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2.3 Wie interpretiert man Liturgie?
ОглавлениеHermeneutik der Liturgiewissenschaft
Liturgiewissenschaft arbeitet hermeneutisch, will also Liturgie interpretieren und zu ihrem Verständnis beitragen. Sie beschäftigt sich mit Sprachhandlungen aus verbalen und nonverbalen Elementen unterschiedlicher Herkunft und verschiedener historisch-kultureller Provenienz, die sich wechselseitig durchdringen. Sie untersucht mit Liturgiefeiern wie Taufe, Firmung, Eucharistie, Tagzeitenliturgie, Festen wie Weihnachten oder Ostern oder einer Benediktion komplexe Kommunikationssituationen: An ihnen partizipiert eine nach anthropologischen wie theologischen Kriterien gegliederte Gemeinschaft in sehr differenzierter Weise; sie werden als Geschehen zwischen der Versammlung der Gläubigen, der Gemeinde, der Kirche einerseits und Gott andererseits begangen und sind in sich nach Sinn- und Funktionseinheiten strukturiert; über die jeweilige Feier hinaus sind sie in das Gesamt kirchlicher Liturgie eingebunden.
Semantik, Syntaktik, Pragmatik
Die Liturgie bedient sich sehr unterschiedlicher Kommunikationsmittel: des verbalen Textes, des Gesangs und der Musik, der Gestik, Mimik und Bewegung, des Raumes, der Farbe, des Geräts etc. Anders ausgedrückt: Sie greift auf Verbalität, Bildausdruck, Klanglichkeit und Körperlichkeit zurück (Volp/202: 1, 154f.). Keines dieser Kommunikationsmittel steht für sich; jedes ist in eine größere liturgische Sinnstruktur eingebunden. Liturgie geht nie nur in Text auf. Sie greift auf die genannten vielfältigen Kommunikationsmittel zurück und bindet zugleich den Menschen mit allen Kommunikations- und Sinnesmöglichkeiten in dieses Geschehen ein. Auch die – beispielsweise in den liturgischen Büchern – verschriftlichte Form von Liturgie, die diese Ausdrucksmittel natürlich beachtet und beschreibt, erfasst nur bestimmte Aspekte von Liturgie. Eigentliches Untersuchungsobjekt ist letztlich die Performanz des gottesdienstlichen Geschehens. Es geht um den Vollzug des Gottesdienstes und die mit ihm verbundenen Erfahrungen. Um die Liturgie in dieser Perspektive verstehen zu können, sind neben der Theologie je nach Fragestellung Frömmigkeit, Spiritualität und Mentalität, sozialer und kultureller Kontext etc. einzubeziehen.
Die Begriffe „Performanz“ und „performativ“ werden heute, etwa in den Kulturwissenschaften, in vielfältiger Weise verwendet (Performanz/179). Sie sind für die Liturgiewissenschaft von elementarer Bedeutung, weil sie Grundvollzüge der Liturgie erfassen. Zunächst wird damit eine selbstwirksame Sprachhandlung bezeichnet. Der Begriff bezeichnet aber auch die dramatische Performanz (Tambiah/198: 230). Die Teilnehmer an einem Ritual verwenden für Dramatisierung und Darstellung ganz unterschiedliche Medien; zugleich verbindet sich für die Mitwirkenden mit solcher Art von Performanz intensive Erfahrung. Es geht um darstellendes Handeln. Auch dieser Aspekt von Performanz ist für eine Liturgie wie die Osternacht mit ihren zahlreichen verbalen und nonverbalen dramatischen Elementen zu beachten. Solche Rituale sind Ereignisse, die unter anderem menschliche Wahrnehmung verändern, die als Spielrahmen („framing“) eine Metakommunikation ermöglichen, innerhalb derer andere Handlungen und Botschaften verstanden werden können, die Aktivitäten mit Wirkung sind (Bell/123: 72–76).
Die Liturgiewissenschaft fragt also nach der Semantik, Syntaktik und Pragmatik der verschiedenen Elemente der Sprachhandlung „Liturgie“. Sie untersucht die Bedeutung der liturgischen Elemente, ihre innere Struktur und ihre Einbindung in Teile oder ins Ganze einer Liturgiefeier sowie ihre Wirkung und ihren Gebrauch in und durch die Liturgie. Eine liturgiewissenschaftlich sinnvolle Annäherung an Quellen des Gottesdienstes kann sehr unterschiedlichen Fragestellungen folgen. Diese bestimmen die jeweilige Methodik und das konkrete Vorgehen. Doch einige Schritte sind unverzichtbar, wenn man sich mit Liturgien der Gegenwart und der Geschichte beschäftigt. Anhand einiger Elemente aus der Taufliturgie werden sie im Folgenden erläutert.
Erste Annäherung an die Quelle
Eine Interpretation der genannten Elemente muss verschiedene Fragestellungen bearbeiten. In jedem Fall geht es bei einem Text gleich welcher Sorte zunächst um eine adäquate, philologischen Standards folgende Untersuchung der Quelle als solcher. Bei einem liturgischen Text, gleichgültig, ob es sich um Liturgien der Geschichte oder der Gegenwart handelt, stehen am Anfang die Übersetzung bzw. die Analyse der muttersprachlichen Sprachgestalt und die Bestimmung des literarischen Genus. Sprache ist in der Liturgie keine Äußerlichkeit, sondern eines der wesentlichen Kommunikationsmittel. Immer ist die sprachliche Form auch auf ihre Sinnbedeutung hin zu befragen. Die Übersetzung bzw. sorgfältige Untersuchung der Sprachgestalt macht auf diese sprachlichen Züge aufmerksam (vgl. Kap. 5.3). Bei einer Zeichenhandlung wird man sich entsprechend um eine genaue Beschreibung bemühen, um sie wirklich erfassen zu können. Zudem ist die Bedeutung der Quelle kritisch einzuschätzen: Wer steht hinter dieser Quelle? Wer ist, soweit dies bei liturgischen Texten überhaupt zu eruieren ist, ihr Verfasser? Welche Funktion hat sie? An wen wendet sie sich und von wem wird sie gebraucht? Gerade im Umgang mit Liturgica ist Quellenkritik notwendig. So ist die Quellensorte zu klären: Handelt es sich um ein liturgisches Buch im Sinne einer Zusammenstellung liturgischer Texte und notwendiger Handlungsabläufe wie beispielsweise in einem Taufrituale? Dient das Buch wie ein Liber ordinarius der Beschreibung liturgischer Handlungsabläufe? Will die Schrift, wie der Name „Kirchenordnung“ schon andeutet, kirchliches Leben ordnen und eine Idealliturgie beschreiben? Nicht nur für historische Quellen wird nach deren Rezeption zu fragen sein. Gerade Liturgica tradieren (auch) Traditionsbestände, die möglicherweise für die liturgische Praxis ohne Bedeutung (gewesen) sind. Der kritische Umgang mit der Quelle schützt also möglicherweise vor Fehleinschätzungen der tatsächlichen liturgischen Praxis.
Geschichte der liturgischen Sprachhandlung
Je nach Fragestellung interessiert die Geschichte von Text und Zeichenhandlung. Gerade liturgische Texte können, da sie in einen fortwährenden Traditionsprozess eingebunden sind, als „lebendige Literatur“ bezeichnet werden. Für die Geschichte, vor allem die Genese von Text und Handlung, ist nach Entstehungsort und -zeit sowie nach der ursprünglichen Gebrauchssituation zu fragen. Die katholische Kindertaufliturgie der Gegenwart kennt mit der Stirnsignierung des Säuglings, mit Litanei und Fürbitte, dem Gebet um Befreiung (Exorzismus) und der Salbung mit Katechumenenöl Texte und rituelle Handlungen, deren Genese, Funktion und gegenwärtige Bedeutung man wissenschaftlich erst richtig erschließt, wenn man ihre Geschichte kennt. Ihr ursprünglicher Ort ist der Katechumenat der Erwachseneninitiation. Als sich aus deren Ritus die Säuglingstaufe entwickelte, blieben die genannten Elemente erhalten. Kennt man diesen Hintergrund, kann man diese Sprachhandlungen heute als katechumenal interpretieren. Damit gelangt eine für die christliche Initiation unverzichtbare Dimension ins Blickfeld.
Zu fragen ist also nach möglichen Entwicklungen und Funktionsveränderungen der Texte und Handlungen, weil sie erklären können, warum ein Text oder ein Zeichen an dieser und jener Stelle verwendet wird, und weil eine solche diachrone Betrachtung das Verständnis erleichtert. Aber auch der kultur- und theologiegeschichtliche Hintergrund der Texte und Handlungen ist zu untersuchen. So trägt die Kenntnis theologiegeschichtlicher Diskussionen zum Verständnis christologischer oder pneumatologischer Aussagen in liturgischen Texten bei. Bei den genannten Taufriten ist das Wissen um die religions- und theologiegeschichtliche Bedeutung von Exorzismen hilfreich, um deren Funktion, Entwicklung und ihre Veränderung in der Moderne verstehen zu können. Grundsätzlich ist in der Liturgie damit zu rechnen, dass Elemente aus der Glaubenstradition in späterer Zeit unter anderen sozialen, kulturellen und geistlichen Voraussetzungen praktiziert, also in anderer Glaubenssituation neu rezipiert werden.
Die einzelne Sprachhandlung als Teil des Gesamtrituals
Die Einbindung des Textes in die größere rituelle Einheit oder das Gesamtritual ist zu untersuchen. Es ist also nach den Faktoren zu fragen, die über die Verbalität hinaus die Performanz der Liturgie bestimmen. Wer spricht, wer hört den Text? Von welchen Gesten wird er begleitet? Welche Körperhaltungen (Sitzen, Knien, Stehen) werden eingenommen? An welchem Ort im Raum wird die Sprachhandlung vollzogen? Die genannten Vollzüge der Taufliturgie kennen mehrere Sprechende und Handelnde. Neben dem Priester oder Diakon sind Eltern und Paten und die übrigen Gemeindemitglieder beteiligt. Aufnahme in die Gemeinde und Eintritt in die Kirche wird im Handeln der Gemeindemitglieder vollzogen, die hier als Angehörige der „Gemeinschaft der Heiligen“ partizipieren. Zum gesprochenen Text hinzutreten expressive Zeichenhandlungen. Sie sind für die Interpretation unverzichtbar, denn sie tragen zum Handlungsgeschehen der Liturgie bei. Die Liturgie realisiert, was sie zuspricht. Durch die Signation mit dem Kreuzzeichen wird die Zueignung des Täuflings an Christus vollzogen. Die Handausstreckung zum Gebet um Befreiung symbolisiert die Segens- und Schutzfunktion, die für den Täufling von Gott gegenüber dem Bösen erbeten wird. In der Ölsalbung wird die Stärkung mit der Kraft Christi, von der das Gebet spricht, in einer Zeichenhandlung erfahrbar. Dass dieser Abschnitt der Liturgie noch nicht am Taufort stattfindet, unterstreicht seinen katechumenalen Charakter. Ihm kommt im Gesamtritual die Funktion der Vorbereitung auf das eigentliche Taufgeschehen zu. Im größeren liturgischen Kontext lassen sich dann auch die Charakteristika der verschiedenen Salbungen innerhalb der Taufe erklären.
Die liturgische Sprachhandlung im außerliturgischen Umfeld
Mitgeprägt wird Liturgie durch das gesellschaftliche und kirchliche Umfeld. Sozial- und Mentalitätsgeschichte, Religions- und Frömmigkeitsgeschichte, gesellschaftliche und pastorale Realitäten der Gegenwart haben Einfluss darauf, wie Liturgie gefeiert wird. In welchem kulturellen Umfeld hat beispielsweise die Säuglingstaufe ihren Platz? In einer durch Volkskirchlichkeit geprägten Gesellschaft ist die Taufe Unmündiger selbstverständlich; unterstützende kirchliche Milieus erleichtern die Eingliederung des Neugetauften. In einer säkularisierten oder stark durch Konfessionslosigkeit bestimmten Gesellschaft verliert die Säuglingstaufe möglicherweise zugunsten der Erwachsenentaufe an Normalität. In einer Gesellschaft, in der religiöse Traditionen präsent sind, können überkommene liturgische Formulare mit eigener Sprach- und Bilderwelt möglicherweise leichter mitvollzogen werden als dort, wo eine Vertrautheit mit solchen Traditionen nicht mehr gegeben ist. Sowohl für die Geschichte als auch für die Gegenwart sind für die Untersuchung von Liturgien solche Voraussetzungen mitzubedenken.
Das gilt auch für die Bedingungen hinsichtlich Theologie und Frömmigkeit, unter denen die Liturgiefeier steht. Die Neuentdeckung der Erwachseneninitiation im späten 20. Jahrhundert, angestoßen unter anderem durch das II. Vatikanum, warf ein neues Licht auf den gesamten Bereich der Initiation. Sehr unterschiedliche Formen der einen Taufe (Säuglingstaufe, Eingliederung von Kindern im Schulalter, Erwachseneninitiation) werden nebeneinander praktiziert und beeinflussen sich auch wechselseitig in ihrer Praxis. Andererseits können durch Veränderungen von Theologie und Frömmigkeit Riten obsolet werden. Einzelne Elemente können – mit Konsequenzen für die Liturgiefeier – von den Mitfeiernden als problematisch oder inakzeptabel empfunden werden, etwa der alte Taufexorzismus, das Gebet um Befreiung vom Bösen in der Kindertaufe. Um solche Faktoren, welche die Liturgie und ihre Mitfeier wesentlich prägen, erfassen zu können, ist also das Umfeld zu beschreiben, in dem diese Liturgie gefeiert wird und das die Kommunikationssituation wesentlich mitbestimmt.
Die liturgietheologische Bedeutung der Sprachhandlung
In einem weiteren Schritt ist nach der Bedeutung des Textes zu fragen. Die Struktur des Textes, Begrifflichkeit, Grammatik, Stilistik, Rhetorik usw. sind zu beachten. Bei einer biblischen Lesung (Perikope), einer Antiphon, einem Hymnus oder einer Oration wird man sehr unterschiedliche Strukturen beobachten können, die aber für den Sinn des jeweiligen Textes von Bedeutung sind.
Am Beispiel des Gebetes um Befreiung vom Bösen aus der Taufliturgie sei das verdeutlicht. Einer der Auswahltexte lautet:
„Z.: Herr, allmächtiger Gott, du hast deinen eingeborenen Sohn gesandt und durch ihn den Menschen, die in der Sünde gefangen waren, die Freiheit der Kinder Gottes geschenkt.
Wir bitten dich für diese Kinder. In unserer Welt sind sie vielfältigen Versuchungen ausgesetzt und müssen gegen die Nachstellungen des Teufels kämpfen. Durch die Kraft des Leidens und der Auferstehung deines Sohnes befreie sie von der Erbschuld und der Verstrickung in das Böse. Stärke sie mit der Gnade Christi und behüte sie allezeit auf dem Weg ihres Lebens durch ihn, Christus, unsern Herrn.
Alle: Amen“ (Feier der Kindertaufe/48: Nr. 49A).
Der Text weist eine klare Struktur auf. Er beginnt mit einer Prädikation, die an das Handeln Gottes in der Heilsgeschichte erinnert. Ihr folgt eine ausführliche Bitte, die durch Christus an Gott gerichtet wird. Das Gebet schließt mit einer formelhaften Akklamation der Gemeinde. Das Tempus der Prädikation ist das Perfekt – Vergangenheitsform, während in der Bitte als Tempora Prä-sens und Futur verwendet werden. Das Gebet spielt also verschiedene sprachliche Zeitebenen und auf diesem Wege zugleich Zeitebenen der Heilsgeschichte ein: Handeln Gottes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Weder die Abfolge der Strukturelemente – zuerst Lobpreis und Dank, dann Bitte – noch die Verwendung der Zeitformen ist belanglos. Über die verschiedenen Sprachmittel artikuliert sich ein Glaubensgeschehen. Der zweite Teil des Gebets wird deutlich mit der Einleitung „Wir bitten dich“ markiert. Die drei Bitten sind sprachlich parallel formuliert und bilden inhaltlich eine Klimax. Verschiedene Sprachebenen sind zu erkennen, die das Glaubensgeschehen anzeigen: Das Gebet richtet der Zelebrant an Gott, aber die Gemeinde muss dem in der Schlussakklamation zustimmen; es handelt sich um ein Gebet der Gemeinde („Wir“-Form). Die Formulierung „durch Christus“ weist Christus als den Mittler des Gebets aus. Zugleich wird das Gebet für andere, hier die unmündigen Kinder, gesprochen. Handelndes Subjekt ist Gott, den man bittet, durch Christus den in der Sünde befangenen Menschen zur Freiheit zu führen. Das Gebet ist Ausdruck der Begleitung des Menschen durch die Kirche.
Es gibt kaum Beschreibungen der Methodik und der Arbeitsweise der Liturgiewissenschaft. Lesenswert für die wissenschaftliche und aszetische Erschließung von Messformularen sind immer noch die Hinweise von Wintersig/206. Einen Überblick über neuere englischsprachige, italienische und deutsche wissenschaftliche Ansätze bietet neben eigenen, an Beispielen demonstrierten Überlegungen De Zan/132. Hinweise zu wichtigen Quellensorten und ihrer Einschätzung hat Meßner/33: 35–54 zusammengestellt.