Читать книгу So viel kann nicht jeder von sich haben - Adriana Wolkenbruch - Страница 4
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ОглавлениеIch bin wieder bei meinen Eltern. Es hat nicht geklappt. Arbeiten im Ausland. Seltsam war es dort. Versoffen und verwahrlost. Hier ist alles sauber und viel heller. Aber draußen. Aber draußen. Aber draußen… Es gab Berge und goldene Sonnenstrahlen im Nebel, sattes Grün und harte Brauntöne… frei herumlaufende Nutztiere… Einöde. Hier ist es jetzt fremder als früher. Fast so, als wäre ich hier nicht aufgewachsen. Aber das bin ich. Das bin ich doch. Ich…. Mir wird schwindelig, aber ich habe Angst woanders hinzugehen. Meine Schwester und ihre beste Freundin sitzen mit mir am Küchentisch. Mit mir…mit wem? Wer ist das? Ich kann nichts sagen, ich muss aussehen wie eine alte Frau mit kohlrabenschwarzen Haaren in einer dicken Decke. Aber ich bin ja wirklich in eine dicke Decke gewickelt. Meine Zunge verdreht sich, wenn ich etwas sagen möchte und mein Gehirn scheint schräg über mir zu schweben. Es ist nicht mehr in mir. Mein Kopf ist leer. Wie eine Qualle, ohne Gehirn, und deswegen in Todesangst, verharrend kauere ich auf dem Stuhl. Mir ist übel. Ich bin nicht mehr ich. Mein ich schwebt über mir. Bleib bei mir, denke ich. Wenn Du weiter weg schwebst, kannst Du nie wieder kommen. Mir ist übel, aber aus welcher Öffnung soll etwas heraus kommen? Wo alles an mir durchsichtig ist. Aber sie sehen mich. Meine Schwester versucht, mich möglichst unauffällig anzusehen. Aber mein Gehirn liest ihre Gedanken. Oder ist es mein durchsichtiger Körper, der kein Gehirn mehr hat und auf den der Inhalt fremder Gehirne schwebt? Ja, so ist es. Ich lächele. Meine Schwester will mir nur Gutes, versucht nicht zu zeigen, dass sie Angst hat. Ihre beste Freundin überlegt, was sie zu mir sagen könnte. „Ich“, sagt eine ganz raue Stimme durch mich, „ich bin eine multiple Persönlichkeit.“ Ich habe Todesangst. Ich möchte nicht sterben, weil ich die Hölle sehe. Sie liegt direkt vor mir und wartet auf mich. Alle kreischen dort und sind so durchgedreht, dass ihnen nichts mehr etwas ausmacht. Sie lieben den Schmerz und sie sind sadistisch. Und überall Feuer und sonst nur schwarze Hintergründe. Und da käme ich nie wieder heraus. Nicht einmal durch Sterben. Aber warum soll ich in die Hölle? Mir fällt nicht viel ein. Zunge herausstrecken auf dem Foto der Erstkommunion. Stuhl wegziehen, der Mitschüler fällt. Lachanfälle während des Unterrichtes. Gemeine, freche Bemerkungen. Bis zum achten Lebensjahr immer, wenn mir danach war. Danach vereinzelt. Manchmal feige sein. Leckeres Essen aus den Schränken holen und aufessen. Selbstbefriedigung. Das ist alles. Das ist alles. Das ist alles. DAS IST ALLES. Dafür die Hölle? DAFÜR DIE HÖLLE?!?! Ich lache verächtlich auf. Es ist ein heiseres, bitteres Lachen. Ein Lachen das schlimmer als ein Knurren klingt. Ich habe nicht auf Deutsch gelacht. Aber was heißt das überhaupt. Auf Deutsch lachen. Dumm. Dumm. Jetzt werde ich dumm. Hilfe. Wo ist mein Gehirn? Es ist wieder in meinem Kopf.
Es ist grau draußen und ich bin froh darüber. Es beruhigt mich. Würde die Sonne scheinen, würde man ja eher nach draußen gehen, wenn man könnte. Und ich könnte. Aber ich mag nicht. Eigentlich kann ich doch nicht. Ich fühle mich wie ein gehetztes Tier, dass endlich ein sicheres Versteck gefunden hat. Und es würde gar nicht auffallen, weil bei diesem Wetter die meisten Menschen im Haus sind. Aber nicht wie gehetzte Tiere, die ein sicheres Versteck gefunden haben. Eher wie Menschen, die in der Woche arbeiten und sich an einem grauen Sonntag ausruhen. Aber ich, ich ruhe mich seit Monaten aus und habe das Gefühl, mein ganzes Leben zu brauchen, um mich auszuruhen. Um ausgeruht zu sein. Und dann möchte ich als Faultier wiedergeboren werden, eines das im Regenwald lebt. Ich würde ungestört in Baumkronen hängen, fressen , mich selten fortpflanzen und müsste meinen Kindern nichts beibringen. Ich glaube als Mensch möchte ich keine Kinder bekommen. Man muss ihnen so viel Scheiße beibringen, denn man muss viele dumme Dinge tun, wenn man ein Mensch ist. Ich kann sowieso keine Kinder bekommen. Ich bin nämlich krank und muss Tabletten nehmen. Und daher bin ich viel zu müde, um Menschenkinder zu erziehen. Glaube ich. Ich kann nichts tun, außer mich auszuruhen. Eigentlich ein schöner Titel für einen deutschen Reggae- Song. Ich kann nichts tun, außer mich auszuruhen. Meine Augen fallen langsam zu, über einem Körper der tonnenschwer ist und den sein Gehirn nutzlos macht. Das Gehirn. Aber wie kann ein Gehirn ganze Geschichten erfinden, die insgesamt absolut logisch zur Realität passen- Geschichten die gruseliger sind als jeder Horrorfilm. Ich bezweifle, dass es nur Geschichten sind. Ich habe mein Gehirn nie geschädigt- keine Drogen. Aber vielleicht hätte es gerade das gebraucht. Ja, mein Gehirn hätte auf jeden Fall viel mehr Entspannung gebraucht. Ich möchte ein Faultier- Gehirn haben. Aber wer sagt, dass es den Faultieren besser geht. Schließlich hängen sie auch nur herum- erholen sich ihr ganzes Leben lang.
Ich muss eingeschlafen sein. Jetzt sehe ich, dass in den Lautsprechern meiner Musikanlage Kameras eingebaut sein könnten. Ich schreie und weine. Ich hatte schon immer das Gefühl, ich würde beobachtet. Und je öfter man ich sagt, desto wichtiger ist es einem, dass man eines hat. Ich. Ich. Ich. Ein ich das bei einem bleibt, ein ich, das nicht immer so unmäßig viel Angst hat, ein ich, dass Leben kann und nicht nur überleben. Mein ich. Ich. Ich. Ich. Ich mache wieder Kollagen. Schneide alles aus allen möglichen Zeitungen aus, was mir gefällt. Kollage. Ein Faultier, ein frecher Hund, eine große Portion Eis. Waldfrucht, Pistazie, Walnuss, Kokosnuss und noch eine Kugel Waldfrucht. Ich lächele. Ich. Ich. Ich. Ich schaue in allen möglichen Altpapiercontainern nach Hochglanzmagazinen. Ich sammele Hochglanzmagazine und fertige jeden Tag mindestens eine Kollage an. Danach fühle ich mich etwas ruhiger und dann kann ich nachts ein paar Stunden schlafen. Ich bin jeden Morgen dankbar, dass ich noch lebe. Die Hölle ist ein schlimmer Ort.
Meine Schwester ist wieder fort. Die Semesterferien sind vorbei. Vor meinem Auslandaufenthalt hatte ich Freundinnen. Alle haben die Hochschulreife. Auch ich. Ich habe die Hochschulreife. Ich wollte Kunst oder biologische Landwirtschaft studieren. Ich wollte Bücher schreiben. Ich hätte auch gern Philosophie und Literaturwissenschaften studiert. Ich wäre auch gern Lehrerin geworden, auch das hätte ich gemacht. Aber wieso wirkt meine gesamte Schulzeit in meiner Erinnerung so fade. Mein. Mein. Mein. Ich hatte doch etwas. Mein. Wieso wirkt meine Schulzeit in meiner Erinnerung so fade, wenn ich doch immer so aufgekratzt war? Fade. Zu wenig. Immer mehr. Ich wollte mehr und dahinter steckte dass das, was ich hatte schon zu viel war. Viel zu viel. Vielleicht hätte es anders sein müssen. Aber nicht mehr sondern weniger. Innen einsam. Äußere Einsamkeit bringt Frieden. Innere Einsamkeit kann Krieg bringen. Alles zu viel durchdacht. Weniger denken.
Ich klebe meine Kollage fertig und jetzt male ich an ihr herum. Zum ersten Mal bearbeite ich sie mit Farbe und Pinsel. Die lachende Käseverkäuferin, die Möwe, das Hochlandrind, das Kanu und der australische Ureinwohner scheinen nur noch dünn durch. Unter einer grünen Meerjungfrau, deren Blick ganz starr ist.
Meine Mutter fährt mit dem Auto vor die Schranke des Klinikgeländes. Sie drückt den Knopf, sagt ihren Namen und dass sie zum Gebäude zwölf möchte. „Ja, bitte“, kommt als Antwort und die Schranke öffnet sich kurz darauf. Ich fühle mich wie eingefroren und als ob ich jahrhundertelang so überleben könnte. Ohne zu essen, abwechselnd dösend und schlafend. Vielleicht liegt das an den Tabletten, die der Psychiater mir verschrieben hat. Die Tabletten haben mir ein Gefühl der Erleichterung gegeben, weil mein Herz nicht mehr ständig rast, weil ich nicht ständig diese Angst habe, nicht ständig diese diffusen Vorstellungen, Vermutungen und Bilder, Worte…. Aber sie haben mich auch gleichgültiger gemacht. Nein, eigentlich nur kraftloser. Ich muss mich aufraffen, um zu Denken und zu Sprechen. Wenn ich daran denke, wie viel ich vor dem Auslandsaufenthalt gedacht, geredet und gelacht habe, beginnt eine heiße Quelle in mir zu brodeln. Sie produziert salziges, heißes Wasser, das mit großem Druck in meinen Kopf gepumpt wird und sich von innen gegen meine Augen quetscht. Und dann, dann legt sich ein großer Schatten über mich, eine große, endlose Traurigkeit.
Aber die Aussicht auf ein Gespräch mit einem Psychologen beflügelt mich, erleichtert mich ungemein. Er wird nicht überrascht, nicht betroffen reagieren. Er wird mein Inneres vielleicht verstehen können und es wird ihn nicht verwirren. Ich kann ihm alles erzählen.
Wir fahren einmal über das gesamte Klinikgelände, auf dem viele, viele Gebäude stehen. Einige sind älter, andere sehen eher nach Neubauten aus. Einige haben so etwas wie einen Garten, der eingezäunt ist. Mit einem dichten, hohen Zaun.
Meine Mutter versucht einen klaren Kopf zu behalten, das sehe ich ihr an, das spüre ich. Sie hat auch eine heiße Quelle in sich.
Sie parkt den Wagen auf einer der Parkbuchten vor einem Hochhaus. Es steht am hintersten Rand des Klinikgeländes. Wir steigen aus und meine Mutter zerrt meine Reisetasche aus dem Fahrzeug. „Die trage ich schon“, murmele ich und nehme ihr den Griff aus der Hand. Hinter einem Zaun stehen riesige Tannen. Ein ganzes Waldstück. Ich atme ein und wieder aus. Mein Körper beginnt zu kribbeln. Wir gehen den kleinen Hügel hinauf und stehen bald vor einer Schiebetür, die sich automatisch öffnet. Helles Licht, bunte Bilder an den Wänden und rechts von uns ein Schalter. Meine Mutter wirkt hektisch. „Guten Tag. Wir möchten zur Station 12.2, bitte“, sagt sie. Es klingt fast schnippisch. Die Frau mit den kurzen Locken und der Brille sagt: „Dort durch die Tür und geradeaus ist ein Aufzug…“ Ich starre sie panisch an… „oder die Treppe, gleich daneben“, sagt sie. Die Treppe, sage ich und gehe mit meiner Mutter durch die Tür. Wir gehen drei Treppen hinauf. Für jede Treppe brauche ich fünf Schritte, einen Schritt mit jeweils zwei Stufen. Oben angekommen atme ich schwer. Ich habe mich in den letzten drei Wochen sehr wenig bewegt. Meine Mutter ist nicht so aus der Puste. Sie geht ja auch regelmäßig joggen, mit ihrem Lauftreff. Zwei Männer in Jogginganzügen drängen sich an uns vorbei. Der eine hat ein an und für sich gut riechendes aber zu dick aufgetragenes Aftershave, der andere eine schief sitzende Brille und einen Drei- Tage- Bart. Ich muss betroffen aussehen. Meine Mutter grüßt die beiden freundlich und sie grüßen kurz und knapp zurück. Dann stößt sie die große Glastür auf. Es riecht wie in einer Jugendherberge, finde ich und in der Luft knistert eine Mischung aus Angst, Stillstand und Verwirrung. Ein paar Meter von uns entfernt befindet sich eine Art Schalter, wie unten in dem Eingangsbereich des Gebäudes, wie an jedem Bahnhof. Aber das warme Licht hier und die geschmackvoll gekleideten Krankenschwestern und Pfleger (niemand trägt hier einen weißen Kittel!) in dem Glasschalter, der wohl so eine Art Anmeldung ist, signalisieren: „Ankunft. Aufenthaltsort erreicht“. Ich bin so müde, so unendlich müde von all den Eindrücken, dass mir ganz schwindelig zumute ist und ich sofort liegen möchte. Liegen und schlafen, ganz lange schlafen, und dann sehe ich weiter. Meine Mutter meldet mich an und ein Krankenschwester in geschmackvoller Kleidung spricht mich an: „Frau Baum?“ „Ja“, hauche mit der Andeutung eines Lächelns. „Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen ihr Zimmer“. Ich stelle meine Reisetasche ab und meine Mutter beginnt sofort, meine Kleidungsstücke in den Schrank einzuräumen. Ich ziehe meine Jacke aus und hänge sie über den Stuhl. Dann lege ich mich auf das Bett.
Es gibt hier für jeden Patienten einen Stundenplan. HLT- Hirnleistungstraining, Sport, Ergotherapie und so weiter. Ich möchte in den ersten Tagen nur Schlafen, kann mich aber zu einigen Angeboten aufraffen.
Insgesamt bin ich sechs Wochen hier. Es hat mir insgesamt gesehen gut getan. Aber einige, der Menschen, die ich hier kennengelernt habe, werde ich wohl nie vergessen können. Genauso wenig wie die Menschen, die ich im Ausland kennengelernt habe.
Zum Beispiel Peter. Er ist ein sehr gewissenhafter Mensch, seine karierten Hemden sind ordentlich gebügelt, seine Hände gepflegt. An seiner linken Hand fehlen zwei Finger. Ein Unfall im Sägewerk, wo er lange gearbeitet hat. Das läge schon viele Jahre zurück. Er sagt, er hätte seinen Namen noch nie gut gefunden. Peeeter, sagt er genervt, wie Peeeterchen von Peterchens Mondfahrt. Er hätte sich immer zusammengerissen, aber jetzt sei Schluss damit. In den nächsten Tagen beschwert er sich ständig über Kleinigkeiten.
Oder Fabienne. Sie ist die Jüngste hier auf der Station. Sie erzählt sehr viel und sie lacht ständig über etwas. Oft auch über ihre eigenen Witze. Sie ist nicht richtig dick, hat aber einen kräftigen Körperbau. Man sieht sie oft essen. Aber genauso häufig macht sie Sport: Joggen, Inliner fahren, Schwimmen. Wenn wir kurz erzählen sollen, wie unser Wochenende war, hat Fabienne meistens an beiden Tagen Sport gemacht. Und noch vieles andere. Als ihre Eltern sie besuchen kommen, wirken sie ganz grau und klein und traurig neben ihrer Tochter.
Dann habe ich auch noch Hermine kennengelernt. Oft wünschte ich, ich wäre ihr nie begegnet. Sie war in vielen meiner Albträume die Hauptdarstellerin und vermutlich auch die Auslöserin. Ursprünglich war sie ein Mann und ich finde, sie sieht noch immer aus wie ein Mann. Sie hat eine Glatze und eine recht piepsige Stimme. Sie erzählt aus ihrem Leben, in dem eine Herrin vorkommt und andere ungewöhnliche Menschen. Es spielte sich alles in der Sado- Maso- Szene ab. Menschen, die beim Sex erhöhte Lust empfinden, wenn sie andere quälen oder gequält werden. Manchmal geht es auch nur um den Schmerz. Hermine hat ständig Diskussionen mit Pflegern und Krankenschwestern, weil sie ihren Bettbezug gegen einen Latexbettbezug ausgetauscht hat. Irgendwann kommt sogar der Oberarzt und verbietet ihr das. Aber Hermine ist neben Dörte die einzige, die Romme´ spielen kann und will. Und Dörte ist eine Sozialarbeiterin mit Burnout. Ein vertrauenswürdiger Mensch. Also spielen wir drei manchmal Romme´ zusammen. Und nachdem ich Hermine zum zweiten Mal deutlich gesagt habe, dass ich über die Szene, in der sie sich bewegt, nichts mehr hören möchte, hält sie sich auch daran.
Und dann ist da noch dieser hinterlistige Kettenraucher. Es zieht einen förmlich in einen Sog, wenn man sich mit ihm unterhält. Aber anschließend kommt man sich vor, wie eine gerauchte Zigarette. Ich halte mich von ihm fern.
Dann gibt es noch Ella, die über fünfzig ist und zierlich wie ein Mädchen. Sie hat ihre langen, seidigen Haare oft zu zwei Zöpfen geflochten. Ich dachte, ich sehe nicht richtig, als sie eines Tages mit Hermine händchenhaltend über den Flur tänzelt.
Ella kam von der geschlossenen Station, ein Stockwerk höher. Sie sagte, dass es dort sehr schlimm war. Sie hätte sich all ihre Kleidungsstücke auf links angezogen, weil sie sich so fühlte, als wäre ihr Innerstes Außen. Keine Privatsphäre. Auf dieser- der offenen Station- kann man sein Zimmer auch nicht abschließen. Aber auf der geschlossenen Station schauen die Schwestern und Pfleger auch noch alle fünf Minuten nach einem. Dort sind ja auch die als sich selbst oder fremd- gefährdenden Menschen untergebracht.
Dann ist da noch Doreen, mit der ich mir das Zimmer teile. Sie dreht ständig Zigaretten für ihren Freund und bringt ihm diese dann zwei Mal wöchentlich vorbei. Sie wirkt sehr verkrampft.
Natürlich gibt es auch unauffälligere Menschen auf der Station. Auch viele, die sich sehr zurückziehen und sehr schüchtern, sogar scheu sind.
Und es gibt ein unzertrennliches Dreiergrüppchen: drei stark geschminkte, stark gebräunte Frauen, die viel miteinander tuscheln. Sie sind alle in einem Zimmer einquartiert.
Die Begegnung in der Psychiatrie, die mich am meisten aufgewühlt hat, war die mit der größten Entfernung. Wenn ich in geschlossenen Räumen war, habe ich immer gern hinaus gesehen. Teilweise, weil mich Enge bedrückte, teilweise um mich von meinen Gedanken und Gefühlen abzulenken oder auch nur, weil man dann meistens auf Bäume blicken kann. Jeder Baum ist auf seine Art und Weise schön und ähnlich wie bei Menschen sieht man an ihrer Wuchsform ihren Charakter. Und wenn sie im Wind ihre Äste schaukeln, bildet man sich manchmal ein, sie winken oder tanzen und das ist schon sehr niedlich und nur durch den Wind können sie sich so schnell bewegen.
Eines Tages stand ich einmal wieder am Fenster in dem Zimmer der Psychiatrie. Doreen war vor ein paar Tagen entlassen worden und ich genoss es, nun das Zimmer für mich allein zu haben. Ich fühlte mich schon wieder relativ stabil, etwas weniger panisch. Ich stand also am Fenster und schaute hinaus. Unten vor dem Gebäude befand sich eine gepflasterte Fläche, ein breiter Weg an den eine Rasenfläche grenzte und der zu dem Eingang des Gebäudes führte. Die Frühlingssonne strahlte hell. Da nahm ich einen Krankenwagen wahr, der von mehreren Polizeiautos eskortiert wurde. Seltsam. War die Einfahrt für den Krankenwagen nicht auf der anderen Seite des Gebäudes? Interessiert beobachtete ich, wie der Polizeiauto- Krankenwagen- Zug die Einfahrt herauf rollte. Sie hielten auf dem breiten Weg, unweit des Einganges in das Psychiatrie- Gebäude. Ich hielt den Atem an, wand mich einen kurzen Moment vom Fenster ab, als hätte ich schon in dieser Sekunde voll erfasst, was jetzt geschah. Aber gleichzeitig war mir bewusst, dass ich die Situation genauso wenig vergessen könnte, wenn ich sie nicht WIRKLICH gesehen hatte. So blieb ich am Fenster stehen und schaute gebannt nach unten, auf den gepflasterten Weg mit dem Polizeiauto- Krankenwagen- Zug. Aus den Polizeiwagen sprangen schwarz angezogene Personen mit schwarzen Mützen, die sie über ihren Kopf gezogen hatten und die nur über den Augen frei waren, so dass sie freie Sicht hatten, aber gleichzeitig nicht als sie selbst zu erkennen waren. Sonder- Einsatzkommando, hallte es in meinem Kopf, jetzt die Wahrheit benannte. Mein Herz polterte. Warum stiegen sie nicht aus. Warum sprangen sie aus den Polizeiautos? Und sie hielten Maschinengewehre in ihren Händen. Alles an ihnen, wie sie die Gewehre hielten, wie sie sich bewegten, verriet, dass sie zum Äußersten bereit waren. In meinem Kopf spielte eine Trommel ihren Marschrhythmus. Dann öffneten die Männer den Krankenwagen. Zu neunt wuchteten sie eine Bahre heraus. Viele weitere maskierte Sonder- Einsatz- Kommando- Kräfte überwachten den Vorgang aus nächster Nähe. Man konnte die Bahre kaum erkennen unter dem riesigen Körper, der auf ihr lag, der über sie hinaus reichte. Ein nackter Körper mit einem Bauch, der das Geschlechtsteil überlagerte, der wie ein großer Ballon nach oben und zu den Seiten reichte. Ein Körper, dessen riesiger, runder Kopf lange, braune, leicht gelockte Haare besaß und einen dichten, langen, braunen, leicht gelockten Bart. Die Augen waren geschlossen, die Arme und Beine hingen leblos herunter. Die Haut war weiß. Warum war er nicht fixiert, gefesselt, wenn er doch sehr gefährlich sein musste? Und dann zuckte ein Blitz durch mich. Ich war unmaskiert. Er könnte geblinzelt und mich hier oben gesehen haben. Schaulustig. Nein ich war ganz und gar nicht SCHAULUSTIG. Besser, ich hatte gesehen, wer so spektakulär eingeliefert worden war. In meinen Gedanken hätte er viel grausamer ausgesehen. Ich drehte mich um und setzte mich ermattet auf mein Bett. Ich wusste, er würde jetzt ein Stockwerk über mir sein. Auf der geschlossenen Station. Und unter dieser, der offenen Station waren viele ältere, verwirrte Menschen, deren Rufe manchmal zu hören waren, wenn man abends das Fenster geöffnet hatte. Wie sollte ich jetzt unterscheiden können, ob einer dieser Rufe nicht von ihm kam?
Ich genoss das Abendessen, die Brote, den Tee. Es gab auch ein paar Paprika- Stücke und Tomaten. Ich genoss sie. Dann holte ich mir meine Tabletten. Sie wurden in einem kleinen Raum, der sich nahe der Tür zur offenen Station befand, ausgegeben.
Jeder Patient stand dann in der Schlange, das kleine weiße Plastikdöschen in der Hand. Der vordere, der Kopf der Schlange, trat dann immer ein in den „gläsernen“ Raum. Bei einigen wirkte es feierlich, wenn sie ihre Tabletten entgegen nahmen, andere wirkten gelangweilt oder genervt. Wieder andere wirkten völlig gleichgültig oder verschämt. Ich wollte sie einfach haben, meine Tabletten, um die nötige Ruhe zum Einschlafen zu bekommen. Ich hasste es, so nahen Kontakt zu fremden Menschen zu haben. Nicht, weil ein paar sehr ungepflegt aussahen und teilweise unangenehm rochen. Oder weil ihr Blick starr war und man überhaupt nicht einschätzen konnte, wie sie sich fühlten. Vermutlich wussten sie es selbst nicht einmal. Es war eine erzwungene Nähe, die ich schwer aushalten konnte.
Unwirklich. Und dennoch besser, als vollkommen auf sich allein gestellt. Man wusste, wann man frühstücken musste, Mittagessen und Abendbrot essen. Und die über den Tag verteilten Therapien waren teilweise erleichternd und wohltuend.
Ich wollte jetzt nur noch auf mein Zimmer gehen und die notwendige Ruhe erreichen, um einschlafen zu können. Da kam mir Dietmar auf dem Flur entgegen. Groß und stämmig, strahlte dabei aber etwas Vertrauenserweckendes, Gutmütiges aus. Er stoppte neben mir und ich blieb automatisch stehen. Er sagte. „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich liebe Cameron Diaz.“ Ich überlegte kurz. Ich erkannte, dass er es wirklich ernst meint. „Ja, dann schreib ihr doch mal“, sagte ich, plötzlich leicht belustigt. „Ja, komm… das wird doch sowieso nichts, “ sagte er. Ich konnte ihm nur Recht geben und merke plötzlich, wie ein Interesse an mir in ihm aufkeimte. Ich musste Grinsen und hätte mich im nächsten Moment dafür erdolchen können. Hier puzzelte jeder mehr oder weniger an seiner Persönlichkeit, damit mindestens der Rand wieder vollständig war. „Aber Dich finde ich auch sehr toll“, sagt er. Gut, dass er so offen war. „Nee, nee, daraus wird nichts. Ich mag Dich, aber daraus wird nichts, wirklich“, sagte ich und ging etwas zu bemüht, entspannt zu wirken, die letzten Meter zu meinem Zimmer. Öffnete die Tür, schlüpfte hinein.
Ich liege in meinem Bett, denke an alle Buddhistischen Mönche Tibets, danke ihnen und stelle mir vor unter ihnen zu sein, in einem Kloster. Alle sagen Gebetstexte auf und ich murmele einfach mit. „MMMMamelgansigmumelbogindasang….“, ich kann ja kein tibetisch. Und es macht auch Spaß, tibetisch neu zu erfinden, denn alles, was ich murmele heißt, dass alles eins ist, alles ist eins…. Da schießt plötzlich Panik in mir hoch. Es musste jemand vor der Tür stehen, ich spürte es. Groß und dringend. Drei Sekunden später klopfte es an der Zimmertür. Mein Herz raste, polterte. Dietmar. Meine Mitbewohnerin schläft wie ein Stein. Ich habe das schon einmal erlebt und kann mich jetzt auch nur wieder tot stellen. So wie ich es zwei Jahre lang immer wieder tat. Abends vor dem Einschlafen. Nein, schreie ich innerlich, jetzt ist Schluss damit. Ich bin mir sicher, dass er nach einer kurzen Wartezeit wieder gegangen ist. Die Tür ist frei. Ich raffe mich schlagartig hoch, schlüpfe in meine Schlappen und verlasse das Zimmer. Meine neue Mitbewohnerin schläft wie ein Stein. Ich wandere zu dem kleinen Zimmer der Pfleger, dass am Rande des Flures liegt und durch die große Glasfront von allen Seiten einsichtig ist. „Frau Kunert, ich habe solche Angst“, rufe ich ihr entgegen. „Meine Stimme klingt schleppend. In mir rauscht ein panischer Bach, unter dem alle Sinne begraben werden. Sie sieht mich streng an. „Ich weiß nicht, ob ich nicht noch etwas zur Beruhigung brauche…“ Sie sieht mich an und sagt: „Ist etwas Bestimmtes vorgefallen?“ „Nein, nein. Er hat nur an der Zimmertür geklopft, er wollte bestimmt nur mit mir reden, aber ich habe solche Angst, dass ich nicht geschützt bin, wenn jemand in mein Zimmer geht….“ Sie scheint nachzudenken. „Ich sehe ja von hier aus den ganzen Gang in dieser Richtung. Ich bin die ganze Nacht hier.“ Hoffnung für mich. „Das ist gut, ich glaube, jetzt kann ich schlafen.“ Ich habe ihr die Verantwortung abgegeben, weil ich sie als vertrauenswürdig und kompetent einschätze.
Heute heißt es umziehen. Ich werde in ein anderes Zimmer verlegt. Zwei junge Frauen, beide ungefähr in meinem Alter haben zwei der drei Betten belegt. Sie sind nett, sie sind… Verdammt, was machen sie hier? Sie scherzen, sie reden, sie telefonieren mit Verwandten oder Bekannten. Ich fühle mich unendlich alt. Ein grauer alter Stein. Bei mir ist alles eingefroren. Dabei bin mag ich sie, unterhalte mich gern mit ihnen. Was trennt uns? Ich kann nicht normal sein. Ich bin intelligent, aber trotzdem zu fast allem unfähig, was Intelligenz ausdrückt. Ich habe Abitur gemacht, ich hatte Freundinnen, ich habe Scherze gemacht und gelacht. Aber damals habe ich mich ähnlich gefühlt, wie jetzt. Damals. Als ich mit drei anderen Mädels auf dem Ponyhof war und sie mich veralbert haben. Sie mochten mich, aber sie haben sich über mich lustig gemacht. Ich war die Jüngste. Kann ja auch ein Bonus sein. Und als wir umgezogen sind. Da habe ich anfangs keine Freunde gehabt. Ich höre die beiden lachen und reden und fühle mich sofort schlecht und allein. Ich kann sehr schlagfertig sein. Und kenne schnell die wunden Punkte meines Gegenübers. Aber auf verbale Angriffe kann ich schlecht reagieren. Und immer wieder kommt es durch meine defensive Art dazu, dass mir Gott- weiß- wer meint, auf der Nase herumtanzen zu müssen. Und da ich kein Spaßverderber sein will, lasse ich mir das auch noch gefallen. Und ab einem gewissen Punkt gilt man dann als Idiot. Ich verdränge so etwas, deshalb kann ich auch nicht daraus lernen. Denn alle schmerzlichen Situationen sind an einer langen Kette wie Perlen aufgefädelt und ich kann leider fast nichts vergessen. Mein Gehirn speichert alles. Zu viel. Und bei einer Reaktion versucht es auch fast alles, was es gespeichert hat, mit einzubeziehen. Daher reagiere ich langsam. Und meistens so, dass man mir keinen Strick daraus drehen kann. Tränen steigen in mir auf. Verdammte Scheiße. Wann fing das an und wann hört es auf? Zu Schulzeiten war ich ein Clown. Ich habe mich verausgabt in positiver Clownerie. Manchmal driftete ich ins Sarkastische oder gemeine ab, aber nur, weil ich nicht wusste, wohin mit dem, was in mir war. Und nun? Nichts mehr da, von alledem. Ich bin als neunzehnjähriges Kind ins Ausland gegangen und als komplett durchgedrehter neunzehneinhalbjähriger Greis zurückgekehrt. Wie soll ich das alles wieder so in mich hinein bekommen, dass es passt?
Ich nehme meine Tabletten und versuche einzuschlafen. Der Kloß in meinem Hals sitzt fest und stört mich nicht mehr. Irgendwann wird er schmilzen und ich werde weinen und danach Kopfschmerzen haben. Ich werde einfach schlafen, denn die einzige Hoffnung, die ich habe ist Zeit. Viel Zeit. In dieser Zeit kann immer wieder etwas Schönes passieren und es kann mir auch mal besser und mal schlechter gehen. Und irgendwann kommen meine Mitbewohnerinnen in das Zimmer und bemühen sich, leise zu sein, weil sie denken, dass ich schlafe. Und ich versuche ganz gleichmäßig zu atmen. Sie legen sich hin und ich weiß, dass neben mir das Fenster ist, vor das ich die Gardine gezogen habe. Und dahinter. Und dahinter. Die dreißig Meter hohe Außenwand des Gebäudes. Und jeder, der es wirklich will, kann dort hochklettern. Und diese Sekte erstrecht. Ich zittere. Sie haben da unten einen Menschen gestellt und er soll sich die Hose herunter ziehen und ihnen seinen nackten Hintern zeigen. Und sie lachen und einer in komplett schwarzer Kleidung, ein Superman in ganz schwarz, mit schwarzer Mütze über seinem Kopf, so dass man sein Gesicht nicht erkennen kann klettert Katzengleich das Gebäude herauf, an einem langen Seil und das baumelt hinter dem Fenster, vor das ich die Gardine gezogen habe. Heute Nachmittag. Als die Welt noch in Ordnung schien. Aber jetzt kann alles passieren. Sie wollen mich holen. Mein Chip im Kopf, über den sie mir Gespräche aller Menschen, die ich kenne, übermitteln können, ist schlimm genug. Vielleicht wäre mein Tod wirklich das Beste. Aber dann hätten sie gewonnen, würden das nächste Kind entführen, am Kopf operieren und wieder testen, ob das Gute im Menschen siegt. Was mich betrifft, so hat das Gute gewonnen. Aber sie scheinen der Sache noch nicht zu trauen. Sie wollen mich weiter testen. Ich höre Hubschrauber in meinem Kopf. Sie kommen wieder. Von überall auf der ganzen Welt. Alle Teufel weltweit sind bereit dazu, mich zu testen. Wieder einmal. Dies wird eine lange Nacht werden. Sie werden die Gemeinsten und am höchsten Gestellten in den verkabelten, mit meinem Chip verbundenen Konferenzraum lassen. Und sie werden mir Fragen stellen mit gruselig verstellter Stimme. Oder auch nicht verstellt. Sie sind so krank, dass sie seltsame Stimmen haben. Sie sind hochintelligent, sonst würden sie die Infrastruktur dieser Sekte gar nicht managen können. Aber sie müssen, alle durch die Bank, krank sein. Denn wie kann man schon ein Teufel sein und herausfinden wollen, ob das Gute im Menschen siegt. Und wenn ich oder ein anderer Mensch es schaffen, sich nicht umzubringen und gut zu bleiben, sind sie bereit sich umzubringen, weil sie nur schlecht- teuflisch sind. Dann hat das Gute im Menschen gesiegt und die Erde wird gut sein. Hatte ich erwähnt, dass alle Mafiosi der Sekte der Teufel angehören? Und ich sage mir, ich bin doch kein Engel. Aber ein Elf vielleicht. Die sind auch nur gut, weil mit der Natur im Einklang und trotzdem dürfen sie auch mal frech sein. Und wenn ich sterben muss, dann soll es schnell gehen, wenn sie mich kidnappen, muss ich dafür sorgen, dass ich schnell sterbe. Scheiße. Ich muss mir Gift besorgen und es an einem band um den Hals tragen oder als Uhr maskiert am Handgelenk. Wenn ich wieder mehr Kraft habe, in ein paar Wochen, muss ich mich darum kümmern. Aber ich werde mich nur umbringen, wenn ich sicher bin, dass sie mich gekidnappt haben und ich nicht mehr fliehen kann. Und wenn ich bereits mein Gift bei mir habe. Aber heute Nacht geht es um mein Überleben. Die Gardine hat sich bewegt. Mein Herz lässt meinen ganzen Körper zucken. Vielleicht bekomme ich in einer der nächsten Nächte einfach einen Herzinfarkt? Dann waren all die Jahre umsonst, dann wird ein neuer Mensch getestet und all die Kämpfe, die ich durchgestanden habe, waren umsonst. Nein. Ich bleibe auf der Erde. Ich bin der unverletzliche Elf. Und nur dass ich nicht tot bin, ist genug. Ich bin der unverletzbare Elf.
Ich habe drei mehrwöchige Psychiatrieaufenthalte, eine neunmonatige medizinische und berufliche Rehabilitation und fast ein Jahr den täglichen Besuch einer Tagesstätte für psychisch Kranke Menschen hinter mir. Danach lebte ich neun Monate in einer betreuten Wohngemeinschaft mit einer fast fünfzigjährigen Frau und ihrer achtjährigen Tochter. Betreut heißt, dass einmal in der Woche eine Sozialarbeiterin vorbei kam und wir darüber redeten, wie es mit der Wohngemeinschaft so läuft.
Ich lebe jetzt zur Miete in einer Wohnung. Allein. Mit Geiger, einem Dackelmischling.