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Kapitel 2

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Marilyn Monroe war schon ein Jahr tot. John F. Kennedy wurde im November des Jahres 1963 erschossen. Das Flower–Power–Zeitalter umspannte langsam den Globus. Doch manche Gegenden blieben vom Zeitgeschehen unbeeindruckt und das Spießbürgerleben feierte Hochkonjunktur.

Nach dem Winter wurden die Vorgärten aufpoliert und hie und da sah man die Nachbarn bei ihrem Plausch über das Wetter und andere belanglose Dinge zusammenstehen und genau an solchen Orten gedeihen manchmal ganz besondere Früchte.

Ich bin Alex.

1963 wurde ich im Monat Mai in München Neuaubing geboren. Wir, also Mama, meine Geschwister und ich, wohnten in Neuaubing. Mein Vater, ein Grieche, hatte neu geheiratet und musste wegen finanzieller Schwierigkeiten das Land verlassen.

Neuaubing war zur einen Hälfte Hochhausgebiet. Auf der anderen Seite lag eine kleine Siedlung mit Einfamilienhäuschen. Ich wohnte in der Spießbürgersiedlung. Das Leben verlief ziemlich normal, bis ich von der Volksschule zur Hauptschule wechseln musste. Über die Hauptschule hatte ich schon einiges gehört. Sie lag im Hochhausgebiet und dort waren die Rockergangs zu Hause. Insgeheim wäre ich gerne einer von ihnen gewesen. Nachdem nun mein Vorbild, der Papa, weg war, dachte ich mir, wenn ich auch so ein Rocker wäre, hätten alle Respekt vor mir und ich bräuchte vor niemandem mehr Angst haben. Aber das waren nur Gedanken. In Wahrheit vermied ich das Durchqueren von diesem unsicheren Viertel und nun sollte ich da zur Schule gehen. Oh Gott!

Am ersten Tag, ich war noch keine zwei Minuten in der neuen Schule, vernahm ich folgenden Satz, den ich nie wieder vergessen sollte:

»Hau ihm in die Eier, dass das Blut spritzt«.

Kaum hatte ich dies gehört, bekam ich Panik. Dummerweise musste ich noch an diesen Typen vorbei in mein Klassenzimmer, das sich im ersten Stock befand. Als ich endlich oben war, setzte ich mich und traute mich nicht mehr, mich zu bewegen. Ja nicht auffallen! Dumm war nur, dass ich dringend auf die Toilette musste. Ich konnte es gerade noch so lange verdrücken, bis der Gong ertönte. Dann rannte ich raus durch die Haupteingangstüre und da passierte es: Es ging in die Hose. Ein Riesenfleck! Im Rennen hielt ich die Schultasche davor, fünf Minuten bis nach Hause. Wie durch ein Wunder hatte niemand etwas bemerkt.

Langsam fand ich Anschluss in der neuen Schule. Ein Junge aus meiner Klasse hieß Marcel, er war sehr stark und gefürchtet. Es dauerte nicht lange, bis wir uns angefreundet hatten. Marcel kam aus der Hochhaussiedlung. Zu Anfang unserer Freundschaft ließ ich mich immer von ihm abholen. Ich war nämlich eher ängstlich und schüchtern und von meiner Statur glich ich mehr einer Bohnenstange, als einem Muskelprotz.

So hatte ich in Marcels Siedlung schon einige üble Erfahrungen hinter mich gebracht. Einmal als ich mit dem Rad durchfuhr, wurde ich von drei Typen angemacht. Sie fingen an zu schubsen, und ich schlug zurück. Ich saß schon als Gewinner auf dem Wortführer, als mich die beiden anderen von hinten überrumpelten und mir dann zum Siegeszeichen ein »Lamperl« drehten – dabei wird die Nasenspitze solange verdreht, bis sie rot leuchtet.

Vor Marcel und seinen Freunden hatten alle Respekt, und so konnte ich bald alleine ins andere Viertel gehen. Denn jetzt wusste jeder, dass ich zu Marcels Bande gehörte.

Mit dreizehn widersetzte ich mich zum ersten Mal meiner Mama. Als sie mich schlagen wollte, hielt ich einfach ihre Arme fest. Von da ab war ich frei und machte nur noch, was ich für richtig hielt.

Zu dieser Zeit fing es an, dass wir uns auch nachts trafen. Einige meiner Freunde mussten sich heimlich rausschleichen. Marcel holten wir mit einer Leiter aus dem zweiten Stock. Ich ging einfach durch die Haustüre und nahm vorher noch die Hälfte von Mams Zigaretten mit, was Mam mittlerweile kommentarlos geschehen ließ.

Dann ging’s los.

Manchmal machten wir ein paar Kellereinbrüche. Am begehrtesten waren dort natürlich die Alkoholbestände, notfalls nahmen wir aber auch Marmeladen und sonstigen Krimskrams mit. Schließlich konnten wir alles gebrauchen. Unser Hauptinteresse galt aber den Mopeds. Mein Garten glich schon einem Schrottplatz, den regelmäßig die Polizei durchsuchte. Natürlich waren wir nicht so dumm und ließen uns erwischen. Wir entsorgten die Rahmen mit den Fahrgestellnummern in einem nahegelegenen Weiher, dem Ratzensee. Da lag schon einiges drinnen – es wurde auch von Tresoren getuschelt, aber hauptsächlich handelte es sich wohl um geklaute Mopeds und Zigarettenautomaten.

In Neuaubing gab es nämlich noch eine zweite Gang, die sehr fleißig unterwegs war. Sie waren im Durchschnitt etwas älter als wir und bewohnten den oberen Teil der Hochhaussiedlung.

Wir hatten mächtig Respekt vor ihnen, man hörte wirklich schlimme Dinge. Zum Beispiel gab es da die Story von der Messerstecherei, bei der einer ums Leben kam, und es gab die Geschichte mit dem Pfeil, der bei einer Keilerei durchs gegnerische Ohr gestoßen wurde. Ja, diese Jungs schienen gar nicht nett zu sein. Heute bin ich mir sicher, dass die genauso viel Angst vor uns hatten wie wir vor ihnen, denn in unserem Viertel waren sie nie zu sehen.

Da wir uns jetzt die Nächte um die Ohren schlugen, mussten wir natürlich unser nächstes Problem angehen: Die Schule – wer Lust auf Schule hatte, konnte hingehen, aber uns kam es sehr gelegen, dass eine versierte Ärztin direkt im Einkaufszentrum neben der Schule ihre Praxis hatte. Frau Dr. M. schrieb uns krank und wir brauchten die Krankschreibung nur noch zur Schule gegenüber zu bringen. Ich liebte diese gelben Zettel und es war relativ unstressig neue zu besorgen. Mittlerweile ging schon fast die ganze Schule zu Frau Dr. M.

Erst als der Rektor die Krankschreibungen von unserer Ärztin nicht mehr akzeptierte, mussten wir neue Wege einschlagen. Da wir in puncto Krankschreibung nun schon solche Profis waren, stellte uns die neue Situation vor kein Problem: Das »Löffeln« war geboren.

Man musste nur seine Hand mit einer Zwiebel einreiben und dann mit einem Löffel immer wieder auf dieselbe Stelle klopfen, bis es anfing blau zu werden. Dann fuhren wir ins Krankenhaus. Dort wurde erst geröntgt, und dann bekam man einen Gips oder Verband. Dagegen war auch der Rektor machtlos. Manche übertrieben es und so kam unter anderem auch ein Hammer statt des Löffels zum Einsatz, welcher mit voller Wucht auf Martins Arm sauste. Martin schrie »Aua«, hüpfte etwas herum und grinste dabei.

Der, der den Hammer in der Hand hielt, war Ronaldo, eine Legende in Neuaubing. Er lief im Sommer meistens mit Clogs (Holzpantoffeln) durch die Gegend, welche er im Kampf seinen Gegnern um die Köpfe schlug. Ronaldo war etwa zwei Jahre älter als wir und wenn er nicht gerade vor der Polizei auf der Flucht war, hing er manchmal bei uns rum. Älter als sechzehn ist er nie geworden, er hat sich an Weihnachten im Gefängnis aufgehängt.

Im Fernsehen lief damals »Kung Fu« mit David Carradine. Davon war ich schwer beeindruckt. Ich wollte unbedingt diesen Kampfsport erlernen. Damit konnte ich’s ihnen allen zeigen! Mein Traum wäre natürlich Neuaubings unangefochtene Nummer »Eins« gewesen. Wir trainierten wöchentlich zweimal bei mir im Keller. Beim Training schlug ich meinem Freund Rainer vor, seine Hand an die Decke zu heben. Er dachte wohl, so hoch könne ich aus dem Stand mit den Füßen nicht schlagen und tat wie ihm geheißen. Ich sprang, schlug zu, kickte mit dem Fuß wie in »Kung Fu«, Rainer brüllte: »Argh!« Wir fuhren ins Krankenhaus – glatter Durchbruch des Mittelhandknochens. Das hatte ich auch nicht gewollt.

Für die nächste Zeit war ich jetzt der Kung-Fu-Held in Neuaubing und für Rainer erübrigte sich das Löffeln.

Rainer war das schwarze Schaf in unserer Gang. Sobald irgendwer verarscht, gehänselt oder drangsaliert wurde, war es Rainer. Und wir hatten ein paar wirklich aggressive Psychopaten in unserer Clique.

Da war Martin. Martin war supernett, außer wenn er betrunken war und das war er fast jeden Tag. Am meisten büßte das seine Freundin. Er schlug sie täglich mit Händen und Füßen, bis sie grün und blau war.

Ein Wunder, dass sie seine Gewaltattacken überstanden hat.

Martin war wirklich besonders. Auf der einen Seite wie ein großer Bruder, immer gutmütig und herzlich, aber auf der anderen Seite, in Verbindung mit Alkohol, konnte er total abdrehen und war nicht mehr wiederzuerkennen. Er war unberechenbar. Niemand hätte sich jemals mit ihm angelegt. Gegen einen »Psycho« konnte man nicht gewinnen. Martin war der Einzige, der stets unbesiegt blieb.

Einmal saßen Francesco, Martin und ich bei einer Freundin zusammen. Ihre Eltern waren gerade verreist und wir schlugen uns wieder einmal die Nacht um die Ohren. Alle waren schon etwas angetrunken und in meinem Übermut schlug ich Martin mit einer Cola-Flasche aufs Knie. Es war eher in der Art, wie man seinen großen Bruder schlägt, während man weiß, dass er großzügig sein wird und nicht zurückschlägt. Martin warnte mich: »Mach's nicht noch mal!« doch ich hörte nicht auf ihn und übersah den Ernst der Situation. Da sprang er auf und schlug mich vom Stuhl. Dann trat er mit den Füßen zu und traf mich am Kopf. Blut lief über mein Gesicht und tropfte den Teppich voll. Im Nu hatte sich eine kleine Pfütze gebildet. Dabei tickte er völlig aus und schrie mich an: »Hör auf zu bluten« und die Schläge trommelten auf mich ein. Ich hatte es aber nicht auf der Reihe, das Bluten aufzuhören. Während sich Martin an mir abreagierte, kniete ich auf dem Boden und hielt meinen Kopf schützend zwischen die Knie gesteckt. Als er endlich von mir abließ, blutete ich aus allen möglichen Wunden. Heulend ging ich nach Hause. Ich sah so schlimm aus, dass ich das Kellergitter an unserem Haus abhob und durchs Fenster einstieg. Niemand sollte mich so zu Gesicht bekommen.

In den nächsten Tagen überlegte ich mir genau, ob ich noch einmal zu meiner Clique gehen sollte, aber sie waren inzwischen zu meinen Freunden geworden und als sich Martin noch entschuldigte, war ich erleichtert. In Ordnung war es aber trotzdem nie wieder.

Dann gab es da noch Karlo.

Karlo wurde regelmäßig von seinem Vater misshandelt; oft war sein Körper mit blauen Flecken übersät. Je mehr Schläge er bekam, desto wilder und unberechenbarer wurde er. Karlos Aggressionen kamen kalt und hinterrücks. Vor ihm musste man sich am meisten in Acht nehmen. Beispielsweise hatten wir dieses »Licht aus – Licht an« Spielchen. Jedes Mal, wenn das Licht ausging, schlug Karlo voll zu und kaum war das Licht wieder an, war er es nicht gewesen.

Patrick, »Oberpsycho« unserer Gang, war etwa zwei Jahre älter als wir und das macht in diesem Alter zwischen dreizehn und sechzehn eine Menge aus.

Eigentlich war Patrick aus der anderen Gang in Neuaubing, aber die erwies ihm wohl zu wenig Respekt. So hatte ich ihn einmal in unserer Schule wimmernd am Kleiderhaken hängen sehen, während sich seine Kumpels dabei einen Ast lachten.

Für die großen Neuaubinger war Patrick ein Niemand, aber bei uns ließ er die Sau raus. Zu allem Überfluss wurde Patrick der beste Freund von Martin und somit war er für uns unantastbar.

Wie immer, wenn wir uns etwas ausdachten, traf es Rainer am schlimmsten. Patricks Mama war immens dick und sehr liebenswürdig, zu liebenswürdig! So kamen wir auf die Idee, Rainer mit Patricks Mama zu verkuppeln. Da wir alle von dem Vorschlag so begeistert waren, hatte auch Patrick nichts dagegen einzuwenden. Rainer wurde etwas betrunken gemacht und mit einem Stapel Pornoheftchen alleine in Patricks Zimmer zurückgelassen. Wir dachten, er bekäme etwas Lust und würde schon auf den richtigen Gedanken kommen. Die nette, ansehnliche, füllige Misses rekelte sich ein Zimmer weiter auf der Wohnzimmercouch. Rainer kam es bestimmt komisch vor, dass wir auf einmal alle gehen mussten. In Wirklichkeit standen wir dann vor dem Fenster – und wollten sehen, wie er mit der Dicken …

Blöderweise ließen die Jalousien keinen Blick ins Innere zu. Wir bekamen nichts mit, obwohl wir sogar unsere Ohren an die Rollläden pressten und lauschten. Nachdem wir uns die Beine in den Bauch gestanden hatten, war klar, dass die Sache für uns gelaufen war – und stören wollten wir die beiden jetzt auch nicht mehr. Vielleicht bahnte sich ja schon was an?

Wir zogen davon.

Fakt war, dass Rainer erst am nächsten Morgen nach Hause kam. Und die Neuaubinger Gerüchteküche lief auf Hochtouren.

In Wahrheit hatten zwar Rainer und Patricks Mam, die dem Alkohol auch nicht abgeneigt war, die ganze Nacht hochprozentigen Fusel getrunken, aber Gerüchte waren Gerüchte und in Neuaubing waren ständig irgendwelche unterwegs.

Einzig Patrick hatte es hinterher doch nicht gefallen.

Gegen ihn erhob keiner so leicht das Wort. Deshalb fügte sich wohl Rainer, als ihm Patrick im Keller einen Fahrradschlauch um den Hals legte und ihn damit so lange an den Abwasserrohren aufhängte, bis Rainer blau anlief.

Ich hasste Patrick, der bei den Gleichaltrigen ein Duckmäuschen abgab und bei uns den Tyrannen. Letztlich rettete mich nur meine Freundschaft zu Marcel vor Patricks Aggressionen, denn gegen ihn hätte er sich nie getraut anzutreten. Marcel, zäh und sehnig, war bis dato unbesiegt.

Damals verliefen die Tage sehr oft nach demselben Schema. Ich war kaum mehr in der Schule und wahrscheinlich waren die Lehrer ganz froh darüber, wenn ich nicht im Unterricht auftauchte. Ab der achten Klasse machte ich keine einzige Hausaufgabe mehr und meine Verweis-Sammlung war enorm, inklusive einiger Direktoratsverweise.

Die Lehrerin machte sogar Hausbesuche bei meinen Mitschülern – diese sollten lieber nicht mehr mit mir spielen – nun war ich auch noch offiziell schlechter Umgang. Das kam mir gerade recht – in Neuaubing liefen die Uhren anders: Verweise, Strafanzeigen, Gerichtsverhandlungen ergaben hier Pluspunkte.

Von dieser Schule konnte man weder fliegen noch konnte man sitzen bleiben, denn sie wollten Jugendliche wie mich auf keinen Fall länger dabehalten, als notwendig.

Wer in dieser Schule Lehrer war, hatte es nicht leicht, aber am schwierigsten war es für jene, die sich nicht durchsetzten konnten. So wie unsere Englisch-Lehrerin. Während des Unterrichts lagen wir auf Schränken oder turnten sonst wo rum. Sie wusste, dass wir keine braven Jungs waren. Denn in der Vergangenheit wurde schon so manches Fahrzeug auf dem Lehrerparkplatz übel zugerichtet.

Karlo erpresste die Lehrerin mit ein paar Details, die ihr schönes neues Auto betrafen, und so kam es, dass ich in Englisch in Leistungsgruppe B eine Drei bekam. Das fiel neben den ganzen Fünfen und Sechsen schon auf.

Aber mir war schon klar, wo ich hin wollte. Auf keinen Fall so werden wie meine Onkels.

Die einzigen männlichen Vorzeigewesen in meiner familiären Umgebung waren nämlich zwei Onkel, die auch noch während ihrer Freizeit mit einem Blaumann durch die Gegend liefen. Da wären sie zwar für eine Heimwerker-Sendung gut gewesen, aber nicht für »Wie-werde-ich-zu-einem-Mann«.

Man konnte ja sehen, wo so ein spießbürgerliches Erwachsenenleben hinführte: Ausdruckslose Gesichter und Duckmäuserei den ganzen Tag. Versicherungen, Formulare und Vorschriften. Lebensziel Rente.

Nicht mit mir!!

Mein Berufsbild war klar: Ich wollte Verbrecher werden! Dafür brauchte es keine guten Noten und auch keine Schule.

Meistens trafen wir uns vormittags bei Martin. Seine Eltern gingen beide arbeiten und so waren wir ungestört. Die Atmosphäre wirkte dort immer etwas bedrohlich, da sich die latent vorhandene Aggression leicht gegen einen selbst richten konnte. Denn als Mitläufer war ich auch stets potenzielles Opfer. Davor hatte ich ständig Angst. Spiele wie zum Beispiel »Formikula« waren der Zündfunke, um der Aggression freien Lauf zu lassen. Das Opfer bekam eine Decke über den Kopf und die anderen begannen mit Zwicken und kleinen Schlägen ihr Opfer zu traktieren, bis sich die Situation änderte und alle darauf losprügelten. Jeder wollte einmal einen unkontrollierten harten Schlag landen – das hatte zwar keinen »offiziellen« Charakter, aber so endete es meistens.

An einen Tag erinnere ich mich besonders: Es war Winter, draußen hatte es geschneit und im Fernsehen lief nichts. Uns war stinklangweilig. Das waren keine guten Voraussetzungen für ein angenehmes Beisammensein. Alleine die Langeweile ließ das Gefühl der Angst in mir aufsteigen. Das Schema war immer das gleiche: Irgendeinem, meistens Karlo, fiel ein kleines grausames Spielchen ein. Dann kam Martin noch dazu und der Rest der Gang folgte widerspruchslos.

Karlo hatte die Idee, Rainer nackt auszuziehen, zu fesseln und auf den Balkon zu setzen – so was gefiel mir gar nicht, aber wenn ich nicht selber nackt auf dem Balkon landen wollte, musste ich mitmachen. Diese Art von Spielchen liefen bei uns unter dem Motto »Spaß«. Wir kicherten und lachten und Rainer verdrückte sich das Heulen.

Während wir uns dann das Vormittagsprogramm reinzogen, saß Rainer nackt und gefesselt auf dem Balkon. Aus seinen Augen liefen Tränen, aber nicht nur wegen der Kälte, er konnte nicht verstehen, warum wir ihm das angetan hatten. Wir waren doch seine Freunde. Und wir verstanden es genauso wenig – das war die verdrehte Welt von Neuaubing.

Fast immer, wenn sich etwas gegen Rainer richtete, war Karlo der Drahtzieher. Das mit dem Balkon war schon ziemlich übel. Sonst musste Rainer immer nur kleinere Späße über sich ergehen lassen, wie die Schamhaar-verseng-Aktion, bei der Karlo Rainer gezwungen hatte, die Hosen runter zu lassen und ihm dann vor allen Umstehenden sämtliche Schamhaare mit dem Feuerzeug verbrannte. Ein Andermal überredete er Rainer dazu, quasi als Unfallopfer in eine Bäckerei zu gehen. Wir legten ihm einen Kopfverband an und schminkten ihn etwas mit roter Farbe, damit es auch tragisch aussah. Dann klemmten wir ihm sein Fahrrad unter dem Arm und drückten ihm noch einen Zettel in die Hand. Rainer startete, stolperte zur Tür herein, stand dann perfekt mit Kopfverband und Fahrrad unterm Arm in der Bäckerei und las von seinem Zettel ab: »Ich bin auf den Kopf gefallen und brauche jetzt Semmeln.« Die Bäckerleute staunten nicht schlecht, gaben ihm aber dann zur Genesung, oder weil sie sonst nichts damit anzufangen wussten, zwei Semmeln mit auf den Weg. Danach standen die Bäckersleute entgeistert hinter ihrem Schaufenster und sahen mindestens sechs Jungs mit einem Lachanfall vor der Bäckerei am Boden liegen, die sich nicht mehr einkriegten.

Egal was wir alles mit Rainer anstellten, er kam immer wieder zu unserer Gang zurück.

Rainer war einfach zu gut für diese Welt.

So gesehen teilten sich Neuaubings Menschen in zwei Lager: Vor den einen hatte man Respekt und die anderen zollten einem Respekt.

Schwarz und Weiß.

Vor der anderen Gang hatte ich ziemlich Schiss.

Mittlerweile waren bei denen noch Jüngere dazugestoßen und die bildeten dann den Vorhof zur Hölle.

Im Schnitt waren sie etwa ein Jahr jünger als wir und wären uns somit sicherlich unterlegen gewesen, wenn nicht die Größeren, meistens noch in Form ihrer Brüder, hinter ihnen gestanden hätten. Zudem traten sie nur in Gruppen auf, und so schlugen sie auch zu. Da gab es keine Chance, gegen zehn konnte man nicht gewinnen.

Hätte alles kein Problem dargestellt, wenn nicht das Jugendzentrum, in dem immer Partys veranstaltet wurden, mitten in ihrem Gebiet gelegen hätte.

Neuaubing

Neuaubing – wir nannten es auch klein Chicago – war von München abgetrennt. Wenn man als Jugendlicher nachts durch die Straßen lief, musste man sich genau überlegen, welche Viertel man wählte, es gab so manche Orte, die man besser mied.

Niemals über die Limesstraße ins Zigeuner-Viertel!

Niemals zu den Tischtennisplatten hinten am Schlittenberg! (Denn dort war der Treffpunkt der »oberen« Gang.) Und auf keinen Fall zur Hochhaussiedlung in der Kunreuthstraße!

Die meisten unserer Clique trafen sich abends im Cafe’ Reischer, dem Stammlokal unserer Gang und betranken sich regelmäßig mit Alkohol. Marcel und mir wurde das zu langweilig und so machten wir uns eines Tages gemeinsam auf den Weg ins gegnerische Lager zur Party. Ich dachte mir, das wird schon gut gehen, schließlich war Marcel nicht irgendwer und sein Ruf war weit über unser Viertel hinaus Legende.

Damals lief im Kino »The Warriors«, ein Film über Rocker-Gangs in New York, und in dem Streifen war eine Gang auf Roller-Skates unterwegs. Beeindruckt von diesem Film fuhr fast die ganze gegnerische Gang diese Roller-Skates, und sie nannten sich nun auch die Warriors.

Karl war in der gegnerischen Gang der »Mister Unbesiegbar«. Eigentlich konnte man gegen Karl nichts sagen, er war ein Prolo wie die anderen und letztlich wie wir auch.

Wie es anfing, weiß ich nicht mehr genau. Wir waren gerade angekommen und noch vor der Türe hatte irgendjemand Marcel angerempelt. Im Nu standen acht, neun Leute um ihn herum, alle auf Roller-Skates, und sie fingen an zu schlagen. Eine Hand packte ihn an den Haaren, Fäuste krachten in sein Gesicht. Marcel ging zu Boden. Dann traten sie mit den Skates nach ihm. Ich stand daneben, zitterte, die Angst floss durch meinen ganzen Körper. Wie gelähmt, in Zeitlupe, versuchte ich nur einen nach dem anderen wegzuziehen, aber ergebnislos – jeder wollte noch ein bisschen reinschlagen. Dann kam Karl und pfiff seine Bluthunde zurück: »Wie unfair, den mache ich doch alleine platt!« Sie ließen von ihm ab, machten Platz für ihren Chef. Marcel krümmte sich und stand dann wankend wieder auf. Er wusste es und ich wusste es, die Sache war noch lange nicht ausgestanden. Jetzt musste er gegen Karl antreten, »sich gerade machen«, so ließen sie ihn nicht ziehen. Marcel stellte sich – trotz des Blutes, das ihm übers Gesicht rann – dem Kampf. Es gab kein Zurück. Karl sprang in ihn rein, er ging ins Karatetraining und war sich seiner Sache sicher.

Marcel ging abermals zu Boden und mühte sich dann taumelnd wieder hoch. Um uns herum standen mittlerweile etwa dreißig Leute – alles Feinde. Jeder von ihnen hätte sich, wäre er allein gewesen, gegen Marcel in die Hosen gemacht. Aber zusammen waren sie eine wilde Meute. Einzig Karl hielt sie zurück, es war sein Heimspiel. Hier konnte er zeigen, was er drauf hatte, sich profilieren. Er hob den Fuß und zielte damit gegen Marcels Kopf. Der Tritt traf ihn direkt neben dem Auge, wo nun eine weitere Wunde aufgerissen war, aus der das Blut hervorquoll. Marcel fiel in sich zusammen und blieb liegen. Fünf endlose Minuten lang. Der Kampf war gelaufen. Das Zittern verbergend, half ich ihm wieder auf die Beine und stützte ihn etwas ab. Nun konnte jeder sehen, dass es zu weit gegangen war. Marcels Augen waren so zugeschwollen, dass er kaum mehr etwas sehen konnte – sie gaben den Weg frei. Wir durften ziehen.

Als wir geknickt und geschlagen den Nachhauseweg antraten, hatte ich das schlechteste Gewissen meines Lebens. In meinen Tagträumen rückte ich mir die Situation noch oft zurecht. Verdammt, hätte ich nur zugeschlagen! Aber ich hatte mich von der Angst lähmen lassen. In Wirklichkeit gab es in meinen Augen an diesem Tag nur einen Verlierer und der war ich.

Der Neuaubinger

Auf der anderen Seite fühlte es sich wirklich gut an Neuaubinger zu sein. Ich war Mitglied einer Rocker-Gang, und so zog ich durchs Viertel und sponn mir meinen ganz eigenen Film vom Leben.

In Neuaubing zählten andere Werte, es konnte zum Beispiel passieren, dass man in einer Kneipe neben einem Typen wie Jörg landete. Jörg war groß, hatte schwarze, kurze, lockige Haare und trug zu seinen Cowboystiefeln einen eng anliegenden Nadelstreifen Anzug. Um seinen Hals hing eine dicke Goldkette, an der ein goldenes, zigarettenschachtelgroßes Marihuanablatt baumelte. Manchmal, wenn er an der Bar stand und sein Glas hob, gab sein Sakko einen Blick auf einen Schulterhalfter frei, in dem er eine Pistole trug. Jörg war kein Polizist. Und solche Typen gab es in Neuaubing vereinzelt öfter. Ihre Namen wurden durch die Straßen getragen und hinter vorgehaltener Hand genannt. Sie waren unsere Vorbilder.

Cowboystiefel, Jeans, schwarze Lederjacke, am besten noch von »Erdmann«. Dann gab es da noch Waffen: Nunchakus (zwei dreißig Zentimeter lange, mit einer Kette verbundene Stöcke) die ich in Bruce Lee Manier wild um mich kreisen ließ und dabei zur Prüfung meiner Treffsicherheit schon tausende Zigaretten gekillt hatte; welche ich in die Luft geschmissen mit meinen Nunchakus entzweite. Dann Schlagringe, Mercedes-Sterne (in Neuaubing fuhr kein einziger Mercedes mehr mit Stern, wir grasten sogar die Tiefgaragen nach diesen Dingern ab), Gaspistolen und Nothammer.

Bevor ich aus dem Haus ging, überlegte ich mir noch, welche Waffen ich mir einsteckte. Zu meiner Standardbewaffnung gehörten die Chuks, die aus der Seitentasche meiner schwarzen Lederjacke hingen, und eine 9mm-Gas-Pistole mit bearbeiteten Patronen, die ich mittels eines Stückchen Wachses und Eisenspäne, verschärfte.

Ich lief durch die Straßen meines Viertels und niemand wagte es, sich mir in den Weg zu stellen. Mein Name war schon weiter gereist als mein Gesicht. Bis in die Nachbarviertel wussten die Leute, wie ich hieß, ohne mich jemals gesehen zu haben.

Darauf war ich stolz. Ein Gefühl von Allmacht und Rebellion. Dreizehn Jahre alt, tätowiert und bewaffnet.

Ich war ein Rocker, das hatte ich zwar nie selbst von mir behauptet, aber die Eltern der Nachbarskinder wussten es und warnten ihren Spießbürgernachwuchs vor mir. Uns hatte kein Erwachsener mehr etwas zu sagen. Der neue Feind war die POLIZEI.

Und damit ergab sich das perfekte Gefühl: Cowboystiefel, schwarze Lederjacke und bewaffnet; ich war ein Revoluzzer!

Für mich war es klar, ich hatte den richtigen Weg, sprachen doch allmorgendlich die Gesichter der Bevölkerung in den Bussen und U-Bahnen ihre eigene Sprache. Ausdruckslos und mit hängenden Gesichtszügen standen die Erwachsenen wie Kühe sinn- und willenlos umher, um abends dann vom richtigen Leben zu träumen, während sie gebeugt in ihren Urlaubskatalogen studierten. Und die wollten einem nun erzählen wo’s lang ging, die konnten mir allenfalls Leid tun.

Erst einmal Rocker und später Gentlemangangster, das war mein Ding.

Als ich mit der neunten Klasse fertig war, hatte ich natürlich keine Lehrstelle in Aussicht. Während die Hälfte meiner Freunde nun doch so klug waren und einen Beruf erlernten, saß ich zu Hause.

Der einzige Beruf, den ich mir vorstellen konnte, war Automechaniker. Zum Automechaniker hätte ich mindestens einen Notendurchschnitt von 4 gebraucht. Doch in meinem Abschlusszeugnis war die beste Note eine 4 – die liebe Englisch-Lehrerin – dann vielleicht zwei Fünfen, und der Rest alles Sechsen.

Nun lagen mir die Familie und die Freunde arg in den Ohren, wie wichtig so ein erlernter Beruf sei. Mir selber schien das egal, arbeiten war sowieso nicht mein Ding; doch jetzt wurde es tagsüber langweilig, da fast alle anderen arbeiten gingen. Die Freunde hatten Kohle und ich keine, das passte am allerwenigsten zusammen. Beruf hin oder her, aber das Geld war ein Argument und so fand ich nach dem dritten Anlauf einen Job als Hilfsarbeiter.

Gleich bei der ersten Arbeitsstelle hatte ich einen Glückstreffer gelandet. Wir fuhren für eine Weinhandlung den Wein aus. Der Chef, ca. Mitte vierzig, war selbstständig und hatte mich als Beifahrer eingestellt.

Ich saß neben ihm im Führerhaus seines Lastwagens, mit der Straßenkarte auf den Knien und suchte dabei immer die günstigste Strecke heraus.

Raftlmeier, so hieß der Chef, war die größte diebische Elster, die mir bis dato begegnet war.

Früher stellten die Post und andere Boten die Päckchen oft nur in den Hauseingang – Deutschland war noch brav und bieder.

Wir stellten unsere Pakete ab und nahmen die anderen mit. Im Auto wurde dann brüderlich geteilt. Was sich die Leute alles schicken ließen: Haarföhn, Dessous in Übergrößen, »Massagestab« (ganz unscheinbar verpackt) und eine Menge völlig indiskutable Klamotten, die dann bei uns aus dem Fenster flogen. Mit dem ganzen Scheiß konnte man sowieso nichts anfangen, aber so wurde es wenigstens nie langweilig. Und wenn wir mal in ein Mehrfamilienhaus lieferten, sahen wir auch gleich bei den anderen Parteien nach, ob nicht wieder Überraschungspäckchen für uns vor die Türe gelegt waren. Zu Ostern hatte der Chef sogar ein Osternest mitgenommen. Vor dem war nichts sicher – so hatte er seinem Sohn zum fünfzehnten Geburtstag ein nagelneues Moped geklaut: Raftlmeier musste eine Kiste Wein in das Zündapp Werksgelände liefern, und bei der Abfahrt half ich ihm dabei ein Moped einzuladen. Dass wir das Ding klauten, erzählte er mir erst hinterher.

In Raftlmeiers Welt drehte sich alles ums Stibitzen.

Ab und zu sorgte er auch für »Bruch«. Bei besonders guten Weinen gaben wir an, uns wären Flaschen zerbrochen. In Wahrheit hatten der Chef und ich ein recht großes Privatlager mit den auserlesensten Weinen.

Dieser Job war wirklich gut: Kohle, Diebesgut und Wein. Der Traumjob schlechthin. So fuhr ich brav Tag für Tag mit dem Moped in meine Arbeit. Ich fühlte mich direkt reich, immerhin verdiente ich viermal soviel wie die meisten anderen aus unserer Clique. Die Tage waren aufregend und spannend, während die Abende immer öder wurden. Das lag daran, dass ein großer Teil unserer Gang zusehends dem Alkohol verfiel.

Nun fühlte ich mich schon nicht mehr so wohl in dieser Clique.

Alkohol trinken war schon ok, aber nicht jeden Tag. Mir schmeckte das Zeug sowieso nie. Natürlich hatte ich auch getrunken, aber mehr so als Mitläufer. Ich konnte zum Beispiel bis zu sechs Halbe Bier auf ex austrinken. Das schindete zwar Eindruck, brachte aber eine Menge Schwierigkeiten mit sich, da ich stets die Übersicht verlor und hinterher reinkippte, was ich in die Finger bekam. So landete ich eines Abends nach sechs Bieren auf ex und einigen Schnäpsen mit Alkoholvergiftung hinter einer Tankstelle. Meine Freunde trugen mich nach Hause, wo ich mir dann die Seele aus dem Leib kotzte, während meine Schwester Nachtwache an meinem Bett hielt.

Von da an stand ich nicht mehr so auf Alk.

Am meisten nervten ein paar Typen in unserer Gang, die tagtäglich damit prahlten, wie viele Flaschen Bier sie gekippt hatten. Alkohol trinken als Heldentat, damit konnte ich nichts anfangen. Für mich zählten andere Werte.

Mittlerweile fuhren schon einige Autos, manche mit Führerschein, manche ohne. Martin und Luigi teilten sich ein Auto; sie hatten beide keinen Führerschein. Und so ließ mich die Idee nicht mehr los, dass ich auch Auto fahren könnte. Vor den Cops davon zu fahren war ich sowieso schon gewöhnt, mit den ganzen illegalen Mopeds, die ich fuhr (ohne Zulassung, nicht ordnungsgemäß erworben, frisiert), und außerdem war ich sowieso noch zu jung um Moped zu fahren. Und da sah ich mich schon am Steuer eines Autos sitzen. Ich wollte es machen wie Karlo, nur sollte mein Auto heil bleiben.

Karlo hatte sich kurzerhand das Auto von seinem Vater geborgt, als er die Schlüssel in die Finger bekam, um Zigaretten aus dem Wagen zu holen. Dabei hatte sich die Gelegenheit für eine kleine Spritztour ergeben. Dummerweise fuhr er dann mit dem Auto zu schnell in eine Kurve und rasierte dabei ein paar Leitplanken ab – kompletter Seitenschaden. Karlo dachte sofort daran, seinem Vater die Story von einer Fahrerflucht zu verkaufen (quasi, jemand hätte den parkenden Wagen angefahren) damit wäre er aus dem Schneider gewesen. Blöd war nur, dass sich der Schaden an der Gehsteigseite befand. Ich denke, dass es da ’ne Menge Prügel gegeben hat, womit der Vater sonst schon nicht kleinlich war.

Meine Mama flog in den Urlaub. Jetzt musste ich es nur noch geschickt anstellen, um den Autoschlüssel zu ergattern. Dafür gab es zwei Möglichkeiten, die legale und die illegale (klauen), ich entschied mich für die legale: Mam war nämlich zum Teil etwas naiv und wenn sie etwas billig oder gar geschenkt bekommen konnte, war sie nicht mehr zu bremsen, da nahm sie alle Unannehmlichkeiten in Kauf. Anders ausgedrückt: Sie dachte einfach nicht daran.

Die Psyche meiner Mam lag wie ein ausgebreitetes Puzzle, welches ich auswendig kannte, vor mir. Ich wusste genau, wie ich sie herumkriegen konnte. So machte ich ihr den Vorschlag, den Kupplungsschaden an ihrem geliebten Auto – kostenlos – zu reparieren. Dieses Angebot war zu verlockend, da konnte sie nicht aus. Nach kurzer Überlegung und einiger fachlichen Hinweise von mir, was die Kupplung betraf, welche ich geschickt hinterher schob, hatte ich sie überzeugt und bekam den Schlüssel in die Hand gedrückt.

Juhu, während sie im fernen Spanien Sonne tankte, würde ich die ganze Zeit Auto fahren – wie geil!

Ich konnte es kaum erwarten, bis sie endlich abreiste. Jetzt kam das Spielchen »Guter Sohn«, um guten Willen zu zeigen, fing ich schon vorher mit der Reparatur an und innerhalb kürzester Zeit hatte ich den Motor zerlegt. Nun hatten sich bei Mama noch die letzten Zweifel verflüchtigt, weil der Bub so ein guter Mechaniker war.

Dann endlich war es soweit, Mama fuhr los. Noch schnell verabschieden (ich konnte auch nett sein, wenn ich wollte), immerhin hatte ich jetzt Größeres vor.

Kaum war sie weg, saß ich schon halb im Motorraum und schraubte in Windeseile den Motor wieder zusammen. Am Schluss blieben ein paar Schräubchen übrig, aber das war egal und ob die Kupplung rutschte, zählte auch nicht. Hauptsache, das Ding fuhr. In Gedanken sah ich mich schon bei den ganzen Freunden mit dem Auto vorbeifahren – ich – der Held. Gleich war es soweit und ich gehörte zu den ganz Großen, zu den Autofahrern. Ich nahm hinter dem Lenkrad Platz, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn langsam herum, der Anlasser biss sich in den Motor und – tschuk – tschuk – der Wagen sprang an, trotz der übriggebliebenen Teile. Das Auto knatterte und zitterte, und aus der Lüftung stank es nach verbranntem Öl und verschmorter Elektrik. Dann trat ich die Kupplung, legte den Gang ein und ließ die Kupplung langsam kommen. Das Auto setzte sich in Bewegung und fuhr mit mir durch die Einfahrt auf die Straße. Ich lenkte nach rechts und die Häuser der Nachbarn zogen langsam und dann immer schneller werdend vorbei. Vorne am Spielplatz war eine Kurve – die Geschwindigkeit war zu hoch! Die Häuser der Nachbarn flogen vorbei! Mein Puls schoss in die Höhe. Die Kurve! Ich zerrte am Lenkrad, Reifen quietschten – geschafft! Der Wagen fühlte sich an, als ob er auf Pudding fahren würde; immerhin war ich noch nie Auto gefahren, aber irgendwie musste man das ja lernen.

Die nächste Kurve kam; die musste ich unbedingt bekommen, geradeaus ging es auf die vollbefahrene Hauptstraße – wieder hing ich am Lenkrad, doch inzwischen war das Auto noch schneller geworden. Oh je, Gegenverkehr! Ausweichen! Die Straße war zu eng, die Lücke zu schmal! Bremsen! Mist, welches von den drei Pedalen war die Bremse – wo zum Teufel war das richtige Pedal? Zu spät!

Das Unglück nahm seinen Lauf: Ich sah gerade noch einen Mann, welcher vor dem Kofferraum seines Wagens stand und sich mit einem riesen Satz zur Seite rettete. Und schon krachte es.

Das Auto meiner Mama hing zusammengeschoben wie eine Ziehharmonika im Heck eines grauen Audi, der ebenso aussah.

Fürs Erste war ich gar nicht so geschockt, schließlich konnte ich alles reparieren, hatte ich doch jahrelang an meinen Mopeds rumgeschraubt. Nach der Devise: Angriff ist die beste Verteidigung, stieg ich aus dem Wagen und sagte: »Des kann man doch so regeln, oder?«

Der Typ gab keine Antwort und schien irgendwie baff.

Gut, ich war Mitglied einer Gang und im ganzen Viertel bekannt und berüchtigt, aber davon wusste der Mann anscheinend nichts. Er zückte bloß seinen Ausweis und ich dachte noch, was soll ich mit dem Ausweis, bis ich den Unterschied bemerkte. Es war ein Polizeiausweis. So ein Pech, ich war einem Polizeibeamten ins Auto gekracht, während dieser zur Mittagspause nach Hause gefahren war.

Mann-O-Mann, ein schlechter Verhandlungspartner. Natürlich musste er noch seine Kollegen rufen. Mittlerweile stand schon die ganze Nachbarschaft am Unfallort, blamabel, blamabel. Meine Versuche, die Situation zu entschärfen, in dem ich zum Beispiel einwandte: »Es war nur eine Reparaturprobefahrt«, blieben ohne Wirkung und so musste ich mit aufs Revier.

Polizei Revier Nummer 31. Das einzig Gute an der Polizei war, dass sie mich wie einen Erwachsenen und nicht wie ein Kind behandelten. Für die Polizei zählte nicht die Volljährigkeit, es war nur wichtig, dass man strafmündig war, dann konnten sie ihr Programm durchziehen. Über die Polizei wusste ich genau Bescheid. Die Bullen konnten nicht sagen »so wie du waren wir auch mal«, denn sie hatten in der Schule immer aufgepasst, hatten brav das gemacht, was die Erwachsenen von ihnen wollten. Von mir hatten die keine Ahnung. Ich war unbeugsam und frech, konnte Lügen erzählen, ohne mit der Wimper zu zucken, und darauf war ich stolz. Während sie dachten, sie hätten mich in der Mangel, ließ ich die Prozedur über mich ergehen und trat ihnen gedanklich ans Schienbein oder sonst wo hin. Ich wusste, dass sie mich wieder laufen lassen mussten.

Vor der Polizei hatte ich keine Angst. An sich waren sie ähnlich gestrickt wie wir, sie dachten, sie wären die Guten, und ihre Welt war wie die meine in zwei Lager geteilt. Ich dachte genauso, nur in meiner Welt waren sie auf der falschen Seite.

Die Polizei hatte sich langsam in mein Leben geschlichen: Einmal war ich mit dem Moped unterwegs gewesen und gerade mit ein paar Freunden zusammen an der Straße gestanden. Dabei gerieten wir in eine Polizeikontrolle. Irgendwie hatte die Kontrolle in Form eines Motorradpolizisten mich auserkoren. Der freundliche Herr in Uniform meinte: »Papiere« und zeigte mit dem Finger auf meinen fahrbaren Untersatz. Brenzlige Situation, das Moped war zwar nicht geklaut, aber irgendwie doch. Es bestand aus den Einzelteilen von mindestens drei geklauten Mopeds. Nur der Rahmen war legal, aber dazu gab es auch keine Papiere, denn die waren verloren. Außerdem war ich zu jung, um so ein Ding zu fahren, und überhaupt hatte ich keinen Führerschein. So sagte ich: »Ich hab alles vergessen, zu Hause.« Der Bulle dachte nach – Stress oder keinen Stress – stieg dann einfach von seiner Maschine ab und ließ mir die Luft aus dem Reifen, dann setzte er sich wieder auf sein Motorrad und fuhr davon. Die Freunde hatten ihren obligatorischen Lachanfall und ich stand mit einem Platten da.

Ein andermal sah ich zwei Typen in meinem Garten rumsteuern, die alle Mopedteile untersuchten und sich dabei die Fahrgestellnummern notierten. Sie hatten es nicht einmal für nötig befunden zu klingeln.

Jetzt saß ich also zum ersten Mal mitten im feindlichen Lager, einem Polizeirevier. Da wimmelte es nur so von Polizisten. Ich erklärte dem Herrn, der mir gegenüber an der schwarzen Schreibmaschine saß und im Zwei-Finger-Suchsystem meine Aussage zu Papier brachte, dass man bei einer Autoreparatur ohne die Probefahrt nicht umhin kommt. Er zeigte sich aber mehr an anderen Dingen interessiert! So wollte er wissen, was ich sonst so treibe und ob ich zu dieser Clique gehörte. Nach und nach wurde er dann immer neugieriger und es ging mehr um geklaute Mopeds und aufgebrochene Automaten als um meine Autofahrt. Da konnte ich ihm leider nicht behilflich sein. Als Neuaubinger hatte man seinen Ehrenkodex und so leicht wurde ich nicht zum Verräter.

Nachdem er mit der Befragung fertig war, fuhren sie mich wieder nach Hause und übergaben mich dort meiner Oma, welche mit uns im Haus lebte. Die Oma verhielt sich mir gegenüber liberal und schluckte offensichtlich die Geschichte von der Testfahrt. Insgeheim hoffte sie bestimmt, Mam würde nun endlich etwas gegen meine Ausschweifungen unternehmen, die den restlichen Familienmitgliedern ein Dorn im Auge waren.

Das Auto war mittlerweile von Freunden und Nachbarn auf unseren Hof geschoben worden und wurde nun genauestens inspiziert. Glücklicherweise hatten ein paar Freunde eine Mechanikerlehre begonnen und so fingen wir noch am selben Tag mit der Reparatur des Wagens an.

Das Schrauben und Reparieren machte richtiggehend Spaß und Mams Auto nahm wieder Formen an. Zwar wollte die linke Seite partout nicht der rechten gleichen und der Scheinwerfer leuchtete nun in eine ganz andere Richtung, aber dennoch war ich richtig stolz auf meine Arbeit. Zumindest konnte ich meiner Mama so das Auto wieder präsentieren. Von Weitem sah man fast gar nichts von dem Unfallschaden, nur bei genauerem Hinsehen fiel der Kotflügel etwas wellig aus und mit der Kupplung war auch noch nichts passiert, aber immerhin wurde das Auto bis zu Mams Rückkehr fertig.

Für Mama war wirtschaftlicher Schaden das Schlimmste; dass ich ohne Führerschein Auto gefahren war, wog nicht so sehr, nur der etwas verknitterte Wagen stieß ihr unangenehm auf. Ich versprach ihr einige Nachbesserungen und es dauerte noch eine Zeit, bis sich der Hausfrieden wieder einstellte.

Mir gefiel es, viele Freunde um mich zu haben, und da wir ein Häuschen mit Garten besaßen, in dem auch noch ein Schuppen stand, kam ich auf die Idee, dort einen Clubraum für unsere Gang einzurichten. So beschlagnahmte ich kurzerhand den Schuppen. Obligatorisch wurde natürlich das Ok von meiner Oma eingeholt; meinem Charme konnte keiner widerstehen. Da war ich dann auch mal nett. Außerdem wusste jeder, dass ich mir auch so nehmen würde, was ich sonst nicht bekam. Omi gab ihren Segen und wir zogen mit Mann und Alkohol in unseren neuen Clubraum.

In dem Schuppen feierten wir wilde Partys. Meine Oma hat mal fünfzig Leute gezählt. Fünfzig der schlimmsten Jugendlichen der ganzen Gegend. Die Einfahrt war voll mit Mopeds. Von den Nachbarn traute sich keiner mehr, etwas zu sagen, die hatten alle Angst vor uns.

Wir betranken uns fast täglich und zogen dann randalierend durch die Gegend. Manchmal setzten wir uns auch in Kneipen und machten dort Randale. Zeitweise war es auch schwierig, zusammen in ein und dieselbe Kneipe zu gehen, der eine hatte hier Hausverbot und der andere dort.

Ich hatte sogar einmal den denkwürdigen Rekord geschafft, dass ich in allen Lokalen unseres Viertels Hausverbot hatte. Aber die Wirte waren immer wieder schnell versöhnlich, denn wenn wir wegblieben, blieb auch ein guter Teil von ihrem Umsatz aus.

Einmal fand ich auf unserem Speicher einen Koffer mit alten Medikamenten! Sie mussten schon sehr lange dort oben gelegen haben. Wahrscheinlich waren sie von meinem Onkel liegen geblieben.

Auf einer Flasche mit weißem Pulver stand in dicken Druckbuchstaben »Morphium«. Der Koffer wurde sofort in unseren Clubraum getragen und zur nächsten Party eingesetzt.

Luigi hatte die Idee, die Mädchen mit den gefundenen Medikamenten in Sexstimmung zu bringen. Zur Umsetzung unseres Plans holten wir uns noch Michi zu Hilfe, der wusste immer, wo’s lang ging.

Als erstes präparierten wir dann eine Colaflasche, dieser mixten wir so nach Gefühl einige Medikamente bei. Etwas hiervon und etwas davon, von dort noch schnell zwei Tabletten zerstampft und ein bisschen von dem Fläschchen mit dem Morphium dazu. Ja, so musste es gehen. Alles verteilt auf eine 1-Literflasche Cola. Und damit unsere Spezialflasche nicht mit den normalen Colaflaschen verwechselt werden konnte, versahen wir sie mit einer unscheinbaren Markierung am Etikett.

Im Clubraum befand sich auch ein Stapel Pornoheftchen. Die waren genau richtig, um die Wände zu dekorieren. Ich pappte die Pornos an die Wand. Michi schraubte noch ein paar rote Glühbirnen in die Fassungen an der Decke und Luigi schleppte von überall her Matratzen an.

So sah es wirklich lustig aus. In kürzester Zeit hatten wir uns unser eigenes Bordell geschaffen! Jetzt mussten wir nur noch zusehen, dass die Mädchen auch in Stimmung kamen. In puncto Sex waren wir noch nicht so erfahren, aber das würde ja jetzt unser Spezial-Drink erledigen.

Zur Puff-Party wurden dann die hübschesten Mädchen der ganzen Gegend eingeladen.

Dann war es endlich soweit und unsere Party begann.

Wir drängten uns zu dritt hinter der Bar und jeder war ganz erpicht darauf, die Mädchen zu bedienen.

Natürlich hatten wir im Vorfeld abgewogen, welche Mädchen nett waren und hübsch genug aussahen, damit wir sie mit unserer Spezial-Cola bedenken konnten. Schließlich wollten wir unseren Liebestrank nicht sinnlos verschwenden.

Wir waren derart im vorfreudigen Frauentaumel, dass wir uns nur noch gegenseitig angrinsten. Und aus dem ganzen Spaß heraus machten wir ein paar Eigentests. Sollte ja niemand vergiftet werden. Dazu tranken wir dann noch ein paar Whiskycola, Wodka und all so Zeugs und schon wurde es immer schwieriger, unsere Spezial-Cola im Party-Chaos zu finden.

Die Colas sahen alle gleich aus. Inzwischen waren auch noch bei zwei weiteren Flaschen die Etiketten beschädigt. Michi meinte: »Die is es.« Ich hatte da eine andere im Auge und beharrte darauf: »Nein, die muss es sein.« Und Luigi nahm Michi einfach die Flasche aus der Hand und trank einen tiefen Schluck daraus: »Das ist sie«, triumphierte er. Unsere Gesuchte war etwas bitterer im Geschmack. Michi und ich mussten uns auch noch einmal überzeugen. »Oh ja, ok.« So ging das die ganze Zeit. Pro Mädchen und Cola waren wir ständig am Nippen.

Einige Zeit später wirkte das Zeug bereits, nur nicht bei den Mädchen, sondern bei uns! Wir waren derart dicht, dass es schlimmer nicht mehr ging. Michi lag hinter der Bar, grinste und streckte alle Viere von sich. Luigi lag quer über ihm und auch sein Gesicht zeigte ein Lächeln an. Ich ließ mich nach draußen tragen, grinste und kotzte.

Bis man sich von so einem Gelage erholt hatte, dauerte es eine Zeit.

Alles in Allem war unsere Party dennoch ein guter Erfolg und die Geschichten darüber machten noch lange die Runde in unserem Viertel. Insbesondere wurde der Spezial-Drink hervorgehoben, ein Aphrodisiakum der ganz besonderen Art.

Mein Job beim Wein ausfahren war wirklich gut, aber dennoch überkam mich von Zeit zu Zeit diese Arbeitsunlust. Und so schob ich immer ein paar Krankheitstage dazwischen. Nachdem ich dann wieder einmal übertrieben hatte und schon einige Wochen krank-feierte, wollte mich der Chef nicht mehr haben. Er rief an und meinte, dass er nun eine feste Tour fahre und dabei keinen Beifahrer mehr gebrauchen könne. Jetzt war ich wieder arbeitslos.

Wir schrieben das Jahr 1978.

Arbeit gab es wie Sand am Meer und genau so viele Möglichkeiten nicht zu arbeiten auch. Die meisten Jobs, die angeboten wurden, waren so richtige Buckel-Jobs auf Baustellen, wo man sich mit Schubkarren und Steine schleppen abmühen musste. Damals genoss der Arbeitnehmer noch einen Kündigungsschutz vom ersten Tag des Arbeitsverhältnisses an, mit inbegriffen schon die erste Sekunde auf dem Weg zur Arbeit.

Dies war der ideale Faktor für unser Löffelprogramm, und Frau Dr. M. kam auch wieder zum Einsatz. Es ging ganz einfach: Ich bewarb mich, unterschrieb den Arbeitsvertrag und danach fuhr ich zum Doktor. Das hieß im Klartext: Kohle für mindestes zwei Monate pro Job. Der Aufwand war gering, man musste lediglich alle zwei Wochen zum Arzt und sich mit einer neuen Krankschreibung versorgen. Wer wollte, konnte ja den ganzen Tag Kies schaufeln, aber ich hatte mein eigenes Arbeitslosenprogramm.

Mir wurde die Welt der Erwachsenen immer unverständlicher. Sie gingen schuften und träumten vom richtigen Leben, während ihre Chefs immer reicher wurden. Nur weil sie zu feige waren und sich nichts zutrauten, konnten sie im Leben nicht glücklich werden. Ich traute mich und stellte fest, dass man ganz legal Geld verdienen konnte, ohne zu arbeiten.

Die erste Firma empfahl mir Martin. Wir sollten dort Kohle schaufeln, die Bezahlung war gar nicht schlecht. Geschaufelt habe ich nie, aber kassiert. Ich fuhr hin, unterschrieb den Arbeitsvertrag und fuhr dann gleich weiter zum Doktor. Offiziell war ich im Bus auf dem Weg zur Arbeit gestolpert und hatte mir dabei eine Prellung an der linken Hand zugezogen. Beim Krankmelden waren nur die Anrufe in der Firma etwas leidig, insbesondere wenn man mit dem Chef verbunden wurde – der Arme!

Doch einen Haken gab es ja überall und dieser war noch zu verkraften.

Das neue Leben gefiel mir gut. Das Einzige, was noch stresste, waren die Arztbesuche, aber notfalls schrieb uns Frau Dr. M. auch rückwirkend krank. Mittlerweile hatten die meisten meiner Freunde ihre Lehrstelle wieder hingeschmissen. So im Ganzen wussten wir nicht viel mit uns anzufangen. Außer Alkoholtrinken und irgendeinen Blödsinn zu veranstalten, fiel uns in der Regel nichts ein. So kam auch die folgende Geschichte zustande:

Wir zogen wieder einmal von einer Kneipe zur nächsten, und als wir gerade die letzte Kneipe verließen, waren wir alle – sieben Jungs und ein Mädchen – schon ziemlich betrunken. Wir fühlten uns stark, mächtig stark, und zogen randalierend durchs Viertel. Dabei hängten wir uns an ein Verkehrsschild, verbogen es und demolierten noch ein paar Sachen wie Zigarettenautomaten, Autos, Vorgartenpflanzen und so weiter, als uns ein Mann mit einem kleinen Hund auffiel, der uns in geringem Abstand folgte. Es war einer von diesen Hausmeistertypen, die ähnlich gestrickt waren wie die Bullen. Wenn man bei der Polizei nicht genommen wurde, konnte man es noch immer als Hausmeister versuchen. Hausmeister war ein reiner Überwachungsberuf: Hier nicht gehen, da nicht parken und dort nicht spielen. Der Wichtigmacherjob schlechthin. Und genau so ein Typ hatte sich an unsere Fersen geheftet. Hausmeister waren nicht sehr klug, unser Verfolger auch nicht. Als wir um die nächste Straßenecke bogen, lauerten wir ihm auf. Dann ging alles sehr schnell: Pit hatte die Führung übernommen und drosch ein paar Mal mit seinen Cowboystiefeln zu, danach schlug jeder von uns rein. Ich trat etwas verhalten zu, erstens lag der Typ schon am Boden und dann war ich nicht so der Schläger. Außerdem war ich viel zu aufgeregt. Pit drosch rein, als wenn es um irgendetwas gehen würde. Endlich wollten wir weiterziehen, und als wir dann schon ein paar Meter entfernt waren, stand der Typ wieder auf, rüttelte an einem Zaun, zog eine Latte heraus und schleuderte sie in unsere Richtung. Das Ding zischte knapp an Michis Freundin vorbei. Wir machten kehrt, allen voran Pit. Er sprintete auf den Typen zu, riss ihn zu Boden, packte ihn an den Haaren und schoss ihm mit einer Neun-Millimeter-Gaspistole aus nächster Nähe ins Gesicht. Es krachte zweimal – dann liefen wir, ohne anzuhalten durchs ganze Hochhausviertel bis zu mir. Mein Zimmer lag im Keller, dort verbarrikadierten wir uns erst einmal.

Ich bekam fast keine Luft mehr, so schnell waren wir gerannt. Die Situation war einfach eskaliert. Alle waren ziemlich aufgeregt und quatschten wild durcheinander. Die Tat hatte uns geschockt und fasziniert zugleich. Nun waren wir die Wildesten! Diese Geschichte würde sich in Neuaubing rumsprechen und wir würden der anderen Gang den Rang ablaufen.

Als sich die Aufregung wieder etwas gelegt hatte, meinte Marcel: »Gehen wir ins Reischer, was trinken.« Kaum hatte er es ausgesprochen, bekam ich sofort ein flaues Gefühl im Magen, als ob ich einen schweren Stein verschluckt hätte, und wandte ein: »Bleiben wir noch da, hier sind wir sicher.« Die Anderen wollten losziehen, ein Bier trinken gehen. Trotz meiner vorherigen Einwände ging ich mit.

Das Café Reischer war die Alkkneipe schlechthin, wer hier verkehrte, konnte einiges an Alkohol vertragen und wir waren fast täglich dort zu finden.

Gleich, als wir angekommen waren, erschien es uns schon etwas seltsam. Die Bedienung hatte gar nicht die Absicht, unsere bestellten Getränke zu bringen und bis wir merkten, wie der Hase läuft (die Bedienung hatte sich mit der Polizei kurzgeschlossen), war es zu spät.

Jetzt hatte auch Marcel bemerkt, dass hier etwas nicht stimmte. Wir waren gerade im Begriff, den Laden wieder zu verlassen und schon durch die Tür, als draußen ein paar Polizeiwagen und ein grünweißer Bus mit Blaulicht vorfuhren. Marcel wollte noch davonlaufen, aber irgendwie schienen seine Beine wie gelähmt, und die Cops hatten ihn gleich eingeholt. Dann hieß es Arme hoch und ans Polizeiauto lehnen. Sie durchsuchten uns nach Waffen. Als Pit dran kam, fanden sie den Revolver. Im Nu bekamen wir alle Handschellen angelegt und wurden ins Polizeiauto verfrachtet.

Mist, jetzt war es schiefgelaufen!

Zuerst fuhren sie mit uns ins Krankenhaus zur Gegenüberstellung.

Das Hausmeisteropfer wurde im Rollstuhl vorgefahren, sein Gesicht war schwarz gesprenkelt, jedoch verriet der Gesichtsausdruck Freude über die Wendung der Geschichte. Immer wenn er uns ansah, flog ein hämisches Grinsen über sein Gesicht, und wenn er dann wieder zu den Bullen rübersah, fuhr er seine Mitleidstour. Am liebsten wäre er wohl am Boden entlang gekrochen, damit jeder sehen konnte, wie schlimm es ihm ergangen war. Leid tat er mir nicht. Was musste er sich auch so wichtig machen und uns nachschleichen?

Wie er mich wiedererkennen konnte, war mir schleierhaft, denn ich hatte doch nur zweimal zugetreten und wir waren zu acht gewesen.

Als nächstes wurde ich dann ins Polizeirevier Nummer einunddreißig gefahren. Aufs Verhören waren sie diesmal gar nicht so scharf, schließlich hatten sie ja schon genügend Beweismaterial gegen mich in der Hand. So wurde ich nur einer kurzen Befragung unterzogen und dann in eine Zelle gesteckt.

Eigentlich war das ja alles zum Heulen: Ich war fünfzehn Jahre alt und saß nun in dieser blöden Zelle vom Einunddreißiger-Revier. Aber ans Heulen dachte ich nicht im Entferntesten. Die Umgebung wirkte wie ein Film auf mich und tausend Gedanken flogen durch meinen Kopf.

Was war mit den Anderen? Wieso war ich Arsch nicht zu Hause geblieben? Im nächsten Moment ging schon die Türe auf und ich bekam die Handschellen wieder angelegt. Der Bulle forderte mich auf mitzukommen. Diesmal ging es durch die Hoftüre ins Freie. Im Innenhof wartete schon ein Kollege im Auto.

Ich musste mich nach hinten setzen, die Hände mit den Handschellen auf dem Rücken fixiert. Auf meine Frage, wohin es gehe, bekam ich die knappe Antwort: »In die Ettstraße.«

Das ging mir eindeutig zu weit. In die Ettstraße (Münchens größtem Polizeirevier) wurden weitaus größere Kaliber als ich gefahren. Was sollte ich da zu suchen haben? Schließlich hatte ich den Typen ja nicht niedergeschossen. Lauthals machte ich meiner Wut Luft – um richtige Verbrecher zu fangen, wären sie viel zu blöde, aber kleine, fünfzehnjährige Jungen einsperren, das könnten sie schon! Darüber regte sich der Fahrer-Cop so auf, dass er mir androhte: »Wenn’st jetzt nicht still bist, fahren wir mit dir in den Wald.« Was das zu bedeuten hatte, konnte ich mir vorstellen, und für ein paar Minuten gab ich Ruhe. Still und heimlich fädelte ich meine Füße durch die gefesselten Hände. In mir regte sich der Widerstand, so leicht ließ ich mich nicht einschüchtern.

Als mir dann die Türe zum Aussteigen geöffnet wurde, waren meine Hände nicht mehr hinter dem Rücken gefesselt, sondern vorne am Bauch.

Ich stand im Innenhof des Polizeigefängnisses Ettstraße. Der Bau sah nicht gerade sehr einladend aus.

Drinnen folgte die Erkennungsdienstliche Behandlung: Als erstes musste ich meine Finger in ein Stempelkissen drücken und dann sauber auf einem vorgedruckten Blatt Papier abrollen »Klavierspielen«. Danach kam ich zum Fotografieren und zuletzt wurde ich noch gewogen und vermessen, wobei sie mir die Schnürsenkel und den Gürtel abnahmen. Jetzt führten sie mich über lange Gänge in eine Zelle.

Die schwere Zellentüre flog hinter mir ins Schloss. Und dann stand ich in einem riesigen Raum mit mindestens noch zwanzig anderen Männern. Die Zelle hinterließ einen üblen Eindruck. Die Wände waren gewiss schon Jahre nicht mehr gestrichen worden. Überall hatten sich die Gefangenen auf dem vergilbten Weiß mit ihrem Namen verewigt.

Die Spießbürgerwelt hatte für alles Farbe, aber nicht für ihre Gefängnisse. Man brauchte nur einen Blick hinter die saubere Fassade zu werfen, um zu begreifen, was wirklich war.

Und hier war es wirklich, verdammt wirklich. Es stank nach Schweiß und Urin. Kein Wunder, denn sie hatten vergessen, um die Toilettenschüssel eine Mauer zu bauen. Die Toilettenschüssel stand, nur mit einer dürftigen Abdeckung versehen, welche oben und unten zu kurz ausgefallen war, offen im Raum an der mir gegenüberliegenden Wand.

Es gab so viele Gesetze, warum keines gegen solche Toiletten? Diese hier stellte an sich schon eine Körperverletzung dar.

Zum Sitzen waren zwar Bänke an den Wänden angebracht, aber fast alle Insassen liefen wie von unsichtbaren Fäden gezogen durch die Zelle. Manche murmelten Beschwörungsformeln vor sich hin, andere waren still in sich gekehrt. Unrasierte, gebeugte Gestalten, die sich den Kopf darüber zermarterten, wie sie hier wieder herauskommen sollten. Mir wurde schon Gaga nur durchs Zusehen. Die Meisten sahen eher bemitleidenswert aus, sie waren die Verlierer der Spießbürgerwelt. Hier saßen unter anderem Leute wegen Schwarzfahren und Kaufhausdiebstahl. Ohne festen Wohnsitz landete man ganz schnell hinter Gittern.

Ich schnorrte mir eine Zigarette, setzte mich seitlich an die Wand anlehnend, auf die Bank und sog den Rauch ein. Heute war mein fünfzehnter Geburtstag. Meine Geburtstage waren nie recht toll gewesen, aber dass ich an meinem Geburtstag im Knast sitzen musste, stimmte mich etwas melancholisch. Gut, ich war Neuaubinger, ein kleiner Gangster und Revoluzzer und die oberste Regel besagte einfach: Nie erwischen lassen! Und genau das war passiert, und jetzt hatten sie mich wegen dieser Scheiß-Hausmeistergeschichte, die ich eh nicht wollte, am Arsch. Was für eine Scheiße!

Ich vertrieb mir die Zeit und suchte an den Wänden nach bekannten Größen aus der Rockerszene. Hier mussten sie auch schon alle gesessen haben, meine Vorbilder aus Neuaubing Ronaldo, Timmi, Eric – und all die anderen. Da standen einige mit ihrem Namen und ihrer Gang: Black Spider, Hells Angels, Valley und Warriors Neuaubing. Insgeheim hätte ich schon gerne zur anderen Clique in Neuaubing gehört.

Mir kam es so vor, als wäre die Zeit an einem Gummiband aufgespannt und wollte sich nun endlos in die Länge ziehen. Sie stand fast still. Einzig der Wachtel (ein Beamter) schien sie nach vorne zu treiben. Jedes Mal, wenn er in der Türe auftauchte, holte er jemanden ab und brachte ihn vor den Haftrichter. Einige davon kamen wieder zurück und hatten dann entweder einen rosa oder einen gelben Zettel in der Hand. Mit dem rosa Schein ging es in die Freiheit und mit dem gelben in den Knast.

Meine Freunde mussten irgendwo anders gelandet sein. Ich hängte mich ans Fenster, das in zwei Meter Höhe angebracht war, und rief leise: »Hey Marcel! … Hey Marceeeel!« Nach einer Zeit kam endlich von unten: »Alex?«

Marcel musste ein Stockwerk schräg unter mir gelandet sein und ich war heilfroh, als ich seine Stimme vernahm. »Wo sind denn die anderen?« fragte ich. »Keine Ahnung«, kam es zurück. »Vielleicht sitzen die schon in Stadelheim!« Dann erzählte ich ihm von dem Zettelsystem. Wir konnten nur hoffen, dass wir auch einen rosa Zettel bekamen. Die Zellentüre schwang wieder auf und ich musste weg vom Fenster.

An diesem Tag tat sich gar nichts mehr. Ich hängte mich noch ein paar Mal ans Fenster und unterhielt mich mit Marcel, was aber sehr anstrengend war, da man sich beim Abstützen die Ellenbogen aufrieb.

Hier war eben das Gefängnis, da waren Unterhaltungen zwischen den Stockwerken nicht nur unerwünscht sondern verboten.

Irgendwann ging die Türe wieder auf und wir wurden zum Schlafen in eine andere Zelle geführt. Vorher hatten sie noch Matratzen verteilt (die wurden nämlich am Tag verräumt.) Was sollte das wieder? Warum durfte man es sich nicht auch untertags bequem machen? Ich trug die Matratze zu einer Holzpritsche, warf sie darauf und legte mich hin. Dann starrte ich Kreise an die Decke. Bisher war ich nicht einmal auf der Toilette gewesen. Ich musste zwar bloß Wasser lassen, aber wie sah denn das aus? Man pisste doch auch nicht bei anderen Leuten ins Wohnzimmer! Die Toilette der Schlafzelle stand zwar wenigstens in einer Ecke, jedoch genauso ohne Mauer. Ich wartete bis drei Uhr nachts, dann schlich ich mich meine Blase entleeren.

Am nächsten Morgen zog der ganze Tross mit den Pennern, Kleinkriminellen und mir zurück in die große Toiletten-Zelle. Zuvor hatten wir noch unsere Matratzen abgeben müssen. Dann kamen zwei Beamte und verteilten Kaffee und Semmeln. Zwei Gummisemmeln und ein etwas süßlich schmeckendes braunes Spülwasser. Mit dabei stand wieder derselbe Gefängnisbeamte wie gestern, welcher mich hierher gebracht hatte und weswegen ich jetzt ohne Schnürsenkel und Gürtel dastand. Wie konnte der reinen Gewissens dieses Gesöff verteilen?

Da steckte doch System dahinter! Toilette, Matratzen und Semmeln konnte ich noch verkraften, aber das mit dem Kaffee nicht. Dabei kamen mir Rachegelüste. In Gedanken malte ich mir aus, wie ich den Gefängnisbeamten zu mir nach Neuaubing einlud, am besten noch in seiner Uniform, zur anderen Gang. Die hätten ihn vielleicht an einen Zahnarztstuhl geschnallt, und solange mit Kaffee und Semmeln traktiert, bis er Besserung schwor.

Dann setzte ich mich, biss gedankenabwesend in die Kaugummi-Semmel und legte mir meine Strategie zurecht – ich wollte mich still verhalten und auf unschuldig machen, das war die richtige Taktik. Ich hatte mit der ganzen Geschichte nichts zu tun und war nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

Danach wieder endloses Warten. Zwischendrin ein paar Lebensgeschichten von den straffällig gewordenen Pennern, welche mit mir die Zelle teilten. Von der Frau verlassen, den Job gekündigt und von der Spießbürgerwelt ausgekotzt. Im Nu war man Penner und landete noch zu allem Überfluss im Knast. Immerhin hatten die Penner aber ihre Geschichten, während so ein grausiges Spießbürgerleben kaum für Gesprächsstoff sorgte.

Gegen Mittag wurde dann mein Name aufgerufen. An der Zellentür nahm mich ein Beamter in Empfang und ich folgte ihm in sein Büro. Er stellte sich vor, ließ mich Platz nehmen und erzählte, er sei ein guter Freund von meinem Vater. Als ich noch klein war, hätte er uns oft besucht, und nun zeigte er sich traurig darüber, dass der Kontakt zu meinem Vater abgerissen war. Dann meinte er: »Ich habe bereits mit dem Richter gesprochen, du darfst nach Hause.« Er brachte mich noch bis zur Türe und ich ging in die Freiheit.

Draußen holte ich erst einmal tief Luft.

Über die wiedergewonnene Freiheit war ich froh, trotzdem schämte ich mich dem Beamten gegenüber. In diesem Moment hätte ich gern ein besseres Bild abgegeben. Ich wollte, dass mein Vater stolz auf mich sein konnte, aber stattdessen musste ich seinem Freund im Polizeigefängnis über den Weg laufen.

Am nächsten Samstag klingelte es an unserer Gartentüre. Es war etwa neun Uhr vormittags. Verschlafen schaute ich durchs Fenster. Schock! Da draußen stand der Gefängnisbeamte mit seinem Sohn. Schlagartig war ich wach geworden. Dann sah ich mich um. Mann o Mann, ich wollte doch eigentlich der liebe brave Junge sein, den Typ konnte ich unmöglich reinlassen. Hier fiel es mir zum ersten Mal auf: Ich war asozial! Mein Blick schweifte umher, über die Couch im Wohnzimmer, auf der ich lebte. Dann der Tisch unaufgeräumt davor, darauf Essensreste von meinen allabendlichen Partys, alte Milchtüten, teils mit etwas Inhalt, schmutziges Geschirr, überall ausgedrückte Zigarettenkippen und leere Zigarettenschachteln. Zu guter Letzt noch jede Menge Alkoholika und offene Bierflaschen mit Kippen drinnen. Mindestens sechs Flaschen Schnaps – vom übelsten Apfelkorn bis zum Batida de Coco, den ich mir schon zum Aufstehen einverleibte. Rundherum im Zimmer lag schmutzige Wäsche verteilt. Gammelnde Socken hingen über Stühlen, dreckige Jeans und Unterwäsche lagen zu mehreren Haufen getürmt am Boden. Die Küche war unbetretbar, selbst Eingeweihten war es ein Gräuel mich zu besuchen. Seitdem ich zum Rocker mutiert war, war aus mir ein kleines Monster geworden, das nun mit in dieser Familie lebte. Aber da draußen stand dieser Biedermann mit seinem wohlerzogenen Sohn. Die konnte ich unmöglich reinbitten. Was tun? Ich hatte keine Ahnung. Inzwischen war meine Mama aufgewacht, die Rettung für mich. Sollte sie aufmachen und ihn wieder abwimmeln. Meine Mama ging raus, während ich mich ein paar Schritte hinter ihr hielt und den Typen über ihre Schulter begrüßte. Er wollte gar nicht hereinkommen, sondern übergab nur ein Kuvert und meinte, dass er leider nicht mehr für uns tun könne. Dann gingen sie. In dem Kuvert befanden sich drei Hunderter, für unsere Verhältnisse war das nicht wenig. Obwohl sie gegangen waren, fühlte ich mich gar nicht wohl. Auch ohne Worte war klar geworden, dass es ihm Leid tat, dass uns mein Vater im Stich gelassen hatte, und irgendwie hatte er bemerkt, dass bei mir Hopfen und Malz verloren waren. Wahrscheinlich konnte er sich vorstellen, wie ich lebte, auch ohne mein Wohnzimmer gesehen zu haben. In mir machte sich ein schlechtes Gewissen breit. Vielleicht sollte ich mein Leben ändern und lieber kein Verbrecher werden, für meinen Vater und all jene, die Mitleid mit mir hatten, weil ich so ein schlimmer Junge geworden bin. Bis jetzt war schon ziemlich viel gelaufen. Fünfzehnjährige Jungs waren nicht tätowiert – nicht 1978 – und Ohrringe hatte man auch nicht.

Doch das größte Hindernis stellte mein Zeugnis dar. Die Tattoos konnte man verbergen, aber ohne Zeugnis ging’s nicht, denn um anständig zu werden, musste ich eine Lehre beginnen. Ganz klar: Lehrling- Bieder- Saubermann. Wenn es die anderen glücklich machte, ok. Ich schrieb Bewerbungen, Traumberuf KFZ-Mechaniker. Dann klapperte ich alle Autowerkstätten in der Umgebung ab, ergebnislos. Zuletzt versuchte ich es noch als Fotolaborant und Fotoassistent und Blabla bla und Blablabla. Mit diesem Zeugnis ging gar nichts. Da blieben mir nur noch die Idiotenjobs wie Maurer – Bauberufe; da hätten sie auch Ochsen eingestellt – Dachdecker und Spengler.

Eines Tages stach mir beim Zeitunglesen ein kleingedrucktes Inserat ins Auge. Lehrstellenangebot zum Spengler, stand da. Ich rief an und sollte gleich vorbeikommen.

Als ich die enge Straße zu der mir beschriebenen Adresse einbog, sah ich schon zwei bekannte Gesichter, die gerade einen Lastwagen abluden. Robbi und Fritz waren von der Zigeunergang. Die Zigeuner waren eine kleine, eingeschworene Gemeinde, die sich am Rande von Neuaubing niedergelassen hatte. Wir machten immer einen Riesenbogen um deren Viertel und die obere Gang genauso. Es gab wenig Geschichten über diese Leute, aber die, die es gab, waren derart haarsträubend, dass sich nur Irre oder Lebensmüde in deren Territorium wagten. Ich war ganz froh, als sie mich begrüßten, denn wenn sie mit einem redeten, konnte man sich etwas sicherer fühlen. Robby und Fritz unterhielten sich ganz nett mit mir, unsere Gang war ja momentan in Neuaubing berühmt. Die Angst schmolz dahin und alles war ok. Heute wollten wohl alle aus Neuaubing eine Lehrstelle. Doch die Sache klärte sich gleich auf. Robby und Fritz waren genauso erwischt worden wie ich und bei der Gerichtsverhandlung wurde ihnen die Lehrstelle zur Bewährungsauflage gemacht.

Der Chef tat mir jetzt schon Leid, die würden den doch auf kleiner Flamme gar kochen!

Ich klingelte an der Türe des Einfamilienhäuschens, und ein rundlicher kleiner Mann mit Kartoffelnase öffnete und stellte sich mir vor: »Hallo i bin da Schlosinger«.

Er winkte mich herein, bot mir einen Platz an und meinte: »Es tut mir leid, aber ich habe jetzt schon zwei Lehrlinge eingestellt, die wollten nur zusammen arbeiten.« Ich grinste – dachte mir, oh Gott – und der Meister meinte weiter: »Vielleicht kann mein Kollege noch einen Lehrling gebrauchen.« Und schon hatte er sein Telefon zur Hand und wählte dessen Nummer. Meister Schlosinger fragte ins Telefon und sagte dann lachend zu mir: »Das klappt!« Dann kritzelte er noch die Adresse auf einen Zettel und bestand darauf, dass ich am nächsten Tag um neun Uhr dort sein solle.

Am nächsten Morgen machte ich mich mit dem Zettel in der Hand auf den Weg.

Es ging in die Innenstadt, direkt in die Nähe des Hauptbahnhofs. Die Firma, in der ich mich vorstellen sollte, lag im Keller eines mächtig wirkenden alten Hauses. Die Fassade war in einem kräftigen Rot gehalten und die Fensterrahmen stachen in Weiß daraus hervor. Ich folgte den paar Backsteinstufen hinunter durch die offenstehende Türe in die Werkstatt. Ein Mann war gerade am Arbeiten. Ich sagte etwas schüchtern: »Grüß Gott, ich bin der Alex, der Herr Schlosinger schickt mich.« Der Mann, der wohl der Meister war, drehte sich um und meinte: »Aha, Schlosinger hat mir schon Bescheidgegeben, dann komm mal mit!« Ich folgte ihm in sein Büro. »Und du willst Spengler werden?« fragte er. »Ja, genau«, meinte ich. Was man so als Spengler tun musste, war mir egal, ich wollte den Ausbildungsvertrag, die Lebensveränderung in Schwarz auf Weiß.

Als ich ging, gab mir der Meister den Ausbildungsvertrag in einem Briefumschlag, mit auf den Weg nach Hause. Ich trug ihn ganz sorgfältig. Mama musste noch ihre Unterschrift daruntersetzen und am Montag sollte es schon losgehen.

Der Heroin Schuster

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