken bestellt?“ fragte er.

„Ja, zwei Capirinhas.“

„Und? schmeckten die ein wenig sonderbar?“ fragte Frank.

„Nö, die schmeckten gut, aber nachher war ich natürlich müde und hab mich noch mal aufs Ohr gelegt.“

Was es mit Joseph und seinen Capirinha auf sich hatte, war nicht mehr zu erfahren. Auf eine Anzeige bei der Polizei verzichteten sie. Joseph würde seine Hände in Unschuld waschen. Außerdem würden erhebliche Zweifel an der Zurechnungsfähig eines Touristen aufkommen, der sich mit einhundert Dollar an den Strand der Copacabana schlafen legte. Eddy würde den Polizisten ja schlecht erklären können, dass er das Geld nur für besondere Gelegenheiten mitgenommen hatte.

Als sie ins „Monte Blanco“ zurückkamen, hatte sich Eddy wieder gefasst. Der Diebstahl von einhundert Dollar war zwar ärgerlich, aber nichts wirklich Tragisches. Davon durfte man sich den letzten Abend in Rio auf keinen Fall kaputtmachen lassen. „Aber kein Wort über die Strandsache zu diesem Schwarzwälder“, befahl er.

Martin hatte die Verabredung nicht vergessen. Kaum hatten sie geduscht, klopfte er an ihre Zimmertüre und fragte, ob sie fertig seien.

Eddy hatte sich umgezogen, mit frisch gewaschenen Haaren stand er vor dem Spiegel und legte ein Gesichtswasser auf. Er trug eine frische Jeans, ein sauberes Hemd und zum ersten Mal seine blitzblanken Schuhe. Der Diebstahl vom Strand schien vergessen. „Gehst du mit?“ fragte er.

Frank stand auf und steckte das Hemd in die Hose. „Na gut. Immerhin ist es ja unser letzter Abend in Rio.“

Da sie zu dritt waren, nahmen sie ein Taxi bis zur Copacabana. Martin, der Kettenraucher, Eddy der Herausgeputzte und Frank, der Unschlüssige, der einmal in Rio an der Sünde schnuppern wollte. Für die Aleijadinho-Skulpturen von Congonhas do Campo würde auch in der nächsten Woche noch Zeit sein.

Aber sie waren zu früh unterwegs. In den Straßenlokalen waren fast nur Männer zu sehen – und was das Unangenehmste war: vor allem männliche Touristen, was die Preise treiben würde. „Verdammt“, rief Eddy. „Das ist ja tote Hose. Wo stecken denn all die Weiber?“

Martin schüttelt den Kopf. „Du bist viel zu ungeduldig, lass doch einfach mal die Atmosphäre auf dich wirken. Alles andere wird sich schon finden.“

Im „Bossa Nova“ wurde Martin wie ein alter Bekannter begrüßt. Sie erhielten einen guten Tisch auf der Terrasse und bestellten erst einmal ein Abendessen.

„Ich kann kein Fleisch mehr sehen“, stöhnte Frank. „Was gibt es denn hier sonst noch?“

Eddy und Martin zuckten mit den Schultern und verspeisten ihre Riesensteaks. Zerlumpte Kinder spielten vor dem Restaurant, was keinen zu stören schien, ebenso wenig, dass die Gäste die Fleischstücke, die sie nicht mehr essen konnten, in hohem Bogen den Kindern zuwarfen, als wären es junge Hunde.

Zwei Mulattinnen von undefinierbarem Alter erschienen und setzten sich an den Nebentisch. Gesichter wie Rachegöttinnen, Lederröcke, dicke Beine mit knotigen Knien, Frank mochte gar nicht hinsehen, doch Eddy war Feuer und Flamme und glotzte die beiden Frauen unverhohlen an. Eine von beiden hatte es ihm angetan. Frank hatte keine Ahnung, welche es sein könnte, denn für ihn waren beide gleich hässlich. Es dauert nicht lange, da erhob sich eine der beiden, kam an ihren Tisch und bat um Feuer – leider die falsche. Die andere Frau hatte nach Eddys Schnellanalyse den größeren Busen, und Kompromisse waren heute nicht angesagt. Die und keine andere musste es sein. Die Frau, die an ihren Tisch gekommen war, musste mit ihrer angezündeten Zigarette wieder abziehen. Aber für die andere war es jetzt auch zu spät. Einer der Männer von den Nachbartischen hatte sich schon zu Eddys Favoritin gesellt. Die beiden schauten sich an, taxierten sich, verhandelten kurz und gingen. Die andere trottete mit. Alles vorbei.

„Das ist doch ein Scheißladen“, schimpfte Eddy. „Ist das hier ein Schwulentreff?“

„Junge, Junge, du hast aber Druck auf der Leitung“, bemerkte Martin. „Willst du dir nicht fürs erste auf der Toilette einen runterholen?“

Wieder diese unwirkliche Stimmung, wieder der falsche Film. Frank wünschte, er befände sich jetzt in seinem Hotelzimmer und würde Jorge Amado lesen. Von den leichten Mädchen in Bahia zu lesen, war angenehmer, als ihre Nähe in Rio zu ertragen.

„Ok, wir können ja das Lokal wechseln“, lenkte Martin ein. „An der nächsten Ecke ist das `Carlito´, da ist vielleicht mehr los.“

Als sie das Lokal verließen und weiterschlenderten, wurde es belebter. Die Bürgersteige hatten sich mit Flaneuren gefüllt, die sich im Malsehenwaskommt-Modus vorwärts bewegten. An kleinen Marktständen wurden T-Shirts und Kondome verkauft, eine alte Frau saß auf einem Hocker und bot Horoskope an. Und plötzlich waren auch die leichten Mädchen da. Als wären sie gerade erst zur gemeinsamen Nachtschicht eingetroffen, standen sie von einer Minute zur nächsten auf der Straße, an den Ecken und vor den angesagten Bars und antichambrierten so gut sie konnten.

Ohne Vorwarnung sprang eine grell geschminkte Vierzigerin aus einem Hauseingang heraus, griff Frank rabiat am Arm und röhrte „Super Sex! Super Sex!“ Ehe Frank antworten konnte, griff sie ihm in den Schritt. Es war ein harter, fordernder Griff, der eher an Folter als an Lust denken ließ. Frank riss sich los und rief „Casados, casados“, ehe er leicht trabend flüchtete. Eddy und Martin lachten. Warum musste ausgerechnet ihm das passieren?

Als sie das „Carlito“ erreichten, kam es Frank so vor, als betrete er die irdische Entsprechung von Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“, nicht nur, weil es so viele Gestalten waren, die sich umeinander schlängelten, sondern auch, weil der ganze Anblick etwas Surreales hatte. Über die gesamte Gehfläche war ein regelrechter Kontakthof mit dreißig bis vierzig Tischen aufgebaut, an denen Frauen in allen Alters- und Attraktivitätsstufen saßen, rauchten und tranken, während die Freier sie wie Belagerer umkreisten, ehe sie sich selbst an einen der leeren Tische setzten oder eine Frau ansprachen.

Sofort hatte Eddy die entgangene Gelegenheit aus dem „Bossa Nova“ vergessen. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, als sie sich mitten in den Kontakthof an einen der freien Tische setzten. So mochte ein Goldsucher über seinen Claim blicken, wenn er sicher war, jede Menge Gold gefunden zu haben, dachte Frank. Eddy war angekommen. Aber nicht nur er - da stiefelte auch schon sein Traumweib heran, eine junge Mulattin mit großen, frechen Kinderaugen und Riesenbrüsten, die vor dem Kontakthof kurz verweilte und ihre Blicke kreisen ließ.

„Diese Möpse muss ich heute Nacht noch peitschen“, stieß Eddy hervor, als er sie erblickte. Wie ein wildes, ungezähmtes Tier ging die Auserwählte nun durch die Reihen der Freier, schwenkte ihren stattlichen Hintern wie ein alter Matrose und nahm zwei Tische neben ihnen Platz. Kaum hatte sie ihre Zigaretten herausgeholt, sprang Eddy auf und eilte zu der jungen Mulattin, um ihr Feuer zu geben. Aber ein anderer war schneller, ein gut angezogener krawattentragender Südamerikaner hatte ihr bereits das Feuerzeug unter die Nase gehalten, als die Zigarette noch kaum gezückt war. Zwei Freier im Finish, aber einer mit Krawatte und auch eher am Ort, so dass Eddy schon wieder erfolglos von dannen ziehen musste. Er hatte sich noch nicht wieder den Tisch gesetzt, als die Mulattin und der smarte Krawattenträger bereits aufgestanden waren und gingen. Was für ein Tempo.

Aber da erschien schon die nächste Dame, auf der nach oben offenen Kopulationsskala womöglich noch attraktiver als die soeben Entschwundene. Aus der Entfernung sah sie aus wie eine zweite Anita, schlank in den Hüften, genau richtig in den Schultern und mit üppigen Mutterbrüsten ausgestattet. Ihre Augen waren wie die Suchscheinwerfer eines weiblichen Terminators auf die Tische gerichtet, und da Eddy einfach wie in der Schule den Arm hob, kam sie direkt an den Tisch. Aus der Nähe betrachtet verlor sie allerdings etwas, denn ihre Züge hatten etwas Hartes, die Lippen waren schön geformt, aber schmal, und die großen runden Augen standen ein klein wenig vor, so dass sie Frank vorkam wie ein mächtiger großer schwarzer Frosch, der nun vor ihrem Tisch stand und sich direkt neben Eddy niederließ. Martin nickte nur kurz zur Begrüßung und zündete sich eine weitere Zigarette an. Frank versuchte ein freundliches Gesicht zu machen, wobei er gar nicht wusste, ob das in diesem Umfeld überhaupt erforderlich war. Eddy war am Ziel, denn diese Frau würde ihm nun niemand mehr streitig machen. Er rückte dem schwarzen Frosch auf den Pelz, schaute ihr tief in die vorstehenden Augen und hauchte “You are so nice! You are so charming!“ Wie aus dem Boden gewachsen, stand eine Kellnerin an ihrem Tisch, und der schwarze Frosch bestellte eine große Karaffe Sangria. Die Karaffe kam, vier Gläser wurden eingeschenkt, und man prostete sich zu.

Der schwarze Frosch stellte sich als Silvia vor, „Silvia from Bahia“ rief sie, warf die Arme in die Luft, als sei das ein Grund zum Feiern und trank nach dem ersten Glas noch gleich ein zweites hinterher. Über Frank blickte sie nur kurz hinweg, doch als sie Martin ansah, verzog sich ihr Gesicht zu einem mächtigen, wissenden Lächeln, das sich langsam über ihr Gesicht ausbreitete. „Your Eyes are beautiful“, sagte sie und hob ihr Glas, um Martin zuzuprosten. Eddy fiel das Gesicht herunter, doch Silvia legte noch einen drauf. Ungeachtet der Tatsache, dass Eddy schon bereits halb auf ihr hing, griff sie über den Tisch, berührte Martin am Arm und sagte. „Please, give me a kiss.“

Martin war halb überrascht, halb geschmeichelt. „Tomorrow“, sagte er, morgen.

Nein, sie will den Kuss sofort, und so beugte sich Martin nach vorne und gab dem schwarzen Frosch einen Kuss auf die Wange. Jetzt müsste es einen Knall geben, dachte Frank und anstelle des schwarzen Froschs müsste eine richtige Prinzessin erscheinen. Doch stattdessen zog Eddy eine ellenlange Bittermiene und rückte von Silvia ab. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Doch Silvia entließ ihn nicht aus ihrem Gewahrsam. Ruckhaft zog sie ihn wieder an sich und ermahnte ihn, nicht eifersüchtig zu sein. „Don´t be jealous, my baby, I love you too.“ Nach dieser Mitteilung dreht sie sich zur Bedienung um und bestellte eine zweite Karaffe Sangria.

„Hey, die Frau steht auf mir. Wie wär´s? Wollen wir teilen?“ schlug Martin vor. Er lachte Silvia zu, die ihm ein andeuteten Kuss zuwarf und zugleich Eddy weiter im Schwitzkasten hielt. Der Sangria kam, Frank stand auf und füllte alle Gläser. Für etwas musste er ja gut sein.

„Nein, niemals“ kreischte Eddy und löste sich aus der Umklammerung. „Nein, niemals! Diese Frau nicht!“

Silvia blickte Eddy überrascht an, erkannte am Ton, dass Rivalitäten entstanden waren, aber das konnte ihr nur recht sein. Wieder kippte sie ihr Glas in einem Zug herunter und gab Kostproben ihrer Deutschkenntnisse: „Alles klar“, brabbelte sie. „Keine Probleme“, „Wunderbar“, und „Ich bin geil“.

Martins Miene verdüsterte sich. Er fühlte sich durch Eddys Schroffheit vor den Kopf gestoßen. „Warum willst du nicht teilen?“ fragte er. „Du kannst sie auch zuerst haben.“

Allein der Gedanke schockierte Frank.

„Ich teile jede Frau, aber diese nicht!“

„Na gut, wie du willst“, erwiderte Martin und setzt sich kerzengerade an den Tisch. „Dann wollen wir mal sehen, wer in der freien Konkurrenz die Nase vorn hat.“

Silvia wandte sich Eddy zu: „Whats going on, honey?“ fragte sie.

Eddy riss sich zusammen, schenkte ihr einen Blick aus seinen Mottenkugelaugen und erklärte ihr, dass man sich nicht einig sei.

„No Problem“, antwortete der schwarze Frosch. „I take you both!“

„Siehst du“, triumphierte Martin. „Und nun hab dich nicht so.“

Eddy bekam hektische Flecken im Gesicht. Zu allem Unglück wurde Silvia nun auch noch therapeutisch. „Come on, come on“, beschwichtigte sie Eddy. „Don´t be so serious. I like funny Boys.“

Eddy löste sich aus Silvias Umklammerung, behielt aber den Sinn fürs Kleingeld. „Übernehmt ihr die Sangria?“ fragte er.

„Nee“, meinte Martin, „Die teilen wir durch drei.“

Frank war es egal, ob sie die Sangria durch zwei, drei oder vier teilen würden, denn er hatte plötzlich nur wenige Meter vom Kontakthof entfernt Janina gesehen. Ja, sie war es, sie stand da mit einer Zigarette in der Hand, lässig an einer Häuserwand gelehnt und schien nachzudenken.

Ohne zu überlegen, stand Frank auf, legte zwei Scheine auf den Tisch und sagte „Das ist mein Anteil. Ich bin weg.“

Als er an den Tischen vorüberging und sich Janina näherte, erkannte er, dass sie es wirklich war. Allerdings nicht wie vor einigen Tagen im Strandoutfit, sondern mit einer knapp sitzenden Hose, die ihre Figur betonte, und einer armfreien Bluse mit Ausschnitt. Sie hatte die langen schwarzen Haare zu einem züchtigen Knoten zusammen gebunden, was in dieser Umgebung ebenso unpassend wie auffällig wirkte. Ihre Lippen hatte sie nur ganz leicht geschminkt, der Lidschatten war gerade mal angedeutet, mehr benötigte ihr Gesicht nicht, um zur Geltung zu kommen. Sie war die Unschuld schlechthin, inmitten der Huren Babylons, der Goldgroschen in einem Sack voller Blech, und wer nicht gewusst hätte, was sie wirklich war, hätte sich fragen können, was sie hier wollte.

„Hallo“, grüßte Frank, als er vor Janina stand und blickte sich dabei selbst über die Schultern. Das letzte Mal, dass er eine Frau auf der Straße angesprochen hatte, war schon Jahre her, und damals war es ein Desaster gewesen.

Janina schaute ihn mit ihren rehbrauen Augen freundlich an. Sie erkannte ihn, wusste aber zunächst nicht, woher. Schließlich schien sie sich zu erinnern und schmunzelte. „Hallo“, sagte sie und hob leicht die Hand, mit der sie die Zigarette hielt.

Frank zeigte auf das Lokal und lud sie zu einem Drink ein. Sie nickte, ging in das Lokal und setzte sich an die Bar. Während Frank ihr folgte, sah er, dass Martin und Eddy noch immer am Tisch saßen und stritten. Der schwarze Frosch saß daneben und trank die dritte Karaffe leer.

An der Bar war es etwas ruhiger als draußen. Nur einige Paare saßen vor ihren Drinks am Tresen, während die Kellner und Kellnerinnen überfüllte Tabletts mit Cocktails, Wein, Whisky oder andere harte Getränke heraustrugen.

Frank bestellte einen Weißwein, Janina nahm einen Cocktail und bedankte sich mit einem Kopfnicken. Da sie kein Wort Englisch sprach und er kein Portugiesisch, redete Frank einfach Deutsch und versuchte, seine Worte so mit Gestik zu untermalen, dass sie ihn verstehen konnte.

„Ich finde dich wunderbar“, begann er, während sie ihm in die Augen sah. „Du gehörst zu dem Schönsten, was ich jemals gesehen habe.“ An seiner Stimme merkte sie, dass er ihr schmeichelte, sie lächelte und nickte, sagte aber nichts.

„Du hast die Augen der Frau, die ich geliebt habe, aber du hast noch viel mehr“, fuhr er fort und beugte sich vor. Auch Janina beugte sich vor, er hätte sie küssen können, doch er sprach weiter. „Du hast Anmut und Würde, du hast natürlichen Takt und einen unfassbar schönen Körper. Du bist der Traum, den jeder Mann träumt und der nie in Erfüllung geht.“

Janina stellte ihr Glas auf den Tresen und legte die Hände in ihren Schoß.

„Ganz gleich, wovon du lebst. Ganz gleich, was du an den Stränden machst, für mich bist zu das Wunderbarste und Aufregendste, was ich in dieser Stadt gesehen habe.“ Nun nahm er doch ihre Hand. Sie war warm, und sie zog sie nicht weg. „Ich bin glücklich, dich wieder gefunden zu haben.“

„Vamos a minha casa?“ fragte sie leise, und dieses „Gehen wir zu mir?“ klang ganz anders als Anitas Einladung gestern am Strand der Copacabana. Es klang wie ein Geschenk, eine Gabe, eine Gnade, und er nickte.

Martin und Eddy machten lange Gesichter, als sie Frank und Janina aus der Bar herauskommen sahen. Der schwarze Frosch blickte gar nicht mehr auf, er war inzwischen so abgefüllt, dass sich heute kaum noch etwas Wichtiges ereignen würde.

Als sie durch die Straßen gingen, griff Janina nach seiner Hand. Nun, wo sie nebeneinander gingen, erkannte er, dass sie fast so groß war wie er selbst. Er spürte ihre Nähe, er roch ihr Parfum, er genoss den Geruch ihrer Haare. Kaum hatten sie die Copacabana verlassen, wurden die Straßen enger und dunkler, doch Frank spürte keinerlei Angst. Irgendwie war alles egal in dieser Nacht, alle Moralurteile hatten ihre Kraft verloren, es zählte nur noch der Augenblick, den er mit dieser Frau erleben würde.

Das Apartment, das sie im siebten Stock betraten, sah genauso aus wie beim letzten Mal. Nur dass es diesmal ganz ohne Decke und Kaffee abging. Kaum hatten sie das Zimmer betreten, begannen sie sich zu lieben, unverstellt und hingebungsvoll, voller Zeit und Fülle. Zum ersten Mal seit Jahren war Franks Kopf dabei wie ausgeschaltet, seine ewig kreisenden Gedanken waren zur Ruhe gekommen. Alles an ihm war Körper, und sein Körper funktionierte wie von selbst. Auch sie war zärtlich, und als sie zusammenkamen und er ihre Augen unüberbietbar nahe vor sich hatte, spürt er, wie er frei wurde.

Sechs Geschichten über die Liebe unterwegs

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