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Der Kriegspilot

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er Morgen war naß und feucht. Stephan Hiller stand mit dem Rücken an das offene Tor des Schuppens gelehnt, an dem der Regen niedertropfte. Neben ihm schritt der Wachtposten auf und ab. Er wartete auf den Mechaniker, der mit zwei Soldaten nach der Station gefahren war. Auf der Feldstraße jenseits der Wiese zog seit einer Stunde Artillerie vorbei. Man hörte die Tritte der Pferde herüber, das Knarren der Lafetten, das Klirren von Eisen, aber fast gar keine Kommandos. Die Mannschaften saßen mit müden, vornübergeneigten Oberkörpern auf den Protzen, als wäre jeder einzelne auf seine Art in seinen Gedanken mit dem Kommenden beschäftigt. Batterie um Batterie, Regiment um Regiment fuhr vorüber, und es war Stephan Hiller, als sänke der Zug immer tiefer ein, als würden die Furchen immer größer, auf diesem erst von Tausenden von Menschen zertretenen, dann von ebensoviel Hufen und Rädern durchpflügten Weg, der durch einen Zufall zu diesem plötzlichen und außerordentlichen Schicksal gekommen war.

Ordonnanzreiter sprengten quer über das Feld und gegen den Hügel. In der Ebene gegen den Fluß hin schien sich Infanterie zu bewegen in einem grauen Gewimmel.

Hiller zog seinen Chronometer. Es war acht Uhr morgens und noch kaum hell. Er trat in den Schuppen zurück. Da stand wie ein großer starrer Vogel der Monoplan1 , den sie in einem Tag und einer Nacht montiert hatten. Er war vorgestern zusammen mit Hiller beim Hauptquartier angekommen.

In der Ferne tönte ein Automobilsignal, das Hämmern eines Motors. Hiller wandte sich wieder unter das Tor. Es waren Offiziere, die auf der Hauptstraße nach Osten fuhren. Es war schon heller geworden. Er begann zum letztenmal das Flugzeug zu untersuchen. Prüfte die Montage, die Schrauben der Kabelverbindungen. Sein Blick irrte vom blanken hundertpferdigen Gnommotor zum Kompaß, der in einem Kugelgelenk zur Linken von seinem Sitz balancierte. Hiller setzte sich zwischen Stahlröhren und Werkzeugkasten und Ölkesseln auf eine Kiste und wartete.

Da erschallte draußen Getrappel. Pferde keuchten über die Wiese daher. Der Trainsoldat sprang vom Handpferd. Schon schleppte der Mechaniker die Benzinflaschen herein. Fast zugleich kam der Hauptmann vom Generalstab mit den Karten an.

Nun ging es hastig vorwärts. Während Hiller mit dem Offizier den Orientierungsplan auseinanderrollte und neben dem Kompaß in einem Rahmen einspannte, füllte der Mechaniker Benzin und Öl ein, prüfte den Wasserstand im Kühler, lief mit einer nervösen Geschäftigkeit umher.

Unterdessen erklärte der Offizier Stephan Hiller die vorläufige Fahrtrichtung, die auf der Karte mit einem breiten roten Streifen eingezeichnet war. Endlich war man fertig. Der Monoplan wurde aus dem Schuppen gezogen. Der Regen rieselte immer noch. Der Offizier machte ein besorgtes Gesicht.

„Es wird bald aufhören,“ sagte Hiller, „und außerdem tut die Kühlung dem Motor gut, er wird sicherer ziehn.“

Schon saßen sie beide auf dem Apparat. Hiller richtete sich auf seinem perforierten Holzsessel ein, als handle es sich um eine Spazierfahrt. Der andere, der vor ihm saß, hielt ein Dutzend Karten zu einem Heft zusammengebunden auf den Knieen. Er gab noch rasch die letzte Depesche vor dem Aufstieg einer Ordonnanz, die davonsprengte.

Der Wachtposten und die zwei Trainsoldaten hielten den Apparat. Der Mechaniker drehte den Propeller an.

Ein wildes Knarren, eine weiße Dampfwolke.

„Los!“ kommandierte Hiller.

Der Monoplan rollte bergab, fünfzig, hundert Meter über den Wiesengrund. Dann hob er sich sanft ansteigend in die Luft.

Hiller hörte, wie die Ordonnanz unter ihm auf der Straße galoppierte. Er schaute auf die Bussole, dann auf die handgroße Karte, und stellte den Monoplan in einem leichten Bogen auf die Richtung ein.

Der Regen hatte jetzt wirklich aufgehört. Aber eine naßkalte Strömung trieb dem Flugzeug entgegen. Das Sausen des Propellers ließ die Luft vor den Gesichtern erzittern. Sein Summen klang vermischt mit dem Geräusch des Motors wie ein hoher, langgehaltener Ton. Und Hiller hatte diesen Ton im Ohr gleich einer ganz unheimlichen, schicksalsschweren Musik. Es war, als ob sein Gehör die geringste Steigerung oder Abnahme dieser Schwingungen unterscheiden könnte. Mit einer bohrenden, quälenden Sorge hatte er — seit seinem allerersten Aufstieg —, den Kopf etwas nach vorn geneigt, der Tourenzahl des Motors gelauscht, weil darin alles beschlossen lag. Weil man immer und in jeder Sekunde bereit sein mußte, niederzugehn, wenn diese unerhört komplizierte und wieder ebenso einfache Maschine die schreckliche Laune ankam, ihren hohen, monotonen Gesang plötzlich herabzustimmen, daß der Laut wie über alle Tasten hinunterkollerte in eine gurgelnde Tiefe und dieser zweiarmige, gewundene Propeller mit einem Ruck plötzlich stillstand . . . Der Monoplan stieg immer noch ziemlich steil hinauf. Der Offizier hatte sein Kartenheft aufgeschlagen und blätterte darin wie in einem Buch.

Hiller hatte sich den Krieg eigentlich nie anders vorgestellt, und dennoch war er zufrieden, gerade alles so unpathetisch zu finden, wie er es sich ausgedacht hatte.

Je mehr Hiller sich vor ein paar Tagen dem Hauptquartier genähert hatte, um so ernster, stiller, einfacher war die Situation geworden. Alles äußerlich Spannungsvolle, was draußen die Welt beschäftigte, schien hier von den Menschen abgefallen zu sein. Jeder hatte seine Order und gehorchte ihr, als ob er mit Eifer, aber ohne unnötige Hast und Übertreibung einer ernsten Beschäftigung nachginge. Soldaten, die einen Tagesmarsch hinter sich hatten, zogen abends ruhig und fast lautlos in ihre Quartiere. Jeder wußte, daß jetzt Kraft gespart werden mußte, jeder wußte, daß das Furchtbare kam, das Morden und das Zerfleischtwerden, das Rasende und das Unmenschliche, — alle fühlten die beklemmende Nähe der Schlacht.

Das machte die Gemüter diszipliniert. Zugleich bedrückt.

Stephan Hiller lauschte wieder auf den Motor. Er war befriedigt.

Der Hauptmann vor ihm hatte den Feldstecher erhoben und starrte hinunter. Hiller folgte seinem Blick. Da zog Infanterie quer über Wiesen, gleich langen grauen Raupen im Grünen. Dieselbe Artillerie, die Hiller schon in der ganzen Morgenfrühe gesehen hatte, schlich langsam einem Waldrand entlang.

Der ganze Strom ging nach Osten. Aber schließlich konnten das nur Nachzügler sein, denn das Generalquartier war gestern um vierzig Kilometer nach vorwärts verlegt worden, nachdem das Gros der Armee den Fluß überschritten hatte. Und vor dem Gros mochte die Avantgarde noch um zwanzig Kilometer vorgerückt sein.

Hiller rechnete aus, daß er das Gros in dreißig, die Vorläufer in vierzig Minuten sichten müßte. Durch das Steigen hatte sich die Differenz vergrößert.

Er prüfte den Höhenmesser, der in einer Lederhülle neben der Bussole an das Stahlrohr des Gerippes gebunden war. Seit dem Aufstieg waren zwölf Minuten vergangen. Der Apparat stand auf einer Höhe von dreihundert Metern. Es waren vielleicht ein Dutzend Kilometer zurückgelegt.

Plötzlich ging ein leichtes Zittern durch den Monoplan. Hiller hielt das Höhensteuer fest wie einen Zügel, als hätte er ein Rassetier zu bändigen. Der Offizier zog unmerklich den Kopf etwas ein. Das Beben mochte ihm unbehaglich erscheinen.

Hiller schaute hinunter. Etwas Dunkles, fast Schwarzes breitete sich aus.

„Ein Wald,“ dachte er. Ja gewiß: Wälder waren stets gefährlich mit ihren ziellosen Windströmungen über den Wipfeln. Der Offizier hatte den Kopf etwas gedreht, als erwartete er eine Erklärung.

„Es ist nichts,“ schrie Hiller. Es war ihm, als ob die Stimme im Sausen des Motors völlig unterginge. Aber der andere nickte. Er hatte verstanden.

Hiller dachte zugleich an einen Augenblick, da es ihn einst auf einer Fahrt gerüttelt hatte, daß ihm vor Anstrengung das Wasser über das Gesicht lief.

Oder war es Angst gewesen? Angst? Was war das? Wäre er hier, als Freiwilliger, wenn er Angst hätte? Oder war er hier, weil die Angst, weil das tiefinnerste Erbeben auch eine Lust, ein Genuß sein konnte?

Aber wie friedlich war es eigentlich, hier über das Land zu fliegen! Zuletzt befand er sich ja auch völlig ahnungslos vor dem, was kommen konnte. Und das war wohl sehr gut. Er hatte einfach den Befehl, mit dem Offizier so weit über die fremden Truppen zu kreisen, bis der andere das Zeichen zur Rückkehr gab, und im übrigen wußte er von der einen und der andern Armee in diesem Augenblicke weniger, als wenn er in Berlin, London oder Paris säße und die allerneuesten Bulletins der Zeitungen in der Hand hielte.

Hiller starrte wieder hinunter. Jetzt überflogen sie den Fluß. Etwas nördlich war noch die Schiffbrücke, welche die Truppen gestern und vorgestern passiert hatten.

Der Morgen war doch sehr kühl. Die Nässe in der Luft brannte bei dieser Geschwindigkeit auf der Haut. Den Körper fühlte Hiller behaglich warm. Er trug Unterkleider aus Papier, die mit Wolle überzogen waren.

Der Offizier hielt mit seinem Feldstecher wieder Ausguck. In der Ferne schienen sich dichtere Truppenkörper zu bewegen. Die Sonne war jetzt gekommen. Wenigstens schien sie dort auf ein entferntes Feld. Blanke, glänzende Punkte blitzten auf.

Große graue Vögel kreisten seitwärts in schwebendem Flug. über dem Aeroplan lastete eine dichte trübe Wolke, die sich langsam westwärts bewegte.

Unten wurde jetzt das Gewimmel von Minute zu Minute größer. Munitionswagen, Provianttransporte zogen auf den Wegen. Aber all das war ja noch nichts Neues oder Erregendes. Die Spannung kam erst, wenn man die Grenze zum Feind überschritt. Mit einer sich steigernden Nervosität erwartete Hiller diesen Augenblick. Das Bewußtsein der kommenden Gefahr peinigte ihn mehr, als diese selbst. Deshalb suchten seine Nerven diese Spannung wie etwas Qualvolles loszuwerden. „Man wird natürlich sofort auf uns zu schießen beginnen,“ überlegte er weiter. Doch die Treffsicherheit nach der Höhe war eigentlich sehr gering. Aber wenn nun doch eine Kugel, nur durch Zufall, den Weg fände? Oder wenn der Motor stillstünde? Wenn man gezwungen wäre, mitten in das Granatenfeuer niederzugehn?

„Das ist zwar ganz unwahrscheinlich,“ konstatierte dagegen sein Gehirn aus Selbsterhaltungstrieb. . . „Aber doch möglich,“ flößte ihm wieder ein Gedanke ein, und dieser Gedanke haftete immer stärker.

„Doch möglich,“ wiederholten "Hillers Lippen halblaut und für ihn selbst im Geräusch und im Luftzug nicht hörbar. Das war ihm fast eine groteske Beruhigung. Man konnte sich Mut zuschreien, ohne daß eine Menschenseele es inne wurde.

Hiller hatte sich bisher eigentlich nie ernsthaft mit dem Tode beschäftigt. Er kannte nur die Gefahr als etwas, dem man tapfer und ernsthaft zu Leibe ging. Sie war nur etwas, was überwunden werden mußte, und das man mit Kaltblütigkeit und Geschick auch überwand. Daß aber der Tod, das Nichtmehrsein, eine direkte Folge und Fortsetzung davon sein könnte, daran hatte Hiller im Tiefinnersten nie geglaubt. Wenigstens nicht, was ihn selbst anbetraf.

Jetzt aber tauchte dies plötzlich auf, wie ein gehässiges, schadenfrohes Gesicht, das ihn anstarrte.

„Was für Ideen!“ dachte er und versuchte ironisch zu lächeln. Aber wenn es nicht in hundert Zeitungen gestanden hätte, daß Stephan Hiller, der bekannte Sportsmann, gestern zum Heere gestoßen sei, um heute einen entscheidenden Rekognoszierungsflug auszuführen, wenn nicht tausend und abertausend Soldaten, die sich wie eine unaufhaltsame Maschine und mit Gleichmut vorwärts bewegten, — wenn sie ihn nicht alle beobachtet hätten, vielleicht wäre Stephan Hiller mit seinem Eindecker auf eine sonnige Waldwiese niedergegangen, um für eine Stunde den kühlen Duft des Herbstgrases einzuatmen oder allerlei Getier nachzustreifen, das sich etwa im Gebüsch und zwischen den Stämmen gezeigt hätte.

Aber da fielen in der Ferne irgendwo Schüsse. Wie harte, knappe Schläge klang es herüber.

Der Hauptmann drehte den Kopf und nickte, als wollte er sagen: „Es fängt an.“ Dann deutete er nach unten. Eine Masse weißer Zelte tauchte auf. Soldaten liefen hin und her. Vielleicht war hier das Generalquartier der vergangenen Nacht gewesen.

Hiller hielt wieder Ausschau. Der Generalstab hatte ja noch ein halbes Dutzend Flieger zu seiner Verfügung. Aber keiner dieser Vögel war im Augenblick zu entdecken. Auch keiner der lenkbaren Ballons, von dem in den Blättern viel geredet worden war. Wo befanden sie sich?

Wieder war eine Viertelstunde vergangen. Der Eindecker schnitt mit seinen Flügeln sausend in die kühle Morgenluft ein. Hillers Ungeduld steigerte sich wieder. Wie etwas Bängliches, das zugleich fast nicht zu erreichen war, kam ihm das Ziel vor.

Da machte der Hauptmann plötzlich eine Handbewegung nach rechts und stieß einen Ruf aus. Er lachte, er freute sich offenbar. Dort wand sich jetzt ein Biplan2 in einer Spirallinie langsam in die Höhe. Jetzt schien er sich auf die Richtung einzustellen. Die Bewegung schien vorsichtig, fast behutsam zu sein. Der Motor hatte wohl kaum mehr als fünfzig Pferde. Das Flugzeug hatte jetzt noch einen Vorsprung von anderthalb Kilometern. Hiller rechnete damit, es in fünf Minuten zu überholen.

Das Gewölk zerteilte sich. Aber es war jetzt plötzlich Wind da. Die Strömung kam von der Seite. Es war unangenehm. Manchmal setzten heimtückische, unvermittelte Stöße ein.

Das Schießen wurde intensiver. Es kam aus Südosten. Hiller hatte denselben Eindruck, wie wenn er als Junge Schrotkörner auf das Blechdach der Veranda hinunterfallen ließ.

Er schaute wieder nach dem Zweidecker hinüber. Der strebte tapfer vorwärts.

Unten schienen die Massen nervöser, hastiger zu werden, das Terrain wurde wellenförmig und unübersichtlich. Nördlich stand ein Dorf. Unweit davon begann eine dunkle Wandfläche, die sich bis gegen den Horizont zu ziehn schien.

Hiller prüfte den Höhenmesser. Man war unmerklich auf vierhundert Meter gestiegen. Das Licht blinkte auf den Tragflächen und ließ die braune Rohseide wie

einen matten Spiegel aufleuchten.

Da sah Hiller ganz zufällig wieder seitwärts. Der Zweidecker schwankte, als wäre er in einen Wirbel gekommen. Dann neigte er sich nach vorn und tauchte in die Tiefe.

„Großer Gott, das ist kein Gleitflug,“ durchbebte es Hiller. Er sah, wie aus dem Apparat ein Körper herausfiel und wie das Ganze hinter einer Waldparzelle verschwand.

Ein schmerzhafter, kühler Schauer, eine unendliche Last in der Herzgegend, als trüge er Blei in der Brust . . . Das alles empfand Hiller, und dennoch schien ihm das Geschehene völlig unwirklich und unwahrscheinlich zu sein. Aber jetzt schaute auch der Offizier hinüber. Hiller gewahrte, wie jener nur zufällig den Kopf drehte und erst erstaunt war, ganz einfach erstaunt, daß der Apparat nicht mehr gegen den grauen südlichen Himmel stand. Doch nun wandte er das Gesicht ganz her, als müßte er eine Erklärung finden. Hiller fühlte, wie grausam, ratlos und entsetzt sein eigener Blick war, während ihn der andere anstarrte. Und jetzt sah er ganz deutlich, daß jener die Katastrophe begriff, wie ein würgendes, wunderliches Grauen ihm den Atem beschnitt, wie die Angst, die tödliche Angst, seine Augen leer und gläsern machte. Sein Gesicht wandte sich ab.

Aber in der Krümmung des Rückens war doch alles noch minutenlang ausgedrückt.

Hiller saß vornübergeneigt da. Er stierte auf den Kompaß, hielt mit einem krampfhaften Griff das Höhensteuer.

Wie grauenhaft das war, so plötzlich aus dem klaren Himmel zu fallen. Kaum daß ein Wind vorhanden war. Grausamer, unheimlicher, unerklärlicher Vorgang.

Hiller schaute kaum mehr auf. Er dämmerte wohl eine Viertelstunde lang so vor sich hin. Da zog ein schrilles Pfeifen näher und vorbei. Nachher hörte man das Knarren von Gewehrfeuer. Die ersten Kugeln . . . Unten war das Terrain von Truppen fast leer. Eine Reitergruppe sprengte mit verhängtem Zügel nach Osten. Es waren wohl Vorposten, die geschossen hatten.

Der Offizier starrte jetzt eifrig auf die Karten. Noch war nichts zu sehn. Aber vielleicht war alles doch da, nur versteckt und verborgen und in Gräben gekauert. Sonst war es jetzt fast still. Und aus dieser Stille sollte eine Schlacht entstehen können? Es galt die Fahrtrichtung zu ändern. Die Bewegung der Truppen war während der Nacht offenbar nach Norden gegangen.

Jetzt setzte von dieser Richtung plötzlich ein heftiges Gewehrfeuer ein. Dazwischen kamen dumpfe schwere Schläge, aber auch im Süden brach es los.

Und da geschah das Verblüffende. Während der Aeroplan den Kurs nach Nordosten hatte, stieg plötzlich, kaum zwei Kilometer entfernt, direkt östlich, ein anderer Eindecker mit großer Schnelligkeit auf und näherte sich. „Der Motor zieht gut,“ dachte Hiller, denn der Apparat war schon auf hundertfünfzig Meter Höhe, als sich die beiden Flugzeuge kreuzten. Der andere verschwand mit großer Schnelligkeit nach Westen.

Hiller schaute noch einmal nach ihm um, als er seitwärts in einer Mulde eine graue, fluktierende3 Masse Truppen sah. Davor war ein Wald. Und auf einmal erschien es, als ob dieser Wald prall mit Menschen gefüllt wäre, als ob jede dieser Parzellen von Soldaten starrte, und als ob jeder blinkender Fleck sich von der Erde heben könnte.

Jetzt hob das Gewehrfeuer im Rücken an, aber so nahe, daß man kaum wußte, ob es Freund oder Feind war. Unten stiegen auf einem Grashügel weiße Dampfwolken auf.

„Kanonen,“ dachte Hiller spontan.

Lang widerhallendes Donnern folgte. Hiller starrte seinen Begleiter über die Schulter an. Dieser hatte seine Karten vor sich und beschrieb sie mit fieberhafter Hand. Breite blaue Striche zeichnete er ein und Kreuze und Kurven.

Es begann plötzlich überall zu knattern. Zuerst nur schwach und gleich dem Ticken eines Telegraphen. Dann rauschte plötzlich eine ganze Welle auf. Wie Wasser, das gegen eine Mauer gepeitscht wird, erklang es, schwoll es wieder ab. Die Schläge der Batterien fielen dazwischen hinein. Nun pfiff es auch um das Flugzeug. Es waren nur kurze Laute, gleich den Klirren feiner Metallsaiten.

Hiller schaute nieder. Da waren gewiß die Läufe einer ganzen Kompagnie gegen diesen frivolen Vogel gerichtet, der jetzt der Front entlang nach Norden raste. Einmal, zweimal war es, als ob die Flügel eine leichte Erschütterung erführen. Runde, dunkle Punkte zeigten sich da, wo die Kugeln durchschlugen. Lange war diese Position nicht zu halten.

Der Offizier drehte sich plötzlich um und machte eine Bewegung, als wollte er sagen: „Nur noch ein paar Minuten.“

Hiller nickte und fühlte zugleich, wie ihm etwas Warmes den rechten Arm entlang rann. Er stülpte den Handschuh über das Gelenk zurück und war erstaunt. Er hatte in der Erregung kaum gespürt, daß er getroffen war. Er tastete mit der Linken den Oberarm ab und empfand sofort einen deutlichen brennenden Schmerz im Muskel. Ja gewiß — da waren ja umfranste Löcher zu beiden Seiten des Armels . . . er dachte ganz kühl: „Wenn es sehr schlimm wäre, hätte ich das Steuer schon loslassen müssen!“ Aber das Blut floß jetzt ziemlich reichlich. Zugleich fühlte er doch schon eine leichte Schwüle in der Hand. Oder war es nur Suggestion? Aber es galt die Möglichkeit der Kräfte abzuschätzen.

Er schrie dem andern ins Ohr: „Ich bin verwundet.“

Jener fuhr erschreckt auf: „Müssen Sie sofort zurück?“

„Bald,“ antwortete Hiller. Er rechnete aus, daß mindestens fünf Kilometer zu durchqueren waren, bis man die Front passiert hatte und aus dem direkten Schußfeld des Gegners kam.

Man mußte eine größere Höhe erreichen. Die Gefahr war zu groß. Hiller zog den Hebel des Steuers an, und er fühlte deutlich, daß der Arm schon geschwächt war.

Unten wurde jetzt der Sturm zusehends stärker. Und zugleich war es unheimlich, daß man kaum Massen sah. Das ganze Gros der Armee schien in unendlich viele kleine Punkte verteilt zu sein. Aber überall Hast, Bewegung, Kolonnen rückten wie dunkle, gezackte Striche vor, darüber schwebten die weißen Wolken des •Geschützfeuers.

Der Offizier spähte jetzt angestrengter aus. „Wir müssen niederer gehn!“ schrie er. „Dann nach Westen!“

Hiller nickte. Er drehte den Apparat und ging in einem Gleitflug nieder auf vierhundert Meter. Es war, als ob der Motor einen Elan bekommen hätte. In einem starken und doch regelmäßigen Tempo knallten seine Explosionen.

Da fiel Hiller die erste Schwäche an. Ganz deutlich empfand er, wie ihm die Ohnmacht in den Schläfen drohte. Das Blut floß jetzt dem Steuer entlang. Hiller drehte nach Westen um. Es galt nur noch zurückzukommen.

Der Eindecker hatte jetzt seine volle Geschwindigkeit, aber es mußten fünf bis zehn Minuten durchgehalten werden, ehe zu landen war.

Unten hatte jetzt der eigentliche Kampf begonnen. Das Knattern des Gewehrfeuers drang wie unermüdliches großes Rauschen herauf, darüber schwebte wie ein erschreckendes langgezogenes Heulen das Sausen der Schrapnells. Dampf und Qualm stiegen auf wie bei einem furchtbaren Brand.

Hiller mußte die Augen schließen. Ein feiner, brennender Schmerz stach ihm in die Schläfen. Er dachte an nichts als vorwärts. Verzweiflungsvoll vorwärts. Wie ein Feuerstrom, wie ein Krater, schäumend in glühflüssigem Erz, kam ihm diese entsetzliche Tiefe vor.

War es denn sein Schicksal, niederzutauchen? Konnte es nicht anders sein?

Mit einem unendlichen tiefen Schmerze fühlte er, wie ihm das Blut, wie ihm die Kraft aus dem Arme davonging.

Und zu diesem furchtbaren, brennenden, wahnwitzigen Gedanken kam immer der mörderische Gesang der Schlacht, der Schlacht, die begonnen hatte.

Er starrte wieder auf den Kompaß. Da war wenigstens ein Halt, eine Richtung.

Als er aufschaute, sah er des andern Gesicht vor seinen Augen. „Halten Sie aus,“ schrie der Offizier. Hiller wußte nicht, war es ein Kommando oder eine Frage. Er schaute wieder nieder. Er sah Staub, der aufquirlte. Feuer, das aus Kanonenrohren stob. Tausendfache zuckende Bewegungen unendlich kleiner Tiere, die durcheinander und übereinander krochen . . .

Und jetzt kam ein ganz leeres Feld. Da war nichts. Keine Bewegung, keine Regung, keine Menschenseele darauf.

Das tat wohl. Und jetzt kam wieder das Krachen, und da waren Kolonnen, die vorstürmten, deutlich über Gräben sprangen, zusammensanken, weggefegt wurden. Signale, Geheul, dumpfer, die Luft erschütternder Donner.

„Und in diese Tiefe voll flüssigen Feuers soll ich nieder?“ durchzuckte es Hiller wieder. Er biß sich in die Lippen, aber ihm war, als ob er kaum mehr die Kraft dazu hätte. Das Heulen einer Granate zog ganz in der Nähe vorbei.

Und da war ihm, als ob er plötzlich den andern Eindecker sähe, der ihm wieder entgegenkam. Mit derselben Kraft und Wucht, mit der er selbst dahinflog . . .

Der Offizier drehte sich wieder um. Er versuchte zu lachen: „Die kommen wie wir von der Kundschaft zurück.“

Aber Hiller hörte den andern kaum.

Und allmählich wurde es stiller. Immer ferner klang der Orkan. Noch eine Minute . . . zwei Minuten war das Steuer zu halten . . .

Da war eine Wiese. Zwischen einer Straße und einem Waldrand. Munitionswagen standen darauf.

„Ich muß niedergehn . . .“ dachte Hiller wie im Traum und stellte den Motor ab.

Wie eine schwebende Taube glitt der Monoplan nieder, schlug sich aber an einem Caisson4 einen Flügel ab.

Der Offizier sprang vom Sitz. Menschen liefen herum.

Eine Stimme schrie: „Er ist verwundet . . .“ Hiller hörte es kaum. Er war schon halb in der Ohnmacht. Aber er fühlte, wie er entkleidet wurde, wie jemand seinen rechten Arm hob, um ihn zu verbinden.

1 Eindecker

2 Zweidecker

3 wogen, schwanken

4 Senkkasten

Der Kriegspilot

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