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Eins, zwei, Schnalle herbei

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I

Mr Morley war beim Frühstück nicht gerade bester Laune. Er mäkelte am Schinkenspeck herum, wollte wissen, weshalb der Kaffee wie flüssiger Schlamm aussehen müsse, und merkte an, dass von den Flocken eine Sorte schlimmer schmecke als die andere.

Mr Morley war ein kleiner Mann mit einem entschlossenen Kiefer und einem kampflustigen Kinn. Seine Schwester, eine stattliche Frau, die ihm den Haushalt besorgte, glich eher einem weiblichen Grenadier. Nachdenklich betrachtete sie ihren Bruder und erkundigte sich, ob das Badewasser abermals kalt gewesen sei.

Einigermaßen unmutig verneinte Mr Morley.

Er warf einen Blick in die Zeitung und konstatierte, die Regierung scheine aus einem Zustand der Unfähigkeit in eine abgrundtiefe Idiotie zu verfallen!

»Eine Schande!«, gab Miss Morley mit tiefer Bassstimme zurück.

Als Frau hatte sie stets die Regierung, die gerade an der Macht war, für ausgesprochen nützlich gehalten. Eindringlich bat sie ihren Bruder zu erklären, weshalb denn die gegenwärtige Regierungspolitik in sich unschlüssig, schwachsinnig, idiotisch und, offen gesagt, selbstmörderisch sei!

Nachdem sich Mr Morley eingehend über diese Punkte ausgelassen hatte, trank er eine zweite Tasse von dem abscheulichen Kaffee und offenbarte seinen wahren Kummer.

»Diese Mädchen«, sagte er, »sind doch alle gleich! Unzuverlässig und egozentrisch – man kann schlechterdings nie auf sie zählen.«

»Gladys?«, fragte Miss Morley.

»Ich habe es gerade erfahren. Ihre Tante hatte einen Schlaganfall, und sie musste runter nach Somerset.«

»Ausgesprochen ärgerlich, lieber Bruder, aber das ist doch wohl kaum ihre Schuld.«

Trübsinnig schüttelte Mr Morley den Kopf.

»Woher soll ich denn wissen, ob die Tante wirklich einen Schlaganfall hatte? Woher soll ich wissen, ob das Mädchen und dieser völlig unmögliche junge Kerl, mit dem sie ihre Zeit verbringt, nicht nur ein abgekartetes Spiel treiben? Dieser Bursche ist ein falscher Hund, wie er im Buche steht! Wahrscheinlich haben die beiden für heute irgendeinen Ausflug geplant.«

»Aber nicht doch, mein Lieber, ich glaube nicht, dass Gladys so etwas tun würde. Du hast sie doch auch immer für äußerst pflichtbewusst gehalten.«

»Jaja.«

»Ein intelligentes Mädchen und ganz versessen auf ihre Arbeit, hast du gesagt.«

»Jaja, Georgina, aber das war, bevor dieser unliebsame junge Mann auftauchte. Sie hat sich in letzter Zeit ziemlich stark, wirklich ziemlich stark verändert: Sie ist geistesabwesend, verstimmt, nervös.«

Die Grenadierin stieß einen tiefen Seufzer aus und sagte: »Mädchen haben nun einmal die Eigenschaft, sich zu verlieben, Henry. Da kann man nichts machen.«

»Sie sollte aber darauf achten«, blaffte Mr Morley, »dass es nicht ihre Arbeitsleistung als meine Sekretärin beeinträchtigt. Ausgerechnet heute, wo ich ausnehmend viel zu tun habe! Mehrere ungemein wichtige Patienten. Wirklich höchst ärgerlich!«

»Das ist sicher überaus irritierend, Henry. Wie lässt sich eigentlich der neue Junge an?«

Düster erwiderte Henry Morley: »Das ist der schlimmste, der mir je untergekommen ist! Kann sich keinen einzigen Namen richtig merken und hat die ungehobeltsten Manieren. Wenn er sich nicht bessert, setze ich ihn vor die Tür und versuche es mit einem anderen. Ich weiß wirklich nicht, wozu unser Bildungswesen heutzutage noch gut ist. Es scheint eine Ansammlung von Schwachköpfen zu produzieren, die von dem, was man ihnen sagt, nicht das Geringste verstehen, geschweige denn behalten.«

Er sah auf die Uhr.

»Ich muss jetzt nach unten. Ein voller Vormittag, und diese Sainsbury Seale mit ihren akuten Schmerzen darf ich auch noch irgendwie dazwischenschieben. Ich habe ihr vorgeschlagen, sich von Reilly behandeln zu lassen, aber davon wollte sie nichts wissen.«

»Natürlich nicht«, sagte Georgina loyal.

»Reilly ist äußerst kompetent, wirklich äußerst kompetent. Erstklassige Diplome. Hochmoderne Arbeitsmethoden.«

»Seine Hand zittert«, gab Miss Morley zurück. »Meiner Ansicht nach trinkt er.«

Ihr Bruder lachte, seine gute Laune war zurückgekehrt.

»Um halb zwei komme ich wie immer auf ein Sandwich hoch«, sagte er.

II

Im Savoy Hotel stocherte Mr Amberiotis in den Zähnen und schmunzelte in sich hinein.

Alles lief wie geschmiert.

Sein Glück war ihm treu geblieben. Wer hätte gedacht, dass die wenigen freundlichen Worte, die er mit dieser dämlichen Pute gesprochen hatte, so reich belohnt würden. Nun gut, lass dein Brot über das Wasser fahren. Er war ja schon immer gutherzig gewesen. Und großzügig! In Zukunft würde er sogar noch großzügiger sein können. Im Geiste sah er sich bereits als noblen Wohltäter. Der kleine Dimitri … Und der gute Constantopopolus, der sich mit seinem winzigen Lokal herumplagte … Was für angenehme Überraschungen die beiden erwarteten …

Der Zahnstocher rutschte ab, und Mr Amberiotis zuckte zusammen. Die rosigen Zukunftsvisionen verblassten und machten den Sorgen der unmittelbaren Gegenwart Platz. Vorsichtig tastete er mit der Zunge. Er holte sein Notizbuch hervor. Zwölf Uhr. Achtundfünfzig Queen Charlotte Street.

Er versuchte, seine glänzende Stimmung zurückzugewinnen. Doch vergeblich. Sein Horizont hatte sich auf sechs nackte Wörter verengt:

»Achtundfünfzig Queen Charlotte Street. Zwölf Uhr.«

III

Das Frühstück im Glengowrie Court Hotel in South Kensington war vorüber. Miss Sainsbury Seale saß im Foyer und unterhielt sich mit Mrs Bolitho. Im Speisesaal waren ihnen benachbarte Tische zugewiesen worden, und so hatten sie sich am Tag nach Miss Sainsbury Seales Ankunft vor einer Woche angefreundet.

»Wissen Sie, meine Liebe«, sagte Miss Sainsbury Seale, »der Schmerz hat tatsächlich aufgehört! Nicht mehr das geringste Zwicken! Ich glaube, ich rufe …«

Mrs Bolitho unterbrach sie: »Jetzt seien Sie doch nicht albern, meine Gute. Sie gehen zum Zahnarzt und bringen es hinter sich!«

Mrs Bolitho war eine große imposante Person mit einer tiefen Stimme. Miss Sainsbury Seale, eine Frau von gut vierzig Jahren, trug halbherzig gebleichtes Haar, das zu unordentlichen Locken gewickelt war. Ihre Kleider waren unförmig und eher ausgefallen, der Kneifer rutschte ihr ständig von der Nase. Sie war eine regelrechte Quasselstrippe.

Jetzt sagte sie versonnen:

»Aber wissen Sie, ich habe wirklich überhaupt keine Schmerzen mehr.«

»Unsinn, Sie haben mir doch noch vorhin erzählt, Sie hätten letzte Nacht kaum ein Auge zugetan.«

»Ja, ganz recht, das habe ich auch nicht, aber vielleicht ist der Nerv inzwischen einfach abgestorben.«

»Noch ein Grund mehr, zum Zahnarzt zu gehen«, erklärte Mrs Bolitho. »Wir schieben es ja alle gern auf die lange Bank, aber letztlich sind wir nur feige. Besser, man gibt sich einen Ruck und bringt es hinter sich!«

Miss Sainsbury Seale lag eine aufmüpfige Antwort auf den Lippen, vielleicht ein »Sicher, aber Ihr Zahn ist es ja auch nicht!«.

Doch dann sagte sie nur: »Wahrscheinlich haben Sie recht. Und Mr Morley ist ausgesprochen vorsichtig und tut einem ohnehin nie weh.«

IV

Die Sitzung des Verwaltungsrats war beendet. Alles war reibungslos verlaufen. Der Geschäftsbericht war gut. Jeglicher Misston wäre fehl am Platz gewesen. Und doch hatte der feinfühlige Mr Samuel Rotherstein etwas registriert, eine Nuance im Verhalten des Vorsitzenden.

In dessen Ton hatte ein- oder zweimal eine Schroffheit gelegen, eine Schärfe, die angesichts des Sitzungsverlaufs vollkommen deplatziert gewesen war.

Vielleicht eine heimliche Sorge? Doch irgendwie passten für Rotherstein eine heimliche Sorge und Alistair Blunt nicht zusammen. Er war solch ein nüchterner Mensch, so absolut normal. So urbritisch.

Natürlich konnte es immer die Leber sein … Mr Rotherstein machte seine Leber gelegentlich etwas zu schaffen. Alistair hatte er allerdings noch nie über seine Leber klagen gehört. Alistairs Körper war genauso gesund wie sein Geist und sein Sinn für Finanzen. Er war nicht irritierend fit, sondern schlicht und einfach wohlauf.

Und trotzdem, trotzdem war da etwas: Ein- oder zweimal war die Hand des Vorsitzenden zum Gesicht gewandert. Er hatte dagesessen und das Kinn aufgestützt. Keinesfalls seine normale Haltung. Und ein-, zweimal wirkte er tatsächlich, ja zerstreut.

Sie traten aus dem Sitzungssaal und gingen die Treppe hinunter.

»Kann ich Sie vielleicht irgendwohin mitnehmen?«, fragte Rotherstein.

Lächelnd schüttelte Alistair Blunt den Kopf.

»Mein Wagen wartet bereits.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Ich fahre nicht in die City zurück.« Er hielt inne. »Die Sache ist nämlich die: Ich habe einen Zahnarzttermin.«

Das Rätsel war gelöst.

V

Hercule Poirot stieg aus dem Taxi, bezahlte den Fahrer und klingelte in der Queen Charlotte Street Nummer achtundfünfzig.

Nach einer kurzen Wartezeit wurde ihm von einem sommersprossigen rothaarigen Liftboy in Pagenuniform mit ernster Miene geöffnet.

»Mr Morley?«, sagte Hercule Poirot.

Tief in seinem Inneren schlummerte die lächerliche Hoffnung, Mr Morley sei eventuell zu einem Patienten gerufen worden, fühle sich unpässlich oder habe an diesem Tag keine Sprechstunde … Doch alles vergebens. Der Liftboy machte einen Schritt zurück, Hercule Poirot trat ein, und hinter ihm fiel die Tür erbarmungslos und unwiderruflich leise ins Schloss.

»Ihr Name, bitte?«, fragte der Liftboy.

Poirot nannte ihn, auf der rechten Seite der Eingangshalle wurde eine Tür aufgestoßen, und er betrat das Wartezimmer.

Der Raum war dezent und geschmackvoll möbliert, wirkte auf Hercule Poirot jedoch unbeschreiblich bedrückend. Auf dem polierten Sheraton-Tisch (ein Imitat) lagen, sorgfältig geordnet, Zeitungen und Zeitschriften. Auf der Hepplewhite-Anrichte (ein Imitat) standen zwei versilberte Sheffield-Kerzenständer sowie ein Tafelaufsatz. Den Kaminsims schmückten eine Bronzeuhr und zwei bronzene Vasen. Die Fenster waren von blauen Samtvorhängen verhüllt, die Polsterstühle mit einem jakobinischen Muster aus roten Vögeln und Blumen bezogen.

Auf einem von ihnen saß bereits jemand: militärische Erscheinung, grimmiger Schnurrbart, gelblicher Teint. Der Mann sah Poirot an, als beäugte er ein widerwärtiges Insekt. Es schien, als würde er sich nicht unbedingt sein Schießeisen herbeiwünschen, sondern eher seine Flit-Spritze zur Schädlingsbekämpfung. Poirot betrachtete ihn voller Widerwillen und dachte sich: Es gibt wahrlich einige Engländer, die derart unangenehm und lächerlich sind, dass man sie gleich bei der Geburt von ihren Qualen hätte erlösen sollen.

Nachdem er Poirot mit einem langen stechenden Blick fixiert hatte, schnappte sich der militärisch wirkende Herr die Times, drehte seinen Stuhl so, dass er Poirot nicht sehen musste, und widmete sich seiner Lektüre.

Poirot nahm den Punch.

Er führte ihn sich eingehendst zu Gemüte, empfand jedoch keine der Karikaturen als witzig.

Der Liftboy kehrte zurück, sagte: »Colonel Arrow-Bumby?« und geleitete den Offizier hinaus.

Poirot überlegte gerade, wie groß die Wahrscheinlichkeit sein mochte, dass es so einen Namen tatsächlich gab, als die Tür aufging und ein junger Mann von etwa dreißig Jahren hereinkam.

Während der Neuankömmling zum Tisch trat und fahrig die Titelblätter der Zeitschriften überflog, musterte Poirot ihn von der Seite. Ein unangenehm und gefährlich wirkender junger Mann, dachte er, möglicherweise sogar ein Mörder. Auf jeden Fall sah er einem Mörder weit ähnlicher als all die Mörder, die Hercule Poirot in seiner Laufbahn hinter Schloss und Riegel gebracht hatte.

Der Liftboy öffnete die Tür und sagte ins Leere hinein:

»Mr Peerer.«

Poirot fühlte sich von diesem Aufruf zu Recht angesprochen und erhob sich. Der Boy führte ihn ans Ende der Eingangshalle und um eine Ecke zu einem kleinen Aufzug, mit dem er ihn in den zweiten Stock hinauffuhr. Dort ging er mit ihm einen Gang entlang, öffnete eine Tür, die in ein kleines Vorzimmer führte, klopfte an eine zweite Tür, öffnete sie, ohne eine Antwort abzuwarten, und trat zurück, um Poirot durchzulassen.

Zum Klang von fließendem Wasser ging Poirot hinein und erblickte hinter der Tür Mr Morley, der sich mit professionellem Elan in einem Becken an der Wand die Hände wusch.

VI

Selbst im Leben der größten Menschen gibt es gewisse demütigende Momente. In den Augen seines Kammerdieners, heißt es, sei niemand ein Held. Dem ließe sich hinzufügen, dass während eines Zahnarztbesuchs wenige auch nur in ihren eigenen Augen ein Held sind.

Hercule Poirot war sich dieser Tatsache mit grausamer Deutlichkeit bewusst.

Er war es gewohnt, eine hohe Meinung von sich zu haben. Er war Hercule Poirot – und anderen in vielerlei Hinsicht überlegen. Doch in diesem Augenblick war er nicht in der Lage, sich auch nur in irgendeiner Form überlegen zu fühlen. Seine Stimmung war auf dem Nullpunkt. Er war jetzt lediglich ein ganz gewöhnlicher Feigling, ein Mann, der Angst vor dem Zahnarztstuhl hatte.

Mr Morley hatte seine professionelle Waschung beendet. Jetzt bediente er sich seiner aufmunternden Arztstimme.

»Längst nicht warm genug für diese Jahreszeit, nicht wahr?«, sagte er.

Behutsam geleitete er Poirot zum designierten Ort: dem STUHL! Flink machte er sich an der Kopfstütze zu schaffen, bewegte sie auf und ab.

Hercule Poirot atmete tief durch, trat näher, setzte sich, entspannte den Kopf und überließ ihn Mr Morleys fachkundigem Herumhantieren.

»So!«, sagte Mr Morley fürchterlich fröhlich. »Ist es einigermaßen bequem? Sicher?«

Mit Grabesstimme erwiderte Poirot, es sei einigermaßen bequem.

Mr Morley zog das Schwebetischchen näher zu sich heran, nahm den kleinen Mundspiegel zur Hand, griff nach einem Instrument und schickte sich an, mit der Arbeit zu beginnen.

Hercule Poirot umklammerte die Armlehnen, schloss die Augen und öffnete den Mund.

»Irgendwelche Beschwerden?«, erkundigte sich der Zahnarzt.

Da sich mit geöffnetem Mund nur schwer Konsonanten formen lassen, gab Hercule Poirot etwas undeutlich zu verstehen, dass er keine Beschwerden habe. Dies war in der Tat lediglich eine der halbjährlichen Kontrolluntersuchungen, nach denen sein Sinn für Ordnung und Reinlichkeit verlangte. Es könnte also sein, dass überhaupt nichts zu tun war … Mr Morley könnte zum Beispiel den zweiten Zahn von hinten übersehen, der so gezwickt hatte. Er könnte es tun, doch es war eher unwahrscheinlich, denn Mr Morley war ein ausgezeichneter Zahnarzt.

Langsam arbeitete sich Mr Morley von Zahn zu Zahn voran und klopfte und stocherte herum, wobei er kurze Kommentare vor sich hin murmelte.

»Diese Füllung ist etwas abgenutzt, aber es ist nichts Ernstes. Das Zahnfleisch ist erfreulicherweise in ziemlich gutem Zustand.« Ein Innehalten an einer verdächtigen Stelle, ein Kratzen mit der Sonde – nein, weiter, blinder Alarm. Jetzt war der Unterkiefer an der Reihe. Unten links eins, zwei – weiter zur Drei? Nein. Der Spürhund, Hercule Poirot ging ein wirrer Vergleich durch den Kopf, wittert den Braten.

»Hier haben wir ein kleines Problem. Das hat Ihnen keine Schmerzen bereitet? Hm, merkwürdig.« Die Sonde kratzte weiter.

Endlich richtete sich Mr Morley befriedigt auf.

»Nichts allzu Ernstes. Lediglich zwei Füllungen – und eine Spur von Karies an dem oberen Backenzahn. Ich glaube, das können wir alles jetzt gleich erledigen.«

Er betätigte einen Schalter, und sofort war ein Surren zu hören. Mr Morley nahm den Bohrer aus der Aufhängung und setzte mit liebevoller Sorgfalt eine Nadel ein.

»Geben Sie mir ein Zeichen«, sagte er knapp und widmete sich der gefürchteten Arbeit.

Poirot musste von diesem Angebot keinen Gebrauch machen, musste nicht die Hand hochheben, zusammenzucken oder gar brüllen. Mr Morley schaltete den Bohrer genau im richtigen Moment ab, erteilte den kurzen Befehl: »Spülen!«, tupfte etwas auf den Zahn, wählte eine neue Nadel aus und fuhr fort. Das Schlimme beim Bohren war nicht der Schmerz, sondern die panische Angst.

Als Mr Morley kurz darauf die Füllung vorbereitete, kam das Gespräch wieder in Gang.

»Heute Vormittag muss ich alles selbst machen«, erklärte er. »Miss Nevill musste weg. Sie erinnern sich doch an Miss Nevill?«

Bewusst wahrheitswidrig bejahte Poirot dies.

»Musste zu einer kranken Verwandten aufs Land. So was passiert immer genau dann, wenn hier viel los ist. Ich bin jetzt schon in Verzug. Der Patient vor Ihnen hatte sich verspätet. Höchst ärgerlich, so etwas. Bringt den ganzen Terminplan durcheinander. Außerdem muss ich noch eine Patientin dazwischenschieben, weil sie akute Schmerzen hat. Für solche Fälle kalkuliere ich vormittags immer eine Extraviertelstunde ein. Macht aber trotzdem alles hektischer.«

Prüfend blickte Mr Morley in seinen kleinen Mörser. Dann mahlte er weiter und nahm seinen Vortrag wieder auf.

»Ich erzähle Ihnen jetzt mal etwas, was ich immer wieder beobachtet habe, Monsieur Poirot. Die großen, wichtigen Leute sind stets pünktlich, lassen einen nie warten. Die Mitglieder des Königshauses etwa. Peinlich korrekt. Und die großen Geschäftsleute ebenfalls. Gerade heute Vormittag kommt zum Beispiel jemand äußerst Wichtiges: Alistair Blunt!«

Der Triumph in Mr Morleys Stimme war unüberhörbar.

Poirot, den mehrere Watteröllchen sowie ein gläsernes Röhrchen, das unter seiner Zunge gurgelte, am Sprechen hinderten, gab einen undefinierbaren Laut von sich.

Alistair Blunt! Solche Namen elektrisierten die Menschen heutzutage. Keine Herzöge, keine Grafen, keine Premierminister. Nein, der unauffällige Mr Alistair Blunt. Ein Mann, dessen Gesicht der breiten Öffentlichkeit fast unbekannt war, ein Mann, der nur gelegentlich in einer dezenten Zeitungsnotiz erwähnt wurde. Niemand Spektakuläres.

Lediglich ein ruhiger unscheinbarer Engländer, der an der Spitze des größten englischen Bankhauses stand. Ein Mann von unermesslichem Reichtum. Ein Mann, der Regierungen ein- und absetzte. Ein Mann, der ein stilles unauffälliges Leben führte und nie in der Öffentlichkeit auftrat oder Reden hielt. Und doch jemand, in dessen Händen maximale Macht lag.

Als sich Mr Morley über Poirot beugte und die Füllung in den Zahn stopfte, klang seine Stimme noch immer ehrfürchtig.

»Erscheint stets absolut pünktlich zu seinen Terminen. Schickt oft den Wagen weg und geht zu Fuß zurück zum Büro. Ein netter, stiller, anspruchsloser Mensch. Spielt gern Golf und ist stolz auf seinen Garten. Man käme nicht im Traum auf die Idee, dass er halb Europa aufkaufen könnte! Jemand wie Sie und ich.«

Einfach so en passant mit diesem Herrn in einen Topf geworfen zu werden ließ einen leisen Groll in Poirot aufsteigen. Ja, Mr Morley war ein guter Zahnarzt, aber es gab auch noch andere gute Zahnärzte in London. Es gab jedoch nur einen Hercule Poirot.

»Bitte spülen«, sagte Mr Morley. »Verstehen Sie, das ist unsere Antwort auf diese Hitlers, Mussolinis und Konsorten«, fuhr er fort, während er die Zwei in Angriff nahm. »Wir machen hier keinen Wirbel. Sehen Sie doch, wie demokratisch unser König und unsere Königin sind. Natürlich, ein Franzose wie Sie, der sich an die republikanische Idee gewöhnt hat …«

»Ich in ich Anchose, ich in – Elljia.«

»Sch, sch«, sagte Mr Morley betrübt. »Das Loch muss absolut trocken sein.« Unermüdlich blies er warme Luft auf den Zahn.

Dann fuhr er fort:

»Mir war nicht klar, dass Sie Belgier sind. Sehr interessant. Sehr guter Mann, dieser König Leopold, habe ich läuten hören. Ich persönlich glaube fest an die Tradition des Königtums. Verstehen Sie, die Mitglieder der königlichen Familie werden durchaus geistig in Schuss gehalten. Schauen Sie sich nur ihre beachtliche Fähigkeit an, sich Namen und Gesichter zu merken. Alles eine Frage des Trainings, obwohl manche Leute selbstredend ein natürliches Talent auf diesem Gebiet haben. Ich zum Beispiel. Namen kann ich mir nicht merken, aber es ist schon erstaunlich, dass ich nie ein Gesicht vergesse. Neulich etwa, bei einem meiner Patienten – ich wusste, ich war ihm schon einmal begegnet. Der Name hat mir nichts gesagt, aber ich dachte sofort: Wo habe ich Sie bloß schon einmal gesehen? Ich bin immer noch nicht darauf gekommen, aber es wird mir wieder einfallen, das weiß ich genau. Jetzt noch einmal spülen, bitte.«

Als Poirot fertig gespült hatte, sah Mr Morley seinem Patienten kritisch in den Mund.

»Na, das sieht doch gut aus. Und jetzt ganz langsam schließen – alles in Ordnung? Sie spüren die Füllung gar nicht? Bitte noch einmal öffnen. Nein, das sieht alles rundherum gut aus.«

Hercule Poirot stieg vom Behandlungsstuhl herunter, ein freier Mann.

»Also, auf Wiedersehen, Monsieur Poirot. Sie haben doch hoffentlich in meinem Haus keine Verbrecher entdeckt?«

Mit einem Lächeln erwiderte Poirot:

»Bevor ich hier hochkam, sahen alle wie Verbrecher aus! Das wird sich jetzt vielleicht ändern!«

»Ah ja, ein Riesenunterschied zwischen vorher und nachher! Obwohl wir Zahnärzte heutzutage nicht mehr solche Ungeheuer sind wie früher. Soll ich nach dem Aufzug klingeln?«

»Nein, nein, ich gehe zu Fuß.«

»Wie Sie wünschen. Der Lift ist gleich neben der Treppe.«

Poirot ging hinaus. Während er die Tür hinter sich schloss, hörte er wieder Wasser ins Becken laufen.

Er stieg die zwei Treppen hinab. Als er zum letzten Absatz kam, sah er, wie der angloindische Colonel hinausgeleitet wurde. Sieht eigentlich alles andere als schlecht aus, dachte er besänftigt. Wahrscheinlich ein guter Schütze, der schon so manch einen Tiger erlegt hat. Ein wertvoller Mann, ein regelrechter Vorposten des Empire.

Er ging ins Wartezimmer, um sich Hut und Stock zu holen, die er dort abgelegt hatte. Der fahrige junge Mann war, zu Poirots leiser Verwunderung, noch immer dort. Ein weiterer Patient las in einer Sportzeitschrift.

Beseelt von seiner neu erwachten Gutmütigkeit musterte Poirot den jungen Mann. Er wirkte noch immer sehr grimmig, fast als wollte er einen Mord begehen, und doch nicht wirklich wie ein Mörder, dachte Poirot wohlwollend. Zweifelsohne würde dieser junge Mann in Kürze nach überstandener Tortur fröhlich lächelnd die Treppe heruntergestolpert kommen und niemandem mehr etwas zuleide tun wollen.

Der Liftboy trat herein und sagte mit fester, deutlicher Stimme:

»Mr Blunt.«

Der Mann legte die Sportzeitschrift aus der Hand und erhob sich. Ein mittelgroßer Herr mittleren Alters, weder dick noch dünn. Gut gekleidet, gelassen.

Er folgte dem Boy hinaus.

Einer der reichsten und mächtigsten Männer Englands, und trotzdem musste er, genau wie alle anderen, zum Zahnarzt gehen und tat es zweifellos mit genau den gleichen Gefühlen wie alle anderen auch!

Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, ergriff Hercule Poirot Hut und Stock und ging zur Tür. Dabei warf er noch einen Blick zurück und registrierte erschrocken, dass der junge Mann wirklich sehr starke Zahnschmerzen haben musste.

In der Eingangshalle hielt Poirot vor dem Spiegel inne, um sich den Schnurrbart zu richten, der infolge von Mr Morleys Fürsorge etwas außer Form geraten war.

Gerade als er ihn zu seiner Zufriedenheit zurechtgestrichen hatte, kam der Aufzug wieder herunter, und der Liftboy tauchte, laut und falsch pfeifend, am hinteren Ende der Halle auf. Sobald er Poirot sah, hörte er abrupt auf und beeilte sich, ihm die Haustür zu öffnen.

Soeben war ein Taxi vorgefahren, aus dessen Fondtür ein Fuß ragte. Poirot musterte ihn mit galantem Interesse.

Eine elegante Fessel, ein Strumpf von recht guter Qualität. Gar nicht übel, der Fuß. Der Schuh gefiel ihm allerdings überhaupt nicht. Ein nagelneuer Lackschuh mit einer großen glänzenden Schnalle. Er schüttelte den Kopf.

Alles andere als schick – ausgesprochen provinziell!

Die Dame stieg aus dem Taxi, blieb dabei jedoch mit dem anderen Fuß an der Tür hängen, sodass die Schnalle abriss. Mit einem Pling landete sie auf dem Bürgersteig. Galant sprang Poirot hinzu, hob sie auf und reichte sie der Dame mit einer Verbeugung.

Ach! Leider eher fünfzig als vierzig. Ein Kneifer. Unordentliches gelbgraues Haar, unvorteilhafte Kleider, diese tristen geschmäcklerischen Grüns! Sie dankte ihm, wobei ihr erst der Kneifer und dann die Handtasche zu Boden fielen.

Poirot sammelte beides ein, jetzt nicht mehr aus Galanterie, sondern aus Höflichkeit.

Sie ging die Stufen zum Haus Queen Charlotte Street Nummer achtundfünfzig hinauf, und Poirot unterbrach den Chauffeur bei der empörten Begutachtung eines mageren Trinkgelds.

»Sie sind frei, nein

»O ja, und wie«, erwiderte der Taxifahrer trübsinnig.

»Ich auch«, meinte Hercule Poirot. »Frei von Sorgen!«

Er sah das tiefe Misstrauen im Blick des Fahrers.

»Nein, mon ami, ich bin nicht betrunken. Ich war nur gerade beim Zahnarzt und muss erst wieder in einem halben Jahr hin. Das ist ein wunderbarer Gedanke.«

Das Geheimnis der Schnallenschuhe

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