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Die Katze, der Gerichtsbote und das Skelett

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Der Doktor, der Walter Scott in Frankreich begleitete, hieß Simpson: es war einer der

ausgezeichnetsten Männer der Fakultät von Edinburg, und er stand folglich mit den bedeutendsten

Personen der Stadt in Verbindung.

Unter der Zahl dieser Personen war ein Richter beim Tribunal, dessen Namen er mir nicht genannt

hat. Der Name war das einzige Geheimnis, das er zu bewahren für geeignet erachtete.

Dieser Richter, den er gewöhnlich als Arzt behandelte, nahm ohne eine scheinbare Zerstörung der

Gesundheit sichtbar ab: eine düstere Schwermut hatte sich seiner bemächtigt. Seine Familie fragte

bei verschiedenen Gelegenheiten den Doktor, und der Doktor befragte seinerseits seinen Freund,

ohne etwas anderes aus ihm herauszubringen als unbestimmte Antworten, die nur des Arztes

Unruhe steigerten und ihm bewiesen, daß ein Geheimnis existierte, das der Kranke aber nicht sagen

wollte.

Eines Tages endlich bat der Doktor Simpson seinen Freund so dringlich, ihm zu gestehen, er sei

krank, daß ihn dieser bei den Händen nahm und mit einem traurigen Lächeln erwiderte:

„Nun wohl! ja", sagte er, „ich bin krank, lieber Doktor, und meine Krankheit ist um so unheilbarer,

als sie ganz und gar auf meiner Einbildungskraft beruht."

„Wie, auf Ihrer Einbildungskraft?"

„Ja, ich werde ein Narr."

„Sie werden ein Narr! und in welcher Hinsicht? Sie haben einen hellen Blick und eine ruhige

Stimme." Er nahm ihn bei der Hand. „Der Puls ist vortrefflich."

„Das ist gerade das Bedenkliche bei meinem Zustand, lieber Doktor, daß ich ihn sehe und

beurteile."

„Aber worin besteht denn Ihre Narrheit?"

„Schließen Sie die Türe, daß man uns nicht stört, und ich will es Ihnen sagen."

Der Doktor schloß die Türe, kam zurück und setzte sich zu seinem Freund.

„Erinnern Sie sich", sagte der Richter zu ihm, „erinnern Sie sich des letzten Kriminalprozesses, bei

welchem ich ein Urteil zu fällen berufen war?"

„Ja, über einen schottischen Banditen, welchen Sie zum Strange verurteilten und der auch gehenkt

wurde."

„Ganz richtig. Wohl! in dem Augenblick, wo ich diesen Spruch fällte, zuckte eine Flamme aus

seinen Augen, und er wies mir drohend die Faust. Ich gab nicht darauf acht. Dergleichen

Drohungen kommen häufig bei den Verurteilten vor. Doch am Tage nach der Hinrichtung erschien

der Henker bei mir; er bat mich demütig wegen seines Besuches um Verzeihung, erklärte mir aber,

er habe mir eines mitteilen zu müssen geglaubt: der Bandit war, eine Art von Beschwörung gegen

mich aussprechend, gestorben und hatte gesagt, am andern Tag um sechs Uhr, zur Stunde, wo er

hingerichtet worden, würde ich Nachricht von ihm erhalten.

Ich glaubte an einen Überfall von Seiten seiner Gefährten, an eine Rache mit bewaffneter Hand,

und als die sechste Stunde herannahte, schloß ich mich, mit ein paar Pistolen auf meinem

Schreibtisch, in meinem Cabinet ein.

Es schlug sechs auf der Pendeluhr meines Kamins. Ich war den ganzen Tag mit der Mitteilung des

Henkers beschäftigt gewesen, doch der letzte Schlag des Hämmerchens vibrierte auf dem Bronze,

ohne daß ich etwas anderes hörte als ein gewisses Schnurren, dessen Ursache ich nicht wußte. Ich

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drehte mich um und erblickte eine große schwarz und feuerfarbene Katze. Wie war sie

hereingekommen? Das ließ sich unmöglich sagen; meine Türen und meine Fenster waren

geschlossen. Sie mußte am Tage im Zimmer eingesperrt gewesen sein.

Ich hatte nicht gevespert und läutete meinem Bedienten, doch er konnte nicht herein, da ich mich

von innen eingeschlossen; ich ging an die Türe und öffnete sie. Da sagte ich ihm von der schwarz

und feuerfarbenen Katze, doch wir suchten sie vergebens, sie war verschwunden.

Ich kümmerte mich nicht mehr darum; der Abend verging, es kam die Nacht, dann der Tag, dann

verging der Tag, und es schlug sechs Uhr. In diesem Augenblick hörte ich dasselbe Geräusch hinter

mir, und ich sah dieselbe Katze.

Diesmal sprang sie mir auf den Schoß.

Ich habe keinen Widerwillen gegen die Katzen, und dennoch machte diese Vertraulichkeit einen

unangenehmen Eindruck auf mich. Ich jagte sie von meinem Schoß herab, doch kaum war sie auf

dem Boden, als sie abermals zu mir heraufsprang. Ich stieß sie zurück, doch so vergeblich als das

erste Mal. Da stand ich auf und ging im Zimmer auf und ab, die Katze folgte mir Schritt für Schritt;

ungeduldig über diese Zudringlichkeit läutete ich wie am Tage vorher, und mein Bedienter trat ein.

Doch die Katze entfloh unter das Bett, wo wir sie vergebens suchten; einmal unter dem Bett, war

sie verschwunden.

Ich ging am Abend aus, besuchte ein paar Freunde und kehrte nach meinem Hause zurück, das ich

mir mittels eines Hauptschlüssels öffnete.

Da ich kein Licht hatte, so stieg ich, aus Furcht mich irgendwo anzustoßen, sachte die Treppe

hinauf. Als ich auf die oberste Stufe kam, hörte ich meinen Bedienten mit dem Kammermädchen

meiner Frau plaudern.

Daß mein Name ausgesprochen wurde, machte, daß ich auf das, was er sagte, aufmerksam war, und

ich hörte ihn das ganze Abenteuer vom vorhergehenden Tag und von diesem Tag erzählen; nur

fügte er bei: „Der Herr muß verrückt werden, es war oben so wenig eine schwarz und feuerfarbige

Katze in dem Zimmer, als eine in meiner Hand war."

Diese paar Worte erschreckten mich: entweder war die Vision echt, oder sie war falsch: war die

Vision echt, so stand ich unter dem Gewichte einer übernatürlichen Tatsache; war die Vision falsch,

glaubte ich eine Sache zu sehen, die nicht existierte, wie mein Bedienter gesagt hatte, so wurde ich

verrückt.

Sie erraten, mit welcher Ungeduld, in die sich Furcht mischte, ich sechs Uhr erwartete; am andern

Tag behielt ich meinen Bedienten, unter dem Vorwande einer Veränderung im Zimmer, bei mir; es

schlug sechs Uhr, während er da war; beim letzten Schlag des Glöckchens hörte ich dasselbe

Geräusch und erblickte die Katze abermals.

Sie saß an meiner Seite.

Ich verharrte einen Augenblick, ohne etwas zu sagen, in der Hoffnung, mein Bedienter würde das

Tier erschauen und zuerst mit mir sprechen, doch er ging in meinem Zimmer hin und her, ohne daß

er etwas zu sehen schien.

Ich ergriff einen Augenblick, wo er auf der Linie, die er zu durchschreiten hatte, um den Befehl zu

vollziehen, den ich ihm geben wollte, beinahe auf der Katze gehen mußte.

„Stelle meine Glocke auf den Tisch, John", sagte ich zu ihm.

Er war am Kopf meines Bettes, die Glocke stand auf dem Kamin; um vom Kopf meines Bettes zum

Kamin zu gelangen, mußte er notwendig über die Katze gehen.

Er setzte sich in Bewegung, doch als sein Fuß auf die Katze treten sollte, sprang sie auf meinen

Schoß.

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John sah es nicht oder schien es wenigstens nicht zu sehen.

Ich gestehe, daß ein kalter Schweiß über meine Stirne lief und daß die Worte: Der Herr muß

verrückt werden, auf eine gräßliche Weise vor meinen Geist traten.

„John", sagte ich zu meinem Bedienten, „siehst Du nichts auf meinem Schoße?" John schaute mich

an und antwortete dann wie ein Mensch, der einen Entschluß faßt:

„Doch, Herr, ich sehe eine Katze."

Ich atmete.

Ich nahm die Katze und sagte zu ihm:

„Dann bitte ich Dich, John, trage sie hinaus."

Seine Hände kamen den meinigen entgegen, ich legte ihm das Tier auf die Arme, und auf ein

Zeichen von mir ging er hinaus.

Ich war ein wenig beruhigt; zehn Minuten lang schaute ich mit einem Überrest von Angst um mich

her, da ich aber kein anderes einer Tiergattung angehöriges lebendes Wesen erblickte, so beschloß

ich, nachzusehen, was John mit der Katze gemacht hatte.

Ich verließ mein Zimmer in der Absicht, ihn zu fragen; als ich aber den Fuß auf die Türschwelle des

Salons setzte, hörte ich ein gewaltiges Gelächter, das aus dem Ankleidecabinet meiner Frau kam.

Ich näherte mich sachte auf den Fußspitzen und hörte die Stimme von John.

„Meine liebe Freundin", sagte er zu der Kammerjungfer, „der Herr wird nicht ein Narr, nein, er ist

es schon. Seine Narrheit besteht, wie Du weißt, darin, daß er eine schwarz und feuerfarbene Katze

sieht. Heute abend fragte er mich, ob ich diese Katze nicht auf seinem Schöße sehe?"

„Und was hast Du geantwortet?" versetzte die Kammerjungfer.

„Bei Gott! ich habe geantwortet, ich sehe sie", erwiderte John. „Der gute arme Herr, ich wollte ihm

nicht widersprechen; errate, was er dann getan hat."

„Wie soll ich das erraten?"

„Wohl! er hat die angebliche Katze von seinem Schöße genommen, mir sie auf die Arme gelegt und

gesagt: Trage sie weg! trage sie weg! ich trug die Katze mutig weg, und er war zufrieden."

„Wenn Du die Katze weggetragen hast, so muß sie also existiert haben."

„O nein, die Katze existierte nur in seiner Einbildungskraft. Doch wozu würde es ihm genützt

haben, wenn ich ihm die Wahrheit gesagt hätte? daß er mich vor die Türe geworfen; meiner Treue,

nein, ich bin gut hier und bleibe hier. Er gibt mir fünfundzwanzig Pfund jährlich, um eine Katze zu

sehen. Ich sehe sie, er gebe mir dreißig, und ich werde zwei sehen."

Es gebrach mir an Mut, mehr zu hören. Ich stieß einen Seufzer aus und kehrte in mein Zimmer

zurück.

Am andern Abend um sechs Uhr fand sich mein Gefährte wie gewöhnlich bei mir ein, und er

verschwand nicht eher als an dem darauffolgenden Morgen.

„Was soll ich Ihnen sagen, mein Freund", sprach der Kranke, „einen Monat lang erneuerte sich die

Erscheinung jeden Abend, und ich fing an, mich an ihre Gegenwart zu gewöhnen, als es am

dreißigsten Tag nach der Hinrichtung sechs schlug, ohne daß die Katze erschien.

Ich glaubte von ihr befreit zu sein und schlief nicht vor Freuden: den ganzen Morgen des nächsten

Tages trieb ich die Zeit gleichsam vor mir her, denn es drängte mich, zu der Unglücksstunde zu

gelangen. Von der fünften bis zur sechsten Stunde verließen meine Augen die Uhr nicht mehr. Ich

folgte dem Gang des Zeigers, der von Minute zu Minute vorwärtsschritt. Endlich erreichte er die

Zahl XII.; man vernahm das Beben der Uhr, dann tat das Hämmerchen den ersten Schlag, den

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zweiten, den dritten, den vierten, den fünften und endlich den sechsten!

Beim sechsten Schlag öffnete sich meine Türe", fuhr der unglückliche Richter fort, „und ich sah

eine Art von Gerichtsdiener der Kammer eintreten, der gekleidet war, als stünde er im Dienste des

Lord-Lieutenant von Schottland.

Mein erster Gedanke war, der Lord-Lieutenant schicke mir einen Boten, und ich streckte meine

Hand gegen den Unbekannten aus. Aber er schien gar nicht auf meine Gebärde achtzugeben und

stellte sich hinter meinen Lehnstuhl.

Ich hatte nicht nötig, mich umzudrehen, um ihn zu sehen; ich saß dem Spiegel gegenüber, und in

diesem Spiegel sah ich ihn.

Ich stand auf und ging; er folgte mir auf einige Schritte. Ich kehrte zu meinem Tische zurück und

läutete.

Mein Bedienter erschien, doch er sah den Gerichtsboten ebensowenig, als er die Katze gesehen

hatte.

Ich schickte ihn weg und blieb allein mit dem seltsamen Menschen, den ich nun mit Muße

anschauen konnte.

Er trug ein Hofkleid, einen Haarbeutel, einen Degen an der Seite, eine gestickte Weste und hatte

den Hut unter dem Arm.

Um zehn Uhr legte ich mich nieder, dann setzte er sich, als wollte er seinerseits die Nacht so

bequem als möglich zubringen, in einen Lehnstuhl, meinem Bette gegenüber.

Ich drehte den Kopf der Wand zu; da es mir aber nicht möglich war, einzuschlafen, so wandte ich

mich zwei- oder dreimal um, und zwei- oder dreimal erblickte ich ihn beim Scheine meiner

Nachtlampe in demselben Lehnstuhl.

Endlich sah ich die ersten Strahlen des Tages durch die Zwischenräume der Sommerläden in mein

Zimmer dringen; ich wandte mich zum letzten Male gegen meinen Mann um: er war verschwunden

und der Lehnstuhl leer.

Bis zum Abend blieb ich von meiner Erscheinung befreit.

Am Abend war Empfang beim Oberkommissar der Kirche. Unter dem Vorwand, mein Galakleid

bereitzuhalten, rief ich meinen Bedienten fünf Minuten vor sechs Uhr und befahl ihm, die Riegel

der Türe vorzuschieben.

Beim letzten Schlag von sechs Uhr heftete ich die Augen auf die Türe; die Türe öffnete sich, und

mein Gerichtsbote trat ein.

Ich ging sogleich auf die Türe zu, sie war geschlossen; die Riegel schienen nicht aus ihrer

Schließkappe herausgekommen zu sein; ich wandte mich um, der Gerichtsbote stand hinter meinem

Lehnstuhl und John ging im Zimmer hin und her, ohne sich, wie es schien, im geringsten um ihn zu

bekümmern.

Er sah offenbar den Menschen ebensowenig, als er das Tier gesehen hatte.

Ich kleidete mich an.

Da ereignete sich etwas Seltsames: voll Aufmerksamkeit für mich half mein neuer Zimmergenosse

John bei allem, was er tat, ohne daß John bemerkte, daß er unterstützt wurde. So hielt John meinen

Frack beim Kragen, das Gespenst hielt ihn an den Flügeln, so bot mir John meine Hosen beim

Gürtel, das Gespenst faßte sie bei den Beinen.

Ich hatte nie einen diensteifrigeren Bedienten gehabt.

Es schlug die Stunde meines Abgangs.

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Statt mir zu folgen, ging mir der Gerichtsbote voran, er schlüpfte durch die Türe meines Zimmers,

stieg die Treppe hinab, hielt seinen Hut unter dem Arm hinter John, der den Wagenschlag öffnete,

und als John diesen wieder geschlossen und seinen Platz auf dem Hinterbrett eingenommen hatte,

stieg er auf den Bock zum Kutscher, der auf die Seite rückte, um ihm Platz zu machen.

Vor der Türe des Oberkommissars der Kirche hielt der Wagen an; John öffnete den Schlag, doch

das Gespenst war schon an seinem Posten hinter ihm. Kaum hatte ich den Fuß auf die Erde gesetzt,

als das Gespenst mir voraneilte, durch die Bedienten drang, welche die Eingangstüre belagert

hielten, und von Zeit zu Zeit sich umschaute, ob ich ihm folge.

Da faßte mich die Lust, an dem Kutscher selbst den Versuch zu machen, den ich an John gemacht

hatte.

„Patrick", fragte ich ihn, „wer war der Mann, der neben Euch saß?"

„Welcher Mann, Euer Ehren?" sagte der Kutscher.

„Der Mann, der auf Eurem Bock saß."

Patrick verdrehte die Augen ganz erstaunt und schaute umher.

„Es ist gut", rief ich, „ich täuschte mich."

Und ich trat ebenfalls in das Haus.

Der Gerichtsbote war auf der Treppe stehengeblieben und erwartete mich. Sobald er mich weiter

gehen sah, ging er auch weiter und schritt dann vor mir in den Empfangssaal, als wollte er mich

ankündigen; als ich eingetreten war, nahm er im Vorzimmer den ihm gebührenden Platz ein.

Wie für John und Patrick, so war das Gespenst für jedermann unsichtbar gewesen.

Da verwandelte sich meine Angst in Schrecken, und ich begriff, daß ich wirklich ein Narr wurde.

Von diesem Abend an erblickte man die Veränderung, die in mir vorging. Jedermann fragte mich,

was für ein Kummer mich gefesselt halte, Sie wie die andern.

Ich fand mein Gespenst wieder im Vorzimmer.

Wie bei meiner Ankunft, lief es bei meinem Abgang vor mir her, stieg auf den Bock, kehrte mit mir

nach Hause zurück, ging hinter mir in mein Zimmer und setzte sich in den Lehnstuhl, den es die

Nacht vorher eingenommen hatte.

Da wollte ich mich versichern, ob etwas Reelles und besonders Fühlbares an dieser Erscheinung

wäre. Ich machte eine gewaltige Anstrengung gegen mich selbst und ging rückwärts, um mich in

den Lehnstuhl zu setzen.

Ich fühlte nichts, aber im Spiegel sah ich den Gerichtsboten hinter mir stehen.

Wie am Tage zuvor, legte ich mich nieder, doch erst um ein Uhr morgens. Sobald ich in meinem

Bett war, erblickte ich ihn in meinem Lehnstuhl.

Am andern Morgen bei Tagesanbruch verschwand er.

Die Erscheinung dauerte einen Monat.

Nach Verlauf eines Monats ging sie von ihren Gewohnheiten ab und blieb einen Tag aus.

Diesmal glaubte ich nicht, wie das erste Mal, an ein völliges Verschwinden, sondern ich dachte, es

werde eine furchtbare Veränderung vorgehen, und statt mich über mein Alleinsein zu freuen,

erwartete ich den Abend voll Angst.

Am Abend, auf den Schlag sechs Uhr, hörte ich ein leichtes Rauschen in den Vorhängen meines

Bettes, und am Durchschnittspunkt, den sie im Bettgang an der Wand bildeten, erblickte ich ein

Skelett.

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Diesmal, mein Freund, begreifen Sie, war es, wenn ich mich so ausdrücken darf, das lebendige Bild

des Todes.

Das Skelett war da, unbeweglich, und schaute mich mit seinen hohlen Augen an.

Ich stand auf und ging mehrere Male im Zimmer umher; der Kopf folgte mir bei allen meinen

Bewegungen. Die Augen verließen mich nicht eine Sekunde, der Körper blieb unbeweglich.

Diese Nacht hatte ich nicht den Mut, mich niederzulegen. Ich schlief oder blieb vielmehr mit

geschlossenen Augen in dem Lehnstuhl, den gewöhnlich das Gespenst einnahm; es war so weit

gekommen, daß ich die Abwesenheit des Gespenstes bedauerte.

Bei Tagesanbruch verschwand das Skelett.

Ich befahl John, den Platz meines Bettes zu wechseln und die Vorhänge zu kreuzen.

Beim letzten Schlag sechs Uhr hörte ich dasselbe Rauschen, ich sah die Vorhänge sich bewegen,

dann erblickte ich die Extremitäten von zwei knochigen Händen, welche die Vorhänge meines

Bettes auseinanderschoben, und nachdem dies geschehen war, nahm das Skelett in der Öffnung den

Platz ein, den es in der Nacht vorher eingenommen hatte.

Diesmal hatte ich den Mut, mich niederzulegen.

Der Kopf, der mir, wie in der vorhergehenden Nacht, bei allen meinen Bewegungen gefolgt war,

neigte sich nun zu mir herab.

Die Augen, die mich nicht einen Moment aus dem Gesichte verloren hatten, hefteten sich auf mich.

Sie begreifen, welche Nacht ich zubrachte. Wohl! mein lieber Doktor, es sind schon zwanzig

Nächte, die ich so zugebracht. Sie wissen nun, was ich habe, werden Sie etwas unternehmen, um

mich zu heilen?"

„Ich will es wenigstens versuchen", antwortete der Doktor.

„Lassen Sie hören, wie dies?"

„Ich bin überzeugt, daß das Gespenst, welches Sie sehen, nur in Ihrer Einbildungskraft existiert."

„Was liegt mir daran, ob es existiert oder nicht existiert, wenn ich es sehe?"

„Wollen Sie, daß ich es zu sehen versuche?"

„Das wäre mir sehr lieb."

„Wann dies?"

„Je eher, desto besser. Morgen."

„Gut, morgen, bis dahin guten Mut!"

Der Kranke lächelte traurig.

Am andern Morgen um sieben Uhr trat der Doktor in das Zimmer seines Freundes. „Nun," fragte er,

„das Skelett?"

„Es ist soeben verschwunden", antwortete dieser mit schwacher Stimme.

„Wohl, richten wir es so ein, daß es heute Abend nicht wieder kommt."

„Tun Sie das."

„Sie sagen vor allem, es trete beim letzten Schlage von sechs Uhr ein."

„Pünktlich."

„Fangen wir damit an, daß wir die Uhr stillstehen lassen"; und er hemmte den Pendel.

„Und was wollen Sie machen?"

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„Ich will Ihnen die Fähigkeit, die Zeit zu bemessen, nehmen."

„Gut."

„Nun wollen wir die Fensterläden geschlossen halten und die Vorhänge der Fenster kreuzen."

„Warum dies?"

„Immer in derselben Absicht, damit Sie sich keine Rechenschaft von dem Gang des Tages geben

können."

„Tun Sie das."

Die Läden wurden geschlossen, die Vorhänge zugezogen, man zündete Kerzen an.

„Haltet ein Frühstück und ein Mittagessen bereit, John", sagte der Doktor, „wir wollen nicht zu

bestimmten Stunden bedient sein, sondern nur wenn ich rufen werde."

„Ihr versteht, John?" fragte der Kranke.

Ja, Herr."

„Dann gebt uns Karten, Würfel, Dominos, und laßt uns allein."

Die verlangten Gegenstände wurden von John gebracht, und dieser entfernte sich.

Der Doktor fing an, den Kranken, so gut er konnte, zu zerstreuen, bald indem er plauderte, bald

indem er mit ihm spielte, dann, als er Hunger hatte, läutete er. John, der wußte, in welcher Absicht

man geläutet hatte, brachte das Frühstück.

Nach dem Frühstück begann die Partie, welche durch ein neues Läuten des Doktors unterbrochen

ward. John brachte das Mittagessen.

Man aß, man trank, man nahm Kaffee zu sich und fing wieder an zu spielen. So unter vier Augen

zugebracht, schien der Tag lang. Der Doktor glaubte die Zeit in seinem Geiste gemessen zu haben

und dachte, die verhängnisvolle Stunde müsse vorüber sein.

„Nun!" rief er aufstehend, „Victoria!"

„Wieso Victoria?" fragte der Kranke.

„Allerdings, es muß wenigstens acht oder neun Uhr sein, und das Skelett ist nicht gekommen."

„Schauen Sie auf Ihre Uhr, Doktor, das ist die einzige, die im Hause geht, und ist die Stunde

vorüber, nun, so rufe ich wie Sie: Victoria!"

Der Doktor schaute auf seine Uhr, sprach aber nichts.

„Nicht wahr, Doktor, Sie täuschten sich? es ist gerade sechs Uhr."

Ja; nun?"

„Nun! das Skelett tritt eben ein."

Und der Kranke warf sich mit einem tiefen Seufzer zurück.

Der Doktor schaute nach allen Seiten.

„Wo sehen Sie es denn?" fragte der Doktor.

„An seinem gewöhnlichen Platz, hinter meinem Bett zwischen den Vorhängen."

Der Doktor stand auf, zog das Bett vor, trat hinter dasselbe und nahm den Platz ein, auf dem sich

das Skelett befinden sollte.

„Und nun", sagte er, „sehen Sie es noch?"

„Ich sehe den unteren Teil seines Körpers nicht mehr, weil der Ihrige ihn verbirgt, aber ich sehe

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seinen Schädel."

„Wo dies?"

„Über Ihrer rechten Schulter. Es ist, als hätten Sie zwei Köpfe, einen lebendigen und einen toten."

Der Doktor, so ungläubig er war, schauerte unwillkürlich.

Er wandte sich um, aber er sah nichts mehr.

„Mein Freund", sprach er traurig zu dem Kranken zurückkehrend, „wenn Sie einige

testamentarische Verfügungen zu treffen haben, so tun Sie es."

Und er ging hinaus.

Als neun Tage nachher John in das Zimmer seines Herrn eintrat, fand er ihn tot in seinem Bett.

Es war auf den Tag drei Monate, daß man den Banditen hingerichtet hatte.


Die Botschaft des Gehängten

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