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1 Im Labyrinth

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Zu Zeiten von Blumenkindern in San Francisco glich die Stadt Prag eher einer Stadt zu Zeiten von Cholera....

An einem der trüben Herbsttage, die auf die Hochzeitsnacht folgten, gab die Großmutter Jan den Schlüssel zur Wohnung, die irgendwann das traute Heim des Ehepaars werden sollte; es war ihr Schlüssel zur Zukunft.Wer sinniert nicht gerne über seine Zukunft nach? Wer keine Zukunft hat, ist am Ende. Was Zukunft hat, verspricht viel. Besser noch ist eine rosige Zukunft. Gibt es ein Leben ohne Zukunft?

Die Zukunft wird uns mit der Geburt geschenkt und das Ende der Zukunft, der Tod, wird uns im großzügigerweise im gleichen Augenblick mitgegeben.

Mit dem Schlüssel in der Hand blieb Jan vor dem Hauseingang stehen. Das alte Mietshaus wirkte auf ihn wie ein Buch mit sieben Siegeln; er zögerte kurz, bevor er es jetzt zum ersten Mal allein betrat. Die Wohnung lag im ersten Stock, das Treppenhaus war nur kärglich beleuchtet. Er klingelte kurz an und klopfte dann mit Entschiedenheit an die Tür. Die Tür blieb zu, die alte Frau hörte schlecht. Jan schob den Schlüssel ins Schloss hinein, drehte ihn um und betrat das Zimmer. Er hielt den Atem an, um nicht zuviel von der schlechten Zimmerluft einzuatmen, bevor er das Fenster geöffnet hatte.

Die alte Frau lag regungslos auf dem Bett und bemerkte ihn kaum; ein Wunder, dass sie in der schlechten Luft - ihr ungeleerter Nachttopf stand neben dem Bett - nicht erstickt war.

Die ins Zimmer hereinströmende kühle Frische versetzte ihrer Lethargie einen Stoß; sie machte die Augen auf und sagte: "Arno, bist du das? Das Geld ist in der Schublade."

Sie richtete ihren Blick auf das Holzkreuz, das an der Wand gegenüber hing; es war ziemlich groß und trug den Leichnam Christi. Dies überraschte Jan, da er die Frau dem Typ nach als Semitin einschätzte, allerdings gab es in Prag auch getaufte Juden.

"Nein. Ich bin Jan, ihr neuer Betreuer."

"Heute wollte Arno kommen."

Nach kurzem Schweigen sagte sie angestrengt: "Sie können hinten im Zimmer wohnen."

"Heute noch nicht. Ich bin gekommen, um mir das Zimmer anzuschauen. Wenn Arno kommt, kann er hier ein bisschen aufräumen." Er wies auf den Nachttopf.

"Arno räumt immer auf. Heute war er noch nicht da!" Sie drehte sich zur Seite, um anzudeuten, dass das Gespräch zu Ende sei.

Jan betrat das zweite Zimmer: das Schlafzimmer der Wohnung. Seit Jahren unbewohnt, glich es einer Rumpelkammer in deren Mitte ein altes Ehebett stand.

Ein anderes, großes Holzkreuz, eine alte Büchertruhe und ein kleiner, angerosteter Heizofen, jahrelang unbenützt, ergänzten die Einrichtung. Auch hier war die Luft abgestanden und schwer, er riss das Zimmerfenster zum Hinterhof auf und setzte sich aufs Bett, das sofort quietschende Geräusche von sich gab. Die bejahrten Matratzen war weich und durchgelegen - als hätten unzählige Paare in diesem Bett geschlafen. Die vergilbte Zimmerdecke war sehr hoch, somit ließ sich das Zimmer im Winter nur schwer beheizen und auch im Sommer blieb es kalt. Er legte sich hin, ohne seine Regenjacke auszuziehen. Mit geschlossenen Augen dachte er über sein neues Leben mit Ella nach.

Sie waren jetzt in aller Form verheiratet und Ella hatte Jans Familiennamen angenommen. Mit etwas Glück könnten sie irgendwann diese Wohnung beziehen. Durch Großmutters Vermittlung wurde er nun bei der Sozialverwaltung der Stadt Prag als freiwilliger Altenbetreuer der bettlägerigen Frau registriert und als bei ihr wohnhaft angemeldet. Der Betreuereinsatz war unentgeltlich und er brauchte keine Miete für das schäbige Zimmer zu zahlen.

Diese auf den ersten Blick vielversprechende Zukunftsaussicht bedeutete den ersten Schritt in den Krieg mit den Prager Behörden und gegen Behörden, welcher Art auch immer, hegte Jan instinktiv eine starke Antipathie.

Die Änderung des Familienstandes in Jans kleinem roten Ausweis war noch das geringste Übel; Ellas Personalausweis musste wegen Namensänderung vollständig erneuert werden.

Das antike Ehebett war groß genug für zwei, selbst drei Personen hätten dort bequem schlafen können; die Büchertruhe war voll von dicken alten Büchern, verstaubt und vergilbt. Die meisten waren um die Jahrhundertwende erschienen und waren im romantischen Jugendstil der jeunesse dorée illustriert. Einige waren auch auf deutsch, mit Widmungen an das sehr verehrte Fräulein. Ein ein kleines Fotoalbum war dabei; den alten, rostfarbenen Fotos nach war die alte Frau, die jetzt hilflos im Nebenzimmer lag, früher ein bildhübsches Mädchen.

Neben der Büchertruhe stand ein kleiner, schwarzer Heizofen aus Metall, verrostet, doch allem Anschein nach funktionsfähig. Er konnte mit Holzkohle beheizt werden, hatte einen eingebauten Bratrost und eine große, schwarze Herdplatte. Die ins Zimmer hereinströmende Luft roch nach Russ und nach von Lokomotiven frisch erzeugtem Dampf; der Bahnhof befand sich unmittelbar gegenüber.

Jan schloß das Fenster. Im Nebenzimmer machten sich jetzt Geräusche bemerkbar, die Eingangstür wurde auf und zugemacht. Er öffnete einen Spaltbreit die Zimmertür und sah durch; Arno war in der Wohnküche und trug den Nachttopf in den Klosettraum im Flur. Entleert und dürftig gesäubert stellte er den Topf neben das Bett.

"Wo ist das Geld, Oma?" fragte er.

Mit seinen langen schwarzen Haaren und noch bartlosem Gesicht wirkte er fast wie ein Mädchen, doch die Stimme war bereits ein kräftiger Mannesbariton.

"In der Schublade, nimm dir das!"

Er nahm das Geld aus der Schublade - es waren einige größere Banknoten mit Hammer und Sichel - und zählte nach.

"Nur vier Hundert Kronen"

"Das ist meine Monatsrente, mehr habe ich nicht."

Zum nackten Überleben reichte es gerade.

"Wann kommst du wieder?"

"Wie immer...wenn ich Zeit habe. Mach' dir keine Sorgen."

"Ich bekomme jetzt auch einen Betreuer", sagte die alte Frau. "Er ist gerade nebenan."

Arno war schon mit einem Bein aus der Wohnungstür heraus.

"Umso besser", sagte er.

Jan öffnete die Tür und ging auf den Burschen zu, um sich vorzustellen und mit ihm zu reden, das Gespräch war denkbar kurz, denn Arno hatte es eilig. Möglicherweise fürchtete er, das Geld mit dem neuen Betreuer teilen zu müssen.

"In einer Woche bin ich wieder da", sagte er mit ausdrucklosem Gesicht. "Dann reden wir!"

Jan sah Arno nie wieder.

Die Tatsache, dass sie jetzt verheiratet waren, bedeutete nicht, dass er in Ellas Zimmer im Seminar der theologischen Fakultät über Nacht bleiben durfte, obwohl er von ihrem Mentor als Besucher geduldet wurde. Aber intimes Zusammensein, das heute mehr oder weniger glücklich als Sex bezeichnet und bekanntlich vom sechsten Gebot der Bibel abgeleitet wird, war nicht erwünscht. Die Mentorfrau sah zu, dass ein Bruch des sechsten Gebotes nicht zustande käme.Jans Zimmer in der neuen Studentenstadt war für eine sturmfreie Übernachtung zu Zweit auch denkbar schlecht geeignet; zumindest einer der beiden Zimmergenossen war immer dabei und eine Nacht im Prager Hotel kostete ein Vermögen, das sie beide nicht hatten.

Geldmäßig pfiff Jan ohnehin auf dem letzten Loch; ab dem nächsten Monat, so schien es, konnte er mit keiner Unterstützung von seinen Eltern mehr rechnen und auch Ellas Stipendium wurde vorläufig wegen Bearbeitung der Namensänderung gestoppt.

Die Adventszeit kam wieder, ohne dass sie nach der verflossenen Hochzeitsnacht, die eigentlich keine war, einen physischen Kontakt als Mann und Frau - wie im Sommer in der kleinen Ferienhütte am Stausee - gehabt hätten. Das prekäre Zimmer, das Jan als Betreuer zugewiesen wurde, war jetzt der einzige für ein intimes Zusammensein verfügbare Zufluchtsort. Kurz vor dem zweiten Adventssonntag schlug er Ella vor, dort eine Nacht zu verbringen.

"Irgendwann werden wir ja die ganze Wohnung beziehen ", meinte er, "warum sollten wir nicht jetzt schon ausprobieren, wie man sich dort fühlt?"

Ella lachte und hielt den Vorschlag zunächst für einen schlechten Witz.

"Ich habe doch noch mein Bett bei der Oma."

"Es geht nicht nur um das Bett, sondern um unser Zusammensein als Mann und Frau. Deswegen haben wir geheiratet!"

Sie runzelte nachdenklich die Stirn und schwieg. Da die Hochzeitsnacht nicht das war, was sie hätte sein sollen, fürchtete sie, in der vernachlässigten Wohnung, die sie mit einer pflegebedürftigen Greisin teilen würden, eine weitere Enttäuschung erfahren zu müssen. Nach einer Weile glättete sich die Stirn wieder und sie sagte:

"Ekelchen, du hast wohl recht. Wir sind Mann und Frau. Allerdings gehe ich am Wochenende gehe ich immer mit meinem Hund spazieren."

Jan, der Verständnis für die Probleme anderer hatte, und grundsätzlich auch kompromissbereit war, schlug vor: "Wir nehmen den Hund mit uns! Und wenn ihm das Zimmer nicht gefällt, bringen wir ihn wieder zur Oma."

Die Oma musste für Vieles geradestehen: sie gab Ella frische Bezüge und zwei Bettdecken für das Ehebett mit und wünschte dem Paar viel Glück.

Am Samstagnachmittag betraten sie die Wohnung und tatsächlich: der Hund wollte gar nicht hinein und begann kläglich zu jaulen. Die alte Frau schlief, ohne das Gejaul wahrzunehmen oder sie tat so.

"Ist jemand da", fragte sie schließlich.

"Das bin ich, Ihr neuer Betreuer", sagte Jan. "Und ich habe jetzt auch eine Krankenschwester dabei."

Die alte Frau sagte nichts und drehte sich zur Seite: ein Zeichen, dass sie mit keinem reden wollte. Ihr Nachttopf war noch nicht voll und Jan schob ihn mit dem Fuß unter das Bett.

Der Hund blieb in der Tür stehen und Ella brachte ihn kommentarlos zur Oma zurück, es waren nur einige Hundert Meter. Sie ließ das Bettzeug auf dem Bett liegen und versprach, gleich wieder zurückzukommen.

"Du kannst derweil das Bett beziehen", meinte sie etwas patzig.

Das tat er so gut er konnte und es fiel ihm auf, dass die schweren Roßhaarmatratzen stark verstaubt waren, mit jeder Bewegung bildete sich über dem Bett immer aufs neue eine kleine Staubwolke. Er machte das Fenster auf und als Ella zurückkam, war das Bett frisch bezogen.

Als es abends dunkel wurde, stellten sie fest, dass der antike Lüster, der weit oben an der Zimmerdecke hing, nicht funktionierte. Ella musste nochmals zur Oma zurück, um dort eine Taschenlampe und einige Kerzen zu holen; danach liebten sie sich schnell und kurz im Kerzenlicht. Im Zimmer wurde es staubig und das Bett gab Horrorgeräusche von sich, doch sie merkten das kaum.

Nach dem Liebesspiel schliefen sie beide nackt ein, nassgeschwitzt, obwohl das Zimmer kühl und unbeheizt war. Später wachten sie auf und spürten die Kälte.

Ella zog ein langes weißes Nachthemd an und Jan einen Schlafanzug, der aus einer Jacke mit vielen Knöpfen und einer dicken Flanellhose mit offenem Schlitz zwischen den Beinen bestand. Sie legten sich nebeneinander und deckten sich mit zwei Bettdecken zu, umarmten sich und nach einer Weile liebten sie sich angezogen wieder. Irgendwann flaute die körperliche Lust ab und die Kerzen gingen aus. Erschöpft und hungrig schliefen sie ein.

Mitten in der Nacht wurden sie plötzlich beide wach, Jans Handgelenk juckte und Ella spürte starken Juckreiz an den Beinen.

"Wir schlafen wohl auf einem Ameisenhaufen!"

"Im Winter schlafen die Ameisen", sagte Jan ironisch. "Aber es könnte ein Floh sein."

In den überfüllten Prager Straßenbahnen war es durchaus möglich, sich von einem der vielen ungepflegten Mitreisenden einen Floh zu holen, zumal auch Hunde frei mitreisen durften.

"Bist du sicher, dass Lump keine Flöhe hat?" Lump war der geliebte schwarze Schäferhund, Ellas Beschützer.

"Sei nicht so ekelhaft!" Die Stimme klang leicht hysterisch. "Mit Sicherheit nicht. Die Oma wäscht ihn jede Woche in einem großen Holztrog!"

"Wenn es ein Floh ist, können wir ihn jetzt ohne Licht nicht finden. Außerdem springen die Flöhe. Oft verstecken sie sich in der Kleidung. Man muss im Badezimmer die Wanne vollaufen lassen und sich dort ausziehen. Der Floh springt dann ins Wasser und ertrinkt!"

"Wieso weißt du das? Hast du damit schon Erfahrung?"

"Nein", sagte er. "Jemand hat mir das erzählt."

Sie versuchten weiter zu schlafen. Gegen Morgen wachten sie auf und schauten sich im anbrechenden Morgengrauen ihre Körper an. Ella hatte viele rote Stiche an den Beinen und an Jans Armen und Bauch zeichneten sich ebenfalls große, rote Bissspuren ab.

"Verdammt", sagte Jan, "das ist nicht nur ein Floh. Es muss eine ganzes Heer von Flöhen sein."

Im frisch bezogenen Bett war auf den ersten Blick nichts zu sehen, nur leichte Blutspuren von im Schlaf zerkratzter Haut.

"Vielleicht ist etwas unter den Matratzen", meinte Ella. Jan ergriff die Matratze und hob sie an; darunter tummelten sich viele rötlicheTierchen, die wespenähnlich aussahen.

"Das sind keine Flöhe! Es müssen Bettwanzen sein!"

Weder er noch Ella hatten bis zu diesem Augenblick je eine Bettwanze gesehen. Jetzt wussten sie, was eine Bettwanze war. Der Juckreiz von bereits erfolgten Bissen blieb und zwang sie, sich ständig zu kratzen.

"Ekelhaft!" sagte Ella auf deutsch. "Und was machen wir jetzt?

"Nichts wie raus hier!"

Sie zogen sich an und verließen die Wohnung, um im gegeüberliegenden Bahnhofsbistro zu frühstücken. Ursprünglich wollten sie den ganzen Sonntag im Zimmer bleiben und die Zeit miteinander genießen; die Lust darauf war ihnen jetzt vergangen.

Später rief Ella ihre Mutter an und erzählte ihr, was in der Nacht vorgefallen war und dass sie beide von Wanzen zerfressen seien.

Um sie zu trösten, lud die Mutter sie zum Mittagessen ein. Wohl oder übel hatte sie nun die Tatsache akzeptiert, dass Ella verheiratet war, obwohl dies gegen ihren Willen geschah.

"Vielleicht kann Joschka euch ein paar Tipps geben, wie man mit Wanzen fertig wird", sagte sie. "Er hat damit seine Erfahrung."

Joschka, der Barbar und ihr selbstherrlicher Mann, erzählte dann vollmundig über seine Erfahrungen beim Militär.

"In der Kaserne, wo ich war", sagte er, "gab es auch Wanzen. Mit den Wanzen ist das so: den einen fressen sie und den anderen nicht. Generell mögen sie junges Blut", feixte er. "Je jünger, umso besser!"

"Somit lassen sie die alte Frau in Ruhe?" fragte Jan.

"Könnte sein. Mich haben sie gefressen und meinen Kumpel nicht. Ich musste draußen im Freien schlafen!"

"Und was kann man da machen?"

"Gegen ein paar Wanzen gibt es Sprays. Aber wenn es viele sind und die ganze Wohnung verwanzt ist, muss alles raus. Die Möbel werden verbrannt und die Wohnung wird vollständig desinfiziert. Sie wird mit Chemikalien behandelt, die giftig sind, und bleibt danach einige Wochen veriegelt."

Mit Genuss kaute er an seinem Schweinebraten und sagte: "Ich hoffe nur, dass es nicht das ist, was euch blüht!"

Nach dem Essen gingen Jan und Ella als Ehepaar am Wenzelsplatz spazieren und setzten sich danach in den Innenhof des nostalgischen Hotels Europa, um dort einen Kaffee zu trinken. Sie saßen auf der Galerie in der ersten Etage und schauten hinunter; der Innenhof - voller Menschen, die laut redeten, - glich einem surrenden Ameisenhaufen. Von oben gesehen, bewegten sich die Köpfe leicht beim Reden und der Anblick erinnerte Jan an das Herumtreiben der Wanzen, die sie nachts unter der verkommenen Roßhaarmatratze gesehen hatten.

Ela empfand ähnlich. "Was meinst du, Ameisen oder Wanzen?"

Sie hatte Sinn für Humor, doch die Wanzenbisse waren noch frisch und juckten, sie kratzte sich heimlich an den Beinen und sogar oben am Hals hatte sie einen roten Stich. Jan trug ein langärmliges Hemd und versuchte, seine Wanzenbisse an den Handgelenken unter den Manschetten seines Hemdes zu verstecken.

"Ameisen sind fleißige Arbeitstiere, die die Erde vom Unrat säubern und daraus gewaltige Bauten errichten. Sie sind fleißig und hilfsbereit. Die Wanzen dagegen leben vom Blut, das sie anderen absaugen", sagte er scherzhaft, doch mit einem Hauch von Ernsthaftigkeit.

"Ich bin für die Ameisen! " fuhr er fort. "Auch sie beißen manchmal, aber nicht immer. Eigentlich sind sie nur lästig. Wie die Menschen!" Nach dem Kaffetrinken kehrten sie zurück, früher als geplant, jeder an seine Statt.

Nach der Erfahrung der ersten Nacht im verwanztem Zimmer wollte Ella dort nicht mehr über Nacht bleiben.

Auch für nur kurze erotische Treffen war das Zimmer nicht nur ungeeignet sondern eher störend, da die abstoßende Umgebung jegliches ästhetische, gefühlsbezogene oder lustvolle Empfinden zum Ersticken brachte. Nichtsdestotrotz kam Jan jeden Tag nach den Vorlesungen hierher, um den Nachttopf hinauszutragen und mit der alten Frau ein Wort zu reden.

"Kommt die Krankenschwester nicht mehr?" fragte sie einmal.

"Nein", sagte Jan. "Das nasskalte Wetter draußen bekommt ihr nicht. Sie ist erkältet und bei schlechter Gesundheit."

"Aha." Er hätte ihr sonst etwas erzählen können, sie hätte alles akzeptiert, ohne Fragen zu stellen.

Einmal kurz vor Weihnachten versuchte er, dort probeweise wieder eine Nacht zu verbringen, diesmal allein, nachdem er vorher die Matratze und den Bettkasten gesäubert und mit Desinfektionsmitteln übersprüht hatte. Es war Großmutters Empfehlung, die sich mit einer Schreckensmeldung an die Hausverwaltung noch Zeit lassen wollte.

"Wenn ich es melde", sagte sie, "wer weiß, was sie dann tun würden? Sie könnten dich aus dem Zimmer aus fadenscheinigen Gründen wieder rausschmeissen und dann wärt ihr dort, wo ihr vorher wart. Und das wäre doch zu schade! Eine Wohnung in Prag ist Gold wert!"

Das sah Jan ein. Nach der erfolgten Säuberung schienen die Wanzen verschwunden. Erleichtert legte er sich ins Bett, doch sicherheitshalber mit Socken und Handschuhen an, um den Wanzen keine Gelegenheit zu geben, bis zur nackten Haut durchzudringen, wo sie zubeißen könnten.

Lange Zeit konnte er nicht einschlafen und empfand plötzlich eine seltsame Angst, ohne genau zu wissen wovor. Was mag in diesem Zimmer vorher schon passiert sein? Vielleicht war in diesem Bett und auf dieser Matratze schon jemand gestorben!

Gelbliches Licht der Straßenlaternen vor dem Haus fiel durch das verschmutzte Fenster ins Zimmer ein, ohne es wirklich zu beleuchten, mit halb geschlossenen Augen konnte er unterhalb der Zimmerdecke wirbelnde Staubwölkchen wahrnehmen und begann zu hüsteln.

Woher kam die Schwingung, die sie zum Wirbeln brachte? Er sah das Kreuz mit dem Leichnam Christi an der Wand, direkt dem Bett gegenüber - mit der Dornenkrone und Blutspuren im Gesicht - was wäre, wenn dieser Leichnam plötzlich lebendig werden würde?

Irgendwann schlief er ein. Nach einer Weile wurde er durch einen leichten Stich auf der Stirn geweckt, er fasste die Stelle an und sah Blut an seinem Finger. Die Wanzen waren wieder da und bissen an der richtigen Stelle zu; im Gesicht. Er machte die Taschenlampe an und riss das Bett auf; die Wanzen waren in der Matratze versteckt; sie war morsch und an einigen Stellen aufgeplatzt. Er legte sein Unterhemd quer übers Gesicht und versuchte - so vom Kopf bis zur Sohle verpackt - zu schlafen und lag reglos da. Richtig einschlafen konnte er nicht mehr, er fragte sich, warum er sich in diesem Augenblick gerade in diesem Zimmer befinde. Zwar sah er den logischen Zusammenhang, aber wenn er Ella nicht kennengelernt hätte, hätte er mit Sicherheit die Nacht hier nicht verbracht.

Er sinnierte über das Zusammenspiel der Ursache und der Wirkung. Zwar gibt es im Leben kausale Zusammenhänge, die für Erklärung von verwickelten Lebensereignissen stehen, doch woher kommen die Ursachen, die eine weitere Verkettung von Folgen nach sich ziehen? Die Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftigte ihn schon als Kind; in Krisensituationen wie diese kam sie immer wieder auf.

Wie und durch wen wurde das Leben auf dieser Erde verursacht? Und die Existenz des Weltalls? Vor nicht allzulanger Zeit hatten kluge Lebensforscher den Begriff des big bang erfunden; in den Eierköpfen muss es stark geknallt haben, um auf diese Erklärung zu kommen.

Die Frage nach der Ursache ist anthropomorph; sie ist der Wunsch, die Dinge der Welt aus der Sicht der Menschen zu erklären. Klärt uns die Bibel auf? Oder vielleicht die Schriften der indischen Weisen?

Aufgeklärte Hinduisten wissen, dass Brahma, der Schöpfer in der Morgendämmerung eines kosmischen Tages erwacht, um sich zu manifestieren, und um beim Einbruch der kosmischen Nacht in Schlaf zu versenken und sich so ins Unmanifestierte aufzulösen. Jeder einzelne kosmische Tag-und-Nacht-Zyklus soll Tausende Yugas dauern und jedes Yuga bis zu 400 000 Jahren betragen. Während der Kosmos sich kontinuierlich ausdehnt und zusammenzieht erfahren alle Lebewesen, und so auch Jan, in aufeinander folgenden Zyklen von Brahmas Manifestation ihre Geburt, ihren Tod und Wiedergeburt.

Heureca, dachte Jan, endlich einer der etwas weiß - doch woher kommt Brahma, der Schöpfer? Das Foto von Albert Einstein mit ausgestreckter Zunge ging ihm durch den Kopf.

Der Lebensweg ist ein Weg im Labyrinth mit vielen Spiegeln; am Ende des Weges angelangt, begreifen wir, dass der Eingang in dieses Labyrinth auch sein einziger Ausgang sein muss.

***********

Da alles im Leben vergeht, verging auch diese Nacht. Frühmorgens zog er sich an und verließ das Zimmer, ohne seinen Schlafanzug mitzunehmen. Der Nachttopf der alten Frau war noch leer, sie schlief und schnarchte leise vor sich hin; in ihrer Nase pfiff es gelegentlich.

Die Tatsache, dass er nun in dieser Wohnung als Mitbewohner und Altenbetreuer - die alte Frau war die Hauptmietrin - gemeldet war, entpuppte sich bald als eine Ursache mit weitreichenden, unerwünschten Folgen. Notgedrungen hatte er Ellas Großmutter über die Verwanzung der Wohnung und die Unmöglichkeit, dort zu übernachten, unterrichtet. Eine Meldung an die Hausverwaltung konnte nicht mehr hinausgeschoben werden.

"Letztendlich",sagte die Oma, " müssen sie die Wohnung sanieren und sie wieder bewohnbar machen, zumal die Wanzenplage sich im ganzen Haus ausbreiten könnte. Und dann hätte ich die Verantwortung für das Verschweigen einer meldepflichtigen Tatsache. Obendrein bin ich ja auch noch für die Menschen hier irgendwie verantwortlich." Als ehrliche Kommunistin war sie sozial eingestellt.

Kurz vor Weihnachten wurde Ella krank und musste wegen chronischer Laryngitis und Rhinitis behandelt werden; die schwere Hals - und - Nasennebenhöhlen - Entzündung führte zum leichten Dauerfieber und sie mußte stationär im Krankenhaus behandelt werden.

Mit einem Krankenhausaufenthalt von mindestens drei Wochen - über die Weihnachten - war zu rechnen.

Jan besuchte sie dort am letzten Adventssonntag, sie wirkte erschöpft und blass. Er kam mit einem nur bescheidenen Blumenstrauß und erzählte ihr von seiner Nacht im verwanzten Zimmer.

"Ja", sagte sie. "Das Zimmer war stark verstaubt und du hättest vor unserer Übernachtung dort auch den Staub ordentlich abwischen müssen."

Doch nicht der Staub, sondern die Kälte und der andauernde Smog in Prager Straßen waren die Ursache ihrer Erkrankung..

" Nur damit du es weißt, ich leide auch an Stauballergie."

"Warum hast du es mir nicht vorher gesagt?"

"Ich will nicht, dass Krankheiten für uns zu einem Gesprächsthema werden, das irgendwann zwischen uns steht", sagte sie mit leidendem Gesichtsausdruck.

Jan beschloss, im Unterschied zum letzten Jahr, an Weihnachten nach Hause zu fahren. Wenn Ella gesund gewesen wäre, hätten sie zusammen fahren können, beide im Weihnachtsglück und im gleichen Zug.

"Fahr ruhig", sagte sie. "Hier bin ich gut aufgehoben. Das Zimmer ist warm und es gibt hier genug zu essen."

Es gab nicht wenige Prager, die aus rein praktischen Gründen versuchten, mit Hilfe von echten oder erfundenen Krankheiten den nasskalten Winter in Krankenhäusern zu überstehen. Kostenfreie medizinische Versorgung war ja eine der fortschrittlichen Errungenschaften des Kommunismus, auf die man stolz war. Beliebt waren Behandlungen wegen psychischer oder psychosomatischer Störungen.

"Wie steht es um dein Studium?" fragte er besorgt.

"Ich kann mich nicht konzentrieren", sagte sie. "Ausserdem sieht man an der theologischen Fakultät verheiratete Studentinnen nicht gern - auch wegen einer möglichen Schwangerschaft. Ich werde wohl aufhören müssen."

"Brichst du das Studium dann ganz ab?"

"Ausschließen kann man das nicht."

"Und was würdest du dann tun?" fragte er vorsichtig.

"Arbeiten!"

Es war die ungeschriebene Regel der damaligen Zeit, dass verheiratete Frauen ohne Kind genauso wie ihre Männer zu arbeiten hatten. So wollte es die Gleichberechtigungsnorm, auf die die Gesellschaft ebenfalls stolz war. Die meisten Familien wären sonst kaum überlebensfähig gewesen. Krippen und Kindergärten hatten Hochkonjunktur.

"Arbeiten?"

"Ja, etwas mit der Kunst."

"Ohne Ausbildung? "

"Mal versuchen. Wenn der Wille da ist, findet sich der Weg."

Dies schien Jan wenig realistisch, doch er wollte sie unterstützen, immer und in allem und auf welche Art auch immer. Nicht Worte sondern Taten stehen für die Quintessenz der Liebe.

"Und dein Hund?" fiel ihm dann ein. "Wer wird sich dann um ihn kümmern? Ich?"

Ella winkte ab. " Die Oma natürlich. Eigentlich gehört er ihr! Sie hat sich immer schon um ihn gekümmert."

"Gut! Wir reden über alles, wenn du wieder gesund bist."

*********

Am übernächsten Tag war er bei seinen Eltern, der Nachtzug war unzureichend beheizt und die Temperaturen lagen weit unter Null. Er hätte jetzt dringend einen neuen Wintermantel gebraucht, der alte war abgetragen und um die Schultern zu eng; Jan hatte in in Prag richtige Mannsreife erreicht und war größer und kräftiger geworden.

Der Empfang war diesmal kühl, kühler als die Luft die er einatmete als er aus der Bahnhofshalle schritt.

Heiligabend hatten sie sich wie früher um den Weihnachtsbaum gesetzt, unter dem es kaum Geschenke gab; sie aßen Fischsuppe mit geschnetzelten Blinistreifen und vielen kleinen Grätchen; der Karpfen war klein und die Grätchen kleiner als sonst. Die Suppe schmeckte leicht bitter, da Fischblutreste in ihr waren und einige Fischsschuppen.

"Früher als die Oma sie zubereitete, schmeckte sie besser", bemerkte sein Bruder Filip.

Die Oma war Jans Großmutter mütterlicherseits, die vor zwei Jahren verstorben war; sie hinterließ ein kleines, sehr dürftig eingerichtetes Häuschen und vererbte die Hälfte davon Jans Mutter. Dieses Geld sollte nicht ausgegeben, sondern nach ihrem künftigen Tod irgendwann zwischen Jan und seinem Bruder aufgeteilt werden. So wollte es ihr Testament.

Nach dem Abendessen stockte das Gespräch. "Warum machen wir nicht ein bisschen Musik?" schlug Filip vor. Früher als noch ein altes, schwarzes Klavier im Haus war, sangen sie, zusammen mit der Oma, Weihnachtslieder, die Mutter spielte gelegentlich Geige und Jans Vater begleitete sie am Klavier. Er setzte eine Schallplatte auf, die der Onkel aus San Francisco vor Jahren als Weihnachtsgeschenk aus Amerika seinem Bruder - Jans Vater - geschickt hatte: es waren amerikanische Weihnachtsschlager, die in dieser Umgebung fremd wirkten. Dennoch waren sie mit einer anderen, viel besseren Welt assoziiert: der bejahrte Schlagersänger Bing Crosby - Mutters Idol - besang die weiße Weihnacht, den unverzichtbaren Santa Claus und Rudolf, das Rentier mit der roten Nase, das man hier nicht kannte. Dennoch blieb die Stimmung bedrückt, als hätte man den künftigen Zerfall der Familie bereits geahnt, zu dem Jans Ehe, die unerwünscht war, beitrug.

Jans Vater, der immer bemüht war, die gute Seite der Dinge zu sehen, meinte, Jan - gerade erst volljährig geworden - habe jetzt nach einem Jahr im Prag dort bereits eine Wohnung. Davon könnten die meisten seiner Altersgenossen nur träumen.

"Wenn die Wohnung einmal bewohnbar ist, lade ich euch alle zu einer großen Eröffnungsfeier ein", versprach Jan. " Allerdings muss die Wohnung vollständig umgebaut werden. Sie hat weder ein Bad noch eine Toilette. Der Wasserhahn befindet sich im Flur."

"Das wird viel Geld kosten", meinte sein Bruder. Filip ist später Architekt geworden. In diesem Beruf erstellte er zwanzig Jahre lang Baupläne für ein Observatorium des Sternenhimmels, das nie gebaut wurde.

"Ich werde später Geld haben", sagte Jan, "aber ich brauche es jetzt."

"Erwachsen und verheiratet wie du jetzt bist, musst du auch sehen wie du - oder besser - wie ihr zu Geld kommt", erklärte die Mutter resolut. "Dein Erbschaftsanteil ist für den Notfall da", sie stockte kurz, "wenn du das Geld meinst, das meine Mutter uns hinterließ. Es ist wenig genug."

"In fünf Jahren wird es noch viel weniger wert sein als jetzt, wenn es mit der Russenwirtschaft so weitergeht", warf Jan ein. "Wir exportieren Waren nach Russland und die Russen zahlen nicht."

"In der Schule lernen wir, dass die Sowjetunion Gold, Diamanten und unermessliche Naturschätze hat", wunderte sich Filip. "Die Sowjetunion wird zahlen, wenn nicht jetzt dann später."

Nach einer Weile war die angelsächsische Weihnachtsmusik zu Ende und Filip schlug vor, jetzt doch eine Beatles-Platte auszusetzen, die er von einem Schulfreund geliehen bekam.

Beatles waren englische Jungs mit Bubiköpfen und Milchgesichtern, die neue, englische Yeah Yeah- Musik machten, von der seine Altersgenossen begeistert waren. Der beste Beatle war allerdings ihr Manager, ohne den sie ein Nichts geblieben wären. Dieser war später in Vergessenheit geraten.

"Das ist Musik!" sagte Filip. "Die beste Musik der Welt!"

Vater und Mutter schauten sich verständnislos an. "Nicht schlecht", sagte Jan."Aber sie haben viel kopiert, auch irische Volksmusikelemente lassen sich dort finden.."

Die Eltern zogen es schließlich vor, sich zurückzuziehen, zum Abschluss des Abends wandte sich die Mutter Jan zu und sagte:

"Wenn ich dir dein Erbe jetzt auszahle, kannst du mit nichts mehr rechnen. Jetzt nicht und später nicht."

"Ich werde von euch nie wieder was wollen", sagte Jan.

**********

Anfang Januar fuhr er zurück nach Prag mit seinem Erbschaftsanteil im Koffer; es waren gut zwölf Tausend Kronen, ausreichend für das unmittelbare Überleben von einigen Monaten. Ein neuer Wintermantel war nicht drin, der hätte mindestens Tausend Kronen gekostet.

Immerhin hatte Jans Vater ihm seinen alten Wildledermantel mitgegeben, der ihm jetzt zu eng geworden war. Das Leder war guter Qualität und der Mantel war dick gefüttert; er zog ihn stolz an, mit dem Gefühl jetzt gegen die Kälte und andere Unwägbarkeiten des Lebens gut gewappnet zu sein.

Im Prager Bahnhof angekommen, kaufte er sich eine Zigarre - eine teure, kubanische Partagas eminentes. So fühlte er sich gut gewappnet für die Schlachten der kommenden Tage. Die Welt schien ihm zu gehören.

Sinnsuche zu Zeiten von Cholera

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