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In der Welt – aber nicht von der Welt

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Es gibt eine Redewendung bei den Sufis: „In der Welt, aber nicht von der Welt sein.“ Dieser Satz kann viele Bedeutungen haben. Die Bedeutung hängt von der Situation sowie eurer eigenen Entwicklung und Fähigkeit zu verstehen ab. „In der Welt aber nicht von der Welt“ sein ist eine Frage der Orientierung. Ich werde über einige der Bedeutungen dieses Satzes sprechen, damit ihr eine besseres Verständnis davon bekommt, was wir hier machen.

Wenn ein Baby auf die Welt kommt, dann ist es praktisch ganz Essenz, oder reines Sein. Seine Essenz ist natürlich nicht dasselbe wie die Essenz eines entwickelten oder verwirklichten Erwachsenen. Es ist die Essenz eines Babys – nicht differenziert, alles in einem großen Bündel. Wenn das Kind heranwächst, beginnt sich als Ergebnis von Interaktionen mit der Umwelt und besonders mit den Eltern die Persönlichkeit zu entwickeln. Da die meisten Eltern mit ihrer Persönlichkeit und nicht mit ihrer Essenz identifiziert sind, erkennen oder ermutigen sie die Essenz des Kindes nicht. Nach ein paar Jahren ist die Essenz also einfach vergessen und statt der Essenz entwickelt sich die Persönlichkeit. Essenz wird durch verschiedene Identifikationen ersetzt. Das Kind identifiziert sich mit dem einen oder anderen Elternteil, dieser oder jener Erfahrung und mit allen möglichen Vorstellungen von sich selbst. Während das Kind heranwächst, werden diese Identifikationen, Erfahrungen und Vorstellungen als seine Persönlichkeit verfestigt und strukturiert. Das Kind, und später der Erwachsene, hält diese Struktur für sein wahres Selbst. Doch war die Essenz von Anfang an da und ist immer noch da. Obwohl sie nicht gesehen und erkannt wurde, sogar auf vielerlei Weise zurückgewiesen und verletzt wurde, ist sie immer noch da. Um sich zu schützen, ist sie in den Untergrund gegangen, untergetaucht. Was sie verbirgt, ist die Persönlichkeit.

Eine Persönlichkeit zu haben ist nichts Schlechtes. Man muß eine haben. Ohne sie könnte man nicht überleben. Wenn ihr aber die Persönlichkeit als das nehmt, was ihr in Wahrheit seid, dann entstellt ihr die Realität, weil ihr nicht nur eure Persönlichkeit seid. Die Persönlichkeit ist aus Erfahrungen der Vergangenheit, aus Vorstellungen, aus Anschauungen, aus Identifikationen zusammengesetzt. Ihr habt das Potential, eine wirkliche Individualität zu entwickeln, die persönliche Essenz, die etwas anderes als die Persönlichkeit ist, die den Verlust der Essenz verdeckt. Aber dieses Potential wird gewöhnlich von dem, was wir unser Ego nennen, unserem eigenen erworbenen Gefühl von Identität, in Besitz genommen.

Wenn jemand glaubt, er selbst sei das Ego, die Identifikationen, Vorstellungen und Erfahrungen der Vergangenheit, dann sagt man von ihm, er sei „nicht in der Welt, sondern von dieser Welt“. Er ist sich nicht bewußt, wer er in Wirklichkeit ist; er ist sich seiner Essenz nicht bewußt. Das ist schwer zu verstehen, wenn wir nicht wenigstens ab und zu unserer eigenen Essenz bewußt sind.

Das Ego oder das Gefühl der Ich-Identität nimmt also die Stelle dessen ein, was wir die wirkliche Identität nennen – und die Persönlichkeit als Ganze nimmt den Platz von Essenz ein. Die Persönlichkeit ist ein Ersatz, gleichsam ein Hochstapler.

Auf jeden Fall ist die Welt einfach die Welt. Sie ist für Essenz und Persönlichkeit die gleiche. Was existiert existiert. Aber wie die Welt gesehen wird, ist verschieden. Ein Mensch, der „nicht in der Welt, sondern von der Welt“ ist, lebt auf die Persönlichkeit anstatt auf Essenz hin orientiert.

Hier sind ein paar Beispiele dafür, wie die Identifikation mit eurer Persönlichkeit die Wirklichkeit entstellt und natürlich zu Leiden führt. Ihr wollt euch in der Welt beweisen, unabhängig, autonom, stark, erfolgreich sein und einen Platz für euch selbst schaffen. Das ist ein großes Thema, eines der Hauptanliegen überhaupt. Fast jeder hat dieses Ziel. Aber das kann ein Ziel sein, das einer essentiellen Orientierung oder einer Orientierung an der Persönlichkeit entspringt. Das ist ein sehr großer Unterschied. Sich selbst in der Welt niederlassen und unabhängig sein bedeutet den persönlichen Aspekt von Essenz entwickeln und ihn zu etablieren. Das ist eine vollkommen innere Leistung. In Wirklichkeit habt ihr also vielleicht eine sehr tiefe Sehnsucht danach, zu verwirklichen, wer ihr wirklich seid, eine Sehnsucht nach eurer wahren Identität, danach, wahrhaft unabhängig und nicht von eurem Unbewußten oder vergangenen Umständen beeinflußt zu sein. Wahre Unabhängigkeit bedeutet, nicht von der Vergangenheit abhängig zu sein. Sein, wer ihr wirklich seid, bedeutet, von all den Identifikationen aus der Vergangenheit frei zu sein, die euer falsches Identitätsgefühl bilden. Sein, wer ihr wirklich seid, hängt nicht davon ab, was ihr in der Welt tut. Was auch immer ihr in der Welt tut, kann ein Ausdruck davon sein, wer ihr wirklich seid, aber es definiert euch nicht. Wenn ihr eure persönliche Essenz, euer eigenes wahres Gefühl von Identität seid, dann hat alles, was ihr tut, essentielle Orientierung. Gewöhnlich denkt ihr, daß der Beruf, den ihr wählt – was immer es ist: Gärtner, Physiker, Mutter – euch das Gefühl gibt, wer ihr wirklich seid. Aber das bedeutet, daß ihr damit identifiziert seid, ein Teil der Welt zu sein. Es bedeutet eine Entstellung der Wirklichkeit.

Wenn jemand anfängt, an sich selbst zu arbeiten, hat er gewöhnlich keine Vorstellung von dem Unterschied zwischen Entscheidungen, die von der Persönlichkeit motiviert, und Entscheidungen, die von Essenz motiviert sind. Er hat vielleicht undeutliche Begierden und Vorlieben und glaubt, daß es ihm hilft, er selbst zu sein, wenn er dieses statt jenes tut. Zu Beginn gibt es kein klares, leitendes Prinzip. Und wegen der Ich-Identifikationen fehlt ihm nicht nur ein leitendes Prinzip, er glaubt an das, was die Persönlichkeit ihn zu tun drängt, und verteidigt es auch sehr vehement. „Dies bin ich; das ist es, was ich bin; am besten wird dies gemacht.“ Und natürlich fühlt er sich jedesmal, wenn seine Pläne für die Zukunft oder seine Vorstellungen davon, wer er ist, in Frage stehen, sehr bedroht. Diese Strukturen in Frage zu stellen, bedeutet die Möglichkeit, alles was er glaubt, zu zer stören. Das Streben der Persönlichkeit nach Unabhängigkeit und Identität ist in Wirklichkeit also ein entstellter Reflex, einen bestimmten Aspekt von Essenz zu brauchen oder zu wollen, den wir den „persönlichen Aspekt“ nennen. Darauf wird in bestimmten Geschichten der Sufis, etwa denen von der Prinzessin „Kostbare Perle“ oder der „Unschätzbaren Perle“ oft angespielt. Es gibt viele Geschichten von dieser Prinzessin – der persönlichen Essenz – wie sie aus einem Gefängnis befreit wird, das natürlich das Gefängnis der Persönlichkeit ist, also dessen, was falsch in uns ist. In anderen Geschichten ist es die Suche nach einem kostbaren Edelstein, der die Suche nach persönlicher Essenz darstellt.

Wie wendet man „in der Welt, aber nicht von dieser Welt sein“ auf diese Situation an? „In der Welt, aber nicht von der Welt sein“ bedeutet, daß ihr weiter tut, was ihr tut, daß ihr weiter eure Karriere als Physiker, Gärtner, Mutter usw. verfolgt, aber euch dauernd erinnert und dessen bewußt seid, daß dies nur eine Reflexion von etwas anderem ist, daß das, was ihr am Tiefsten wünscht, tatsächlich die Verwirklichung eines Teils von euch ist. Und die Hauptanstrengung und Arbeit, die zu tun ihr euch entschieden habt, ist darauf gerichtet, diesen bestimmten Teil von euch zu verstehen und ihn zu verwirklichen. Wenn ihr so lebt, dann ist es zwar wahr, daß ihr in der Welt seid, aber eure Motivation ist eine andere; ihr seid nicht von dieser Welt. Der Sinn eures Lebens besteht nicht darin, ein Physiker oder ein Gärtner oder eine Mutter zu sein. Euer Sinn besteht darin, die kostbare Perle, eure persönliche Essenz zu finden. Wenn ihr Physiker seid, könnt ihr einen Preis nach dem anderen verliehen bekommen; wenn ihr Rechtsanwalt seid, könnt ihr Generalstaatsanwalt werden. Aber ihr werdet euch weiter unerfüllt fühlen, wenn ihr die Perle nicht findet. Ihr werdet immer noch mehr tun, mehr versuchen, mehr beweisen müssen usw. Ihr könnt euer Leben damit verbringen, nach immer besseren Ergebnissen zu streben.

Versteht bitte nicht falsch, was ich sage. Ich sage nicht, daß ihr nicht anstreben sollt, was ihr anstrebt. Ich sage nicht, daß ihr zuhause sitzen und darüber nachdenken sollt, was die kostbare Perle ist. Ich meine, daß alles was ihr tut eine Entstellung des Eigentlichen ist, bis ihr euch an Essenz orientiert, bis ihr die persönliche Essenz verwirklicht habt. Aber gerade weil eure Persönlichkeit eine Entstellung des Eigentlichen ist, kann sie auf das Eigentliche hinweisen. Dadurch, daß ihr sie versteht, könnt ihr zu sehen anfangen, was die Reflexion reflektiert.

Der Ausdruck lautet also nicht: „nicht von dieser Welt“, sondern „in der Welt, aber nicht von dieser Welt.“ „In der Welt“ bedeutet, nicht auf irgendeinem Berg meditieren, nicht in einem Kloster leben. Ihr lebt wirklich das Leben der Welt. Euer Leben ist ein Abenteuer, und was immer ihr in der Welt tut, ist kein Ziel an sich, sondern der Prozeß, ein Tiegel, um das Gold aus dem Erz zu schmelzen.

Wenn ihr einmal wißt, daß ihr die persönliche Essenz seid, spielt keine große Rolle mehr, was ihr tut. Ihr entscheidet euch für das, was euer wirkliches Selbst erweitert und fördert. Es kann nie ein Gefühl andauernder Erfüllung geben, bevor ihr diesen essentiellen Teil von euch verwirklicht habt. Nichts anderes kann seinen Platz einnehmen.

Ein anderes Beispiel: das Thema, mit einem anderen Menschen zusammen zu sein und dabei unabhängig zu bleiben. Es sieht so aus, als müßtet ihr einen Teil von euch opfern, einen Kompromiß machen. Ihr möchtet das nicht tun: ihr möchtet euch unabhängig fühlen. Ihr möchtet nah, intim, geliebt und liebevoll und doch ihr selbst sein, ohne euch aufzugeben oder einen Kompromiß zu machen.

Ihr seid noch „in der Welt“. Wie kann es euch in diesem Fall möglich sein,“nicht von der Welt“ sein? Wir müssen zuerst etwas von der Natur von Beziehungen verstehen. Der Kern des Bedürfnisses nach einer intimen Liebesbeziehung ist die Sehnsucht danach, eine bestimmte Beziehung zu aktualisieren, die ihr in der frühen Kindheit mit eurer Mutter hattet. Als ihr ein Baby, etwa vier oder fünf Monate alt wart, wart ihr in einem Zustand, den man „symbiotische Einheit“ nennt. In diesem Zustand wart ihr essentiell mit eurer Mutter verschmolzen. Es gab noch kein Gefühl von „Ich bin ich“ und „Du bist jemand anders“. Es gab nur totale, nichtdifferenzierte Einheit mit wunderbaren, lustvollen, warmen, schmelzenden Empfindungen. Wenn ihr darüber nachdenkt, was ihr in einer Beziehung wollt, werdet ihr also gewöhnlich finden, daß ihr dem anderen Menschen so nahe sein möchtet, daß es nicht länger zwei Menschen, zwei getrennte Individuen gibt. Da ist eine tiefe Sehnsucht danach, in den anderen Menschen hinein zu schmelzen, ohne Grenzen, so daß da nicht einmal mehr zwei Menschen sind, die einander lieben; da ist nur ein Zustand von Liebe. Es ist wie ein großer Teich – ein wunderbarer, goldener Teich – wie Honig, durch den die Sonne hindurchscheint. Ein goldener Schoß. Ihr fühlt euch sicher, geschützt, schmelzend; euer Körper ist ganz Lust, euer Kopf existiert nicht mehr, alles ist ganz wunderbar. Und weil wir diese Erfahrung in unserer Kindheit mit der Mutter hatten, sind wir sehr tief davon überzeugt, daß wir diesen Zustand nur mit einem anderen Menschen wieder haben können. Wir suchen also nach dem richtigen Menschen, diesem Jemand. Genau genommen suchen wir nach diesem Gefühl von Verschmelzen, nach diesem goldenen, schmelzenden Gefühl.

Aber wir haben nicht gesagt, wie wir das erreichen können, ohne dabei „von dieser Welt“ zu sein. Gut, zuerst müssen wir verstehen, daß der Zustand vollständiger Verschmelzung, von vollkommenem Verschwinden in eine schmelzende Art von Lust ein Zustand von Essenz ist. Und ihr könnt diesen Zustand ganz für euch allein haben. Ihr müßt nicht mit jemand anders zusammen sein, um diesen Zustand zu haben. Ihr könnt diesen Aspekt von Essenz für euch allein erfahren, überall – mit eurer Katze, mit dem Teppich, mit eurem Auto oder mit einem anderen Menschen – mit irgendetwas. Aber unser Glaube, daß wir jemanden brauchen, um dieses goldene verschmelzende Gefühl zu haben, ist sehr stark. „Wenn ich einfach nur in deinen Armen schmelzen könnte, wenn du mich einfach liebtest, wäre alles wunderbar.“ Ihr glaubt, das ist es. Für die meisten Menschen ist es leichter, den Zustand der Verschmelzung mit jemand anders zu erfahren, weil für sie die Tatsache, daß man jemanden hat, die Bedingung für diesen Zustand ist. Aber die Suche richtet sich in Wirklichkeit auf einen bestimmten Aspekt von Essenz. In diesem Fall also bedeutet „in der Welt, aber nicht von dieser Welt“ sein nicht, daß ihr Beziehungen einfach vergeßt und euch irgendwo eine Höhle sucht oder zum Nordpol wandert und mit den Eisbergen verschmelzt. Obwohl es in Ordnung ist, wenn ihr das tut, wenn ihr wollt. Es ist nicht wirklich wichtig. Wichtig ist, was immer ihr auch tut, ob ihr in einer Beziehung seid oder nicht, daß ihr in euch hineinschaut und herausfindet, welche Barrieren euch davon abhalten, den Teil von euch zu erfahren, der sich verschmolzen und schmelzend fühlen kann, unabhängig davon, mit wem ihr gerade zusammen oder wo ihr seid.

Die Sehnsucht nach diesem essentiellen Zustand wirkt nicht nur in Paarbeziehungen, sondern auch in dem Wunsch, Kinder zu haben; Menschen möchten diesen Zustand der Verschmelzung mit einem Kind erleben.

Wenn Menschen nach ästhetischen Erfahrungen suchen – schönen Landschaften oder ähnlichem –, dann wollen sie in Wirklichkeit das Gefühl haben, mit dem zu verschmelzen, was um sie herum ist. Sie glauben, daß die eine oder andere Bedingung erfüllt sein muß. Beziehungen können also ein Schmelztiegel sein, in dem man eine bestimmte goldene Substanz entdecken kann.

Ich habe zufällig zwei Beispiele gegeben, die eng miteinander zusammenhängen. Das erste Beispiel hat mit Unabhängigkeit zu tun, mit Ich-selbst-sein, und bringt das Thema der Identität zur Sprache – den persönlichen Aspekt von Essenz. Das andere Beispiel hat mit Beziehungen zu tun und zeigt den Konflikt zwischen der Tatsache, daß man ein getrenntes Selbst ist, und dem Verschmelzen, bei dem man oft das Gefühl hat, die Identität zu verlieren.

Um herauszufinden, was wirklich da ist, achtet ihr darauf, wie ihr in eurer aktuellen Situation in der Welt da seid, und das ist ein entstelltes Spiegelbild der wahren Sachlage. Eure Karriere, eure Interessen und Beziehungen sind sehr wichtig – aber sie sind nur insofern wichtig, als sie euch zu tieferem Verständnis von euch selbst führen.

Der Zenmeister Hakuin wurde von seinen Nachbarn als jemand gepriesen, der ein reines Leben lebte.

Ein schönes japanisches Mädchen, dessen Eltern ein Lebensmittelladen gehörte, lebte in seiner Nähe. Plötzlich entdeckten ihre Eltern, aus heiterem Himmel, daß sie schwanger war.

Das ärgerte sie. Das Mädchen wollte nicht sagen, wer der Vater war, aber nach langem Drängen nannte sie schließlich Hakuin.

In großer Wut gingen die Eltern zu dem Meister. „Tatsächlich?“ war alles was er sagte.

Nachdem das Kind geboren war, wurde es zu Hakuin gebracht. Mittlerweile hatte er seinen Ruf verloren, was ihn nicht störte, aber er kümmerte sich sehr um das Kind. Er beschaffte sich Milch von den Nachbarn und alles, was das Kind sonst noch brauchte.

Ein Jahr später konnte die junge Mutter es nicht länger aushalten. Sie sagte ihren Eltern die Wahrheit – daß der wirkliche Vater des Kindes ein junger Mann war, der auf dem Fischmarkt arbeitete. Die Mutter und der Vater des Mädchens gingen sofort zu Hakuin, um ihn um Verzeihung zu bitten, sich ausführlich zu entschuldigen und das Kind zurückzuholen.

Hakuin war ganz bereitwillig. Alles was er sagte, als er das Kind übergab, war nur: „Tatsächlich?“[1]

Alles ändert sich dauernd. Manchmal geht es ihm schlecht, manchmal gut. Es ist ihm gleich. Für ihn macht es keinen Unterschied. Es hat nichts damit zu tun, wer er ist. Wer er ist, ist immer gleich. Was um ihn herum geschieht, ist unwichtig. Er ist immer der, der er in Wahrheit ist.

Eure Essenz ist sehr intelligent und sehr großzügig. Es ist ihre Art, euch einen Konflikt vor die Füße zu werfen, damit ihr dadurch, daß ihr den Konflikt oder die Barriere anschaut, etwas herausfindet, was ihr wissen müßt. Die Situation, die euch so gegeben wird, ist hinsichtlich Timing, Ort, den involvierten Menschen, euren Fähigkeiten, den Fähigkeiten der Menschen um euch herum und allem anderen bis zu jeder Einzelheit, perfekt. Die Situation ist so, daß ihr, wenn ihr sie wirklich zu verstehen versucht, etwas von eurer Essenz verstehen werdet. Sie ist nicht dazu da, euch das Leben schwer zu machen. Es wird nur schwer für euch, wenn ihr nur die Manifestation, nur den Konflikt selbst als ein Problem anschaut. Wenn ihr sie aus der Perspektive des Ego, der Identifikation anschaut, dann werdet ihr leiden und leidet weiter. Wenn ihr aber seht, daß ihr auf euer Gesicht fallt und dann leidet, weil ihr über etwas gestolpert seid, das euch im Weg lag, als ihr nicht hingeschaut habt, dann werdet ihr mehr über das, was war, mehr über diese Barriere herausfinden wollen.

Was wir hier tun, ist also, die Barrieren anschauen, die ihr in diese Gruppen mitbringt, um an ihnen zu arbeiten. Wir nehmen sie auseinander, analysieren sie, untersuchen, woher sie stammen, aus eurer Kindheit, euren Beziehungen und eurem Leben jetzt in dieser Welt. Und aus diesem Material gewinnen wir mit der Zeit das wirkliche und kostbare Metall, oder die Edelsteine, die darin verborgen sind. Deshalb gibt es dieses ganze Material überhaupt. Ihr glaubt, daß ihr dadurch, daß ihr an eurem Thema von Unabhängigkeit arbeitet, schließlich unabhängig und in der Lage sein werdet, euch selbst zu unterstützen, eine Menge Geld zu verdienen, zu tun, was ihr wollt und so weiter. Das ist alles wahr, aber es ist nicht der wichtigste Faktor. Der wichtigste Aspekt besteht darin, etwas in euch zu entwickeln. Dann folgt das Übrige fast ohne Anstrengung.

Also „in der Welt, aber nicht von dieser Welt.“ Wir leben in der Welt und wir tun, was jeder andere tut: Kleider tragen, essen, in den Gemüseladen gehen, einen Beruf haben, sich lieben, sich streiten, alles. Doch unser Fokus ist anders. Wir identifizieren uns nicht mit dem Teil von uns, der ißt, einkauft, arbeitet und so weiter. Wir lernen, die Fähigkeit zu entwickeln, sich dessen bewußt zu sein, was geschieht, sich aber zur gleichen Zeit nicht damit zu identifizieren; wir entwickeln das, was wir Bewußtheit und Desidentifikation nennen. Wie ihr wißt, sind dies die wichtigsten Dinge, die ihr braucht, um mit der Arbeit, euch selbst zu verstehen, voranzukommen. Ihr müßt euch dessen bewußt sein, was in euch und außerhalb von euch geschieht. Die Welt ist wie ein großes Klassenzimmer, und die Situationen, in die ihr in der Welt geratet, sind eure Fächer, in denen ihr bestimmte Aspekte von euch selbst, bestimmte Aspekte eurer Essenz entwickeln könnt. Die ganze Welt ist eine große Universität, die viele Fächer anbietet: Kurse über Sexualität, Kurse über Arbeit, Beziehungen, Abhängigkeit und Unabhängigkeit und so weiter.

Schritt für Schritt werden wir uns unseres Lebens und der Situation, in der wir uns befinden, mit allen Konflikten und Barrieren bewußt, ohne dabei ganz zu glauben, daß das alles ist, was es gibt. Je mehr wir in der Lage sind, aufmerksam und nicht identifiziert zu sein, um so mehr können wir die wirkliche Wahrheit sehen, die da ist, wie Goldadern in Gestein – die Wahrheit, das Gold in all dem Erz. Die Entwicklung dieser Fähigkeit, aufmerksam zu sein und zugleich die Identifikationen mit dem Wahrgenommenen aufzulösen, führt mit der Zeit dazu, daß wir unsere Essenz erfahren.

„In der Welt, aber nicht von dieser Welt“ beschreibt nicht nur einen Menschen, der frei ist. Der Ausdruck beschreibt Essenz selbst. Das ist ihr tieferer Aspekt. Was ist also die Welt, die Welt, „in“ der wir sind, ohne „von ihr“ zu sein? Die Welt ist natürlich eine Vielheit von Dingen. Aber die Welt, wie wir sie wahrnehmen, besteht vor allem aus Mentalem: Gedanken und Bildern, Emotionen und Sinneswahrnehmungen. Alles was ihr von der Welt und von euch wißt, beruht auf Gedanken, Bildern, Emotionen und Sinneswahrnehmungen. Was wißt ihr sonst? Letztlich geht die Welt, wie ihr sie wahrnehmt, auf eure Sinneswahrnehmungen, eure emotionalen Reaktionen und auf eure mentalen Bilder und die Gedanken zurück. Zum Beispiel ist ein Baum ein Baum und Teil der Welt, aber was ist er für euch? Ein bestimmtes Bild in eurem Kopf: wie er aussieht, ein Gefühl in bezug auf ihn, Sinneswahrnehmungen wenn ihr ihn berührt – rauhe Rinde, glatte Rinde. Wenn ihr in einem Sessel sitzt: was ist der Sessel für euch in eurer unmittelbaren Erfahrung? Eine Sinneswahrnehmung von etwas unter eurem Hintern, stimmt‘s? Ein Bild von ihm in eurem Kopf, eine Vorstellung von ihm, die euch veranlaßt, so zu sitzen statt ein wenig anders. Das ist die Welt.

Essenz ist nun „in der Welt, aber nicht von dieser Welt“. Sie besteht nicht aus Sinneswahrnehmungen, Emotionen oder mentalen Ereignissen. Aber sie ist „in der Welt“. Sie lebt da mit diesen Dingen. Sie ist wie Gold im Gestein. Sie ist nicht das Gestein, sie ist im Gestein. Essenz ist in den Sinneswahrnehmungen, Emotionen, mentalen Ereignissen, aber ist nicht selbst Sinneswahrnehmung, Emotion oder mentales Ereignis. Diamanten und Smaragde – kostbare Steine – sind in der Erde, aber sie sind nicht die Erde selbst. Sie sind etwas anderes. So ist Essenz in euch. Sie ist nicht euer Fleisch, sie ist nicht identisch mit euren Emotionen oder Gedanken. Aber sie ist in sie eingebettet. Essenz ist in euch wie Gold im Gestein, wie kostbare Steine in der Erde.

Da das so ist, könnt ihr ein wenig Forschung, ein wenig Bergbau treiben, um sie zu finden. Ihr könnt im Körper, in den Emotionen und in den mentalen Ereignissen graben, um die kostbare Substanz zu finden. Zum Beispiel könnt ihr Körperarbeit machen, um die Empfindsamkeit eures Körpers zu entwickeln. Ihr könntet entdecken, was da ist, was Essenz ist. Ihr könntet eure Emotionen und eure Sinnewahrnehmungen erforschen, bis ihr ihrer so bewußt seid, daß ihr feine Unterschiede erkennen könnt. Ihr seht, daß das, wovon ihr so sicher wart, daß es eine Emotion ist, keine Emotion ist; daß das, was da ist, keine körperliche Sinneswahrnehmung ist, sondern ihr es nur immer dafür gehalten habt – nah, sehr nah an einer körperlichen Sinneswahrnehmung, aber nicht wirklich eine. Essenz ist etwas Physisches, das nicht zum physischen Körper gehört. Sie ist wie etwas, das zwar physisch, aber auf einer anderen Ebene und auf eine andere Weise existiert.

Es gibt eine tiefere Bedeutung von „in der Welt, aber nicht von dieser Welt“. Wenn man sie einmal entdeckt hat, dann macht Essenz eine Entwicklung, eine alchimistische Verfeinerung durch, bis sie ihre eigentliche Natur erreicht – die wahre Natur von Essenz, die die Natur von allem ist. Sie ist meine Natur, aber sie ist auch eure Natur. Sie ist die Natur von Vögeln, Katzen, Bäumen, Steinen, von allem. Sie ist nicht der Stein, auch nicht die Katze, nicht euer Körper, sie ist weder mit euch noch mit mir identisch. Sie ist die wirkliche Natur von alldem. Sie erlaubt alledem zu existieren. Die wirkliche Natur der Essenz, die Natur von allem, ist das, was manchmal Gott genannt wird.

Gott, die Essenz der Essenz, ist überall – im physischen Körper, in den Sinneswahrnehmungen selbst, in den Gedanken selbst, im Belebten, im Unbelebten – in allem. Aber er ist nicht mit ihnen identisch. Gott, die Essenz der Essenz, ist also „in der Welt, aber nicht von dieser Welt“, und das ist seine tiefste Bedeutung. Es gibt einen wichtigen Aspekt von „in der Welt, aber nicht von dieser Welt“ sein, auf den ich hier hinweisen möchte. Er ist das Erkennen von dem, was Essenz ist und was nicht Essenz ist, und das bedeutet erkennen und anerkennen, daß Essenz in euch wirkt, daß sie ein wirklicher Faktor ist.

Essenz entwickelt sich sehr schnell, sobald sie gesehen und erkannt wird. Sie gedeiht durch Anerkennen. Wenn ihr sie nicht erkennt, schläft sie weiter. In dem Moment, in dem ihr sie erkennt, beginnt sie zu wachsen; sie lebt von Licht. Das ist für bestimmte Aspekte eurer Arbeit hier sehr wichtig; wir müssen erkennen, welche Faktoren wirklich zu unserer Verwandlung und unserer Entwicklung beitragen. Nehmen wir zum Beispiel einmal an, ihr habt ein oder zwei Jahre lang an euch gearbeitet, kommt zu dieser Gruppe und arbeitet an bestimmten Themen in eurem Leben, und einige Änderungen beginnen sich in euch zu vollziehen. Es kann sein, daß sich euer Herz öffnet oder ihr klarer werdet. Ihr sagt dann vielleicht: „Oh, mein Herz hat sich geöffnet, weil ich diese wunderbare Frau getroffen habe; sie ist so toll, mein Herz hat sich einfach für sie geöffnet und seitdem ist es immer offen.“ Ihr erkennt eure essentielle Arbeit also nicht an, ihr gebt etwas anderem die Anerkennung. Wenn ihr das tut, beraubt ihr euch der Möglichkeit, daß diese essentielle Arbeit weitergeht und euch mehr Verständnis der Wahrheit bringt. Ihr gebt eure Anerkennung dahin, wohin sie nicht gehört. Wenn ihr das tut, entwertet ihr eure Arbeit. Ihr habt zwei Jahre Arbeit darauf verwandt, euch zu verstehen, aber ihr sagt, es hat nichts bewirkt. Eure Offenheit, eure Ausdehnen, die Fülle, die ihr spürt, fallen euch demnach zu, weil ihr dieser wunderbaren Frau begegnet seid. Oder ihr sagt, eure Kundalini habe sich geöffnet, weil jemand euch diese Massage gegeben oder jemand auf eine besondere Weise an eurem Kreuzbein gearbeitet hat. Und ihr ignoriert völlig die Tatsache, daß ihr fünf Jahre lang mit allen möglichen Emotionen gearbeitet habt, und wenn ihr diese Arbeit nicht getan hättet, jemand euer Kreuzbein mit Schmirgelpapier hätte bearbeiten können und ihr nicht das Geringste gespürt hättet.

Wenn ihr euch einmal erkältet und ihr fühlt zur gleichen Zeit, daß euer Herz offen ist, könnt ihr zu dem Schluß kommen, daß euer Herz offen ist, weil ihr euch erkältet habt. Ihr schreibt der Erkältung das Verdienst zu, eurer Erkrankung, statt vier Jahre Arbeit, die es geöffnet hat. Die Erkältung ist wahrscheinlich in Wahrheit eher Ausdruck eines Widerstandes gegen weitere Öffnung. Krank werden ist häufig Ausdruck eines Widerstandes gegen Ausdehnung.

Diese Unterscheidungsfähigkeit ist sehr wichtig, nicht nur in bezug auf Orientierung – worüber wir früher gesprochen haben –, sondern auch in bezug darauf, welches die wirklichen Einflüsse in eurem Leben sind. Wenn ihr die Anerkennung nicht dem gebt, der sie verdient, dann entwertet ihr, was wirklich zu diesen Veränderungen geführt hat, was das Wachstum in Wirklichkeit bewirkt hat – eure eigene Arbeit, eure Fähigkeiten, eure eigene Essenz.

Meiner Erfahrung nach haben viele meiner Freunde ihre Essenz erfahren, aber nicht verstanden, was es war, weil sie meistens entwerteten, was sie selbst getan hatten. Jedesmal wenn sie zu etwas anderem weitergingen, zu einer anderen spirituellen Lehre oder Disziplin, zu einer anderen Methode der Selbsterforschung, entwerteten sie, was sie eben gelernt hatten und warfen alles weg. Sie warfen ihr Verstehen weg und was sie bekommen hatten, was von Wert war. Dann mußten sie wieder ganz von vorn anfangen. Ich hatte Glück, ich entwertete nichts. Immer wenn ich zu etwas Anderem weiterging, verstand ich genau, was ich bei dem gelernt hatte, bei dem ich bisher gewesen war. Und ich fand, daß das von ziemlicher Tragweite ist.

Manchmal ist es nicht leicht zu sagen, was zu Verstehen und Klarheit in eurem Leben beiträgt. Aber wenn ihr erkennen könnt, was es ist, dann bewegt ihr euch zunehmend auf eure Essenz zu, weil nur Essenz das kann. Wenn ihr aber eure Entwicklung äußeren Dingen zuschreibt, dann urteilt ihr nicht nur falsch, ihr verlangsamt auch den Prozeß, der in Wirklichkeit zu eurer Entwicklung beigetragen hat, oder haltet ihn sogar an. Ihr sagt eurer Essenz: „Auf dich kommt es nicht an.“ Und das ist ein Angriff auf eure Essenz; ihr greift eure Essenz an. Die eigene Essenz entwerten ist ein Aspekt eures Ego oder eures Über-Ich. Nach meiner Beobachtung erkennen Menschen oft nicht an, was wirklich geschieht oder welches die Kraft ist, die in ihnen wirkt, und zwar genau aus dem Grund, weil es etwas in ihnen gibt, das sich dagegen wehrt, Essenz zu sehen und zu erfahren. Es ist nicht nur ein Fehler in der Beurteilung; es steckt eine aktive Motivation dahinter. Es ist eine Abwehrfunktion des Über-Ich. Nicht nur das – andere Menschen sehen vielleicht eure Veränderungen, schreiben sie aber etwas anderem zu, so daß ihr praktisch keine Unterstützung oder Anleitung von der Welt um euch herum bekommt. Wenn Menschen die wirkliche Kraft in euch nicht anerkennen, die zu den Veränderungen in eurem Leben geführt hat, dann aus dem Grund, weil sie einen Widerstand dagegen haben, diese Kraft in sich selbst wahrzunehmen. Sie selbst wollen die Wahrheit nicht sehen, deshalb wollen sie sie in euch nicht anerkennen. Meiner Erfahrung nach ist es wichtig, daß ich weiß, was wirklich meine Veränderungen und meine Entwicklung bewirkt. „In der Welt, aber nicht von der Welt“ erstreckt sich darauf, die wirklichen Ursachen zu sehen, die wirklichen Kräfte, die in allem wirken, was wir tun.

Gibt es Fragen, Kommentare?

S.: Ist es möglich, daß manche Menschen – ich weiß nicht genau, wie ich es ausdrücken soll – daß manche Menschen mehr Essenz haben, die sich in ihnen bewegt und arbeitet und sich zeigt, als andere Menschen, auch wenn sie ihrer Essenz vollkommen unbewußt sind?

A.H.: Ja, das kommt vor. Das sind die Menschen, die Gurdjieff „dumme Heilige“ nennt, was bedeutet: Sein ohne Wissen.

S.: Und andere Menschen fühlen sich zu ihnen hingezogen, weil sie diese Eigenschaft wollen oder brauchen?

A.H.: Sicher. Manchmal haben sich Menschen essentiell entwickelt, ohne an sich zu arbeiten, einfach weil sie von Anfang an nicht allzu beschädigt wurden.

S.: Und dann ist ihre Essenz da, sichtbarer, wegen eines Zufalls, oder einer Begabung…

A.H.: Eins dürfen wir hier nicht vergessen, Essenz hat nichts mit Begabung zu tun. Ein Mensch kann sehr talentiert, aber zugleich vollkommen mit seiner Persönlichkeit identifiziert sein. Essenz ist, wie ich schon sagte, „in der Welt, aber nicht von der Welt.“ Talent ist Teil dieser Welt. Natürlich kann Essenz die Entwicklungsmöglichkeiten der Talente, die schon da sind, fördern und zur Reife bringen. Aber intelligent oder nicht intelligent, auf die eine oder andere Weise kreativ sein, das hat nichts mit Essenz zu tun.

1 Paul Reps: „Ohne Worte, ohne Schweigen“, München 1993

Essentielle Verwirklichung

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