Читать книгу Der Tod in den Lüften - Alexander Castell - Страница 4
Patrouillenritt
Оглавлениеls Plessen die Augen öffnete, war es um ihn halbdunkel. Er hob den Kopf und suchte sich mit den Händen aufzustützen. Da empfand er einen brennenden Schmerz in der linken Hüfte. Wie ein Stich fuhr es ihm durch den Körper. Er war plötzlich so schwach, dass er sich wieder ins Gestrüpp zurücklegte. Liegend knöpfte er sich den Rock auf. Das Hemd war aufgerissen und voll Blut. Wie er zusah, konstatierte er eine ziemlich lange Hüftwunde. Die Bauchdecke war aufgerissen. Die schmale Ritze war mit Blut verklebt. Eine stärkere Blutung schien nach innen gegangen zu sein. Er legte die Fetzen des Hemdes zurecht, knöpfte den Rock sorgsam zu . . . da überkam ihn wieder ein Schwächeanfall. Zitternde graue Farben vibrierten vor seinen Augen. Er musste wieder eine Viertelstunde stilliegen. Dann versuchte er aufzustehen.
Wie er jetzt das linke Bein bewegen wollte, war es wie eingeschlafen. Er vermochte zwar die Zehen ganz leicht im Stiefel einzuziehen und wieder auszustrecken, aber er hatte eine Empfindung, als ob dieser Fuß gar nicht mehr zu ihm gehörte.
Da hörte er wieder Schüsse, gleich einem merkwürdigen, ununterbrochenen Ticken klang es herüber, hielt dann wieder an. Das Gefecht ging also weiter.
Er griff jetzt mit der linken Hand das kranke Bein ab. Zuerst fand er nichts. Dann entdeckte er seitwärts in der Reithose ein . . . zwei kleine Löcher. Wie er mit dem Finger nachtastete, brannten ihn die Stellen, als ob er mit Feuer auf die Haut gekommen wäre. Er hatte plötzlich etwas Schmieriges in der Hand. Die Hose über dem Stiefelschaft fluktuierte hin und her. Sie war prall voll Blut. Von den Schenkelwunden lief es immer noch hinunter. Er konstatierte das fast apathisch.
Er dachte nur, wo Moy hingekommen war. Sicherlich lag sie etwas tiefer in der Schlucht. Er selbst war beim Fall irgendwie hängengeblieben, während das Pferd an dem steilen Hang in die Tiefe kollerte. Aber das war ihm nur ganz schwach in der Erinnerung. Den Morgen, den Ausritt sah er nur wie etwas ganz Fernes und Entlegenes. Deutlich war ihm noch das Bild mit der Wiese und dem Waldrand, aus dem die Schüsse gekommen waren. Davor hatten sie ein paar niedere, aus Stein gebaute Häuser gesehen. Mit dumpfem Getrommel hämmerten die Pferdehufe das Wiesland, während sie gegen den Waldrand stoben.
Und dann geschah das Aufregende, zu einer gräßlichen Wut Aufstachelnde. Die Schüsse krachten weiter, von vorn und aus dem Rücken, aus der Ebene und aus dem Gewirr der Stämme, aus den Baumkronen und aus der Tiefe, ein Geprassel und Gepfeife, Bajonette blitzten vor den Gesichtern, Plessen schlug einem, der hinter einem Baum hervorsprang, den Säbel über das Käppi, aber es gab kein Halten, die ganze Patrouille wurde in ein paar Sekunden zersprengt, durch das Dickicht ging’s mit Gekeuche, bis Moy plötzlich nach einem gewaltigen Sprung ins Leere fiel, zwischen Bäume und Gestrüpp stürzten sie in eine Schlucht hinein. Mehr wusste er nicht.
Er saß jetzt aufrecht. Er wollte nach dem nächsten Baum kriechen, daran aufzustehen versuchen. Eine furchtbare Hitze brannte ihm im Kopf, seine Gedanken fieberten: „Werde ich stehen können, werde ich mit dem linken Bein stehen können?“
Da riss er den Mund auf. Wie ein weißes Feuer war es plötzlich in die Baumkronen gefahren. Dann ein Krachen, Baumäste stoben nach links und nach rechts, ein Qualm weißer Gase kam herunter, schwamm einen Augenblick wie eine Wolke im Geäst.
Auf dem Bauch liegend kroch Plessen jetzt unter unsäglichen Schmerzen tiefer in die Schlucht.
Er lag plötzlich auf einer Böschung.
Darunter war ein Bach, der in einer scharfen eckigen Biegung vorbei kam. Zur Rechten aber war eine Art Trichter und daraus hörte er eine Bewegung. Er dachte erst nur an das Wasser, ließ sich hinunter rutschen und lag dann mit dem ganzen Gesicht drin. Wie etwas unsäglich Wohltuendes kam ihm die Kühle über die Augen und den Hals. Er trank, während er fast erstickte und sich dann mühsam wieder aufrichtete. Zugleich erinnerte er sich, dass er Chinin in der Brusttasche hatte. Er nahm eine der Tabletten und setzte sich an dem Hang aufrecht.
Das linke Bein wurde immer gefühlloser. Er überlegte, ob er die Hose aufschneiden sollte, um das Blut abzulassen, aber das verbesserte jedenfalls die Situation nicht. Da hörte er plötzlich neben sich eine Bewegung, Zweige knackten, dann gab es wieder einen dumpfen Fall. Er horchte auf. War jemand in die Schlucht gefallen?
Da erklang dumpfes kurzes Schnauben. Er kroch hastig, fast atemlos weiter.
Im Trichter nebenan sah er Moy liegen. Er musste erst den Hang hinauf, dann konnte er sich direkt vor sie hinuntergleiten lassen. Er nahm ihren Kopf in beide Hände. Sie hatte matte fiebrige Augen. Das Fell glänzte vom Schweiß. Ein Zucken ging durch ihren Körper, während seine Hand ihrem Hals entlang fuhr. Der rechte Vorderlauf war unter dem Knie gebrochen. Der Knochen hatte die Haut durchstoßen. Der Huf lag wie leblos daneben.
Jetzt erst fühlte Plessen etwas wie einen Schmerz in seiner Brust. Er griff nach seinem Revolver. Die Lederhülle war leer. Er musste die Waffe im Sturze verloren haben. Eine Weile stierte er stumm vor sich hin, strich dann wieder Moy mit zärtlicher Hand über den Hals. Das Tier schnaubte in einem kurzen, halb stöhnenden Laut.
Da erinnerte er sich, dass er noch eine kleine Mauserpistole in der Satteltasche hatte. Er hatte die Waffe jahrelang bei sich getragen und sie jetzt auch im Kriege aus alter Angewöhnung nicht missen wollen. Es waren noch sechs Browningpatronen im Lader.
Er wunderte sich fast, wie ruhig er dies alles vollbrachte. Er schaute Moy in ihre überhitzten Augen, während er ihr hinter das Ohr ins Gehirn schoss. Der Körper zuckte, streckte sich dann lang und steif aus und legte sich auf den Rücken, während der Kopf auf die Seite fiel. Ein dünner Strom tiefroten dicken Blutes floß dem Halse entlang. Nur die Augen, die jetzt seitwärts ins Gras starrten, hatten noch ihren verschleierten fiebrigen Glanz.
Plessen kroch wieder die Schlucht hinan. Oben schien es jetzt stiller zu sein, als ob sich das Gefecht nach Westen verzogen hätte. Er musste sich niederlegen. Er fand fast nicht mehr die Kraft, weiterzukommen.
Er schätzte jetzt ab, wie lange er noch so herumkriechen könnte. Etwas seltsam Trübes kam ihm wieder in die Augen. Wie ein unheimlicher Vorhang, den man vor ihm zuzog. Dazu zuckten ihm rapide stechende Schmerzen durch den Körper.
Da war es ihm, als ob er von oben ein Geräusch hörte. Zwischen den Stämmen schien sich jemand zu nahen. Er drückte sich hart an den Boden und hielt den Atem an. War es eine Patrouille? Vielleicht ein Bauer, ein Franktireur? Ein leises Frösteln stieg ihm das Rückgrat hinauf. Er hatte sich hinter den Stamm einer Tanne gerollt. Die Wunden an der Rückseite des Schenkels, die er nicht sehen, sondern nur vorsichtig abtasten konnte, brannten entsetzlich.
Oben kamen die Tritte näher, dann ein merkwürdig schlürfendes Geräusch.
Er hielt jetzt den Revolver in der Hand. Er dachte: „Wenn es wenigstens ein Soldat ist.“ Was ihn erschauern ließ, war die Idee, dass ihm ein fanatischer Bauer wie einem Tier mit einer Hacke den Schädel einschlagen könnte.
Mit flirrenden Augen starrte er den Hang hinauf. Jetzt musste es kommen.
Da erschien zwischen den Stämmen im Halbdunkel der Kopf einer Kuh, die jetzt, da sie sich am Abhang sah, klagend und langgezogen in den Wald hineinbrüllte. Fernher antwortete ein zweites Tier, und das Gebrüll ging hin und her, zwischen den Bäumen verhallend wie ein trauriges Suchen.
Plessen war über den Umschlag der Stimmung derart verblüfft, dass er langsam und mit etwas stupidem Gesicht die Schlucht weiter hinauf kroch.
Er schleppte sich von Baum zu Baum weiter. Wie er hinaussah, entdeckte er plötzlich am Waldsaum, der sich nach Westen zog, rote Hosen. Wie matte Flecke klebten sie an den Stämmen, irrten sie im Halbdunkel hin und her. Zur Rechten war in einigen hundert Metern Entfernung ein vereinzeltes Gehöft. Auch dort war Bewegung zu sehen.
Es begann eine Gruppe auf dem Bauch über die Wiese nach Norden zu kriechen, in der Richtung einer vereinzelten Baumgruppe. Plessen dachte: „Wo sind die Unsrigen . . ., wo sind die Unsrigen?“ Es war nichts von ihnen zu sehen.
Da fiel von Norden ein Schuss. Die Patrouille jenseits auf der Wiese kroch weiter. Von rechts fiel das Gerassel der Maschinengewehre ein, und plötzlich donnerten von links aus dem Gehölz die Schläge von Artilleriefeuer. Die Batterie musste verdeckt hinter dem Gehöft eingegraben sein. In einem hohen, halb singenden Pfeifen zogen die Schrapnells nach Norden. Dort war immer noch kein Mensch zu erblicken, nur das Geknatter wurde von Sekunde zu Sekunde dichter.
Plessen hörte, wie die Kugeln drüben ins Gehölz schlugen. Er dachte: „Ich lege mich in den Graben“, und er kroch noch zwei Schritte vorwärts. Da begann das Donnern von Norden.
Ein dumpfes Krachen kam von vorn. Eine Granate hatte ins Dach des Bauernhauses eingeschlagen. Eine andere schien im Hofe geplatzt zu sein.
Fast zugleich stieg schon das Feuer aus dem Dach.
Eine neue Salve kam nach und schlug tiefer nach links in den Wald. Es war nun wirklich Zeit, in den Graben zu kriechen. Plessen hatte den Oberkörper über den Rand gebeugt, er stellte fest, dass nur ganz im Grunde etwas Wasser war, als er die Augen aufriss. Zur Rechten lag kaum drei Schritte entfernt ein Mensch. Er schien ohnmächtig, vielleicht tot zu sein. Plessen konnte kein Abzeichen sehen, aber es war französische Infanterie. Wie er jetzt näher herankroch, erkannte er einen Sergeanten, der den Kopf auf der Böschung aufgebettet hatte und mit dem übrigen Körper im Wasser lag. Eine Verletzung konnte Plessen zunächst nicht sehen. Er machte sich nahe an ihn heran, schaute ihm auf der Böschung liegend ins Gesicht.
Da öffnete der andere die Augen, die sich wie vor einer entsetzlichen Vision von Sekunde zu Sekunde vergrößerten. Dann bewegte er die Hände, als wollte er wie in einem Traume etwas Furchtbares abwehren, und schloss dann wieder die Lider. Er war offenbar sehr schwach.
„Sie sind verwundet?“ fragte Plessen in französischer Sprache. Der andere konnte kein Wort hervorbringen und nickte nur mit dem Kopf. Dann deutete er mit der Hand auf die rechte Brusthälfte. „Lungenschuss?“ fragte wieder Plessen. Der andere nickte. Er machte jetzt die Augen wieder auf und starrte Plessen an, als ob er seltsam erstaunt wäre, dass man mit ihm in so menschlichem Tone redete. „Liegen Sie schon lange hier?“ fragte Plessen. „Seit heute früh“, antwortete der andere. „Wo waren Sie postiert?“ fragte Plessen weiter. Der andere deutete nach oben: „Hier auf den Bäumen.“
Plessen dachte ganz mechanisch: „Vielleicht hat mir gerade der ins Bein geschossen.“ Er sah ihm lange ins Gesicht. Er konnte beim besten Willen keinen Groll gegen ihn aufbringen. Drüben hob von Norden her das Feuer mit regelmäßigem breiten Rauschen an. Die Wiese bebte unter dem Krachen der krepierenden Geschosse. Weißer Dampf strich am Waldrande entlang, daraus lohte das brennende Gehöft wie eine große glühende Fackel auf.
Plessen dachte: „Wenn es sich hier herüber zieht, werde ich gefangengenommen, oder es plagt mir noch ein Schrapnell unserer eigenen Batterie vor der Nase.“ Diese Möglichkeit kam ihm doch sehr sonderbar vor.
Der Mann vor ihm hatte sich jetzt aufgerichtet. Trotzdem er nicht aus dem Graben sehen konnte, horchte er nach dem Gefecht mit angespanntem Gesicht. Seine Augen waren vom Fieber ganz glasig, und doch strahlte noch alle Hoffnung und alle Glut des Kampfes in ihnen. Er fragte: „Wie steht das Gefecht?“
Plessen antwortete: „Ich glaube, die unsrigen werden in einer halben Stunde den Wald stürmen.“ Der Sergeant lächelte mild und ungläubig. „Denken Sie doch an unsere Artillerie, unsere 75-Millimeter-Geschütze.“
Plessen sagte ebenfalls lächelnd: „Wir können’s ja abwarten.“
Der andere seufzte auf.
„Haben Sie Schmerzen?“ fragte Plessen.
„Weniger als vorher“, antwortete er und versuchte sich aufzurichten, was ihm auch gelang.
Vom Norden kam der Donner der Geschütze jetzt viel näher. Es war Plessen, als ob er auf ein paar hundert Meter Entfernung eine kaum sichtbare Bewegung wahrnehme.
„Sie kommen“, dachte er, „endlich kommen sie!“ Die Erregung nahm ihm fast den Atem. Das Herz hämmerte ihm gegen die Rippen. Das Gehöft am Waldrand flackerte immer noch lichterloh.
Als ob der Sergeant die Gedanken des andern erraten hätte, sagte er: „Sie werden schwere Arbeit haben, wir haben uns drüben gut verschanzt.“
Plessen guckte mit den Achseln. Er drehte sich herum und fühlte einen Stich durch den wunden, halb verblutenden Leib.
„Sie werden stürmen“, erklärte er bestimmt, fast hart.
Kaum hatte er die Silbe aus dem Mund, als ein Geschoss heulend über ihnen ins Geäst fuhr.
„Donnerwetter!“ fluchte der Franzose. Plessen drehte das Gesicht unwillkürlich nach unten. Ein furchtbares Krachen, ein atemraubender Dampf, ein weißes Feuer, das eine Sekunde lang zum Himmel zu steigen schien. Mit schmetterndem Getöse kam eine Baumkrone herunter.
Plessen hatte den andern auf die Seite gerissen, und sie krochen hastig weiter während das Gewirr der Äste in den Graben einbrach.
„Da hinten ist eine Schlucht“, erklärte Plessen. „Wir sind dort sicherer.“ Er dachte: Ich kann mich doch nicht von unseren eigenen Granaten anschießen lassen.
Sie kamen aus dem Graben heraus und schleppten sich nach hinten. Der Sergeant konnte sich trotz seiner Lungenblutung leichter bewegen als Plessen, der auf dem rechten Knie kriechend nur mühsam vorwärts kam.
Sie saßen jetzt beide am Abhang der Schlucht. Von Norden dröhnte der Schall des Gefechtes von Augenblick zu Augenblick näher. Auf der andern Seite schien der Wald vom Krachen der Geschütze zu bersten. Plessen fühlte in allen Nerven, dass jetzt die Schützenlinien vorgingen.
Da kam plötzlich etwas zwischen den Bäumen galoppiert. Mit aufgerissenen Augen starrten sie hin. Es war die Kuh, die Plessen schon vorher am Abhange gesehen hatte, und die jetzt, als sie ihrer ansichtig wurde, plötzlich stillstand und ihr Euter gegen die Bäume rieb.
Der Sergeant sagte: „Das Tier hat Schmerzen, es ist lange nicht mehr gemolken worden. Kommen Sie, ich habe einen entsetzlichen Durst. Die Milch wird uns gut tun . . .“
Plessen sagte erstaunt: „Ich habe noch nie eine Kuh gemolken.“
„Aber ich“, erwiderte der andere. „Meine Eltern sind Bauern.“ Er lockte das Tier heran, und sie setzten sich beide neben die Kuh. Plessen hielt beide Hände auf, während ihm die warme Milch hineinfloß. Wie etwas Wunderbares schlürfte er sie ein.
Draußen tönten die Signale zum Sturm. Gleich einer tobenden brüllenden Welle kam es von Norden her.
Plessen schaute in des andern Gesicht, der mit starrem Blick vor sich hinsah, während er die Milch aus seiner linken hohlen Hand trank.