Читать книгу Mord im Orientexpress - Agatha Christie - Страница 6

Drittes Kapitel Poirot lehnt einen Auftrag ab

Оглавление

Monsieur Hercule Poirot kam am nächsten Mittag etwas verspätet in den Speisewagen. Er war früh aufgestanden, hatte fast allein gefrühstückt und dann den Vormittag damit verbracht, die Notizen zu dem Fall durchzulesen, der ihn nach London zurückrief. Von seinem Abteilgefährten hatte er noch wenig zu sehen bekommen.

Monsieur Bouc, der bereits Platz genommen hatte, winkte seinem Freund zur Begrüßung zu und bot ihm den freien Platz ihm gegenüber an. Poirot setzte sich und sah sich bald in der privilegierten Situation, an einem Tisch zu sitzen, der nicht nur immer zuerst bedient wurde, sondern von allem auch die besten Stücke bekam. Zudem war das Essen ungemein gut.

Erst bei einem delikaten Frischkäse gestattete Monsieur Bouc es seinen Gedanken, sich von der Nahrungsaufnahme ab- und etwas anderem zuzuwenden. Er hatte jenes Stadium der Mahlzeit erreicht, in dem der Mensch philosophisch wird.

»Ach«, seufzte er. »Hätte ich nur Balzacs Feder, wie gern würde ich diese Szene beschreiben.« Er zeigte in die Runde.

»Keine schlechte Idee«, sagte Poirot.

»Ah, Sie finden das auch? Das hat noch niemand gemacht, glaube ich. Und doch, mein Freund – es bietet sich als Romanstoff geradezu an. Um uns herum sitzen Menschen aller Schichten, aller Nationalitäten, jeden Alters. Für drei Tage bilden diese Menschen, lauter Fremde füreinander, eine Gemeinschaft. Sie schlafen und essen unter einem Dach, sie können sich nicht aus dem Weg gehen. Und nach den drei Tagen trennen sie sich wieder, jeder geht seine eigenen Wege, und sie werden sich vielleicht nie wieder sehen.«

»Dennoch«, meinte Poirot, »nehmen wir einmal an, ein Unglück –«

»Nicht doch, mein Lieber –«

»Aus Ihrer Sicht wäre das gewiss bedauerlich, zugegeben. Nehmen wir es trotzdem einmal an. Dann wären alle diese Menschen für immer miteinander verbunden – durch den Tod.«

»Trinken wir noch ein Glas Wein«, sagte Monsieur Bouc und schenkte schnell nach. »Sie haben eine schlimme Phantasie, mon cher. Vielleicht kommt das von der Verdauung.«

»Es ist wahr«, räumte Poirot ein, »das Essen in Syrien war meinem Magen nicht so recht zuträglich.«

Er trank einen Schluck Wein. Dann lehnte er sich zurück und blickte sich nachdenklich im Speisewagen um. Dreizehn Leute saßen da, und wie Monsieur Bouc gesagt hatte, waren es Menschen aller Klassen und Nationalitäten. Er sah sie sich genauer an.

Am Tisch gegenüber saßen drei Männer. Sie waren seiner Einschätzung nach Alleinreisende, vom unfehlbaren Blick des Speisewagenpersonals als solche erkannt und an denselben Tisch verwiesen. Ein korpulenter, dunkelhäutiger Italiener stocherte genüsslich in seinen Zähnen. Ihm gegenüber saß ein hagerer, adretter Engländer mit dem ausdruckslos missbilligenden Gesicht des geschulten Dieners. Neben dem Engländer saß ein vierschrötiger Amerikaner in einem schreienden Anzug – möglicherweise ein Handlungsreisender.

»Man muss da groß einsteigen«, verkündete er soeben laut und näselnd.

Der Italiener nahm seinen Zahnstocher aus dem Mund und gestikulierte ungeniert damit herum.

»Klar«, meinte er. »Sag ich doch die ganze Zeit.«

Der Engländer blickte aus dem Fenster und hüstelte.

Poirots Blick wanderte weiter.

An einem kleinen Tisch saß kerzengerade eine alte Dame, wie er sie hässlicher kaum je gesehen hatte. Es war allerdings eine Hässlichkeit von eigener Würde, die eher faszinierte als abstieß. Die Dame saß sehr aufrecht. An ihrem Hals hing ein Collier aus sehr großen Perlen, die aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz echt waren. Ihre Hände waren mit Ringen bedeckt. Sie hatte ihre Zobeljacke über den Schultern zurückgeschlagen. Ein sehr kleines, teures schwarzes Hütchen passte ausgesprochen schlecht zu dem gelblichen Krötengesicht darunter.

Soeben sprach sie mit klarer Stimme, die höflich, aber befehlsgewohnt klang, zum Speisewagenkellner:

»Haben Sie die Liebenswürdigkeit, mir eine Flasche Mineralwasser und ein großes Glas Orangensaft ins Abteil zu bringen. Und sorgen Sie dafür, dass ich heute zum Abendessen gedünstetes Hühnchen ohne Beilagen bekomme – und ein Stückchen gekochten Fisch.«

Der Kellner versicherte ihr respektvoll, dass es so geschehen werde. Sie nickte gnädig, dann erhob sie sich. Dabei streifte ihr Blick ganz kurz Poirot, huschte aber mit aristokratischer Nonchalance sogleich über ihn hinweg.

»Das ist die Fürstin Dragomiroff«, sagte Monsieur Bouc leise. »Russin. Ihr Gatte hat vor der Revolution sein ganzes Geld flüssig gemacht und im Ausland angelegt. Sie ist steinreich. Eine Kosmopolitin.«

Poirot nickte. Er hatte von der Fürstin Dragomiroff schon gehört.

»Eine Persönlichkeit«, sagte Monsieur Bouc. »Hässlich wie die Sünde, aber sie versteht Eindruck zu machen. Finden Sie nicht auch?«

Poirot fand das auch.

An einem der anderen großen Tische saß Mary Debenham mit noch zwei Frauen zusammen. Die eine, hochgewachsen und mittleren Alters, trug eine karierte Bluse mit Tweedrock. Ihr volles, abgestumpftes blondes Haar war unvorteilhaft zu einem großen Knoten geschlungen; dazu hatte sie eine Brille auf, und ihr langes Gesicht hatte die Sanftmut und Liebenswürdigkeit eines Schafs. Sie hörte der Dritten zu, einer robusten älteren Frau mit freundlichem Gesicht, die einen langen Monolog herunterleierte und scheinbar weder Luft zu holen brauchte, noch je ein Ende zu finden gedachte.

»… und da sagte meine Tochter: ›Hör mal‹, sagte sie, ›du kannst in diesem Land keine amerikanischen Sitten einführen. Faul zu sein liegt einfach in der Natur dieser Menschen‹, sagte sie. ›Sie haben es nun einmal nie eilig.‹ Und trotzdem, Sie würden staunen, wenn Sie sehen könnten, was unsere Schule dort zu Wege bringt. Die haben sehr gute Lehrer. Ich denke, es geht nichts über Bildung. Wir müssen unsere westlichen Ideale zur Geltung bringen und den Osten lehren, sie anzuerkennen. Meine Tochter sagt –«

Der Zug fuhr in einen Tunnel ein. Die monotone Stimme wurde kurzerhand ertränkt.

Am Tisch daneben, einem kleinen, saß Colonel Arbuthnot – allein. Sein Blick klebte an Mary Debenhams Hinterkopf. Sie saßen nicht zusammen. Dabei hätte sich das leicht so einrichten lassen. Warum?

Vielleicht ziert sich Mary Debenham, dachte Poirot. Als Gouvernante weiß sie sich vorzusehen. Der Schein ist alles. Eine junge Frau, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen will, muss auf Diskretion achten.

Sein Blick wanderte weiter zur anderen Seite. Am fernen Ende, gleich bei der Wand, saß eine schwarzgekleidete Frau mittleren Alters mit breitem, ausdruckslosem Gesicht. Deutsche oder Skandinavierin, dachte er. Wahrscheinlich die deutsche Zofe.

Ihr zunächst saßen ein Mann und eine Frau, beide weit über den Tisch gelehnt und in angeregter Unterhaltung. Der Mann trug einen saloppen englischen Tweedanzug, aber er war kein Engländer. Obwohl Poirot nur seinen Hinterkopf sehen konnte, war dessen Form ebenso verräterisch wie die Schulterhaltung. Er war kräftig und gut gebaut. Als er plötzlich den Kopf wandte, sah Poirot sein Profil. Ein sehr gutaussehender Mann in den Dreißigern mit großem, blondem Schnurrbart.

Die Frau ihm gegenüber war fast noch ein junges Mädchen – vielleicht um die zwanzig. Sie trug ein enganliegendes schwarzes Kostüm, eine weiße Bluse und ein schickes schwarzes Hütchen, das sie nach der herrschenden Mode lächerlich schief auf dem Kopf sitzen hatte. Ihr schönes, fremdländisches Gesicht war schneeweiß, die großen Augen braun, die Haare pechschwarz. Sie rauchte eine Zigarette an einer langen Spitze. Ihre manikürten Fingernägel waren tiefrot. Sie trug einen großen, in Platin gefassten Smaragd. Ihr Blick war schelmisch, ihre Stimme kokett.

»Elle est jolie – et chic«, sagte Poirot leise. »Mann und Frau, ja?«

Monsieur Bouc nickte.

»Ungarische Botschaft, soviel ich weiß«, sagte er. »Ein schönes Paar.«

Sonst saßen nur noch zwei Leute beim Mittagessen – Poirots Abteilgenosse MacQueen und sein Arbeitgeber, Mr Ratchett. Letzterer saß Poirot zugewandt, und zum zweiten Mal betrachtete der Detektiv diese wenig einnehmenden Züge, die falsche Gutmütigkeit der Stirn und die kleinen, grausamen Augen.

Zweifellos erkannte Monsieur Bouc den veränderten Gesichtsausdruck seines Freundes.

»Sehen Sie wieder Ihr wildes Tier?«, fragte er.

Poirot nickte.

Als der Kaffee kam, erhob sich Monsieur Bouc. Er hatte vor Poirot mit dem Essen angefangen und war schon seit einiger Zeit damit fertig.

»Ich gehe wieder in mein Abteil«, sagte er. »Kommen Sie doch nachher auf ein Schwätzchen zu mir.«

»Mit Vergnügen.«

Poirot trank seinen Kaffee und bestellte noch einen Likör. Der Kellner ging mit seiner Geldkassette von Tisch zu Tisch, um zu kassieren. Die Stimme der älteren Amerikanerin erhob sich schrill und klagend.

»Meine Tochter hat gesagt: ›Kauf dir ein Heftchen Essensbons, und du hast keinerlei Schwierigkeiten.‹ Aber das ist ja nicht wahr. Immer kommen noch diese zehn Prozent Trinkgeld dazu, genauso diese Flasche Mineralwasser – und was für komisches Wasser! Evian oder Vichy hatten die nicht, und das finde ich schon komisch.«

»Es ist wohl – die müssen – wie sagt man – Wasser von Land servieren«, erklärte die Dame mit dem Schafsgesicht.

»Also, ich finde es komisch.« Sie starrte angewidert auf das Häufchen Wechselgeld, das vor ihr auf dem Tisch lag. »Sehen Sie sich dieses Zeug an, das er mir herausgegeben hat. Dinare oder so. Wertloser Kram, wenn Sie mich fragen. Meine Tochter hat gesagt –«

Mary Debenham schob ihren Stuhl zurück, nickte den beiden anderen kurz zu und ging. Colonel Arbuthnot stand ebenfalls auf und folgte ihr. Die Amerikanerin raffte ihr geschmähtes Wechselgeld zusammen und schloss sich an, nach ihr ging auch die Dame mit dem Schafsgesicht. Die beiden Ungarn waren schon fort. Im Speisewagen saßen jetzt nur noch Poirot, Ratchett und MacQueen.

Ratchett sagte etwas zu seinem Begleiter, worauf dieser aufstand und den Speisewagen verließ. Dann erhob auch er sich, aber er folgte MacQueen nicht nach draußen, sondern setzte sich völlig unerwartet Poirot gegenüber.

»Könnten Sie mir wohl Feuer geben?«, fragte er. Seine Stimme klang leise, ein wenig näselnd. »Mein Name ist Ratchett.«

Poirot deutete eine Verbeugung an. Er griff in die Tasche, nahm eine Schachtel Zündhölzer heraus und reichte sie seinem Gegenüber, der sie nahm, aber kein Zündholz anriss.

»Ich glaube, ich habe das Vergnügen, mit Monsieur Hercule Poirot zu sprechen«, sagte er. »Richtig?«

Poirot neigte wieder den Kopf. »Man hat Sie richtig informiert, Monsieur.«

Der Detektiv merkte sehr wohl, wie diese sonderbar verschlagenen Augen ihn von oben bis unten musterten, bevor der andere wieder sprach.

»In meiner Heimat«, sagte er, »kommen wir immer gleich zur Sache, Mr Poirot. Ich möchte Sie gern für einen Auftrag engagieren.«

Hercule Poirot zog kaum merklich die Augenbrauen hoch.

»Meine clientèle, Monsieur, ist inzwischen sehr begrenzt. Ich übernehme nur noch ganz wenige Fälle.«

»Gut, das verstehe ich natürlich. Aber dieser Fall bedeutet Geld, Mr Poirot.« Und mit seiner leisen, beschwörenden Stimme fügte er an: »Viel Geld.«

Hercule Poirot war eine Weile still, dann fragte er: »Um was für ein Anliegen handelt es sich denn, Monsieur – äh – Ratchett?«

»Mr Poirot, ich bin ein reicher Mann – sehr reich. In dieser Position hat man Feinde. Ich habe einen Feind.«

»Nur einen?«

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Ratchett scharf zurück.

»Monsieur, wenn ein Mann in einer Position ist, in der man, wie Sie sagen, Feinde hat, dann handelt es sich nach meiner Erfahrung meist nicht nur um einen Feind.«

Ratchett schien ob dieser Antwort erleichtert. Er sagte rasch: »Gut, da muss ich Ihnen recht geben. Feind oder Feinde – darauf kommt es nicht an. Worauf es ankommt, ist meine Sicherheit.«

»Sicherheit?«

»Mein Leben wurde bedroht, Mr Poirot. Nun gehöre ich ja eigentlich zu denen, die ganz gut auf sich selbst aufpassen können.« Er nahm eine kleine Pistole aus der Jackentasche und ließ sie Poirot eine Sekunde lang sehen. Dann fuhr er mit grimmiger Miene fort: »Ich glaube, einen wie mich überrumpelt man nicht so leicht. Aber bei näherem Hinsehen würde ich mich doch gern doppelt versichern. Ich denke, Sie wären der richtige Mann für mein Geld, Mr Poirot. Und nicht vergessen – viel Geld.«

Poirot betrachtete ihn eine Weile nachdenklich. Seine Miene war völlig ausdruckslos. Der andere hätte im Leben nicht erraten können, was in seinem Kopf vorging.

»Bedaure, Monsieur«, sagte er schließlich. »Ich kann Ihnen nicht dienen.«

Der andere sah ihn listig an.

»Dann nennen Sie mir Ihre Summe«, sagte er.

Poirot schüttelte den Kopf.

»Sie verstehen mich falsch, Monsieur. Ich war in meinem Beruf sehr erfolgreich. Ich habe genug Geld verdient, um sowohl meine Bedürfnisse als auch meine Launen zu befriedigen. Ich übernehme nur noch Fälle, die – mich interessieren.«

»Sie sind ein harter Brocken«, sagte Ratchett. »Könnten zwanzigtausend Dollar Sie interessieren?«

»Nein.«

»Wenn Sie den Preis hochtreiben wollen – mehr bekommen Sie nicht. Ich weiß, was mir eine Sache wert ist.«

»Ich auch – Monsieur Ratchett.«

»Was gefällt Ihnen an meinem Angebot nicht?«

Poirot erhob sich.

»Wenn Sie mir die Freimütigkeit verzeihen, Monsieur Ratchett – mir gefällt Ihr Gesicht nicht«, antwortete er.

Und damit verließ er den Speisewagen.

Mord im Orientexpress

Подняться наверх