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ОглавлениеWege und Umwege. 1776–1808
Diese Stadt gibt es nicht mehr. Das Königsberg, in das Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann am 24. Januar 1776 geboren wurde, existiert nicht länger. Das Königsberg, in dem der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) 53-jährig als Denk-Metronom durch die Stadt schritt – die Kaufleute konnten nach seinem präzisen Tagesablauf die Uhr stellen. Wie so viele andere Orte ging auch das alte Königsberg im Zweiten Weltkrieg zugrunde.
Die Stadt, in deren Schlosskirche sich 1701 der brandenburgische Kurfürst zum König in Preußen gekrönt hatte und in der Hoffmann ein Dreivierteljahrhundert später seine ersten zwanzig Lebensjahre zubrachte, war seinerzeit bemerkenswert intellektuell. Für ihn allerdings weniger. Er war zwei, als sich seine Eltern scheiden ließen. Sein Vater, ein mittelmäßig reputierlicher Anwalt am preußischen Hofgericht, zog mit Ernsts älterem Bruder nach Insterburg, die Mutter mit ihm zurück zu ihrer Mutter, Witwe des angesehenen Anwalts Doerffer am Königsberger Hofgericht, in deren Haus in der Junkerstraße. Dort wohnten bereits seine zwei Tanten und sein Onkel. Es war ein emotional desolater Hausstand. Der gleichaltrige Theodor Gottlieb Hippel, Hoffmanns Freund seit Jugendtagen und bis zu seinem Lebensende, der nur eine Straße entfernt wohnte: »Die Mutter vegetirte nur in krankhaftem Zustande. Schon ihr Äußeres war ein Bild der Schwäche und des Gemüthskummers, der sie tief zu beugen schien.« Die eine Tante, Charlotte, starb mit 24, die zweite, Sophie, kümmerte sich um den kleinen Ernst. Der Onkel Otto Wilhelm Doerffer, genannt »Sir Ott«, war auch Jurist, aber früh gescheitert und frühpensioniert, korpulent, Spießbürger, pedantisch bis zur Lächerlichkeit und begriffsstutzig. Bis auf die Großmutter, die kräftigste von allen, waren die Doerffers klein, fragil, zart gebaut, so auch Ernst. Er erhielt Musikunterricht, lernte Orgel, Klavier, Geige, Komposition, zeigte Begabung. Zudem war er ein auffallend guter Zeichner. Doch der zu erwählende Studien- und Ausbildungsgang war familiär vorgegeben – die Juristerei. In Hoffmanns Rückschau waren Kindheit und Jugend einsam und eher trist, »zwischen den vier Mauern [war ich] mir selbst überlassen«. Darin vermutete er selbst den »Keim mancher von mir hinterher begangene[n] Thorheit.« Für Streiche hatte er eine Ader, wie auch schon früh eine starke Neigung zur Literatur, mit 18, 19 schrieb er, leidenschaftlicher Leser, der er war, zwei Ritterromane, die nie übers Manuskriptstadium hinauskamen.
1794 verliebte sich Hoffmann in die einige Jahre ältere, verheiratete Dora Hatt, der er Musikstunden gab und schwärmerisch-verspielte Episteln schrieb. 1796 schäumten seine Gefühle zum Missfallen seiner Familie unschicklich unstandesgemäß hoch, so dass der Zwanzigjährige nach Schlesien zu einem Patenonkel zwangsverschickt wurde. Dort ging es ihm emotional kaum besser: »Ich bin in Glogau entfernt von allem, was mir lieb war, und ich habe, wie’s Hamlet seiner Mutter tät, die eine kranke Hälfte meines Herzens weggeworfen.« Mit der anderen Hälfte verlobte er sich nach einer Weile bei den Glogau-Doerffers mit Tochter Minna, seiner Cousine.
1797 starb der Vater, was für Hoffmann ohne Belang war, zum Bruder sollte nie eine Verbindung bestehen. Ein Jahr später starb die Mutter, da steckte er schon tief in den von ihm nicht recht geliebten Rechtswissenschaften. Im Juni 1798 bestand er das zweite juristische Examen, im August wurde er ans Kammergericht zu Berlin versetzt. Ende März 1800 legte er das dritte juristische Examen ab und wurde als Assessor am Kammergericht in Posen eingesetzt. Knapp anderthalb Jahre war er dort. Bis zum Karneval 1802.
Während der »tollen Tage« kursierten in der Stadt bissige Karikaturen von Honoratioren und höheren Militärs. Diese, enragiert, versuchten, die Verursacher auszumachen. Zwar nicht ganz festgenagelt, nur knapp zur Hälfte, wurde Hoffmann, stadtweit bekannt für seinen frechen Zeichenstrich, dennoch strafversetzt, nach Plock, rund 100 Kilometer nordwestlich von Warschau gelegen, allertiefste neu-ostpreußische Provinz. Noch in Posen hatte Hoffmann das Verlöbnis mit Minna Doerffer gelöst und Maria Thekla Michaelina Rorer-Trzcińska, genannt Mischa, geheiratet. Über sie ist kaum mehr bekannt als: »Mittlere Statur – wohl gewachsen, dunkelbraunes Haar, dunkelblaue Augen«, so Hoffmann, der sie ansonsten exzeptionell wenig in seiner Korrespondenz erwähnt, sie sprach wohl nur mäßig Deutsch, ihren Mann nannte sie »Gemahl meiniges«. Ein Freund Hoffmanns: Sie »war zufrieden mit allem, was er für sie that, und murrte über nichts, was er unterließ, wie eine von einem Brodherrn leidlich gehaltene Magd.«
Das Paar langte im Sommer 1802 in Plock an, der alten überschaubaren, abgelegenen Stadt an der Weichsel mit den zahllosen Kirchen und Klöstern, »wo ich lebendig begraben bin« (Hoffmann). Der Regierungsdirektor A. C. von Holsche bot 1804 in seiner langatmigen Geographie und Statistik von West-Süd- und Neu-Ostpreußen. Nebst einer kurzen Geschichte des Königreichs Polen bis zu seiner Zertheilung eine enervierend langweilige Schilderung dieser Hoffmann enervierend langweilenden Stadt:
»Plock, eine königliche Stadt auf dem hohen Ufer der Weichsel, rechterseits in einer fruchtbaren Gegend belegen, von 389 Häusern, wovon 27 massiv, 20 von Holz mit Ziegeldächern und die übrigen von Holz mit Schindeln oder Stroh belegt sind. Es wird hier stark gebauet und eine besondere Vorstadt für Deutsche, vorzüglich für Offizianten, ganz von massiven Häusern nach einem bestimmten Plane angelegt, und es kommen von Zeit zu Zeit mehrere Häuser hinzu, so daß die Stadt sich weit an der Weichsel herauf ausdehnt. Die Bevölkerung der Einwohner, ohne das Militär, beläuft sich auf 2578 Seelen, worunter 731 Juden sich befinden.«
Dann ging es mit der Aufzählung weiter: 1 Domkapitel mit 9 Prälaten und 21 Domkapitularen, 1 Collegiatsstift mit 2 Prälaten und 5 Canonicis, 1 Dominikaner-Mönchskloster mit 24 Mönchen »nebst einer Kirche«, ein Reformaten-Mönchskloster mit 19 Mönchen »nebst einer Kirche«, weitere Klöster, Kirchen, zwei Landeskollegien, ein Füsilier-Bataillon und eine Kreis-Justizkommission und ein Kreisgericht. »Eine große Unbequemlichkeit«, so von Holsche, »für die Stadt ist dieses, daß sie kein hinlänglich gutes Wasser hat.« Trotz 18 Brunnen tauge das Wasser nicht viel – aber Wasser hatte Hoffmann noch nie interessiert. Wein schon, und in Posen und in Plock immer mehr. Ende 1803 übermittelte er Hippel das resignative Lamento:
»Mein Sinn für die Kunst ist hier so hors de saison, daß ich überall damit anstoße und mich verwunde. – Die Mahlerey habe ich ganz bey Seite geworfen, weil mich die Leidenschaft dafür, hinge ich ihr nur im mindesten nach, wie ein griechisches Feuer unauslöschlich von innen heraus verzehren könnte – […].«
Im Februar 1804 war die Zeit in diesem Nirgendwo beendet. Er wurde nach Warschau versetzt, als Regierungsrat der Südpreußischen Regierung. Wichtig wurde ein neuer Freund, der aus wohlhabender jüdischer Familie stammende Berliner und Jurist Julius Eduard Itzig (1780–1849); 1808 setzte er seinem Familiennamen ein »H« voran und nannte sich seither »Hitzig«. Noch wichtiger von nun an für Hoffmann: Er selbst tauschte seinen dritten Vornamen »Wilhelm« aus für – Verbeugung vor dem verehrten Mozart –»Amadeus«. Im Juli 1805 wurde Hoffmanns einziges Kind, die Tochter Caecilia, geboren, benannt nach der Schutzheiligen der Musik, sie sollte mit zwei Jahren sterben. Da war Hoffmann arbeitslos – die Truppen Napoleons hatten Preußen zum Einsturz gebracht, der König war nach Memel geflohen. Die Beamten der Justiz mussten einen Eid auf den neuen Machthaber ablegen. Hoffmann, obschon lebenslang desinteressiert an Politik, verweigerte sich wie viele andere auch. Und wie viele andere auch wurde er deshalb aus dem Justizdienst verstoßen.
Es gab nur noch Warten. Und dann kam noch Hunger dazu. Und Krankheit. Er war in einem Kämmerchen unterm Dach der Musikalischen Gesellschaft untergekommen, Mischa und Caecilia hatten Zuflucht bei Verwandten in Posen gefunden. Hoffmann erkrankte schwer an Typhus, wurde von Freunden gepflegt, die immer weniger wurden, weil es sie alle nach Berlin zog. Eigentlich wollte er selbst nach Wien, dafür fehlten ihm aber Geld und Visum. Also auch ab nach Berlin. Am 18. Juni 1807 kam er an, Freund Hitzig hatte umgesattelt von Jura auf Buchhandel. Die Stadt, besetzt von den Franzosen, wimmelte von stellungslos gewordenen Beamten. Hoffmann hungerte, wurde wieder krank, niemand wollte – das Spielbein war nun einziges Standbein – seine Kompositionen, keiner Zeichnungen von ihm veröffentlichen. Anfang 1808 gab er eine Annonce auf: »Musikdirektor sucht Compagnie«. Eine Antwort traf ein – aus Bamberg, von Julius Graf von Soden, der ihm einen Posten antrug. Soden, 1754 geboren, entstammte einer alten Hannoverschen Patrizierfamilie, war fürstlich brandenburgischer Regierungsrat gewesen, Geheimrat, preußischer Gesandter beim Fränkischen Reichskreis zu Nürnberg. Seit 1796 Privatier, lebte er auf Gut Sassanfahrt, heute zu Hirschaid im Landkreis Bamberg gehörend, an der Regnitz und stand seit 1804 als Liebhaber der Künste – er schrieb mit rascher Hand und in sorglos schneller Folge Dramen, Erzählungen, historische, philosophische und religiöse Werke und übersetzte Cervantes – dem Bamberger Theater vor. Er hatte ein großes Stadthaus gekauft, dieses zur Bühne umbauen lassen, selbst Theaterstücke inszeniert, etwa Mozarts Opern Don Giovanni und Die Zauberflöte. Die aber durchfielen. Das Publikum wollte Unterhaltung. Sodens Säckel strapazierte das Unternehmen bald allzu stark. Das Haus veräußerte er an eine Gastwirtin, die darin eine Wirtschaft betrieb, er reservierte sich aber das Anrecht auf Aufführungen im Bühnenraum.