Читать книгу Ange Pitou Denkwürdigkeiten eines Arztes 3 - Александр Дюма - Страница 12
Erstes bis viertes Bändchen
XII.
Was in der Nacht vom 12. auf den 13. Juli 1789 vorfiel
ОглавлениеAls die zwei Landleute auf dem Quai waren und auf der Brücke der Tuilerien die Waffen eines neuen Trupps glänzen sahen, der aller Wahrscheinlichkeit nach kein befreundeter war, schlichen sie bis an das Ende des Quais und stiegen sodann das steile Ufer der Seine hinab.
Die Glocke der Tuilerien schlug elf Uhr. Einmal unter den Bäumen angelangt, die sich längs des Flusses hin erstreckten, einmal unter dem Dunkel ihres Blätterwerks verloren, legten sich der Pächter und Pitou auf dem Rasen nieder und eröffneten eine Beratung.
Es handelte sich um die Entscheidung, und die Frage wurde von dem Pächter gestellt: ob man bleiben sollte, wo man war, das heißt in ziemlicher Sicherheit; oder ob man sich wieder mitten in den Tumult werfen und an dem Kampfe teilnehmen sollte, der den Anschein hatte, die größere Hälfte der Nacht hindurch fortzudauern.
Als diese Frage gestellt war, wartete Billot auf die Antwort von Pitou.
Pitou war in der Achtung des Pächters nicht wenig gestiegen, einmal durch das Wissen, das er am vorhergehenden Tage geoffenbart, und dann durch den Mut, von dem er am Abend eine Probe abgelegt hatte. Pitou fühlte das instinktartig, doch statt deshalb stolzer zu sein, war er nur um so dankbarer gegen den guten Pächter. Pitou war von Natur demütig.
»Herr Billot,« sagte er, »Sie sind offenbar tapferer, und ich bin minder feig, als ich glaubte. Horaz, der doch ein anderer Mann war, als wir, hinsichtlich der Poesie wenigstens, warf seine Waffen weg und entfloh beim ersten Angriff. Ich, ich habe meinen Musketon, meine Patrontasche und meinen Säbel, was beweist, daß ich beherzter bin, als Horaz.«
»Nun, worauf zielst du ab?«
»Ich ziele darauf ab, daß der tapferste Mann von einer Kugel getroffen werden kann.«
»Hernach?«
»Hernach, lieber Herr, hören Sie. Da Sie, als Sie den Pachthof verließen, äußerten, es sei Ihre Absicht, wegen eines wichtigen Gegenstandes nach Paris zu gehen . . .«
»Oh! tausend Götter! das ist wahr, ich bin wegen des Kistchens gekommen, tausend Donner! und aus keinem andern Grund.«
»Wenn Sie sich durch eine Kugel töten lassen, so wird sich die Angelegenheit, wegen der Sie gekommen sind, nicht abmachen lassen.«
»Wahrhaftig, du hast zehnmal recht,« Pitou.
»Hören Sie von hier aus, wie man zerschmettert, wie man schreit?« fuhr Pitou ermutigt fort. »Das Holz zerreißt wie Papier, das Eisen dreht sich wie Hanf.«
»Das Volk ist aufgebracht,« Pitou.
»Aber,« bemerkte Pitou, »mir scheint, der König ist auch nicht wenig erbost.«
»Wie, der König?«
»Allerdings; die Oesterreicher, die Deutschen, die Kaiserlichen, wie Sie sie nennen, sind die Soldaten des Königs. Nun also, wenn sie das Volk angreifen, so ist es der König, der ihnen anzugreifen befiehlt, und um solche Befehle zu geben, muß der König auch erbost sein.«
»Du hast zugleich recht und unrecht,« Pitou.
»Das scheint mir nicht möglich, lieber Herr Billot, und ich darf Ihnen vielleicht sagen, Sie würden, wenn Sie Logik studiert hätten, ein solches Paradoxon nicht wagen.«
»Du hast recht und hast unrecht, Pitou, und du wirst sogleich einsehen, warum.«
»Das soll mir sehr lieb sein; doch ich bezweifle . . .«
»Siehst du, Pitou, es giebt zwei Parteien bei Hofe, die des Königs, der das Volk liebt, und die der Königin, welche die Oesterreicher liebt.«
»Das kommt davon her, daß der König Franzose und die Königin Oesterreicherin ist,« erwiderte Pitou philosophisch.
»Warte! Mit dem König sind Herr Turgot, Herr Necker; mit der Königin Herr von Breteuil und die Polignac. Der König ist nicht Gebieter, da er genötigt gewesen ist, Herrn Turgot und Herrn Necker zu entlassen. Die Königin ist also Gebieterin, das heißt, die Breteuil und die Polignac. Darum geht alles schlecht! . . . Siehst du, Pitou, das Uebel kommt von Madame Defizit; Madame Defizit ist erzürnt, und in ihrem Namen greifen die Truppen an; die Oesterreicher verteidigen die Oesterreicherin: das ist ganz einfach.«
»Verzeihen Sie, Herr Billot,« erwiderte Pitou, »deficit ist ein lateinisches Wort, das bedeutet: es fehlt. Was fehlt denn?«
»Das Geld, tausend Götter! und weil das Geld fehlt, und weil die Günstlinge dieses Geldes, das fehlt, verzehrt haben, nennt man die Königin Madame Defizit. Nicht der König also ist erzürnt, sondern die Königin. Der König ist ärgerlich, ärgerlich, weil alles so schlecht geht.«
»Ich begreife,« sagte Pitou, »doch das Kistchen?«
»Richtig, Pitou! diese verteufelte Politik reißt mich immer weiter fort, als ich gehen will; ja vor allem das Kistchen. Du hast recht, Pitou; erst wenn ich den Doktor Gilbert gesehen habe, erst dann wollen wir zur Politik zurückkehren. Das ist eine heilige Pflicht.«
»Es giebt nichts heiligeres, als die heiligen Pflichten,« sprach Pitou.
»Laß uns also in das College Louis-le-Grand gehen, wo sich Sebastian Gilbert befindet,« sagte Billot.
»Gehen wir,« erwiderte Pitou seufzend, denn er mußte ein weiches Rasenbett verlassen, das ihm lieb geworden war. Ueberdies stieg, trotz der übermäßigen Aufregung des Abends, der Schlaf, der beständige Geist reiner Gewissen und ermatteter Kräfte, mit all seinem Schlummersaft auf den tugendhaften und ermüdeten Pitou herab.
Billot war schon aufgestanden, und Pitou erhob sich, als es halb zwölf Uhr schlug.
»Doch um halb zwölf Uhr wird das College Louis-le-Grand geschlossen sein, wie mir scheint,« sagte Billot.
»Oh! ganz gewiß,« erwiderte Pitou.
»Dann kann man bei Nacht in einen Hinterhalt geraten; mir scheint, ich sehe Biwakfeuer in der Nähe des Justizpalastes; man könnte mich verhaften oder töten; du hast recht, Pitou, man soll mich nicht verhaften, soll mich nicht töten.«
Seit diesem Morgen war es das dritte Mal, daß Billot in die Ohren Pitous die drei für den Menschen so schmeichelhaften Worte klingen ließ: du hast recht.
Pitou fand dagegen nichts besseres zu thun, als die Worte Billots zu wiederholen.
»Sie haben recht,« wiederholte er, während er sich auf den Rasen niederlegte. »Man darf Sie nicht töten, lieber Herr Billot.«
Und mit dem letzten Wort dieses Satzes erlosch die Stimme in der Kehle Pitous. Vox faucibus haesit hätte er sagen können, wenn er wach gewesen wäre. Aber er war eingeschlafen.
Billot bemerkte es nicht.
»Ein Gedanke,« rief er.
»Ah!« schnarchte Pitou.
»Höre mich, ich habe einen Gedanken! Trotz aller Vorsicht, mit der ich zu Werke gehe, kann ich getötet werden, von nahe oder von fern getroffen, vielleicht auf den Tod getroffen werden und sogleich sterben; würde dies geschehen, so mußt du wissen, was du statt meiner dem Doktor Gilbert sagen sollst.«
Pitou hörte nicht und antwortete folglich auch nicht.
»Wenn ich auf den Tod verwundet würde und meine Sendung nicht erfüllen könnte, so müßtest du statt meiner den Doktor Gilbert aufsuchen und ihm sagen . . . hörst du mich wohl, Pitou?« sprach Billot, indem er sich gegen den jungen Mann hinabbückte, und du wirst ihm sagen . . . Doch er schnarcht, der Unglückliche.«
Die ganze gewaltsame Aufregung Billots erlitt sofort eine Abspannung durch den Anblick des schlafenden Pitou.
»Schlafen wir also,« sagte er. Denn wie sehr auch der Pächter an Strapazen gewohnt war, der Ritt am Tage und die Ereignisse des Abends waren für ihn nicht ohne einschläfernde Gewalt.
Und nach drei Stunden ihres Schlummers oder vielmehr ihrer Erstarrung, erschien der Tag.
Als sie die Augen wieder öffneten, hatte Paris nichts von der wilden Physiognomie verloren, die sie am Tage zuvor an ihm wahrgenommen.
Nur sahen sie mehr Soldaten und überall Volk.
Das Volk bewaffnete sich mit Piken, die man in der Eile fabriziert hatte; mit Schießgewehren, deren sich die meisten nicht zu bedienen wußten; mit herrlichen Waffen aus einem andern Zeitalter, an denen die Träger ihre Verzierung von Gold, Elfenbein und Perlmutter bewunderten, ohne den Gebrauch und den Mechanismus davon zu verstehen.
Sogleich nach dem Rückzug der Soldaten hatte man das Garde-Meubles geplündert.
Und das Volk rollte zwei kleine Kanonen gegen das Stadthaus.
Die Sturmglocke erscholl in Notre-Dame, im Stadthause, in allen Kirchen. Man sah, und wußte nicht, von wo Legionen von bleichen, magern, nackten Männern und Weibern kommen, welche am Tage zuvor: Brot! geschrieen hatten und heute: Waffen! schrieen.
Es läßt sich nichts entsetzlicheres denken, als die Gespensterbanden, die seit ein paar Monaten aus der Provinz eintrafen, stillschweigend durch die Barrièren zogen und sich in dem selbst ausgehungerten Paris einquartierten, wie die arabischen Goules5 auf einem Friedhof.
Ganz Frankreich rief, an diesem Tage in Paris durch die Ausgehungerten jeder Provinz vertreten, seinem Könige zu: Mache uns frei! und seinem Gott: Sättige uns!
Billot, der zuerst wach geworden war, weckte Pitou auf, und beide wanderten nach dem College Louis-le-Grand, wobei sie, erschreckt durch dieses blutige Elend, schauernd umherschauten.
Als sie näher zu dem Teil der Stadt kamen, den wir heute das Quartier Latin nennen, als sie sodann die Rue de la Harpe hinaufstiegen, und endlich gegen die Rue Saint-Jacques, das Ziel ihres Marsches, vordrangen, sahen sie, wie zur Zeit der Fronde, Barrikaden sich erheben. Weiber und Kinder schleppten in die oberen Stockwerke der Häuser Folianten, schwere Möbel, kostbare Marmorarbeiten, in der Absicht, die fremden Soldaten niederzuschmettern, falls sie sich in die gekrümmten, engen Straßen des alten Paris wagen würden.
Von Zeit zu Zeit bemerkte Billot ein paar französische Gardesoldaten im Mittelpunkte einer Versammlung, die sie organisierten und mit einer wunderbaren Schnelligkeit die Handhabung eines Schießgewehres lehrten, eine Übung, welche die Weiber und Kinder mit Neugierde und beinahe mit dem Wunsche, sie selbst zu lernen, verfolgten.
Billot und Pitou fanden das College Louis-le-Grand im Aufruhr; die Schüler hatten sich erhoben und ihre Lehrer fortgejagt. In dem Augenblick, wo der Pächter und sein Gefährte vor das Gitter kamen, belagerten die Schüler dieses Gitter mit Drohungen, die der erschrockene Vorsteher durch Thränen erwiderte.
Der Pächter schaute einen Augenblick dieser Empörung im Innern zu und rief dann plötzlich mit einer Stentorstimme:
»Welcher von euch heißt Sebastian Gilbert?«
»Ich,« antwortete ein junger Mensch von einer beinahe weiblichen Schönheit, der mit Hilfe von drei bis vier seiner Kameraden eine Leiter brachte, um die Mauer zu erklettern, da er sah, daß er das Gitter nicht sprengen konnte.
»Kommen Sie näher hierher, mein Kind.«
»Was wollen Sie von mir, mein Herr?« fragte der junge Sebastian den Pächter.
»Wollen Sie ihn mitnehmen?« rief der Vorsteher, erschrocken bei dem Anblick der zwei bewaffneten Menschen, von denen der eine ganz mit Blut bedeckt war.
Der Knabe schaute seinerseits diese zwei Menschen mit Erstaunen an und suchte mit vergeblicher Mühe seinen Milchbruder Pitou wiederzuerkennen, denn er war seit der Zeit ihrer Trennung übermäßig gewachsen und in der kriegerischen Rüstung völlig verändert.
»Ihn mitnehmen!« rief Billot, »den Sohn von Herrn Gilbert mitnehmen; ihn in dieses Gemenge führen; ihn der Gefahr aussetzen, einen schlimmen Schlag zu bekommen! Oh! bei meiner Treue, nein!«
»Sehen Sie, Sebastian,« sagte der Vorsteher, »sehen Sie, Wütender, sogar Ihre Freunde wollen nichts von Ihnen. Denn diese Herren scheinen Ihre Freunde zu sein. Höret, meine Herren, höret, junge Zöglinge, höret, meine Kinder,« rief der arme Vorsteher, »gehorchet mir, gehorchet, ich befehle es; gehorchet, ich bitte euch inständig.«
»Oro obtestorque,« sagte Pitou.
»Mein Herr,« sprach der junge Gilbert mit einer für einen Knaben von seinem Alter außerordentlichen Festigkeit, behalten Sie meine Kameraden zurück, wenn es Ihnen gutdünkt, aber ich, verstehen Sie wohl, ich will hinaus.«
Er machte eine Bewegung gegen das Gitter. Der Professor hielt ihn am Arm zurück.
Doch er schüttelte seine schönen kastanienbraunen Haare auf seine bleiche Stirn und rief:
»Mein Herr, geben Sie wohl acht, was Sie thun. Ich bin nicht in der Lage der andern; mein Vater ist verhaftet, eingesperrt worden; mein Vater ist in der Gewalt der Tyrannen!«
»In der Gewalt der Tyrannen!« rief Billot; »sprich, mein Kind, was willst du damit sagen?«
»Ja! ja!« riefen die Knaben, »Sebastian hat recht; man hat seinen Vater verhaftet; und da das Volk die Gefängnisse geöffnet hat, so will er, daß man auch das Gefängnis seines Vaters öffne.«
»Ho! ho!« sprach der Pächter, indem er mit seinem Herkulesarm am Gitter rüttelte, man hat den Doktor Gilbert verhaftet. Alle Wetter! die kleine Katharine hatte also Recht!«
»Ja, mein Herr,« fuhr der junge Gilbert fort, »man hat meinen Vater verhaftet, und darum will ich fliehen, darum will ich ein Gewehr nehmen, darum will ich mich schlagen, bis ich meinen Vater befreit habe!«
Seine Worte wurden begleitet und unterstützt durch hundert tobende Stimmen, die riefen:
»Waffen! Waffen! man gebe uns Waffen!«
»Auf diese Rufe stürzte die Menge, die sich, ebenfalls von heldenmütigem Eifer beseelt, in der Straße zusammengeschart hatte, nach dem Gitter, um den jungen Leuten die Freiheit zu geben.
Der Vorsteher warf sich zwischen den Schülern und den Stürmenden auf die Kniee und streckte seine Arme flehend durch das Gitter.
»Oh! meine Freunde! meine Freunde!« rief er, »respektieren Sie diese Kinder!«
»Ob wir sie respektieren!« sagte einer von der französischen Garde; »ich glaube wohl! Das sind hübsche Jungen, welche die Übung wie die Engel machen werden.«
»Meine Freunde! meine Freunde! Diese Kinder sind ein Gut, das ihre Eltern mir anvertraut haben; ich bin für sie verantwortlich; ihre Eltern rechnen auf mich; ich bin ihnen mein Leben schuldig: doch in des Himmels Namen, führt die Kinder nicht weg!«
Hohngelächter, das aus der Tiefe der Straße, das heißt, aus den letzten Reihen der Menge kam, war die Antwort auf diese schmerzlichen Bitten.
Billot stürzte vor, widersetzte sich den französischen Garden, der Menge, den Schülern selbst, und rief:
»Er hat recht, das ist ein ihm anvertrautes heiliges Gut; die Männer sollen sich schlagen, sollen sich töten lassen, tausend Götter; doch die Kinder sollen leben; man braucht Samen für die Zukunft.«
Ein mißbilligendes Gemurre empfing diese Worte.
»Wer murrt hier?« rief Billot; »sicherlich ist es kein Vater. Mir, der ich mit euch spreche, sind gestern zwei Menschen in meinen Armen getötet worden; seht ihr Blut auf meinem Hemd, seht!«
Und er deutete auf seine gerötete Weste und sein blutiges Hemd mit einer Bewegung von Erhabenheit, welche die Versammlung elektrisierte.
»Gestern,« fuhr Billot fort, »gestern habe ich mich beim Palais-Royal und bei den Tuilerien geschlagen, und dieser Knabe hat sich auch geschlagen; doch dieser Knabe hat weder Vater noch Mutter, und überdies ist er beinahe ein Mann.«
Und er deutete auf Pitou, der sich in die Brust warf.
»Heute,« fuhr Billot fort, »werde ich mich abermals schlagen; doch niemand soll sagen: die Pariser waren nicht stark genug gegen die fremden Soldaten, und sie haben die Kinder zu Hilfe gerufen.«
»Ja! ja!« schrieen von allen Seiten Stimmen von Weibern und Soldaten. »Er hat recht. Kinder! geht hinein, geht hinein!«
»Oh! meinen Dank! meinen Dank! lieber Herr,« murmelte der Vorsteher, der die Hände von Billot durch das Gitter zu fassen suchte.
»Und unter Allen hüten Sie besonders Sebastian gut,« sagte dieser.
»Mich, mich hüten? ich sage Ihnen, daß man mich nicht hüten wird,« rief der junge Mensch, bleich vor Zorn, während er sich in den Händen der Diener des Hauses, die ihn wegführten, sträubte. »Lassen Sie mich hinein,« sprach Billot, »ich übernehme es, ihn zu beruhigen.«
Die Menge trat auf die Seite. Der Pächter zog Ange Pitou nach sich und drang in den Hof des College ein.
Schon bewachten drei bis vier Soldaten und ein Dutzend anderer Männer die Thüren und verschlossen jeden Ausgang für die aufrührerischen jungen Leute.
Billot ging gerade auf Sebastian zu, nahm die weißen feinen Händchen des Knaben in seine großen, schwieligen Hände und sagte zu ihm:
»Sebastian, erkennen Sie mich nicht mehr?«
»Nein.«
»Ich bin Billot, der Pächter Ihres Vaters.«
»Ich kenne Sie, mein Herr.«
»Und diesen Jungen,« fuhr er, auf seinen Gefährten deutend, fort, »kennst du ihn?«
»Ange Pitou?« fragte der Knabe.
»Ja, Sebastian, ja, ich, ich.«
Und Pitou fiel weinend vor Freude seinem Milchbruder und Studienkameraden um den Hals.
Aber ohne sich zu erheitern, sagte der Knabe:
»Nun! – hernach?«
»Hernach? . . . Wenn man dir deinen Vater genommen hat, so werde ich ihn dir zurückgeben; ich, hörst du wohl?«
»Sie?«
»Ja, ich! ich! und alle diejenigen, welche dort mit mir sind. Was Teufels! wir haben es gestern mit den Österreichern zu thun gehabt, und wir haben ihre Patrontaschen gesehen.«
»Zum Beweise dient, daß ich eine besitze,« sagte Pitou.
»Nicht wahr, wir werden seinen Vater befreien?« rief Billot, sich an die Menge wendend.
»Ja, ja!« brüllte die Menge, wir werden ihn befreien,
Sebastian schüttelte den Kopf.
»Mein Vater ist in der Bastille,« sprach er schwermütig.
»Nun?« rief Billot.
»Nun, man nimmt die Bastille nicht,« erwiderte der Knabe.
»Was wolltest du dann thun, da du diese Überzeugung hattest?«
»Ich wollte auf den Platz gehen; man wird sich dort schlagen; mein Vater hätte mich vielleicht durch das Gitter eines Fensters bemerkt.«
»Unmöglich.«
»Unmöglich! und warum? Ich habe eines Tages, als ich mit meinen Mitschülern spazieren ging, den Kopf eines Gefangenen am Gitter der Bastille gesehen. Wenn ich meinen Vater gesehen hätte, wie ich diesen Gefangenen sah, so hätte ich ihn erkannt und ihm zugerufen: Sei ruhig, guter Vater, ich liebe dich.«
»Und wenn die Soldaten der Bastille dich getötet hätten?«
»Nun! so hätten sie mich unter den Augen meines Vaters getötet!«
»Tod und alle Teufel! Du bist ein böser Knabe, Sebastian. Du willst dich vor den Augen deines Vaters töten lassen! Du willst machen, daß er vor Schmerz in seinem Käfig stirbt, er, der nur dich auf der Welt hat, der dich so sehr liebt! Du bist offenbar ein schlimmes Herz, Sebastian!«
Und der Pächter stieß den Knaben zurück.
»Ja, ja, ein schlimmes Herz,« rief Pitou, in Thränen zerfließend.
Sebastian antwortete nicht.
Und während er in einem düstern Stillschweigen träumte, bewunderte Billot dieses edle, weiße, perlmutterartige Antlitz, das Feuerauge, den spöttischen feinen Mund, die Adlernase und das kräftige Kinn, das zugleich Adel der Seele und Adel des Blutes verriet.
»Du sagst, dein Vater sei in der Bastille?« fragte endlich der Pächter.
»Ja.«
»Und warum?«
»Weil mein Vater ein Freund von Lafayette und Washington ist; weil mein Vater für die Unabhängigkeit Amerikas mit dem Schwerte, und für die Freiheit Frankreichs mit der Feder gekämpft hat; weil mein Vater in beiden Weltteilen dafür bekannt ist, daß er die Tyrannei haßt; weil er die Bastille, wo die andern leiden, verflucht hat . . . Darum brachte man ihn dahin.«
»Wann dies?«
»Vor sechs Tagen.«
»Und wo hat man ihn verhaftet?«
»In Havre, wo er gelandet.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe einen Brief von ihm erhalten.«
»Und man hat ihn in Havre selbst verhaftet?«
»In Lillebonne.«
»Auf, mein Kind! schmolle nicht mit mir und gieb mir alle Umstände an, die du weißt. Ich schwöre dir, daß ich entweder meine Knochen auf dem Platz der Bastille lasse, oder du siehst deinen Vater wieder.«
Sebastian schaute den Pächter mit großen Augen an; und als er wahrnahm, daß er aus dem Grunde des Herzens zu sprechen schien, besänftigte er sich.
»Nun,« sagte er, in Lillebonne hatte er Zeit gefunden, mit Bleistift folgende Worte in ein Buch zu schreiben:
»»Sebastian, man verhaftet mich, und führt mich in die Bastille.
»»Geduld. Hoffe und arbeite!
Lillebonne, den 7. Juli 1789.
N. S.
»»Man verhaftet mich der Freiheit wegen.««
»»Ich habe einen Sohn im College Louis-le-Grand in Paris. Derjenige, welcher dies Buch findet, wird gebeten, es im Namen der Menschenliebe ihm zukommen zu lassen; er heißt Sebastian Gilbert.««
»Und dieses Buch?« fragte Billot, schnaubend vor Aufregung.
Er legte ein Goldstück hinein, umband es mit einer Schnur, und warf es durch das Fenster.
»Und? . . .«
»Und der Pfarrer fand es. Er wählte unter den Gemeindeangehörigen einen kräftigen jungen Mann und sagte zu ihm:
»»Laß zwölf Franken deiner Familie, die kein Brot hat, und mit den andern zwölf trage dieses Buch nach Paris zu einem armen Knaben, dem man den Vater genommen, weil er das Volk zu sehr liebt.««
»Der junge Mann ist gestern Mittag hier angekommen und hat mir das Buch meines Vaters übergeben, daher weiß ich, daß mein Vater verhaftet ist.«
»Ah! ah!« rief Billot, »das söhnt mich ein wenig mit den Pfarren aus. Leider sind sie nicht alle wie dieser; und der brave junge Mann, wo ist er?«
»Er ist gestern Abend wieder abgegangen; er hofft seiner Familie noch fünf Franken von den zwölf, die er mitgenommen, zurückzubringen.«
»Schön! schön!« sagte Billot, fast vor Freude weinend.
»Oh, das Volk! es hat viel Gutes, Gilbert.«
»Nun wissen Sie alles. Sie versprachen mir, wenn ich reden würde, mir meinen Vater zurückzugeben. Ich habe geredet, denken Sie an Ihr Versprechen.«
»Ich habe dir gesagt, ich werde ihn retten, oder mich töten lassen. Zeige mir nun das Buch,« sprach Billot.
Hier ist es, erwiderte der Knabe, indem er aus seiner Tasche einen Band vom Contrat social zog.
»Und wo ist die Schrift deines Vaters?«
»Sehen Sie,« sagte der Knabe. Und er zeigte ihm die Schrift des Doktors.
Der Pächter küßte die Buchstaben.
»Sei nun ruhig,« sprach er, »ich will deinen Vater in der Bastille aufsuchen.«
»Unglücklicher!« rief der Vorsteher, indem er Billot bei den Händen nahm, »wie werden Sie zu einem Staatsgefangenen gelangen?«
»Dadurch, daß ich die Bastille nehme,« tausend Götter!
Einige Soldaten von der französischen Garde lachten. Nach einem Augenblick war das Gelächter allgemein.
»Sprecht,« rief Billot, indem er einen vor Zorn funkelnden Blick um sich her laufen ließ, »was ist denn die Bastille, wenn's beliebt?«
»Steine,« sagte ein Soldat.
«Und Eisen,« sagte ein anderer.
»Und Feuer,« sprach ein dritter. »Nehmen Sie sich in acht, mein braver Mann, man verbrennt sich dort.«
»Ja! ja! man verbrennt sich dort,« wiederholte die Menge voll Schrecken.
»Ah! Pariser!« brüllte der Pächter, »ah! Ihr habt Hacken, und fürchtet die Steine; Ihr habt Blei, und fürchtet das Eisen; Ihr habt Pulver, und Ihr fürchtet das Feuer. Pariser, Prahler; Pariser, Feiglinge; Pariser, Maschinen für die Sklaverei. Tausend Teufel! Wer ist ein Mann von Herz, der mit mir und Pitou die Bastille des Königs nehmen will? Ich heiße Billot, Pächter auf der Ile de France. Vorwärts!«
Billot hatte sich auf den höchsten Grad der Begeisterung emporgeschwungen. Die entflammte Menge bebte um ihn her und rief:
»Nach der Bastille! nach der Bastille!
Sebastian wollte sich an Billot anklammern, doch dieser schob ihn sanft zurück und sagte:
»Kind, was ist das letzte Wort deines Vaters?«
»Arbeite,« antwortete Sebastian.
»Arbeite also hier; wir werden dort arbeiten. Nur heißt unsere Arbeit zerstören und töten.«
Der junge Mann erwiderte nicht ein Wort: er verbarg sein Gesicht in seinen Händen, ohne nur Ange Pitou, der ihn umarmte, die Finger zu drücken, und fiel in so heftigen Konvulsionen nieder, daß man genötigt war, ihn in das Krankenzimmer der Anstalt zu tragen.
»Nach der Bastille!« riefen Billot und Pitou.
»Nach der Bastille!« wiederholte die Menge. Und man zog nach der Bastille.
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Bei den Orientalen eine Art von Dämon, ein weiblicher Dämon, der die Friedhöfe heimsucht und sich mit Leichen füttert. D. Übers