Читать книгу Hinter dem Blau - Alexa von Heyden - Страница 5

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»Ich repariere gleich mal im Hobbykeller den Grill«, sagt mein Vater und streicht mir mit seiner großen Hand über den Kopf. Es ist Wochenende, Samstagvormittag und die Sonne scheint. Er nimmt eine meiner Haarsträhnen und zieht sie sanft zwischen seinen Fingern hindurch. Ich schaue zu ihm hoch und blinzle der Sonne entgegen. Mein Vater stellt sich vor mich. Er trägt eine Badehose, sein breiter Rücken spendet Schatten. Meine Mutter hat gesagt, dass heute der schönste Tag des Jahres sei. Der Himmel ist knallblau, so blau, dass die Farbe beinahe ins Lila kippt. Mein Vater nennt das »Himmellila«.

Er nimmt mich hoch, setzt mich in das rote Plansch-becken, das neben unserem Klettergerüst im Garten steht, und lässt mit dem Schlauch noch ein bisschen Wasser hineinlaufen. Ich spiele mit meinen Puppen. Sie sind Meerjungfrauen, ich tauche ihre Köpfe unter und lasse die Plastikhaare durch das Wasser gleiten. Mein Vater geht ins Haus und dreht sich nicht mehr um. Die Sonne brennt auf meinen Schultern, Bienen und Käfer summen um mich herum. Ich höre den Motor eines Flugzeugs, aber kann es nicht sehen. Die Luft riecht nach Heu.

Nach einer Weile muss ich auf die Toilette. Meine Mutter hat mir verboten, ins Wasser zu pinkeln. Weil man dann nicht mehr darin baden kann, sagt sie. »Du bist ja kein Baby mehr«, meinte sie streng. Meine Schwester Caro ist noch ein Baby, sie ist erst vier. Wenn sie ins Planschbecken pieselt, ist es nicht so schlimm, auch wenn mein Vater dann das Wasser über den Hagebuttenbüschen auskippen und neues einfüllen muss.

Ich will artig ins Haus auf die Toilette gehen, aber meine Mutter hat die Haustür zugemacht, als sie mit Caro zum Einkaufen in den Nachbarort gefahren ist. Wir wollen heute Abend Koteletts und Würstchen grillen – so haben es meine Eltern beim Frühstücken beschlossen, eben weil heute der schönste Tag des Jahres ist.

Meine Brüder sind auf dem Bolzplatz ein Dorf weiter. Bis auf meinen Vater ist keiner da, der mir aufmachen kann.

Von außen steckt kein Schlüssel in der Tür, so wie es sonst eigentlich immer der Fall ist, wenn wir draußen spielen und meine Eltern einen Mittagsschlaf machen. Sie sind immer so müde von der Arbeit.

Ich komme mit meinen Fingern an die Klingel ran, aber schaffe es nur, einmal kurz draufzutippen. Im Haus passiert nichts. Mein Vater kommt nicht, um mir die Tür zu öffnen. Wieder klingle ich. Wieder öffnet mir niemand. Das Haus scheint verlassen.

Ich laufe durch den Garten, um durch die hintere Kellertür ins Haus zu gelangen. Während ich an der Hauswand entlanglaufe, höre ich aus einem der Kellerfenster seltsame Geräusche, die ich noch nie zuvor gehört habe. Es ist ein Stöhnen, Pfeifen und Ächzen. Ich weiß nicht, ob es ein Mensch oder ein Tier ist.

Erst macht es »Pfff«, dann höre ich ein langes »Aaahhh«. Es klingt wie ein Drache. Seit uns Mami Die unendliche Geschichte vorgelesen hat, wünsche ich mir so einen Glücksdrachen wie Fuchur. Das habe ich dem Weihnachtsmann schon geschrieben, ich schreibe gern Wunschzettel. Ich weiß, dass heute nicht Weihnachten ist, aber mein Traum scheint wahr geworden zu sein – der Drache wartet im Keller auf mich. Ich gehe auf die Knie, stecke meinen Mund in den Fensterspalt und quieke:

»Hallo, Herr Drache!«

Es ist kurz still, dann säuselt der Drache:

»Ist das schön!«

So schnell wie ich kann, laufe ich zur Treppe, die runter zum Keller führt, und erschrecke mich fürchterlich. An den Wänden suchen Motten Schutz vor der Sommerhitze. Auf mich wirken die braunen Falter wie Ungeheuer. Meine Mutter behauptet, dass die Viecher unsere Pullover aufessen wollen und deshalb in jedem Schrank ein Sträußchen getrockneter Lavendel hängen muss. Ich habe Angst um meinen neuen Badeanzug.

Ich sehe kaum die Hand vor Augen, aber ich will mein Geschenk, den Drachen, sehen. An den Lichtschalter komme ich nicht ran, also tapse ich im Dunkeln mit ausgestreckten Händen vorwärts.

Ich kenne jeden Winkel hier unten, denn bei schlechtem Wetter spielen meine Geschwister und ich im Hobbykeller. Erst kommt die Hobelbank meines Vaters, daneben dann ein hohes Regal mit Werkzeug, Schrauben und ­Farbtöpfen, also alles, was wir nicht anfassen dürfen. Vorn an der Tür zum Flur steht die Waschmaschine, die immer läuft. Heute nicht. Meine Mutter hatte noch keine Zeit, sie anzumachen.

Es ist ruhig hier unten, bis auf ein leises Röcheln, das aus der hinteren Ecke des Raumes kommt, höre ich nichts. Mein Drache spielt ein Spiel, er versteckt sich.

Der Betonboden ist kühl und gleichzeitig klebrig. Meine nackten Fußsohlen bleiben bei jedem Schritt am Boden pappen, aber meine Neugier zieht mich weiter. Ich will zum Drachen. Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit und ich kann Umrisse erkennen. Der Drache liegt jetzt vor mir. Er ist nicht groß und flauschig-weiß, so wie Fuchur. Er hat zwei lange Beine und rührt sich nicht. Ich versuche, mehr zu erkennen, und will wissen, wie er sich anfühlt. Ich gehe in die Hocke und strecke meine Hand aus, um ihn zu berühren. Der Drache hat kein Fell. Er ist irgendwie glitschig. In der Dunkelheit blitzt das kleine Messer, das mein Vater immer in einem schwarzen Koffer mit zur Arbeit nimmt.

»Hallo, Herr Drache. Sind Sie mein Geschenk?«, frage ich ganz lieb und streichle ihn. Der Drache reagiert nicht, schnauft nur. Ich stehe da und überlege, was ich ihn fragen soll. Die Kälte zieht mir bis in die Knie hoch und ich muss noch dringender Pipi.

Ich bekomme Angst, mein Herz beginnt zu pochen. Mit einem Kreischen rase ich aus dem Keller, hoch ins Treppenhaus, wo es heller ist. Ich stolpere und kraxele auf allen vieren weiter die weiße Marmortreppe hinauf. Dabei stoße ich mir zweimal das Knie an den Stufen, aber ich habe solche Angst, dass ich den Schmerz nicht bemerke. Oben schließt meine Mutter gerade die Haustür von außen auf und steht mir im Flur gegenüber. Ich renne ihr entgegen und will auf ihren Arm springen, wo auch Caro sitzt. Als sie mich sieht, lässt sie die durchsichtige Plastiktüte mit dem Fleisch fallen, setzt meine Schwester auf dem Boden ab und ruft: »Kind, was hast du denn mit deinen Füßen gemacht?«

Ich sehe an mir herunter. Der Flur sieht aus wie die Bilder, die wir im Kindergarten mit unseren Händen gemacht haben. Nur dass ich nicht mit meinen Händen, sondern mit den Füßen gemalt habe. Die Farbe ist Rot.

»Das war ich nicht, das … das war der Drache!«

Caro sieht mich an und fängt an zu wimmern. Meine Mutter kniet sich zu mir, packt einzeln meine Füße und guckt, ob ich verletzt bin. Sie verfolgt meine Spuren, die vom Flur die Kellertreppe runterführen. Ihre Augen werden größer, dann macht sie einen großen Satz und hechtet die Stufen hinab. Wenige Sekunden später ist sie wieder oben im Flur und rennt beinahe den Telefontisch um. Ihre Hand zuckt. Sie tippt eine Nummer und schreit in den Hörer: »Ein Notfall! Mein Mann hat sich etwas angetan.« Sie nennt den Namen der Straße, in der wir wohnen, legt auf und wählt eine weitere Nummer. »Hilf uns, komm schnell!« Dann schmeißt sie den Hörer hin, schreit irgendwas mit »Gott« und rennt zum Gästeklo neben der Eingangstür. Mit einem Stapel Handtücher auf dem Arm läuft sie an uns vorbei, wieder runter in den Keller.

»Bleibt hier oben, Kinder!«, krächzt sie. Sie hält sich die Hand vor den Mund, um ihre Schreie zu dämpfen, während sie die Treppe runterstolpert.

Was ist ein Notfall? Ich weiß es nicht, aber ich merke, dass etwas nicht stimmt. Meine Mutter ist in Panik und will nicht, dass wir Mädchen es mitbekommen. Wie angewurzelt stehen Caro und ich nebeneinander im Flur. Sie hält sich mit ihren kleinen Fingern an meiner Hand fest, wir stehen in einer Pfütze Pipi. Es ist meins.

Im Keller schimpft meine Mutter ganz doll mit jemandem. »Was hast du getan? Ich war eine Stunde einkaufen, das kann doch nicht wahr sein!«

Die Worte schallen wie ein Echo über den Flur, hinaus auf die Straße, denn die Haustür steht immer noch sperrangelweit offen. Unsere Nachbarin Frau Neumann kommt die Auffahrt hoch, weil sie ihre Tochter sucht, die zum Mittagessen kommen soll. Sandra ist mit den anderen Nachbarskindern auf dem Spielplatz. Sie ist nicht bei uns.

»Sunny, was ist bei euch los?«, fragt Frau Neumann und ihr Blick fällt auf meine blutigen Füße und die Pfütze Pipi, in der ich mit Caro stehe.

Ich kann nicht antworten. Caro guckt mich an.

»Weg mit den Kindern!«, schreit meine Mutter hysterisch aus dem Keller.

Frau Neumann reagiert, ohne zu wissen, was los ist, aber die Stimmlage meiner Mutter scheint ihr Grund genug, uns Mädchen zu packen. Sie nimmt Caro auf den Arm, mich an die Hand und läuft los. Wir laufen die Straße entlang, immer schneller, weg von unserem Zuhause. Der Teer auf der Straße ist warm, irgendwo in der Nachbarschaft dudelt die Musik vom Eiswagen, der auch jeden Nachmittag bei uns vor der Tür hält. Ich hätte so gern eine Kugel Erdbeer im Becher.

»Wo sind deine Brüder?«, japst Frau Neumann.

»Beim Fußi«, antworte ich. So nennen das meine Brüder immer.

Frau Neumann bringt uns auf den Spielplatz, setzt Caro und mich im Sandkasten ab, wo auch Sandra mit ein paar anderen Kindern spielt. Sandra versteht nicht, warum ihre Mutter uns im Schlepptau hat und warum ich im Badeanzug auf den Spielplatz darf.

»Sunny, hier, nimm die Schaufel und ein Eimerchen. Sei so lieb und bau deiner Schwester eine Burg, ja?«, befiehlt mir Frau Neumann. Ich schütte mit beiden Händen Sand in den Eimer, Caro ist ganz nah zu mir gerückt und kaut an der Schaufel. Ich denke das erste Mal, dass ich sie lieb habe und immer auf sie aufpassen muss. Sie ist noch so klein.

In der Ferne hören wir die Sirene eines Krankenwagens. Das Heulen kommt näher und hört dann plötzlich auf. Eine Minute später kommt noch eine Sirene. Dann eine dritte. Ich will nach Hause, ich will baden, mein weißes Kleid mit Spaghettiträgern anziehen und das Würstchen essen, das Mami mir versprochen hat.

»Ist das die Feuerwehr? Ne, die Polizei!« Frau Neumann redet mit sich selbst. Sie bückt sich zu mir runter, legt ihre Hand auf meinen Rücken und fragt vorsichtig: »Weißt du, was bei euch passiert ist?« Sie sieht meine Füße an und versucht, die rote Farbe mit dem Sand abzuwaschen.

»Ist das Blut an deinen Füßen? Hast du dir wehgetan?«

»Ne, aber der Drache hat sich wehgetan«, antworte ich.

»Welcher Drache, Sunny?«

»Der Drache bei uns im Keller!«

Frau Neumann fängt an zu weinen.

Von überall her kommen jetzt mehr Nachbarn auf den Spielplatz und reden mit Frau Neumann. Warum schauen uns alle so an?

»Jemand muss losfahren und die Jungs abfangen!«, fordert eine dicke Frau mit Lockenwicklern auf dem Kopf.

»Ich sag meinem Mann Bescheid! Der wollte unseren Sohn gleich auch abholen!«

Frau Neumann sagt: »Ich glaube, der Doktor hat sich was angetan.«

Caro guckt mich an. Ich zucke mit den Schultern.

»Da war ein Drache im Keller«, sage ich zu ihr. Sie legt den Kopf zur Seite und lacht mich an, weil sie glaubt, dass ich sie verscheißern will.

Frau Neumann wimmert: »Die arme Frau. Um Gottes Willen, die armen Kinder!« Sie läuft zu uns und drückt Caro an sich. Die rührt sich nicht. Sie ist wie eingefroren. Dabei ist es so heiß.

»Du hast ja ganz kalte Pfoten«, sagt Frau Neumann und tätschelt Caros Finger, die voll mit Spucke sind, weil sie immer noch an der Schaufel kaut. Ich schaue nach oben. Der Himmel ist so blau. »Himmellila«, wie mein Vater ­sagen würde. In dem Moment ist er gestorben.

Hinter dem Blau

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