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Anfänge
ОглавлениеEin Junge lehnt an einem Zaun und schaut seinen Mitschülern beim Ballspiel zu. Dass er selber daran teilnimmt, ist unwahrscheinlich. Er ist mittelgroß, sieht aber aus wie der Inbegriff von Unsportlichkeit. Plump ist er, ja korpulent, um nicht zu sagen: fettleibig. Fettleibig wird er sein Leben lang bleiben; später wird sein Embonpoint ganz beträchtlich sein, seine Unterlippe tief hängen und mit Ende dreißig sein Kopf überdies noch kahl sein. Er schaut seinen Klassenkameraden des St. Ignatius College, einer Jesuitenschule in Stamford Hill, London, mit blitzenden und gelegentlich von Spott sprühenden Augen zu. Aus diesem Schauen, aus dem Spott, aus der Distanz wird er später einen Beruf machen – und weltberühmt werden. Der Name dieses Jungen: Alfred Joseph Hitchcock.
Am 13. August 1899 kam er in der Wohnung oberhalb des elterlichen Obst- und Gemüsegeschäfts in der High Road Nr. 517 in Leytonstone zur Welt. Damals war Leytonstone, acht Kilometer Luftlinie nordöstlich der City of London, ein ruhiger, etwas verschlafener Vorort und gehörte noch zur Grafschaft Essex. Alfred hatte zwei ältere Geschwister, William und Ellen.
1905 oder 1906 zog die Familie nach Limehouse im East End, einem Viertel an der Themse. Der Vater hatte zwei Fischgeschäfte erworben, in der passend benannten Salmon Lane, der »Lachsgasse«. In der Wohnung über jenem in Nr. 175 wohnten die Hitchcocks.
Gern erzählte Hitchcock später, wie ihn, als er etwa fünf Jahre alt war, sein Vater mit einer Nachricht zur nächstgelegenen Polizeiwache schickte. Dort aber steckte ihn der Reviervorsteher in eine Zelle, schloss ab und ging. Nach langen fünf Minuten kam er wieder, sperrte die Tür auf und ließ den kleinen, völlig erschütterten Jungen heraus. Er gab ihm den Satz mit: »So etwas machen wir hier mit unartigen kleinen Jungen.« Wie tief sich ihm dieser emotionale Urschock einprägte, lässt sich an den Polizisten in seinen Filmen ablesen. Alle sind sie unsympathisch oder heillos überfordert oder einfach lächerlich. In Der unsichtbare Dritte wird der Polizei-Sergeant, der dem betrunkenen Cary Grant das Telefon hält, als dieser seine Mutter darüber informiert, dass er wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet wurde, schon durch seinen Namen »Orpheus Klinger« erledigt. Und in Family Plot (Familiengrab), Hitchcocks finalem Film von 1976, erlaubt sich Arthur Adamson, der verbrecherische Juwelenhändler, dem ihn befragenden Detective mit zwei Fingern einen Fussel vom Sakkorevers zu zupfen. Diese Grenzüberschreitung, von den Schauspielern improvisiert und von Hitchcock beibehalten, ist symbolisch für das Gefälle an Aufmerksamkeit. Die Angst vor der Polizei fand auch anders ihren Ausdruck: Hitchcock fuhr selbst nur ganz kurz Auto, ehe er nur noch mit Chauffeur unterwegs war. Zu groß war seine Angst, nach dem Überfahren des Mittelstreifens von einem Verkehrspolizisten herausgewunken zu werden.
1909 wurde er aufs St. Ignatius College geschickt. Die Familie Hitchcock war katholisch, daher war die Wahl auf eine Jesuitenschule gefallen, wie sie auch James Joyce in Dublin und Luis Buñuel in Saragossa besuchten. Und so wie beim die Grenzen des Erzählens sprengenden Romancier und dem spanischen bizarr-barocken Surrealisten wurde auch in Hitchcock dort das Fundament gelegt für eine Weltsicht, in der Mysterien und Wunder essenzielle Bestandteile und so wichtig wie Logik, Ratio und Ordnung sind.
Alfred war ein guter Schüler, bei Prüfungen in der Regel auf Platz drei oder vier seiner Klasse. Nichtsdestotrotz endete auch bei ihm die Pflichtschulzeit, als er gerade einmal dreizehn Jahre alt war. Mit dem Berufswunsch Ingenieur besuchte er anschließend die County Council School of Marine Engineering and Navigation in der Londoner Poplar High Street, machte einen Abschluss als technischer Zeichner und wurde bei der W. T. Henley’s Telegraph Work Company in der City angestellt, einer Ingenieursfirma, die elektrische Kabel herstellte. Dort wechselte der begabte Hobbyzeichner bald in die Werbeabteilung und entwarf Anzeigen.
Als Jugendlicher ging er, schüchtern bis zur Verklemmtheit, leidenschaftlich gern ins Kino und ins Theater und begann, Fachzeitschriften über die junge Filmindustrie zu lesen. Die Londoner Busverbindungen kannte er seit dieser Zeit auswendig; noch Jahre später, in Kalifornien, murmelte er, wenn er den Bus mit der Nummer 24 sah, automatisch: »Ah yes, Hampstead Heath to Victoria.« 1919 las er, dass Famous Players-Lasky aus den USA – das Filmstudio, das das Starsystem erschuf (Filme wurden exklusiv verpflichteten Stars wie Rudolph Valentino, Mary Pickford und Gloria Swanson auf den Leib geschrieben, und die Vermarktung konzentrierte sich nur auf sie) – demnächst ein Studio in London-Islington eröffnen wollten. Der 20-Jährige brachte in Erfahrung, dass als erstes Projekt Marie Corellis Horror-Bestseller The Sorrows of Satan für die Leinwand adaptiert werden sollte. Auf eigene Faust zeichnete er Zwischentitel, in Stummfilmen wichtige dramaturgische Akzente. Mit seinen Entwürfen marschierte er zum Studio, bekam ein Vorstellungsgespräch, legte seine Zeichnungen vor, mit dem für einen Anfänger stolzen Satz: »Hier haben Sie die Titel für Ihren ersten Film!« Erst da erfuhr er, dass die Corelli-Verfilmung zugunsten zweier anderer Projekte mittlerweile fallen gelassen worden war. Er packte seine Sachen ein, wurde aber zwei Tage später erneut vorstellig, nun mit Zwischentiteln für die beiden thematisch ganz anderen Streifen. Sein Arbeitseifer, sein Tempo und sein Talent machten Eindruck. Er wurde engagiert, anfangs als freier Zuarbeiter, ab Frühjahr 1921 in Festanstellung, und übernahm bald zusätzliche Aufgaben: als Set-Ausstatter, Dramaturg, Drehbuchautor und Regieassistent.
1921 begann bei Famous Players-Lasky British Corp. Ltd. auch eine junge Frau zu arbeiten, als Floor Secretary. Sie war um genau einen Tag jünger als Alfred Hitchcock, hatte aber viel mehr Erfahrung im Filmgeschäft. Die vergangenen sechs Jahre hatte sich Alma Reville, in Nottingham geboren und mit fünfzehn Jahren mit ihrer Familie nach London umgezogen, bei der London Film Company hochgearbeitet. 1913 gegründet, waren deren Studios in St. Margarets, East Twickenham, im Südwesten von London, auf dem Gelände einer früheren Schlittschuhbahn, die damals größten Englands. Buchstäblich um die Ecke war Alma aufgewachsen, ihr Vater war in der Kostümabteilung des Studios tätig. Alma Reville, nur knapp 1,50 Meter groß, war für die mühsam zu erstellenden Schnittfassungen verantwortlich. Sie galt als doyenne of the cutting room. Auch als Second Assistant Director wurde sie eingesetzt. Bei Famous Players-Lasky lernten sich die beiden, Alma und Alfred, kennen und lieben.
Schon 1922 führte Hitchcock das erste Mal selber Regie. Während der Dreharbeiten zu der Komödie Number Thirteen ging allerdings das Geld aus, der Streifen blieb unfertig und ist heute verschollen. Es folgten weitere Regieassistenzen. Bei der Arbeit in einer amerikanischen Filmgesellschaft zugleich in kleine, flexible Strukturen eingebunden, lernte Hitchcock schnell. Allerdings sollte diese berufliche Situation bald der Vergangenheit angehören, denn 1922 zog sich das US-Mutterunternehmen Famous Players-Lasky aus dem englischen Markt zurück (1927 nannte es sich um in Paramount Studios). Dafür sprang Michael Balcon mit seiner jungen Produktionsfirma Gainsborough Pictures ein. Er sollte der entscheidende Förderer des jungen Hitchcock werden. Woman to Woman (Weib gegen Weib) von 1924, bei dem Hitchcock das Drehbuch schrieb, Regie führte und für die Ausstattung verantwortlich zeichnete – als ein Autor nötig war, der Regisseur ausfiel und kein Ausstatter bei der Hand war, hatte er jedes Mal »I’ll do it.« gesagt –, wurde von einer Londoner Tageszeitung als »bester amerikanischer Film made in England« gepriesen. Dieses Stummfilm-Melodram war auch in einer weiteren Hinsicht wichtig: Alma Reville war für Script und Continuity zuständig. Hitchcock war sie schon früher aufgefallen, sehr. Doch die energische junge Frau anzusprechen, gar zu offenbaren, was er für sie empfand, dazu hatte er sich nicht überwinden können. Stattdessen machte er ihr das Angebot, bei diesem Film den Job des Editors zu übernehmen. Das Gespräch war kurz und brüsk – ihr war das in Aussicht gestellte Honorar zu gering. Sie stand auf und ging. Der nervöse Hitchcock holte sie ein. Und machte ihr eine bessere Offerte. Die sie annahm. Später, 1926, machte er ihr ein noch besseres Angebot: Sie wurde seine Frau, die Mutter seiner einzigen Tochter Patricia und für die nächsten 54 Jahre seine engste und wichtigste Mitarbeiterin, aber auch seine strengste und unerbittlichste Kritikerin. »The Hitchcock touch had four hands and two were Alma’s«, so der Filmkritiker Charles Champlin: Der Hitchcock-Touch verdankte sich vier Händen, und zwei davon gehörten Alma.
Alma und Alfred Hitchcock in ihrem Haus in Bel Air, 1963. Die Drehbücher, hier das zu Marnie, entstanden in stetigem engem Austausch der beiden.
»Außer vor Polizisten habe ich Angst, allein zu sein. Alma weiß das. Ich mag einfach, dass sie da ist, auch wenn ich lese.«
The Blackguard (Die Prinzessin und der Geiger) und The Prude’s Fall (Seine zweite Frau) realisierte Hitchcock als Produktionskoordinator 1925 in Deutschland, bei der UFA in Potsdam-Babelsberg. Zeitgleich liefen dort F. W. Murnaus Dreharbeiten zu Der letzte Mann. Hitchcock verfolgte dessen Methoden, Stil und filmische Sprache sehr interessiert. Murnau verwendete nicht einen einzigen Zwischentitel und nur ganz am Schluss eine Titelkarte. Die Geschichte ohne Worte entfaltete sich geschmeidig, die Kameraführung war fließend. Am wichtigsten: Hitchcock lernte, dass schon ein Detail eine ganze Geschichte transportieren konnte. Wohl noch wichtiger: Im deutschen Film-Expressionismus war die Welt schwankend, unsicher, erschreckend, bedrohlich. Angst war mit Händen zu greifen, Paranoia allzeit virulent. Die Oberfläche bürgerlicher Ordnung war dünn, sehr dünn. Verführerisch und selbsterkenntnishaft muss dies auf den notorisch perfekt präparierten, vor jedem Anhauch von Unordnung oder Improvisation zurückscheuenden Hitchcock gewirkt haben. »Er plante sein Leben, als handle es sich um einen militärischen Feldzug, obwohl nicht klar war, wer oder was der Feind wäre« (Peter Ackroyd).
Es folgte The Pleasure Garden (Irrgarten der Leidenschaft, 1925), der in Italien und in München gedreht wurde: Das Geld ging nach Kurzem aus, die Hauptdarstellerin Virginia Valli war mit unmäßig viel Gepäck und mit nicht eingeplanter Begleitung angereist. Zumindest die Anfangsszene, wenn Revuetänzerinnen eine steile Wendeltreppe heruntereilen, ist für damalige Verhältnisse außergewöhnlich, weil aufregend rasant geschnitten. Dann der Schnitt von den langen Beinen der jungen Frauen auf einen Mann im Publikum, der durch ein Fernglas deren anatomische Vorzüge in Augenschein nimmt. Lust, Gier, Voyeurismus, Montage – vieles Spätere ist schon da.
The Mountain Eagle (Der Bergadler, 1926), gedreht in München und in Tirol, sollte in Kentucky spielen. Hitchcock: »Grauenhaft: eine Geschichte über eine Dorfschullehrerin mit drei Zentimeter langen Fingernägeln!« Nicht eine Kopie hat sich erhalten.
Damals eignete Hitchcock sich die für ihn später typische Arbeitsweise: vorab den gesamten Film in einem höchst ausgefeilten Exposé zu erarbeiten, Bild für Bild, Szene für Szene, Kameraeinstellung für Kameraeinstellung, in vielen kleinen und kleineren Zeichnungen – später beschäftigte er extra Zeichner, storyboard artists – und in ausführlichen detaillierten Arbeitsgesprächen mit dem Drehbuchautor. Auf die Frage, ob die Drehtage den kleinsten Anteil eines Films ausmachten, antwortete er Jahre später: »Oh ja. Ich wünsche, wir müssten den Film gar nicht mehr drehen. Wenn ich ein Drehbuch fertig und von vorne bis hinten auf Papier habe, ist für mich der kreative Anteil vorbei und der Rest ist einfach langweilig.«
Dann folgte 1927 The Lodger (Der Mieter). Es »war der erste Film, in dem ich das anwenden konnte, was ich in Deutschland gelernt hatte. Ich bin in diesem Film ganz instinktiv vorgegangen. Es war das erste Mal, dass ich meinen eigenen Stil anwandte. Man kann sagen, dass The Lodger eigentlich mein erster Film ist.«
Mit einem Schrei beginnt dieser Film, einem Schrei, den man nicht hört. Und der später zum Markenzeichen werden sollte. Über den Dächern von Nizza setzt mit drei spitzen Schreien ein. In Psycho wird unter der Dusche geschrien, in Der Mann, der zuviel wusste in einem Konzertsaal. Es ist ein Schrei direkt in die Kamera. Ein Mord. Blinkende Lichter. Im nebligen London geht ein Frauenmörder um, der bei jedem Opfer eine Karte mit dem Aufdruck »The Avenger« zurücklässt. Hat sich die im Abstieg begriffene Vermieterfamilie – daher lebt sie auch im Souterrain – mit dem neuen, merkwürdigen Mieter, der als Erstes die Frauenporträts von den Wänden abhängt, Jack the Ripper ins Haus geholt?
Nun hatte Hitchcock aber ein Problem: seinen Hauptdarsteller. Ivor Novello war damals ein so großer Star, dass das Publikum ihm den Mörder nicht abgenommen, noch ihn als solchen akzeptiert hätte. Also kreierte Hitchcock ein ambivalentes, erotisch lockendes Image: Wir wissen zur gleichen Zeit zu wenig und zu viel. Genau dies erzeugt den suspense.
Auch hier ist der Polizist, Daisys Freund, unsympathisch, kein Vergleich mit dem Mieter. Dessen Kussszene mit Daisy wird gestört, er irrtümlich für den Täter gehalten – in seiner Tasche finden sich Pistole, Karte und Zeitungsausschnitte über frühere Morde – und er, ebenso irrtümlich, von der Menge fast gelyncht. Das Ganze endet in einem Happy End, auf dem die Produzenten insistierten. Am Schluss blinkt, als optischer Scherz, über Daisy »To-Night, Golden Curls« auf. Der noch immer namenlose Mieter entpuppt sich als Hausbesitzer, und sein Haus als Villa.
Es gibt expressionistisches Licht, stumme Schreie, verstörende Spiegeleffekte, lange, unheimliche, Schwindel erregende Treppen und kantige Schatten. Der Film ist noch heute spannend, Erwartungen erfüllend und sie unterminierend. Er ist kalt und warm, irritierend dunkel und häuslich warmherzig, vor allem in den Souterrain-Szenen.
Die nicht geringe Ironie bei Der Mieter ist, dass er so flüssig wirkt, weil er nur ganz wenige Zwischentitel verpasst bekam. Und das von einem Mann, der mit Zwischentiteln seine Karriere beim Film begann.
Balcon war beeindruckt. Dem einflussreichen Verleiher hingegen gefiel der Streifen gar nicht. So lag das Opus ein halbes Jahr auf Eis. Hitchcock räsonierte schon über das Ende seiner Karriere. Dann setzte sich Balcon durch, Der Mieter kam in die Kinos. Und die Kritik geriet aus dem Häuschen, die Rede war von der besten britischen Produktion des Jahres. Ein Filmmagazin kürte den 28-Jährigen zu »Alfred the Great«.
Danach drehte Hitchcock mit wechselhaftem Erfolg und Anklang Downhill (Bergab, 1927), das auf einem Stück Ivor Novellos über einen Freundespakt beruhte (Hitchcock: »Fürchterlich! O Gott, die Dialoge!«), und innerhalb eines Jahres drei sehr unterschiedliche Filme: Easy Virtue (Leichtlebig) nach einem Konversationsstück von Noel Coward, den Boxerfilm The Ring (Der Weltmeister), eine amouröse Dreiecksgeschichte, und The Farmer’s Wife nach einer Theaterkomödie.
Sein bissiger Humor war damals bereits voll ausgeprägt. Er konnte sich mittlerweile auch leisten, ihn kostspielig auszuleben. So lud er, als die Dreharbeiten zu The Farmer’s Wife vorbei waren, generös vierzig Personen zur Party in ein teures Restaurant im West End ein. Er hatte allerdings das kleinste Separee reserviert, in das eigentlich nur zwölf von ihnen hineinpassten. Doch alle vierzig Gäste wurden hineingequetscht, dazu gab es noch extra grobe Kellner: Ein practical joke ganz nach Hitchcocks sacht sadistischem Geschmack.
Ein Kalenderjahr später – inzwischen hatte er das Studio gewechselt und verdiente bei British International Pictures 13 000 Pfund pro Jahr, womit er der bestverdienende Filmregisseur Englands war – entstand das Melodram Champagne (1928). Auch in diesem Fall war er selbst später sein schärfster Kritiker: »ein Mischmasch von einer Geschichte, die während der Dreharbeiten zusammengeschrieben wurde«. Ganz allein war er mit seinem Urteil allerdings nicht. Ein Kritiker nannte den Streifen »Champagner, der die Nacht über im Freien gestanden hat«.
Dieser und sein letzter Stummfilm The Manxman (Der Mann von der Insel Man, 1929) waren Auftrags- und Brotarbeiten. Dabei lernte Hitchcock viel, auch von Jack Cox’ schönen Kamerabildern, die dieser für The Manxman kreierte. Er experimentierte erfolgreich mit vielem, mit Schnitt, Zeitraffung, Zeitaufhebung und Symbolen. Blackmail (Erpressung), im selben Jahr, wurde erst als Stummfilm gedreht, war aber noch nicht fertig geschnitten, so dass einige Szenen mit Ton nachgedreht werden konnten. Das Bemerkenswerteste war, dass die tschechische Aktrice Anny Ondra, die Englisch mit schwerem Akzent sprach (und später Max Schmelings Frau wurde), nur die Lippen bewegte. Eine englische Schauspielerin sprach den Text im Off in ein Mikrophon – 25 Jahre später sah man diese Szene als Film im Hollywood-Film, in Stanley Donens und Gene Kellys Singin’ in the Rain (1952). Außerdem gab es in Erpressung den ersten großen Cameo-Auftritt Hitchcocks: Er wird in der U-Bahn von einem kleinen Jungen genervt.
Nach diesem gut aufgenommenen Streifen, in dem Hitchcock das Spektrum des Tons durch Verzerrungen sogleich über reines Sprechen hob, folgte eine bemerkenswerte Durststrecke, Filme, in denen Hitchcock viel lernte, die aber an den Kinokassen und bei der Kritik – und auch in seinem eigenen Rückblick – durchfielen: Juno and the Paycock (1930) nach dem Theaterstück Seán O’Caseys, Murder! (Mord – Sir John greift ein!, 1930), und The Skin Game (Bis aufs Messer, 1931) nach einem John Galsworthy-Drama, 1932 Rich and Strange (Endlich sind wir reich) und 1933, mit Hitchcock als Produzent, Lord Camber’s Ladies (1932) sowie Waltzes from Vienna (1934) – der absolute Tiefpunkt, so Hitchcock noch Jahre später entsetzt: »ein Musical, und für die Musik war nicht genügend Geld da«. Dazwischen drehte er noch Number 17 (Nummer Siebzehn, 1932), das auch nicht ankam. Im Jahr 1933 schien Alfred Hitchcocks Karriere am Ende, Produzenten und Verleiher verloren die Geduld. Dann legte er ein Drehbuch vor, das er selbst erarbeitet hatte. Es war voller Tricks. Einen hatte er schon in Nummer Siebzehn erprobt: den MacGuffin.