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Kapitel 2

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„Doch sie war kein Geist“, murmelte die alte Emilie.

„Ich hoffe, ich störe Sie nicht zu sehr bei Ihren Selbstgesprächen, aber Geister gibt es nicht“, sagte die Verkäuferin.

Emilie schüttelte energisch den Kopf. „Natürlich nicht! Ich bin alt. Nicht dämlich“, brummte sie. „Das Hausmädchen war selbstverständlich kein Geist! Sie war ein KZ-Häftling und hieß Anna.“

Die Verkäuferin ließ beinahe die Rosen fallen. „Ihr Hausmädchen war ein KZ-Häftling?“

Emilie sah sie verblüfft an. „Ah! Habe ich das gerade laut gesagt? Das Alter ist ein Fluch, sage ich Ihnen.“ Sie schimpfte leise vor sich hin. „Wie alt sind Sie? Achtzehn?“, fragte sie dann.

„Knapp daneben. Ich bin dreißig.“

Missmutig schüttelte Emilie den Kopf. „Im Alter geht doch alles flöten. Nun lassen mich auch noch meine Augen im Stich.“

Die Verkäuferin strahlte. „Tatsächlich werde ich immer jünger geschätzt. Mit Ihren Augen ist somit alles in Ordnung.“

Emilie warf ihr einen kalten Blick zu. „Na, wenn Sie meinen“, sagte sie und bezahlte.

„Was war nun mit dem Hausmädchen?“, hakte die Verkäuferin nach.

„Pardon? Welches Hausmädchen?“

„Na, Anna.“

„Ach, Anna. Ja nun, sie war ein KZ-Häftling, weil das Judendorf eigentlich ein Konzentrationslager war“, erklärte sie sachlich. Und mein Vater war Aufseher, dachte sie, war sich aber nicht ganz sicher, ob sie es laut ausgesprochen hatte. Manchmal kam sie eben durcheinander.

„Natürlich“, murmelte die Verkäuferin, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Als sie den Laden verließ, war das kleine Mädchen verschwunden. Ein merkwürdiges Gefühl ergriff sie. Irgendetwas stimmte nicht. Und warum lag plötzlich der Geruch von Asche in der Luft? Mit einem Mal verspürte sie einen Druck in der Brust. Sie blieb stehen und schnaubte kurz auf. Die Luft war so dick, dass man sie buchstäblich schneiden konnte. Sie schloss kurz die Augen und wartete einen Schwindelanfall ab. Und da war der Spuk auch wieder vorbei. Die Luft strömte wieder mühelos in ihre Lungen. Und sie atmete einmal tief ein und aus.

„Frau Lauenstein, alles in Ordnung?“, fragte Kaya fürsorglich, als sie wieder in den Wagen stieg.

„Ja, doch. Ja, doch. Nur ein Lastwagen hatte kurz auf meiner Brust geparkt. Fahren Sie bitte los.“

„Lastwagen?“

„Machen Sie einfach das Fenster weiter auf. Es ist etwas drückend heute.“ Sie öffnete den obersten Knopf ihres Mantels, lehnte sich nach hinten und ließ sich die frische, kühle Luft um die Nase wehen. Mit geschlossenen Augen ruhte sie auf ihrem Sitz.

„Sie sehen etwas blass aus“, bemerkte Kaya.

Emilie kniff die Augen zusammen. „Ach was! Das ist meine natürliche Farbe“, brummte sie. „Ich sehe immer so aus.“

Der Chauffeur kratzte sich am Kopf. „Ja nun.“

„Was, ja nun?“

„Ah, nichts“, murmelte Kaya und startete den Wagen.

Emilie schloss ihre Augen und öffnete sie wieder, als sie ein paar Minuten später den Friedhof erreichten. Leise stöhnend stieg sie aus dem Auto. Ihre alten Knochen knackten in allen Gliedern. „Den Stock, Kaya … geben Sie mir doch den Stock!“ Nervös und aufgebracht fuchtelte sie mit den Armen. „Und die Rosen … geben Sie mir auch die Rosen. Schlafen Sie doch nicht, Kaya!“, knurrte sie mit einer tiefen Stimme. Mit zittrigen Händen brachte sie den Gehstock in den richtigen Winkel und tappte langsam davon.

Während sie also vor sich hin tappte, fragte sie sich, wieso sie all die Jahre nicht mehr an Anna gedacht hatte. Schließlich war es ein sehr wichtiger Abschnitt in ihrem Leben gewesen. Doch sie hatte keine Antwort darauf.

Auf dem Friedhof passierte es zum zweiten Mal. Emilie entfernte gerade die alten Blumen vom Grab und als sie aufblickte, sah sie das Mädchen etwa vier Meter entfernt unter der großen Eiche stehen. Die Kleine blickte zu ihr herüber und roch dabei an einer weißen Rose.

„Merkwürdiges Gör“, murmelte Emilie. „So ganz allein auf einem Friedhof. Zum Gruseln ist das.“

Nun meinte sie aber etwas anderes an dem Mädchen wiedererkannt zu haben als nur das blaue Kleid. Und just in diesem Moment wusste sie, was es war: die weiße Rose.

Sie schnappte zum zweiten Mal an diesem Tag laut nach Luft. „Die Rose“, sagte sie. „Meine Güte … meine Güte, aber natürlich. Anna musste für Mutter immer weiße Rosen auf den Wohnzimmertisch stellen, denn sie liebte Rosen. Früher, als sie noch im Theater gesungen hatte, hatte sie viele Rosen von Verehrern bekommen“, fügte sie dann leise hinzu.

Ein neuer Schwall von Erinnerungen traf sie wie ein Blitz.

Eines Morgens beobachtete Emilie, wie Anna eine Vase mit weißen Rosen auf dem Wohnzimmertisch abstellte. Das neue Hausmädchen war bereits seit zwei Wochen bei ihnen, doch Emilie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit ihr zu sprechen. Mutter hatte es ihr verboten. „In so einem großen Haus gibt es eine Menge zu tun, da musst du Anna nicht von der Arbeit abhalten. Tu einfach so, als wäre sie nicht da“, hatte sie gesagt.

Und so sauste das Hausmädchen von einer zur anderen Ecke. Wie ein fleißiges Bienchen schwirrte sie mit einer verängstigten Miene durchs Haus. Sie wusch, putzte, fegte, legte Kleidungsstücke für Emilie heraus und hielt den Mund, außer sie wurde angesprochen. Dann antwortete sie in kurzen, knappen Sätzen. Als wäre sie etwas langsam im Kopf. Nach getaner Arbeit wurde sie von einem SS-Offizier abgeführt. Wohin er sie anschließend brachte, wusste Emilie nicht. Vermutlich ins Judendorf. Das nahm sie jedenfalls an. Und das fand sie richtig blöd. Schließlich war das Hausmädchen die einzige Abwechslung im Haus. Alles andere war sterbenslangweilig. Und sie konnte auch nicht so tun, als wäre Anna nicht da. Schließlich war sie nicht unsichtbar.

„Und wenn ihr wollt, besorge ich euch noch eine Köchin“, hatte Vater vorgeschlagen.

Na toll. Noch jemand, mit dem Emilie nicht reden durfte.

Mutter zog die Nase kraus. „Ich will nicht das ganze Haus voller dreckiger Juden haben.“

Zigarettenrauch drang in Emilies Nase. Es gab kaum eine Zeit, in der Mutter nicht rauchte. Oder sich einen Schluck Champagner gönnte.

„Gut. Dann waschen wir sie eben.“ Das merkwürdige Lachen ihres Vaters hallte durch den Salon.

„Wir bleiben erst mal bei Anna. Einer jüdischen Köchin traue ich nicht. Nachher spuckt sie uns noch ins Essen. Außerdem kann Anna kochen, falls ich ihr traue.“ Mutter hatte das letzte Wort. Schließlich war sie die Herrin des Hauses.

An dem besagten Morgen fühlte sich das Hausmädchen unbeobachtet, denn sie ließ sich erschöpft in den Stuhl fallen. Sie wirkte so zierlich und schwächlich, als wäre ihr jeder Handschlag zu viel.

Emilie erkannte ihre Gelegenheit. „Kommst du eigentlich aus dem Judendorf?“, fragte sie ein wenig zögerlich.

Wie von einer Tarantel gestochen sprang Anna auf die dürren, klapprigen Beine, doch als sie Emilie sah, machte sich Erleichterung auf ihrem verängstigten, eingefallenen Gesicht breit. Dann blinzelte sie verwundert. „Judendorf? Was für ein Judendorf?“ Sie hatte eine angenehme, weiche Stimme, die nicht so recht zu ihrem bedauernswerten Äußeren passen wollte.

Emilie räusperte sich leise. Dann beschloss sie, ganz langsam zu sprechen. Nur für den Fall, dass das Hausmädchen schwerhörig war. Oder langsam im Kopf. „Na, das Dorf, das mein Papa bewacht.“

Anna brauchte einen Moment. Emilie konnte förmlich sehen, wie die Rädchen in ihrem Oberstübchen sich drehten und quietschten. Sich drehten und quietschten. Dann, nachdem sie sich eine Weile gedreht hatten, nickte sie. „Nun. Ja. Dann komme ich aus dem Judendorf.“

Da wurde Emilie neugierig. „Bist du Jüdin?“, wollte sie wissen.

„Nun, schließlich wohne ich doch auch im Judendorf.“

„Hast du deswegen diese Nummer auf dem Arm?“

Einmal war Emilie mit ihrer Mutter bei Nachbarn gewesen und dort gab es einen Gärtner, der die gleiche Nummer hatte. Und da auch er aus dem Judendorf stammte, musste es einen Zusammenhang geben.

Anna senkte den Kopf und nickte langsam.

Emilie ließ ihren Blick über das Hausmädchen wandern. „Mutter sagt, dass Juden Krankheiten übertragen.“

Ein zögerliches Lächeln huschte über Annas Lippen. „Übertragen denn nicht alle Menschen Krankheiten?“, fragte sie leise, als hätte sie Angst, Emilie zu verärgern.

Emilie zuckte mit den Schultern. „Mag sein. Bei meiner Freundin habe ich mich mal mit Windpocken angesteckt.“

„Und? War sie Jüdin?“, wollte Anna wissen.

Emilie schüttelte langsam den Kopf. „Neeein. Na ja, manchmal irren sich Erwachsene auch. Ist es schön im Judendorf?“

Die Mundwinkel des Hausmädchens zuckten, als hätte sie einen kurzen, scharfen Schmerz verspürt. Ihr hageres Gesicht nahm einen seltsamen Ausdruck an. „Nun. Ich weiß nicht. Schönheit liegt bekanntlich im Auge des Betrachters“, meinte sie dann.

„Ich darf nicht hin.“ Emilie musterte das Hausmädchen und überlegte, ob sie sie fragen sollte, wieso sie so dürr war. Sie ließ es jedoch, weil es vielleicht unhöflich war. Schließlich fragte man dicke Menschen auch nicht danach, wieso sie so dick waren. „Wohnst du mit deiner Familie im Judendorf?“, erkundigte sie sich. Sie war neugierig zu erfahren, ob Anna noch Geschwister hatte. Geschwister zu haben, musste ganz toll sein, denn man war nicht so allein.

Anna wurde plötzlich traurig und sah noch bedauerlicher aus. Wie ein kleiner, abgemagerter Welpe, der seine Hundemama verloren hatte. „Nein. Meine Familie ist tot.“

„Das ist schlimm.“ Das berührte Emilie auf eine seltsame Weise. Schließlich wäre sie auch traurig, wenn ihre Eltern sterben würden. „War deine Familie nett?“

„Ja. Wir waren eine echt frohe Familie. Mein Vater war Arzt und meine Mutter Krankenschwester. Mein Bruder Stephan war fünfzehn und meine Schwester Edith war zwölf. Sie flocht ihr Haar zu zwei Zöpfen und hatte so einen albernen Hut …“ Annas Gesicht verzerrte sich merkwürdig, als hätte sie sich selbst bei einem Fehler ertappt. „Ist nicht wichtig. Tatsächlich bin nur noch ich übrig.“

Nun wurde Emilie richtig neugierig. „Woran ist deine Familie denn gestorben?“, wollte sie wissen. Schließlich kannte sie niemanden, der seine gesamte Familie verloren hatte.

Das Hausmädchen zuckte zusammen, als hätte sie sich vor irgendetwas erschreckt. „Meine Familie ist an einer Krankheit gestorben.“

Emilie machte große Augen. „Das muss aber eine schlimme Krankheit gewesen sein“, flüsterte sie düster.

„Ja. Eine ganz schlimme.“

Emilie hatte das Gefühl, dass ihr Herz in tausend Stücke gerissen wurde. Schließlich war es doch egal, wer seine Familie verlor. Eine Familie zu verlieren, war immer schlimm. Auch wenn man ein dreckiger Jude war, fand sie. „Das ist traurig“, sagte sie, dann schwieg sie kurz. „Wie alt bist du, Anna?“

Emilie konnte das Alter von Menschen schwer schätzen. Und bei dem Hausmädchen war es eine Herausforderung, weil sie doch so dürr wie eine alte Kuh war.

Anna sagte, dass sie achtzehn sei, und das war wirklich schwer zu glauben. Sie sah eher aus wie vierzehn. Wie ein vierzehnjähriger Junge. Im Ernst. „Du solltest bei uns wohnen. In der Dachkammer haben wir ein schönes Zimmer“, meinte Emilie. Sie hatte schon vor einigen Tagen herausgefunden, dass man durch eine unscheinbare Holztür in der Dachstube in einen kleinen Raum gelangte. Emilie hatte dort aufgeräumt, weil sie es als Spielzimmer nutzen wollte. Doch nun fand sie, dass Anna den Raum haben sollte. Sie schien nett zu sein und Emilie hätte jemanden zum Reden. Egal, was Mutter meinte. Anna war keine dreckige Jüdin. Zumindest nicht sehr. Nur ihr Kleid war etwas schmuddelig. „Ich spreche mit Mutti darüber.“

In diesem Augenblick kam Vater nach Hause. Er war in Begleitung eines jungen Offiziers. Sein Name war Horst. Emilie hatte ihn bereits kennengelernt. Er war ein blonder, groß gewachsener Bursche. Er hatte ein schönes Gesicht, volle Lippen und Augen so blau wie das Meer.

Beide Männer trugen ihre Uniformen und Waffen und wirkten respektabel. Ganz besonders Horst, fand Emilie.

Anna blickte erschrocken auf, dann machte sie sich emsig an die Arbeit. „Du solltest jetzt gehen“, zischte sie Emilie leise zu. „Es ist besser, wir behalten unsere Unterhaltung für uns.“

Emilie strahlte. „Ein Geheimnis. Das finde ich toll“, sagte sie und hüpfte davon, um ihren Vater zu begrüßen.

Die beiden Männer unterhielten sich gerade. Horst sagte: „Wenn der Wind von Westen kommt, öffnen Sie am besten keine Fenster. Der Gestank kann manchmal streng sein.“

Emilie fragte sich, ob er den Gestank nach verbrannten Gänsefedern meinte.

Vater nickte. „Die meisten Fenster im oberen Stockwerk lassen sich eh nicht öffnen.“

Das stimmte wohl. Seltsamerweise waren einige Fenster vernagelt und mit weißer Farbe überzogen. Und durch die Farbe konnte man Umrisse hoher Wachtürme erahnen.

„Noch eins: Falls Sie oder Ihre Gattin etwas benötigen, im Lager haben wir alles“, fuhr der junge Offizier fort. „Wir können alles besorgen. Manche Familien lassen sich mit allem beliefern. Die Juden brauchen die Sachen schließlich nicht mehr.“

Vater nickte. „Wir erstellen eine Liste. Ganz sicher fällt uns etwas ein.“

Die Sätze klangen wie ein Rätsel, das entschlüsselt werden musste, denn Emilie hatte absolut keine Ahnung, was sie bedeuteten.

Horst beugte sich nun zu ihr vor und schenkte ihr ein charmantes Lächeln. „Und dir, junge Dame, zeige ich gleich morgen die Schule. Es ist nicht weit von hier und du kannst mit dem Fahrrad fahren. Du musst wissen, dass wir hier eine kleine, gemütliche Siedlung mit vielen Annehmlichkeiten haben.“

„Werde ich durch das Judendorf fahren müssen?“, fragte Emilie ganz neugierig.

„Judendorf? Was meinst du damit?“ Der junge Offizier schaute sie verständnislos an.

Vater ging gleich dazwischen. „Nein, natürlich nicht. Das Judendorf wirst du nicht einmal sehen.“

Horst hielt kurz inne, dann machte er ein wissendes Gesicht. „Ach! Das Judendorf!“, rief er aus, als hätte er soeben eine weltbewegende Entdeckung gemacht. „Da brauchst du wirklich keine Bange haben. Es ist so, wie dein Vater sagt. Du wirst vielleicht ein paar jüdische Arbeiter sehen, doch vor denen brauchst du dich nicht zu ängstigen. Und wenn du dich doch ängstigen solltest, dann holst du einfach mich. Ich kümmere mich darum.“

Emilie nickte und war beruhigt. Horst machte einen glaubwürdigen Eindruck auf sie. Dann sagte sie: „Vor jüdischen Arbeitern habe ich keine Angst.“ Dabei musste sie an das Hausmädchen denken.

„Wie sind deine Sommerferien bis jetzt?“, wollte der junge Offizier wissen.

Emilies Herz machte einen Satz und sie spürte, wie sie ohne jeden Grund errötete. „Ganz in Ordnung. Nur etwas langweilig.“

Schließlich sagte Horst: „Na, eigentlich haben wir ganz viele Kinder im Ort, aber die meisten sind über die Ferien verreist.“

Obwohl es Emilie sehr tröstete, war sie froh, Anna zu haben.

Zwei Leben

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