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Die Hohepriesterin des Tarotdecks entspricht dem alten Urbild der Mondgöttin. Die Farbe Weiß, die ihr zugeordnet ist, signalisiert Reinheit und beinhaltet alle Farbspektren, die auf der Erde möglich sind. Ihre Vertreterinnen auf Erden waren jungfräuliche Dienerinnen der Göttin, Tempelpriesterinnen und Sexualmagierinnen in einem. Dies ist kein Widerspruch, der Begriff »Jungfrau« bedeutete in alten Zeiten schlicht »junge Frau, die noch kein Kind geboren hat«, und schloss die Sexualität keinesfalls aus. Sexualriten spielten im Dienst an die Göttin sogar eine große Rolle, weshalb nicht nur die numerologische Verbindung der Hohepriesterin zur Karte Lust von der Verwandtschaft der beiden Karten zeugt. Die von der Lust repräsentierte Seite der Göttin steht für Lebensfreude und Sexualität, beides Instrumente der Priesterin, um ihre Religion auszuüben. Die Vereinigung der Priesterin als Medium für die Leben spendende Mutter mit verschiedenen, auserwählten Männern wurde als natürlich angesehen. Sexuelle Praktiken, auch lesbischer Natur, wurden angewandt, um zu heilen, hellseherische Kräfte zu beschwören und vieles mehr. In christlichen Zeiten wurde das Bild der Mondgöttin zweckentfremdet und - von ihrer Sexualität getrennt - in die mythisch verklärte Jungfrau Maria der unbefleckten Empfängnis verwandelt. Der andere Teil wurde zur (Tempel-)Hure degradiert. Darauf mag auch die Abspaltung der Lust von der Hohepriesterin zurückgehen.

Die Weiße Göttin steht nicht nur für den Drang, der auf das Unbewusste ausgerichtet ist, auf den Urbronnen der Mütter, in den Goethes Faust hinabgestiegen ist: Sondern indem sie den Menschen, der an der Wasseroberfläche seiner gespiegelten Wünsche und Ziele am Bewusstseinsrand hängen geblieben ist, durch seine materiellen Fixierungen hindurchfallen lässt, löst sie auch seine intuitiven Hingebungen aus. Während der Magier auf die Gestaltung der äußeren Welt angewiesen ist und von der Handhabung seiner persönlichen Durchschlagskraft lebt, geht das Streben der Hohepriesterin umgekehrt in die Tiefe, oder - anders herum ausgedrückt - die Zauberin verkörpert die Quelle, aus der der Magier schöpft. Blättern wir zurück: Sehr leicht erkennen wir den Magier (Ich), der aus dem Narren entsprungen ist und die Hohepriesterin als namenlose Unendlichkeit des Nicht—Ichs von seinem Ego abgespalten hat. Sie ist die Repräsentantin für die unsichtbare Welt, das Nicht-Materielle: die gute Fee, die in alten Märchen oft die Rolle eines unschuldigen Kindes annimmt und in einer bösen Stiefmutter mit zerstörerischen Absichten ihre Widersacherin findet, die wiederum nichts anderes als den Schatten der Hohepriesterin darstellt und durch ihre Taten das Erscheinen eines die Persönlichkeitsteile wiedervereinigenden und erlösenden Märchenprinzen herbeizwingt. Ihre Priesterinnen sind Meisterinnen darin, die Schleier zwischen den Welten zu teilen. Sie werden sorgfältig für ihre Grenzgänge ausgebildet und ihre Kunst und Macht besteht darin, sich auf verschiedenen Ebenen bewegen zu können, manchmal zugleich, ohne sich dabei selbst zu verlieren. Ihr Interesse und ihre Talente gelten weniger der irdischen Welt, denn ihre geheimnisvollen Träume verkörpern die vergessenen Geschichten, die aus der Tiefe von Zeit und Raum wieder ins Licht gehoben werden können, wenn die Stunde schlägt. Sie erfahren auf ihren Reisen viel über die kosmischen Zusammenhänge und Netzwerke, in denen das Leben abläuft. So dienen sie auf Erden als Vermittlerinnen zwischen den Welten, denn sie können sich außerhalb von Raum und Zeit aufhalten, ihre hellsichtigen Geheimnisse mit zurück ins Bewusstsein bringen und sie benutzen, um in Zusammenarbeit mit der Muttergöttin das Geschehen zu stricken. Die Hohepriesterin unterstreicht diesen Mechanismus, wenn sie mit ihren Zauberfrauen am Spinnrocken sitzt und die immer wieder gleichen Abläufe im menschlichen Hirn durch verschiedene Sichtweisen und Rückblenden zu einer tiefen unbewussten Vision verknüpft, die dem Eigner zeigt, wie alte Bilder aus der Tiefe der Seele zu immer neuen Erlebnismustern und Abenteuergeschichten ineinander verstrickt werden können. Damit zeigt sie an, dass der Mensch bereit ist, in die unbewussten Schächte hinabzusteigen und das Medusenhaupt ins Licht zu heben.

Im Mittelpunkt der Karte sehen wir einen goldenen Schrein (Würfel im Bild), aus dem sich das Antlitz der Göttin erhebt. Es scheint, als ob sie dem Ozean des Unbewussten entsteigt, und das entspricht dem Impuls der Psyche, der ins Licht des Bewusstseins drängt. Sie spielt mit einem kleinen Pferd in der Hand als Zeichen, dass sie nicht nur eine Zaunreiterin ist, sondern auch die Sprache der Natur und der Tiere versteht. Deshalb taucht sie in vielen Bildern und Namen wie z. B. Artemis und Diana auch in ihrem Aspekt als Jägerin und in enger Verwandtschaft mit ihrer dunklen Schwester, der Schwarzen Göttin, auf. Der Würfel, in dem sie sitzt, ist ein Symbol für ihr mysteriöses Traum- oder Tiefenselbst (sie ist mit sich eins und hat dadurch direkten Zugang zu ihrem kosmischen Selbst), denn dieser polstert die Räume der Träumer aus, wenn sie zu den Ursprüngen ihrer eigenen Quellen abtauchen. Die Feuerschale auf dem Schrein ist ein Ausdruck der intuitiven Kraft oder der Maya-Energie, die wie eine goldene Quelle durch die kaleidoskopisch sich umwälzenden Assoziationsmuster menschlicher Denkverarbeitung strahlt. Es sind die Flammen der Seele, die die Gefühle der Menschen in das Buch des Lebens, in der alle vergangenen, gegenwärtigen und auch zukünftigen Geschehnisse aufgezeichnet sind, einbrennt.

Anders gesagt: Die Hohepriesterin ist das kollektive Assoziationsgewebe in der Tiefe der Seele, an dem unsere mentalen Rückblenden immer wieder anknüpfen und unbewusste Erinnerungen ins Licht unseres Erlebens weben. Sie kann intuitiv erahnt oder sogar gefühlt, aber weder emotional noch mental kontrolliert werden, ist sie doch selbst die Quelle, aus der die Urmuster unserer Gefühle und Gedanken strömen. Umgekehrt kann man darin aber auch die Vorgehensweise der Weißen Göttin erkennen, die alle realen Erlebnisflashs in die Tiefe schickt, wo sie sich an der Stelle im Netz positionieren sollen, an der sie an vergangene Ähnlichkeiten anknüpfen. Der Spot in die Tiefe ist das innere Licht, das uns ahnen lässt, dass alles, was wir sehen, letztlich nur ein unbedeutender Bruchteil jener Träume ist, die für den Verstand verschwommen bleiben müssen, damit sich dieser in seinem Verlangen nach Kontrolle nicht verwirrt, denn wüsste er, dass es im Grunde nur eine Handvoll Möglichkeiten sind, aus denen er seine sichtbare Welt gestaltet, dann wäre er verwirrt. Es ist besser, er merkt nicht, dass die Karte, die er sieht, nur ein Bild in einem Rahmen ist, das er an die Stelle schiebt, an der er scheinbare Ähnlichkeiten entdeckt und aus deren Verknüpfungen er immer wieder ein neues Universum aus dem Hut zaubern kann.

Zusammenfassend können wir die Hohepriesterin als den heiligen Schrein im Teich des Unbewussten ansehen, in dem alle kollektiven und persönlichen Erlebnisse aufbewahrt sind. Somit ist die künftige Erkenntnis lediglich das Resultat der Messung neuer Eindrücke an den alten Erfahrungen, deren Auswirkungen wie die Ringe eines ins Wasser geworfenen Steines sich immer wieder auf die ursprünglichen Prägungen in unserer Erbmasse beziehen. Auf einer anderen Frequenz zeigt sich der Magier auch als eine ans Licht sprudelnde Quelle, aus der der Mensch seine Ziele schöpft. Die Hohepriesterin wäre dann der in der Tiefe liegende Wasserzufluss.

Sie sprudelt nicht perlend und lärmend der Oberfläche entgegen, ihr Wasser steigt und senkt sich langsam und unmerklich wie der Pegel des Grundwassers und wird erst sichtbar, wenn der Mensch beim Abschöpfen der Quelle sich auch für den unsichtbaren Zufluss interessiert. Das heißt: Der Magier kann die Hohepriesterin erst dann wahrnehmen, wenn er akzeptiert, dass es in der Tiefe noch jemand anderen geben muss, zu dem er sich in Beziehung setzen kann. Dadurch bringt er sich in die Lage, die in die Unendlichkeit reichenden Ausmaße dessen zu erkennen, was durch die Erschaffung unseres Ichs als Nicht—Ich zurückbleibt. Oft versagt der Magier in uns, seinem passiven Gegenpol, aus dem er schöpft, einen Namen zu geben, da sich die Kraft der Hohepriesterin nicht in die Ausformungen seiner Ideen integrieren lässt. Nur sie, die selbst passiv aus seiner Selbsterschaffung entstanden ist, vermag dem aus seiner Sicht Unbeschreiblichen einen Namen zu geben, und sie nennt es schlicht und einfach Du. Sie erscheint dem Menschen wie ein Bild im Schlaf, von dem er noch nicht weiß, ob die Begegnung in einer kreativen Vision oder einem Alptraum endet, und sie ist mehr als nur ein Traum, der als abhängige Koexistenz um das Licht seines erkennenden Geistes herumtanzt: Sie ist der Urgrund des Magiers, aus dem dieser entstand, der fruchtbare Boden, der seine Impulse wie der Acker das Saatgut aufnimmt. Sie ist aber auch die Nacht, in die er hinabtauchen muss, um mit seiner dunklen Weiblichkeit versöhnt wieder auferstehen zu können, und obwohl ihr Entstehen vom Werk des Magiers abhängig ist, ist sie in ihrer Existenz unabhängiger als er. Denn sie braucht ihn nicht, um fließen zu können; er hingegen braucht sie als Grundlage und Bezugsquelle. Somit wird die Hohepriesterin wohl am besten beschrieben als das unbeschreibbare, unpersonifizierte Gegengewicht zum schöpferischen Willen des Magiers, die Vision unserer Polarität in die Welt zu bringen.

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