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2.2 Etappen der Geschichte des Faches Liturgiewissenschaft
ОглавлениеDeutungen des christlichen Gottesdienstes und kritische Reflexionen über seine Geschichte gibt es nicht erst seit der Neuzeit; bereits in der christlichen Antike begegnen theologische Diskussionen über einzelne Aspekte des Gottesdienstes und Auslegungen ganzer Feiern. Das Mittelalter hat sich vor allem der geistlichen Erschließung der Liturgie intensiv gewidmet. In der Neuzeit findet man um 1800 sehr differenzierte Bemühungen um die Pastoral der Liturgie. Die Einrichtung von Lehrstühlen, die sich auch oder ausschließlich mit der Liturgie beschäftigen, geht nicht erst auf das 20. Jahrhundert oder gar die Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zurück, sondern ist vereinzelt schon für das 18. Jahrhundert belegt. Sogar die Ausdifferenzierung der verschiedenen heute üblichen Arbeitsfelder des Faches – Theologie, Geschichte, Praxis der Liturgie – ist durch eine jahrhundertelange Geschichte vorgeprägt, wenngleich die entscheidende Ausformung erst im frühen 20. Jahrhundert stattfand und das Fach mit Blick auf Forschungsobjekte und -fragen sich immer weiterentwickelt.
Die folgende kurze Einführung in die Geschichte des Faches und seiner Vorläufer macht auf eine Fülle von Zugangsweisen aufmerksam, mittels derer man den Gottesdienst in seinen Formen und Ausprägungen betrachtete. Diese Vielfalt hat unterschiedliche Ursachen: Hermeneutische und methodische Neuerungen in der Theologie beeinflussten auch die Reflexion über die Liturgie und ihre Arbeitsinstrumentarien. So ist beispielsweise die mittelalterliche allegorische Liturgieerklärung nicht ohne den Neuplatonismus verständlich, die Entwicklung einer an praktischen Fragen des Gottesdienstes interessierten Wissenschaft um 1800 steht unter dem Einfluss der Spätaufklärung, und die humanwissenschaftlichen Ansätze der Liturgiewissenschaft des 20. Jahrhunderts sind ohne die »anthropologische Wende« in der Theologie nicht denkbar. Veränderungen in den Nachbardisziplinen, besonders in den Geistes- und Kulturwissenschaften, betreffen auch die Liturgiewissenschaft. Damit sind Disziplinen wie Musik-, Theater-, Kunstwissenschaften angesprochen, aber ebenso die Religionswissenschaft, Disziplinen also, deren Forschungsbereiche sich mit dem der Liturgiewissenschaft überschneiden. Die Liturgiewissenschaft entwickelt im Diskurs mit den »Ritual Studies« Untersuchungsparadigmen, die zu einer anderen Wahrnehmung der Liturgie selbst führen; diese wird jetzt wieder stärker in ihrer Ritualität wahrgenommen (Post/241; Ritual Studies/233, vgl. Kap. 1.3).
Die Liturgie als Feiergeschehen ist ein durch Anthropologie, Theologie, Kunst, Musik etc. geprägtes kulturelles Gebilde, das sich bei aller Traditionsbindung unentwegt wandelt. Man spricht von Ritualdynamik. Die sich verändernde Liturgie stellt die Liturgiewissenschaft vor jeweils neue Aufgaben. Ob die Liturgie als formalisiert und rubrikal geregelt oder als unter bestimmten Vorgaben zu gestalten verstanden wird, beeinflusst das Aufgabenspektrum der Liturgiewissenschaft; das gilt auch für Neuerungen und Umbrüche in der Theologie der Liturgie, der Mentalität und Frömmigkeit, der Rollenverteilung zwischen Klerikern und anderen Gläubigen, Veränderungen einzelner Elemente usw. Die Kenntnis unterschiedlicher Deutungsmodelle der Liturgie trägt zum besseren Verständnis der Etappen der Liturgiegeschichte und einzelner Phänomene bei.
Die Liturgiewissenschaft blickt wissenschaftsgeschichtlich auf eine lange Vorgeschichte zurück. Spuren einer Auseinandersetzung mit Kult und Liturgie lassen sich bereits in der Bibel finden. Schon nach den Schilderungen des Alten und Neuen Testaments werden Gebet, Kult und Gottesdienst nicht nur vollzogen und gefeiert, sondern auch theologisch durchdacht und der Kritik unterworfen. Das Alte Testament formuliert umfangreiche Kultordnungen unter anderem in Lev, Num und Dtn. Die prophetische Kultkritik in Am 5,21ff., Jes 1,10ff., Jer 6,20 etc. benennt Voraussetzungen und Konsequenzen eines Kultes, der vor Gott Bestand haben kann. Das Neue Testament nimmt unter anderem das Doppelgebot von Gottes- und Nächstenliebe zum Ausgangspunkt für eine Kritik des Kultes. Joh 4,20–24 nennt als Ziel des wahren Betens das Gebet im Geist und in der Wahrheit. In 1 Kor 11 kritisiert Paulus die Abendmahlspraxis in der Gemeinde zu Korinth und beschreibt eine Ordnung des Herrenmahls, die dem Auftrag Christi gerecht wird. Der Hebräerbrief deutet den Gottesdienst als »Wortgottesdienst« im Sinne eines Anrede-Antwort-Geschehens (März/485: 98; Theobald/409).
Der Gottesdienst wurde also durchaus reflektiert; er brauchte aber – zumindest in den frühchristlichen Gemeinden – an und für sich nicht legitimiert zu werden, weil er im gesellschaftlichen Umfeld nicht in Frage stand, ohne dass dies bedeutete, dass immer alle am Gottesdienst teilnahmen (MacMullen/375). Zudem waren die Beziehungen zwischen der zeitgenössischen Feier- und Alltagskultur und dem Gottesdienst so eng, dass die einzelnen gottesdienstlichen Vollzüge aus sich sprachen. Noch hatte kein tiefreichender kultureller Bedeutungswandel stattgefunden, der Liturgie unverständlich und Erklärungen notwendig gemacht hätte. Dazu kam es erst, als die vor allem im Mittelmeerraum ausgeprägte christliche Liturgie auch in anderen Kulturräumen Fuß fasste. Stand zunächst die Mystagogie als Erschließung gefeierter Liturgie im Vordergrund (Kap. 2.2.1.1), so seit dem Mittelalter die Allegorese, eine vor allem an geistlicher Auslegung interessierte Hermeneutik (Kap. 2.2.1.2). Erst mit dem Humanismus gewann ein breiteres Interesse an den geschichtlichen Quellen des Gottesdienstes an Boden (Kap. 2.2.2). Die spätmittelalterlich-neuzeitliche Rubrizistik legte die rechtliche Ordnung der liturgischen Riten dar, deren Befolgung rituelle Sicherheit verhieß (Kap. 2.2.3). Mit dem 18. Jahrhundert und der katholischen Aufklärung wurde die Beschäftigung mit der Liturgiepastoral gestärkt; das kritisch reflektierende Potenzial der »Liturgik« wuchs (Kap. 2.2.4.1). Das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert brachte eine Reihe von richtungsweisenden Handbüchern hervor (Kap. 2.2.4.2). Die bis heute in den Grundsätzen anerkannte Aufgabenverteilung der Liturgiewissenschaft in Historik, Theologie und Praxisreflexion formulierte das frühe 20. Jahrhundert (Kap. 2.2.5). Nochmals eine eigene Prägung erfuhr die jetzt zum theologischen Hauptfach erhobene katholische Liturgiewissenschaft durch das Zweite Vatikanische Konzil (Kap. 2.2.6). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich das Fach hinsichtlich Methodik und Forschungsgegenstand in einem sich verändernden kirchlichen und gesellschaftlichen Umfeld weiter (Kap. 2.2.7).