Читать книгу Anekdoten frommer Chaoten - Adrian Plass - Страница 11
FÜNF
ОглавлениеLieber Adrian,
okay, ich weiß, ich bin eigentlich nicht an der Reihe. Aber Deine herrliche Beschreibung der »kreativen Gnade« hat die Erinnerung an einen der bewegendsten Momente meines Lebens geweckt, als jemand viel Mühe auf sich nahm, um mir auf kreative Weise liebevolle Freundlichkeit – die die Wurzel der Gnade ist – zu erweisen.
Dieser Jemand war mein Vater. Er war betroffen und aufgebracht, als ich als Teenager Christ wurde. Im Rückblick kann ich es ihm nicht verdenken. Er dachte vermutlich, ich hätte meine Seele irgendeiner merkwürdigen Sekte überschrieben, und sah meine Bekehrung als einen Verrat an meiner Kinderstube. Traurigerweise muss ich zugeben, dass er für mich alsbald zu einem evangelistischen Projekt wurde. Ich war so erpicht darauf, ihn mit der himmlischen Nachricht bekannt zu machen, dass ich ihm das Leben zur Hölle machte. Er ließ meine drängenden Monologe geduldig über sich ergehen, lächelte freundlich und sagte mir, er mache sich Sorgen, dass ich mein Leben an einen Mythos verschleudern könnte. Er hatte es selbst im Leben nicht leicht gehabt, und ihm lag viel daran, dass ich meines nicht vergeudete. Mit neunzehn Jahren in der afrikanischen Wüste in Gefangenschaft geraten, saß er in italienischen und deutschen Kriegsgefangenenlagern und sah seine Jugend vor sich hinfaulen, bis er, zu einer Verzweiflungstat gedrängt, die Flucht ergriff, um seiner Hinrichtung zu entgehen, sich seinen Weg quer durch Deutschland bahnte und es kurz vor dem Ende des Krieges schließlich nach Hause schaffte. Ich habe viel über jene vier Jahre nachgedacht, in denen er ständig dem Hungertod nahe war; gesprochen hat er nie viel über diese schrecklichen Tage. Gelegentlich ließ er sich dazu drängen, von der einen oder anderen Begebenheit zu erzählen, aber wie er sich dabei fühlte , darüber redete er mit mir nie. Manchmal frage ich mich, warum, Adrian. Sperrte er manche Emotionen weg, um all dem Grauen und der Ungewissheit nicht wieder begegnen zu müssen? Oder sind spätere Generationen nur gesprächiger geworden und vielleicht ein bisschen zu erpicht auf Verarbeitung?
Was er mir immerhin sagte, war, dass er nach all dem Schrecklichen, das er im Krieg gesehen hatte, nie wieder an Gott glauben könne. Zwanzig Jahre nach dem Beginn meiner ungestümen evangelistischen Bemühungen (und nicht als ihre Folge, sondern wohl eher ihnen zum Trotz) wurde mein Vater endlich Christ – das ist eine andere Geschichte. Hier soll es genügen, wenn ich sage, dass es ein wunderbar glücklicher Tag war.Von nun an wurde dieser recht viktorianisch geprägte Mann viel milder und konnte seine Liebe zu mir sehr offen ausdrücken. Dann traf ihn ein schwerer Schlaganfall. Er hatte schon immer gern geredet und hatte eine Meinung zu allem. Nun jedoch konnte er nur noch endloses Kauderwelsch von sich geben. Ich erinnere mich an lange Telefonate mit ihm, bei denen er unentwegt brabbelte und ich dazu nickte und grunzte und zustimmte, bis wir beide anfingen zu weinen – Tränen waren die einzige gemeinsame Sprache, die uns geblieben war –, weil wir wussten, dass wir uns nicht miteinander verständigen konnten und wahrscheinlich nie wieder dazu in der Lage sein würden. Die Ärzte hielten es für unwahrscheinlich, dass er seine Sprache je wiedergewinnen würde. Ihre Vermutung bestätigte sich. Der junge Mann, der vier Jahre hinter Stacheldraht gelebt hatte, saß nun wieder in einem anderen Gefängnis. In jener kalten Zelle sollte er sterben, eingeschlossen und stumm bis zum Ende.
Aber nicht ganz. Noch einmal heckte er einen großen Fluchtplan aus.
Eines Nachts übernachtete ich bei meinen Eltern. Es war schon spät, und ich war schon dabei, im Schlummer zu versinken – da klopfte es an meiner Zimmertür. Es war mein Vater. Als ich ihn hereinbat, wunderte ich mich, was er wohl wollte – schließlich kam ein Schwätzchen vor dem Schlafengehen nicht infrage.
Bildlich gesprochen, hatte mein Vater eine Lücke in dem Elektrozaun gefunden, eine Möglichkeit, mir auf kreative Weise Liebe und Gnade mitzuteilen. Er kam herein und kniete sich neben meinem Bett auf den Boden. Ein breites Lächeln strahlte aus seinem Gesicht. Und dann, Adrian, kuschelte er mich in meine Bettdecke ein.
Da lag ich, ein Mann von vierzig Jahren mit eigenen Kindern und einer Hypothek, und er nahm die Decken und die Laken und kuschelte mich ein. Dann beugte er sich über mich, strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn und gab mir einen Kuss auf die Wange. Und mit einem weiteren strahlenden Lächeln verschwand er zur Tür hinaus. Es war unbeschreiblich.
Ich konnte ihm die Wohltat erwidern. Einige Monate später trat ich in sein Zimmer, ohne anzuklopfen, denn er war nur halb bei Bewusstsein. Man hatte in seinem Krankenhauszimmer das Licht gedämpft, damit er nicht im grellen Schein der Leuchtstoffröhren würde sterben müssen. In dem Wissen, dass er nur noch Stunden zu leben hatte, beschloss ich, noch ein letztes Mal etwas für ihn zu tun. Ich kuschelte ihn ein. Ich nahm die Decken und das Laken, gab ihm einen leichten Kuss auf die Wange und flüsterte ihm ins Ohr: »Geh jetzt, Papa. Mach dich aus dem Staub. Schluss mit dem Leiden. Du brauchst nicht zu kämpfen. Jesus hält dich sicher.«
Und binnen weniger Minuten war er fort.
Ich erzähle Dir das, Adrian, weil ich glaube, dass wir alle Wege finden können, um Gnade kreativ weiterzugeben. Freundlichkeit zu verbreiten ist nicht nur etwas für die Starken oder die Klugen. Und wenn wir Möglichkeiten dazu finden, werden andere durch unsere Bemühungen verändert. Ich kann die Wärme dieses einen Kusses noch bis heute spüren.
Alles Liebe, Jeff