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I

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Tief ist der Fall in die Nacht, und Nacht ist das Wort für etwas, was wir meinen mit einer anderen Art von Schlaflosigkeit, Nacht ist die Erinnerung an das Durchwachen, und tief ist der Fall in diese Nacht.

Kruses Großvater war ein lausiger Klavierspieler. Damals nach dem Krieg, in Berlin. In kleinen muffigen Bars hat er gespielt, meist allein, manchmal mit einem Bassisten und einem Schlagzeuger; Schlagzeuger hießen damals noch Trommler. Besonders schön hat es nie geklungen, sagte der Trommler. Später waren sie bei einer großen Versicherung angestellt, der Großvater und der Trommler. Das Klavier verstaubte und verlor im Laufe der Jahre den letzten Rest von Intonation. Nachdem es mit Großvater zu Ende gegangen war, beschloss der Familienrat, einen Klavierstimmer ins Haus zu holen, der das Instrument untersuchte und in den alten Zustand versetzte. Das Klavier stellte man in Kruses Zimmer auf, und ihm als dem jüngsten der Enkelkinder wurde Unterricht verordnet. Er ging einmal in der Woche zu einer Frau in der Nachbarschaft, die auf den ersten Blick hin von angenehm großmütterlicher Art zu sein schien. Doch hinter der Fassade von Gutmütigkeit und Geduld, von Liebe und Wohlgeruch verbarg sich ein sadistisches, kinderloses und daher wohl auch kinderhassendes Wesen. Sie quälte ihn mit subtilen Foltereinheiten, zunächst mit Hanon und Czerny, den Verfassern stupider Fingerübungen, später mit groben Streckbänken in Form von Dussek- und Clementi-Sonatinen, Tonleiter-Martyrien und Fingersatz-Strafexerzitien. Die höchste Stufe der Gemeinheit war erreicht, wenn sie dem Kind, das er damals war, Selbstverfasstes in pingelig-akkurater Notenschrift vorsetzte; unglaublichen Müll mit Dezimgriffen in der linken und Trillern zwischen viertem und fünftem Finger der rechten Hand. Wo man doch spätestens seit Robert Schumann weiß, dass vierter und fünfter Finger an einem Nervenstrang hängen und kraftvolle Bewegungen wie Verzierungen und Triller nur unter äußersten Qualen zu vollführen sind. An das Aussehen der Tastenzuchtmeisterin erinnerte er sich nur vage. Besonders deutlich aber hatte er noch diesen riesigen Dutt vor Augen, an welchem er sie damals gerne aufgehängt hätte.

Jahre später, als Kruse sich langsam entscheiden musste, welcher Art Tätigkeit er denn fürderhin nachgehen wollte – die Zeit, in welcher man entscheidet, ob man einen Beruf erlernt, eines dieser vielen sinnlosen Studien aufnimmt, oder was auch immer – fiel ihm nichts recht Passendes für sich ein. Kurzum: Zum Malen fehlte ihm das Talent, zum Handwerk die Geschicklichkeit, zur Naturwissenschaft die Neigung und zu allem anderen der Fleiß. Also besann er sich auf das, was er als Einziges gelernt hatte im Leben und beschloss, sich als Klavierspieler durchzuschlagen, allen traumatischen Kindheitserinnerungen zum Trotz. Er spielte in genau jenen kleinen Bars wie der Großvater. Das Inventar mochte sich verändert haben, die Getränkekarte war sicher um einige exotische Abmischungen erweitert worden, ansonsten herrschte noch dieselbe Atmosphäre wie vor Jahrzehnten, die gleiche Mischung aus Tabaksqualm und schlechtem, dickem Parfüm, aus menschlichen Ausdünstungen und scharfem Fusel. Die Zeiten sind nicht gut für einen Klavierspieler. Man lernt sehr schnell, sein Publikum zu verachten. Weil einem niemand zuhört. Weil niemand einen Boogie von einem Bebop unterscheiden kann. Weil es eigentlich egal ist, ob man Time to Remember oder die Warschawjanka spielt.

***

In den Pyrenäen kam Julia die Zeit zwischen August und Winter vor wie ein langsam vor sich hin dämmernder Dorfteich: Auf eine seltene Weise schön, wenngleich langweilig. Anfangs träumte sie manchmal und schreckte im Schlaf hoch. Später nicht mehr. Der Schäfer, bei dem sie wohnte, ein schlichter Bursche von vielleicht dreißig Jahren, hatte ein halbverfallenes Gehöft, wie sie in den Bergen zu Hunderten herumstehen, hergerichtet. Er wies ihr eine kleine Kammer zu. Mehr benötigte sie nicht. Sie reparierte eine Wasserleitung und sprach mit den Hunden. Mit dem Schäfer sprach sie nicht. Oder er nicht mit ihr. Einmal, nachts, im November hatte er sich ihr genähert. Sie wies ihn ab. Dann sprach er doch mit ihr; sagte, sie hätte jetzt zu gehen, die Schafe müssten ins Tal, ins Winterquartier. Am Morgen packte sie ihren Rucksack und ging. Sie verabschiedete sich von den Hunden und wanderte zwei Tage bergab, bis ein Auto sie auf der Landstraße mitnahm und in Perpignan absetzte. Von dort fuhr sie mit dem Zug über Barcelona nach Madrid, ohne recht zu wissen warum.

Fast einen Monat lebte sie bei einem älteren Mann. Tagsüber vegetierte er in einem abgedunkelten Raum und starrte auf die Ölbilder an der Wand. Er schien sehr reich zu sein und ging kaum aus dem Haus. Manchmal gab er Julia Geld und schickt sie zum Bahnhof Atocha, um Heroin zu besorgen. Das rauchte er dann zu Hause und versank tagelang in sich, der Vergangenheit und seinem implodierenden Wahnsinn. Von dem Geld, das übrigblieb, kaufte sie etwas zu essen. Ansonsten klaute sie auf der Straße, was sie brauchte. Es war nicht viel. Kennengelernt hatte sie den alten Mann im Prado. Dort ging sie häufiger hin, mit einer Dauerkarte, die sie einem Studenten gestohlen hat, der sie in ein blödes Gespräch über Kunst verwickeln wollte. Meist sah sie sich die Schwarze Serie an. Ihr gefiel die Düsternis der Goya-Bilder. Aber eigentlich ging sie in den Prado, weil dort zuverlässig geheizt wurde.

Gestern Abend kam sie aus der Stadt zum Haus des alten Mannes, läutete an der Klingel ohne Namensschild. Niemand öffnete, nur ihr Rucksack lag draußen vor der Tür. Es fehlte nichts. Die Nacht über hockte sie in einer Bar und hatte Mühe, sich diversen Avancen läufiger Nachtköter zu erwehren. Zu trinken bekam sie reichlich, doch sie hatte Hunger. Die ganze Nacht. Es war elf Uhr vormittags, und es war heute noch einmal, sehr plötzlich, warm geworden, als Julia lang und ausdauernd gähnte, während sie einen Jungen beobachtete, der mit den Fingern auf dem Bürgersteig nach etwas zu suchen schien.

***

In der Mottenkiste aller Klavierspieler gibt es ein paar Tricks bezüglich der Frauen. Einen davon hatte Kruse vom Trommler erfahren, verbunden mit der süffisanten Erwähnung, welch enorme Anzahl blondierter Schönheiten der Nacht den Weg zu Großvaters Klavier und wohl auch Bett gefunden hatten: Jede Musik hat einen neuralgischen Punkt, einen Kern, ein geheimes subtil-erotisches Zentrum, meist die Wiederholung des B-Teils vor dem Instrumentalsolo oder kurz danach. Der Trick besteht darin, in genau jenem Augenblick die Augen von den Tasten zu heben und fest und unbeirrt auf der Dame des Abends, man darf wohl sagen, dem Opfer, ruhen zu lassen, sie glauben zu machen, dieser geheime Höhepunkt entstehe nur und ausschließlich für sie. Gelegentlich hatte auch Kruse nicht widerstehen können, diesen Trick anzuwenden, und man darf wohl hinzufügen, er war dabei nicht gänzlich erfolglos.

Es war im Herbst, einer dieser grauen Mittwochabende, tote Tage, wie man so sagt, kein Abend für die Bar. Ein paar Fernsehschauspieler lümmelten lärmend an den vorderen Tischen und waren schon ziemlich betrunken. Unter ihnen stand eine Frau, die nicht zu ihnen zu gehören schien und die dennoch den Mittelpunkt dieser Zusammenkunft bildete. Ihr Gesicht erinnerte an das einer Statue im Ägyptischen Museum. Ein Gesicht, von dem Kruse bereits als Frühpubertierender anlässlich von Schulbesuchen gewusst hatte, dass es all das verstrahlte, was Männer in ihren schwitzigen Fantasien von Frauen im Allgemeinen erwarteten und glaubten. Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt, in der rechten Hand nachlässig eine Zigarette haltend. Eine nervöse Unruhe ging von ihr aus. Vielleicht war sie auch schon auf dem Sprung, wieder zu gehen. Ihre dunklen Augen irrten ziellos durch den Raum. Die hohen markanten Wangenknochen verliehen ihr ein leicht exotisches, irgendwie slawisches Äußeres. Sie erschien eher klein, aber das konnte täuschen. Auch wenn man wegen der Entfernung von ihr kein Wort hören konnte, glaubte Kruse doch, nahezu alles verstehen zu können. Er lachte darüber, was man als blitzartig Verliebter eben alles von sich glaubt in solchen Momenten. Die trunkenen Mimen sprangen ihr förmlich ins Gesicht, hafteten mit verdrehten Augen an ihren Lippen – distanzlose, klebrige Vampire.

Er spielte irgendeine unbedeutende Improvisation über irgendein Thema von Horace Silver, und ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde, aber sie trafen sich immerhin, und sie trafen sich im nämlichen Moment. Es dauerte anstandshalber einige Minuten, bis sie mit leichten und dennoch bestimmten Schritten zum Klavier herüberkam und mit leiser Stimme fragte, ob er wohl für sie eine bestimmte Nummer spielen könne. Er nickte, und sie ging zu ihrem Platz, lächelte noch einmal kurz und gewollt nachlässig über die Schulter. Er spielte, was sie sich wünschte. Es war nicht sonderlich originell. Irgendwann waren sie verschwunden, die nächtliche Nofretete samt ihren Clowns, ohne dass er es wirklich bemerkt hätte. An diesem Abend arbeitete er nicht mehr lange, auch weil in der Bar kaum noch Gäste auftauchten. Dafür spielte er an den nächsten Tagen fast das doppelte Pensum, meist bis in die frühen Morgenstunden hinein, in der Hoffnung, sie würde wieder auftauchen. Natürlich kam sie nicht zurück. Jedenfalls nicht in die Bar.

***

Der Tag vor dem Heiligen Abend war unerwartet warm und freundlich, die Sonne überflutete Madrid mit einer gleißenden Winterhelle, als Vince den Holzlaster in der Auslage eines Spielwarengeschäftes in der Nähe der Plaza Puerta del Sol erblickte. Mit den Füßen stocherte er nach einer löchrigen Stelle im Pflastergestein, entdeckte alsbald, was er suchte, bückte sich, ergriff einen Stein, indem er mit geübten Handgriffen die Sandverfugung löste, nahm ein paar Schritte Anlauf, holte in einem weiten Bogen aus und schleuderte mit voller Wucht den Stein in die Auslage. Manchmal ist einem danach, einen Stein in die Auslage zu werfen. Vince blickte sich kurz um, einige Leute waren stehen geblieben und sahen ihn entgeistert an. Dann betrachtete er noch einmal für einen kleinen Moment sein Werk. Der Stein hatte die Kipplade eines Baufahrzeuges erwischt. Wie ein totes Tier, das Maul weit aufreißend, starrte ihn das umgefallene Auto an, einen Teddybären von schillernd bläulicher Farbe unter sich begrabend. Der Laster aus groben unbehandeltem Holz stand unberührt daneben, so als hätte dieser Anschlag nicht ihm gegolten. Vince spürte einen heftigen starken Griff in seinem Nacken. Er versuchte sich umzudrehen. Ein Schnauzbärtiger mit einer Jacke aus blauem Stoff, der an den Teddybären erinnerte, schrie auf ihn ein, während seine Finger sich in Vince’ Hals festkrallten. Er sah nur den sich öffnenden und wieder schließenden Mund, eine Reihe dunkelbrauner Zähne und eine dicke weißliche Zunge. Instinktiv legte er den Ellenbogen an und rammte ihn mit aller Kraft dem Schnauzbärtigen in die Eingeweide. Der ließ von seinem Opfer ab und krümmte sich vor Schmerzen. Vince boxte sich einen Weg durch die glotzende Meute. Nach einer Weile war er am Parque del Retiro angelangt. Blieb zum ersten Mal stehen, außer Atem, sah sich um, stellte fest, dass ihm niemand gefolgt war. Er setzte sich auf eine Parkbank, das Gesicht tief in den Händen vergraben. Es war ihm gleichgültig.

Was machst du hier?

Vince blickte auf. Es war kalt. Ihm war kalt.

Was gehts dich an!

Er würdigte das Mädchen nur eines kurzen Blickes.

Redest nicht gerne, was?

Verpiss dich!

Vince spuckte gezielt vor die Füße des Mädchens.

Klobige, heruntergekommene, ehemals teure Stiefel.

Wenn du hier noch lange sitzt, frierst du fest.

Wenn schon, wüsste nicht, was dich das angeht.

Ich mein ja nur.

Tu mirn Gefallen und zieh Leine! Ich sitz hier n bisschen im Park, genieße die Luft und hab keine Lust, mit dir zu reden. Also hau ab!

Weißt du was? Du spinnst! Es wird kalt nachher, du hast überhaupt keine richtige Jacke an, und in einer Stunde ist es dunkel.

Nach einer Pause, die Vince, ohne eine Regung zu zeigen, verstreichen ließ:

Wo bleibst du heute Nacht?

Ich brauch keinen, der auf mich aufpasst, mir sagt, was ich anziehen soll und wann es dunkel wird. Und jetzt hau endlich ab.

Er hob drohend eine Hand.

Du schlägst bestimmt keine Mädchen, könnt ich wetten.

Würds nicht drauf ankommen lassen.

Vince spuckte nochmals aus. Er traf die Stiefelspitze des Mädchens.

Ich hab dich gesehen, vorhin. Das mit dem Stein. Und wie du dem Dicken eine verpasst hast.

Geh doch zur Polizei. Erzähls denen.

Könnt ich machen.

Dann wärst du wenigstens weg.

Wieso hastn du das gemacht, das mit dem Stein?

?

Brauchst es ja nicht zu verraten. Hat mich nur gewundert, wieso du nen Stein ins Fenster von einem Spielwarenladen schießt, mitten am Tag, und dann einfach stehen bleibst unter den ganzen Leuten. Ich hätt wenigstens versucht, irgendwas mitgehen zu lassen. Wieso eigentlich ein Spielwarenladen, das ist doch doof.

Geht dich nichts an.

Du hast echt eine Macke.

Vielleicht. Bist du jetzt fertig?

Vince zog die Beine an, hockte frierend wie ein nackter Embryo auf der Bank und vergrub das Kinn zwischen den Knien.

Hast du Hunger?

Das Mädchen reichte ihm ein halbes Salami-Brot, das in einer Papiertüte steckte. Ohne Zögern griff Vince danach und biss hinein. Er hatte seit vorgestern nichts mehr gegessen.

Darf ich mich wenigstens kurz setzen?

***

Er hatte sie wiedergesehen auf dem Geburtstagsfest eines gemeinsamen Bekannten, Jorgens, ein Wirtschaftsjournalist. Es war ein langweiliger Abend, er hatte es vorher geahnt und sich in einer Bar mittels ein paar Gläser Wodka entsprechend präpariert. Er wusste, wenn ein wohlausstaffiertes, gut möbliertes Wesen wie Jorgens vierzig wird und dazu einen Haufen aufgeblasener, reichlich angefetteter Kollegen aus den Wirtschaftsressorts diverser Tageszeitungen und Rundfunkanstalten einlädt, kann das nur ein grauenvolles Ende nehmen. Man schweift übergangslos von der Zote zum Nasdaq, vom Altherrenwitz zum Anlagetipp, findet sich wesentlich und den Rest der Welt unter Niveau. Mit dem Letzteren mochten sie Recht haben, mit allem anderen konnte man herzlich wenig anfangen, und nur eine langgehegte Zuneigung zu Jorgens konnte ihn davon abbringen, abzusagen.

Wie ausgerechnet sie in diese Versammlung frühergrauter Zyniker geraten konnte, war nicht ganz klar. Er passte sie in einem günstigen Augenblick ab und goss ihr einem Wodka ein. Schön war, dass sie Wodka trank, weitaus schöner war, dass sie sich offenbar genauso langweilte wie er. Weniger schön fand er, dass sie sich seiner nicht mehr erinnerte. Er hatte allerdings keine Lust, sie auf den Besuch in der Bar hin anzusprechen. Es wäre ihm irgendwie kleinlich vorgekommen. Sie arbeitete beim Fernsehen, war eine gefragte Person dort, moderierte eine Menge Sendungen, Interviews mit mehr oder minder bekannten lokalen Größen, Sportsendungen mit Bezirksligaspielen diverser, völlig absurder Sportarten. Sachen, deren tieferer Sinn ihm verborgen blieb. Er wusste, er hätte sie anrufen können, könnte wie zufällig an dem einen oder anderen Ort erscheinen, an dem sie sich sicherlich aufhalten würde, hätte das komplette Repertoire des Leim-Ansetzens und der gewollten Zufälle abspulen können. Er konnte auch nicht behaupten, dass ihm dazu jegliches Talent fehlte. Allein er verspürte keine Lust dazu. Er vertraute vielmehr darauf, zurecht, wie sich herausstellte, dass es einen Augenblick geben würde, der sie auf eine tatsächlich zufällige Art wieder zusammenführte. Sie hieß Marcenda. Dies hatte er inzwischen erfahren. Nicht viel, aber für einen Anfang genug und für die überbordende Fantasie mehr als genug. Sie hatte das Gesicht, das er liebte. Es sollte vorerst das letzte Mal sein, dass er sie sah.

***

Am selben Abend lungerte Vince in Kruses Bar herum, Monate, bevor es ihn nach Spanien verschlagen sollte. Es war wiederum ein Abend mit wenig Betrieb, da hatte der Türsteher ein Einsehen mit dem leicht verwahrlosten, auf jeden Fall noch minderjährigen Besucher. Ein Aushilfspianist stocherte sich weitgehend talent- und erfolgfrei durchs Real Book der Jazzstandards. Vince grölte angetrunken: Üben, üben, üben, bis der Rausschmeißer tat, was ihm von Berufs wegen auferlegt war, und Vince an die frische Luft beförderte. Dies wäre nicht weiter berichtenswert, wenn es sich nicht um eine verpasste Gelegenheit gehandelt hätte; eine Gelegenheit einer Begegnung, die vielleicht nicht allzu oft eine Wiederholung finden würde. Wäre er ein paar Jahre älter gewesen, könnte man sagen, Vince hätte einen schweren Tag. Am Morgen wurde er von seiner Schlagzeug-Übungsgruppe suspendiert. Sein Lehrer beendete den Unterricht mit der lapidaren Mitteilung, es habe keinen Zweck, und eine Fortsetzung der Ausbildung wäre verschwendete Zeit. Seit dem Mittag betrank sich Vince. Zunächst in den Kneipen um den Ostbahnhof herum, dann, als er in seiner Jackentasche noch einen Fünfziger fand, wechselte er auf etwas vornehmere Lokale über. Das Taxi, mit dem Vince zur Bar gelangte, musste einen Umweg fahren, weil sich ein Unfall ereignete. Eine Frau war überfahren worden und lag regungslos am Straßenrand, begafft von vielen zufällig Daherkommenden. Dieser Umweg, rechnete Vince in seinem vom Alkohol benebelten Hirn nach, kostete ihn mindestens einen weiteren Drink.

***

Einen Tag später reiste Kruse ab. Er wusste, mit dieser Reise würde er seine Gewohnheit durchbrechen, sich lieber alles vorzustellen und stattdessen den Ort nicht zu verlassen. Doch er wusste auch, dass er noch Wochen und Monate brauchen würde, sich des Geschehenen immer wieder zu erinnern; und dass er dennoch vor Verzweiflung über einen groben, sinnlosen und in seiner Grobheit und Sinnlosigkeit völlig unverständlichen Schlag ins Gehirnkontor darüber eingehen würde. Er kündigte sein Engagement in der Bar und begab sich in der stillen Hoffnung auf die Reise, vergessen zu können.

***

Vince kaute gierig, verschlang das Brot mit riesigen, hastigen Bissen, als hätte er Angst, sie könnte etwas davon zurückfordern. Er nickte beiläufig auf die Frage des Mädchens, ob sie dableiben könne. Als Gegenleistung für etwas zu essen war ihre Anwesenheit gerade noch zu ertragen. Er würde schnell aufessen und wortlos gehen. Notfalls würde er rennen, dass sie ihm nicht hinterherlief.

Von wo kommst du eigentlich her?

Bin nicht von hier.

Hab ich mir gedacht.

Was hast du dir gedacht?

Ich meine, woran sieht man denn, ob einer von hier ist oder nicht?

Weiß nicht, sieht man eben, dass du nicht von hier bist. Siehst eben so aus. Außerdem redest du auch nicht so wie die von hier.

Hab doch noch keine fünf Sätze gesagt.

Eben.

Hältst du mich für blöd oder was?

Weiß nicht.

Sieh dich vor.

Etwas überraschend, nach einer Wolke aggressiven Schweigens: Bist du auch abgehauen? Vince hätte sich das letzte Wort gerne verkniffen, aber es war zu spät.

Ach, abgehauen bist du? Woher: Aus einem Heim oder von zu Hause?

Hör auf, mich auszuquetschen!

Ist ja gut, reg dich nicht so auf, war ja nur eine Frage. Das Brot war trotzdem gut, oder? Ich habs nämlich geklaut. Geklaute Brote schmecken irgendwie anders.

Vince starrte sie mit einem ziemlich dusseligen Gesichtsausdruck an. Du hast … was …?

Ja, ich habs geklaut. Aus dem Café gegenüber vom Spielwarenladen. Genau in dem Moment, als du den Stein reingeschmissen hast, vorhin. Der Verkäufer ist auf die Straße gegangen zu gucken, was los ist, genau wie alle andern auch. Und da hab ichs eben eingesteckt. Hier, ich hab noch mehr.

Sie kramte in ihrem Rucksack herum. Zum Vorschein kamen ein Käsebrot, eins mit Schinken und eins mit Thunfisch.

Und das Beste kommt noch! Sie hob zwei Büchsen Bier in die Luft.

Vince’ Gesichtsausdruck veränderte sich nur um eine Nuance.

Was, und das alles hast du in dem einen Moment geklaut, als ich den Stein ins Fenster geworfen hab?

Die Lachfalten des Mädchens zogen sich zusammen wie ein Raspeleisen. Die Augen wurden zu winzigkleinen Schlitzen und der Mund zu einem riesenhaften Loch, aus dem die Zunge blinzelte wie die Zipfelmütze eines Heinzelmannes, der aus seinem Versteck lugte. Vince entschied sich für das Bier, öffnete die Büchse mit einem geübten Griff und reichte sie der seltsamen Spenderin.

Hätt ich nicht gedacht. Gar nicht so blöd. Entschuldige wegen eben.

Schon gut, wehrte das Mädchen generös ab, man kann sich ja auch einmal irren. Statt das angebotene Bier zu nehmen, griff sie nach der anderen Büchse und versuchte sie ebenso gekonnt zu öffnen wie Vince. Nach dem dritten Versuch klappte es.

Prost!

Sie knallte ihre Büchse etwas überkandidelt gegen die von Vince. Sie tranken beide einen Schluck. Ein Betrachter, der die beiden in der Abenddämmerung nicht als halbe Kinder erkannt hätte, würde glauben ein zärtliches Trinkerpärchen vor sich zu haben. Lustig, vielleicht schon ein bisschen beschwipst.

Boaahh …! Das Mädchen spuckte einen großen Schwall ihres Bieres wieder aus. Das schmeckt ja Scheiße.

Wieso Scheiße?, fragte Vince irritiert. Das ist ein astreines Bier.

Weiß ich nicht. Hab noch nie eins getrunken. Wollts mal halt probieren.

Sie starrten sich einen Moment lang an, Vince noch eine Spur dümmlicher als vorher. Dann lachten sie los, beide zugleich, schütteten sich aus vor Albernheit, schlugen sich auf die Schenkel, krümmten sich, bis ihnen der Magen wehtat. Das Mädchen warf sich mit einem Ruck gegen die Lehne, dass Vince fast von der Bank geflogen wäre. Dazwischen waren vereinzelte Wortfetzen zu hören wie: Du klaust Bier … spuckst es einfach aus …, und: Du schmeißt Steine … Spielzeugläden … Spiel… zeug… läden … haust einfach ab …

Du hast echt einen Knall, konstatierte Vince.

Na, aber du erst, sekundierte das Mädchen. Nur mühsam konnten sie sich wieder beruhigen.

Wie heißt du eigentlich?

Julia. Und du?

Vince.

War eben so ne kitschige Idee von meinem Vater mit dem Namen. Der ist eben so.

Wie – so?

Na eben verkitscht. So ein Name. Wie aus einem alten blöden Film.

Wieso denn, ist doch nicht schlecht? Das ist Shakespeare, und der macht keine Filme, glaub ich.

Ach was!

Vince ist auch nicht gerade doll. Klingt irgendwie doof. Zumindest klein.

Find ich nicht.

Ich schon. Und wie kommst du hierher?

Ist eine lange Geschichte. Und du?

Ist eine noch längere Geschichte. Prost!

Er hob seine Büchse zu einem neuen Versuch.

Nee, lieber nicht, sagte sie.

Du musst einfach die Nase zuhalten und nicht so schnell schlucken. Sonst kommts dir wieder hoch.

Wenn du meinst. Sie hielt sich die Nase zu und setzte die Bierbüchse an. So? Sie blickte ihn fragend an, er nickte. Prost!, näselte sie. Beide nahmen einen Schluck. Sie tat, wie er ihr geraten hatte und schluckte langsam. Es schmeckte wohl genauso schauderhaft wie vorher, aber sie ließ sich nichts anmerken. Langsam wurde es dunkel, und wie auf eine geheime Verabredung hin schwiegen sie. Vince dachte nach, wo er die Nacht über bleiben würde. Es wurde Zeit, sich darum zu kümmern.

***

Seit Tagen schon durchpflügte Kruse mit großen, eiligen, der Hitze unangemessenen Schritten die Straßen, den Körper messend gegen die unendliche Schwere des alten Gesteins. Verschwitzt und bleiernen Kopfes, am Rande jeder Erschöpfung einen Kaffee nehmend, doch nur, um alsdann mit neuer Wut und Rastlosigkeit die nächsten Straßenzüge zu erklimmen. Was ihn nach Lissabon getrieben hatte, er konnte es nicht mehr benennen. Es verschwamm zu einer Melange aus Gründen, Absichten, Wünschen, Ängsten und Gewissheiten. Kaum konnte er auseinanderhalten, was geschehen war in den Tagen vor seiner Abreise; was hätte geschehen müssen; was er befürchtete, hätte geschehen können.

Zunächst hatte Kruse den Alten nicht bemerkt. Er musste an der Basílika da Estrela eingestiegen sein, nun saß er ihm schon seit etlichen Stationen gegenüber. Verstohlen blickte der Mann ab und zu herüber, einmal lachte er sogar. Er war auf seltsame Weise altertümlich gekleidet, trug einen zwar tadellosen aber merkbar antiquierten Anzug und eine dunkle, etwas verrutschte Krawatte über dem nicht mehr ganz weißen Hemd. Warum der Alte herüberblickte und blinzelte, wusste man nicht. Vielleicht glaubte er, in Kruse einen Touristen zu sehen, dem er gegen ein entsprechendes Honorar die Stadt zeigen kann. Vielleicht sollte er einfach sitzen bleiben und ihn ignorieren. Irgendwann würde er verstehen, dass kein Geschäft zu machen sei. Im Übrigen war der leichte Windhauch, der durch das geöffnete Seitenfenster in das Innere der Bahn strömte, durchaus belebend. Kruse hatte kein Ziel, es konnte ihm also gleichgültig sein, wann und wo er ausstieg. In der Nähe des Rossio, des großen Hauptplatzes in der Stadtmitte, stieg der Alte aus, nicht ohne sich beim Hinausgehen noch einmal umzuwenden. Froh, den Aufdringlichen endlich los zu sein, und in der Erwartung eines guten Abendessens entdeckte Kruse auf dem Platz, neben dem der alte Mann gesessen hatte, einen Spazierstock aus dunklem Holz, der jenem zu gehören schien. Kruse erinnerte sich, dass der Mann mit dem silbernen Knauf des Stockes spielte, während die Straßenbahn von der Basilika stadtabwärts schlingerte.

Eine große Menschenmenge wartete an der Haltestelle der Catedral Sé Patriarcal, wahrscheinlich Kirchgänger, die aus der gerade zu Ende gegangenen Abendmesse strömten. Auf dem Weg zur Tür griff Kruse nach dem Stock, er wusste nicht, wozu er ihn hätte gebrauchen können, er war für seine Körpergröße zu klein, und auch glaubte er sich nicht in einem Alter, der das Tragen eines Spazierstocks erforderte oder irgendwie legitimierte. Doch ehe er begann, darüber nachzudenken, was er eigentlich mit dem Stock sollte, befand er sich schon außerhalb der Bahn, mit eben jenem Stock in der Hand. Also machte Kruse sich auf den Weg, ein gutes Lokal für den Abend zu finden. Er bog in eine kleine steil aufwärtsstrebende Straße ein, von der aus es nur wenige Meter Weg zu einem winzigen Restaurantkeller waren. Er versuchte sich auf den Stock zu stützen, aber er war in der Tat viel zu klein, und so klemmte er ihn – etwas dandyhaft – unter den Arm.

Wozu brauchen Sie einen Stock?, trompetete es ihm fröhlich entgegen. Kruse blieb stehen und schaute die Straße aufwärts, in die Richtung, aus der die Stimme kam. Lächelnd kam ihm der ältere Mann, der ihm noch vor einer Viertelstunde in der Straßenbahn gegenübersaß, entgegen. Er musste sich am Rossio ein Taxi genommen haben, um eher hier zu sein. Kruse war die Aufdringlichkeit des Alten zuwider, und er suchte nach einer Möglichkeit, ihn schnell wieder loszuwerden.

Ich bitte Sie, geben Sie mir meinen Stock wieder, ich bin nicht mehr allzu gut zu Fuß, wissen Sie, und bei diesen steilen Straßen, diesem undurchdringlichen Gewirr von Bergen, Schluchten, Gassen und Häusern, bin ich geradezu angewiesen auf meine Gehhilfe. Ich finde im Übrigen, dass er nicht sonderlich gut zu Ihnen passt, er verschafft Ihnen so eine etwas, verzeihen Sie bitte, dandyhafte Attitüde. Es ist so ähnlich, wie wenn junge Menschen Ihres Alters sich plötzlich angewöhnen, Pfeife oder Zigarre zu rauchen, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Ich denke, es geht Sie überhaupt nichts an, wie ich aussehe, was ich rauche, und wie ich auf bestimmte Menschen wirke, die ihre Nasen in das Leben anderer stecken, nur weil sie sich irgendeinen dubiosen Gewinn davon versprechen. Und was den Stock betrifft, Sie haben ihn in der Straßenbahn liegengelassen, ich hätte ein Gleiches tun können und dann müssten Sie jetzt zusehen, wie Sie ohne ihn zurechtkommen. Bitte sehr, da ist er, Sie können ihn wiederhaben. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden. Gereizt wandte Kruse sich zum Gehen.

Wenn Sie ein gutes Lokal suchen, ich kenne eines hier ganz in der Nähe.

Kruse holte tief Luft.

Nein, nein, sagen Sie nichts, unterbrach ihn der Alte, bevor er antworten konnte. Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht kränken. Selbstverständlich bleibt es Ihnen überlassen, ob Sie an guten Zigarren Geschmack finden, und selbstredend spielt es keine Rolle, wie alt Sie sind, wenn Sie sie rauchen. Entschuldigen Sie bitte vielmals. Ich habe hier übrigens noch zwei hervorragende Romeo y Julieta bei mir, ein alter Studienkollege aus Schottland hat sie mir mitgebracht. Ich habe sie heute Nachmittag eingesteckt, ohne einen Grund dafür zu haben. Mein Arzt sagt, ich in meinem Alter sollte das Rauchen endlich bleiben lassen, wenn ich noch ein paar Jahre leben wolle. Sie werden das vielleicht noch nicht so kennen, junger Mann, wie es ist, wenn aus einem halbwegs fahrtüchtigen Automobil ein alter Klapperkasten wird, den man weder in Reparatur geben noch umtauschen oder verschrotten kann. Darf ich Sie zu einer Zigarre einladen, wenn Sie die Güte haben wollen, den Wein und den Cognac zu begleichen?

Vom Redeschwall des Alten überwältigt und des Stehens zwischen den engen Häusern mehr als überdrüssig, willigte Kruse ein, nicht ohne das Unbehagen, einem gerissenen Schnorrer auf den Leim gegangen zu sein. Er beschloss, das Ganze als ein Spiel mit offenem Ausgang, quasi eine Wette, die er mit sich selber abschloss, anzusehen. Er war sicher, der Alte hatte keine Zigarre dabei, und wenn, dann mit Sicherheit keine Romeo y Julieta.

Sie waren bei der sechsten Flasche Wein angelangt. Der Alte legte ein Tempo im Trinken vor, das in einem merkwürdigen Missverhältnis zu seiner äußeren Erscheinung stand. Doch er schien, im Gegensatz zu Kruse, dem der junge, grüne, heftig moussierende Wein zu Kopf stieg, keineswegs betrunken. Im Gegenteil, seine Ausführungen wurden im Laufe des Abends immer klarer, oder sie erschienen nur klarer, weil Kruse zusehends den Überblick verlor.

Wissen Sie, junger Freund, ich darf Sie doch so nennen angesichts des fortgeschrittenen Abends und des Quantums Alkohol, das wir beide inzwischen genossen haben, ich spürte schon heute Nachmittag, als ich das Haus verließ, dass dieser Abend ein besonders anregender werden würde. Dass ich ausgerechnet Sie treffen würde und Gefallen daran finde, mit Ihnen zu Abend zu essen, hätte ich nicht zu glauben gewagt.

Was reden Sie nur für dummes Zeug, Kruse bemerkte, dass er seine Zunge kaum noch unter Kontrolle hatte, Sie kennen mich nicht, sind zufällig in die Straßenbahn eingestiegen, in der ich saß, haben mich mit Ihrem blöden Spazierstock geködert, sich ein formidables Abendessen organisiert, Kompliment. Er ärgerte sich darüber, dass er kaum noch in der Lage war, ganze Sätze zu sprechen.

Es würde mich sehr traurig stimmen, wenn Sie so von mir denken würden, junger Freund. Glauben Sie im Ernst, ich würde nicht über genügend Barschaft verfügen, um unsere Rechnung zu begleichen. Sie sollten vorsichtiger mit Ihren Urteilen sein, und wenn Sie dieser schon so sicher sind, sollten Sie mehr Rücksicht bei Ihren Formulierungen walten lassen. Und im Übrigen möchte ich Sie darauf hinweisen, gestatten Sie mir diese letzte Anmerkung, dass in dieser Stadt nichts, aber auch gar nichts Zufall ist. Zufälle mag es in Ihrem Land, in Ihrer Sprache geben, dieser Begriff hat für uns keinerlei Relevanz, glauben Sie mir. Wir haben uns eine gewisse Hochachtung bewahrt vor dem, was man das Schicksal nennt. Und das ist etwas gänzlich Anderes … Auch wenn man geneigt ist, den Glauben an Gott zu verlieren, so sind wir uns doch ganz außerordentlich im Klaren darüber, dass jenseits der Mickrigkeit unserer Existenz und jenseits unserer beschränkten Erkenntnisfähigkeit es etwas gibt, dass – wie es in Ihrer Sprache heißt – die Welt im Innersten zusammenhält. Glauben Sie mir, dieses große Andere, es ist wie eine Krankheit, oder die Angst vor dieser Krankheit, die Angst vor dem Wahnsinnigwerden oder auch nur das Bewusstsein, das es wenig gibt, was zu erreichen wert, wirklich wert wäre … Das erklärt vielleicht unseren Abscheu vor jeglichem Prophetentum, jeglicher Eiferei im ideologischen Sinne wie auch unsere ausgesprochen obsessive Vorliebe für Geschichten sonderlicher Art … Sehen Sie, nur der Bankier, der dem Müllmann seinen Reichtum anvertraut, ist ein wahrer Bankier. Gemessen an dieser Einsicht …

Verzeihen Sie bitte, unterbrach Kruse ihn, wir sollten aufhören, die große Welt heut Abend noch einrenken zu wollen. Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment. Er suchte den Weg zu einem Waschbecken, um den Kopf eine Weile unter fließendes Wasser zu halten, was ihn, so hoffte er, ein wenig ernüchtern würde.

Sie werden noch lange brauchen, bis Sie es verstehen, junger Freund, sehr lange, vielleicht ein halbes Jahrhundert noch, rief ihm der Alte hinterher, während Kruse die Tür erreichte. Als er einigermaßen wiederhergestellt zurückkehrte, war der andere verschwunden. Es können keine drei Minuten vergangen sein, aber der Platz war leer. Er fragte einen Kellner, der bereits die übrigen Stühle zusammenstellte, nach dem Herrn von seinem Tisch. Der Kellner bedeutete ihm, dass die Rechnung beglichen sei und der Herr sich empfohlen hatte. Nein, eine Nachricht hätte er nicht hinterlassen, doch da liege eine Karte auf dem Tisch. Mit trunken-unsicherem Griff langte Kruse nach der Karte. Es stand lediglich ein Name darauf, keine Anschrift, keine Telefonnummer. Der Name lautete: Bernardo Soares.

Die Lebensgeister kehrten erst am nächsten Nachmittag zurück. Natürlich kannte Kruse Bilder von Soares, Bilder aus den dreißiger Jahren. Das heißt, natürlich nicht Bilder von Bernardo Soares, sondern von dem anderen, seinem Erfinder. Oder war es umgekehrt, war Soares der Erfinder des anderen, wer wüsste das mit Bestimmtheit heute noch zu sagen? Ein kleiner Mann mit Trenchcoat, Hut und Mantel, gebückter Haltung und lethargischem Aussehen. Nein, ein Monokel trug er nicht, das tat heutzutage keiner mehr, aber eine Brille, ein altmodisches Horngestell, daran konnte Kruse sich erinnern. Ein Verrückter, dessen war er sich sicher, einer, der sich für die Wiedergeburt eines Pseudonyms eines Dichters hält, oder der seine eigene Existenz, sprach er nicht von Mickrigkeit?, vertauscht hatte und einer rein literarischen Fiktion endlich eine Daseinsberechtigung gab; ein Hochstapler, der verquast-mystisches Zeug redet, um sich von anderen zum Essen einladen zu lassen. Und der aus Groll, weil man ihn nicht ernst nimmt, beleidigt zahlt und geht; einer, der vielleicht Langeweile hat und anderen auflauert, nur um sie betrunken zu reden. Ein alter Mann, freilich von guten Manieren und geschliffenem Ausdruck. Zum ersten Male spürte Kruse wirkliche Traurigkeit. Marcenda. Alles was geschehen war in den letzten Tagen und Wochen, war in dieser Sekunde des heftigsten Schmerzes wieder so gegenwärtig, als wäre es gestern erst passiert. Er erinnerte sich einiger ihrer markanten Gesten, beispielsweise wenn ihr etwas missfiel. Gesten, mit denen sie die Luft zerteilte, eine Luft, die es daraufhin nicht zu wagen schien, wieder zusammenzufließen und gleichsam in diesem zerteilten Zustand verharrte. Erinnerungen an das dunkle lange Haar, das bei jeder energischen Bewegung peitschenartig durch den Raum zu fliegen schien. Kruse erinnerte sich an so vieles in diesem Moment, an vieles, was war, aber auch an das, was er sich wünschte, hätte werden sollen, und was ihm jetzt so unbarmherzige Gewissheit war, dass es nie hätte sein können. Eine tiefe Wut auf Bernardo Soares stieg in ihm auf. Eine Wut, die doch selber so ohnmächtig und von kurzer Dauer war, weil sie von ihrer Vergeblichkeit wohl wusste und einer Müdigkeit ozeanischen Ausmaßes das Feld überließ. Diese Stimmung hielt die nächsten Tage über an. Kruse verharrte stundenlang in seinem Hotelzimmer, das so klein war, dass darin nicht einmal ein Tisch oder Stuhl Platz fand. Er schob das breite Doppelbett an das Fenster, direkt vor den kleinen Balkon und ließ sich, schon ermattet nach dem ersten morgendlichen Kaffee, auf die weißen Kissen fallen. Sah hinunter auf den Platz mit dem berühmten Reiterstandbild irgendeines alten Königs. Ein Platz, auf dem Myriaden von Tauben sich versammelt hatten, die von Kindern unablässig mit Maiskörnern gefüttert wurden. Den Mais konnte man, in kleine Tüten verpackt, bei einem invaliden Händler für wenig Geld kaufen. Sah auf das Menschenmeer, das sich, wie die Gezeiten des Atlantiks bewegte, morgens gegen sieben nahezu schlagartig den Platz zu überfluten drohte, sich dann im Laufe des Vormittags mit Beginn der ansteigenden Hitze langsam beruhigte, um sich dann am späten Nachmittag wieder um die Reiterstatue zu ergießen; wellenartig übereinander herfallend, sich mit infernalischem Krach überschlagend; ein Geschrei aus Verkäufern, schimpfenden Taxifahrern, plärrenden Kindern, streitenden Männern und hysterischen Ausländern, denen die Brieftasche abhandengekommen war. Teilnahmslos starrte er auf dieses Treiben, das erst am Abend erträglich wurde, wenn es kühler war. Die Bilder verschwammen zu einem Brei, einem auf- und abschwellenden Gemisch aus Farben, Lichtern, Geräuschen und Ameisenmenschen. Die Müdigkeit senkte ihre Bleigewichte auf die Lider. Kruse lag gänzlich angekleidet auf dem großen Bett vor dem Fenster, durch das die Sonne brannte.

***

Vince müsste raus aus der Innenstadt fahren in irgendeinen Randbezirk und ein Abrisshaus suchen. Damit hatte er Erfahrung, jedenfalls in anderen Städten. In Abrisshäusern konnte man oft wochenlang unentdeckt bleiben. Wenn man Glück hatte, waren sogar noch die Strom- und Gasleitungen in Ordnung, sodass man heizen oder sogar Radio hören konnte. Die Gesellschaft des Mädchens war ihm nicht unlieb gewesen, auch wenn sie ihm am Anfang ziemlich auf die Nerven ging. Sie war sogar außergewöhnlich hübsch, soweit man das in der Dunkelheit feststellen konnte. Aber sie würde sicher jetzt nach Hause gehen. Und für den Fall, sie würde ihm anbieten, mitzukommen, würde er ablehnen. Vielleicht hatte er Glück, und es ging ihr ebenso, vielleicht suchte sie ebenfalls nach einem Weg, ihn loszuwerden. Er leerte seine Bierbüchse, zerdrückte sie fachmännisch mit der Hand und warf sie, eine Spur zu cool, hinter sich auf die Wiese.

So, ich muss denn mal los. Er sprang auf und wickelte seinen Schal fest um den Hals.

Wo musst du hin?

Hab eine Verabredung.

Jetzt, um die Zeit?

Ist doch noch nicht spät. Wieso fragst du?

Vielleicht kann ich ja ein Stück mitkommen?

Ist zu gefährlich! Wie, gefährlich?

Hab noch was vor, eine Sache organisieren eben.

Kann ich nicht doch ein Stück mitkommen? Ich hau auch ab, wenn du meinst, dass es zu gefährlich wird. Vielleicht kann ich ja helfen.

Julia sah Vince an, hilflos und bittend, die Augen weit aufgerissen. Dieser Blick und das Bitten, es störte.

Wieso willst du unbedingt mitkommen? Musst du nicht irgendwann nach Hause?

Nein.

Musst doch irgendwo wohnen.

Tu ich aber nicht! Und jetzt hör auf mit der blöden Fragerei. Kann ich nun mit oder nicht? Vielleicht. Ich überleg es mir.

Danke.

Ich hab gesagt, ich überleg es mir. Hab nicht gesagt, kannst mitkommen.

Schon in Ordnung.

***

Am Morgen entschied Kruse, seine tagelange Isolation in dem kleinen Zimmer zu durchbrechen und endlich wieder unter Menschen zu gehen. Es war Sonntag, und er könnte am Cais do Sodré in einen Zug steigen und zum Meer fahren. Doch fürchtete er, es würde dort zu voll zu werden, weil alle Menschen der Stadt am Wochenende ans Meer fliehen. Man könnte auch mit der Drahtseilbahn nach Sant’Ana fahren, wo es einen Platz gibt, der den meisten flüchtigen Besuchern unbekannt ist, der auch deshalb wenig frequentiert wird, weil es in seiner Nähe keine Cafés gibt, in die man sich hätte zurückziehen können. Er beschloss, sich ein Mineralwasser vom Portier geben zu lassen und dorthin zu fahren. Er könnte ein Buch oder einige Bögen Papier mitnehmen, um dem Vormittag noch etwas Sinnvolles abzugewinnen. Lange Zeit verwendete Kruse auf das Binden einer Krawatte. Doch mal erschien ihm das eine Ende zu kurz, ein anderes Mal zu lang. Nach vielen erfolglosen Versuchen ließ er es bleiben. Bei diesen Temperaturen war es ohnehin besser, ohne Krawatte das Haus zu verlassen. Beim Hinausgehen, Saul, das mosambikanische Zimmermädchen, machte sich bereits mit dem Beziehen des Bettes und dem Aufräumen der lose dahingeworfenen Sachen zu schaffen, warf er einen prüfenden Blick in den Spiegel. Es war Zeit, dass er endlich wieder einmal herauskam aus seiner freiwilligen Arrestur. Kruse verabschiedete sich von Saul, wünschte ihr einen schönen Tag und stieg, einigermaßen erwartungsfroh und gutgelaunt, die Treppen vom vierten Stock herunter zur Rezeption. Hinter einer Glastür und einem ziemlich schmierigen Tresen, auf dem einige veraltete Telefonbücher sowie in seltsamem Englisch verfasste handgeschriebene Hinweise für Hotelbesucher lagen, saß João, der Portier. João, so hießen alle Portiers dieser Stadt, und hießen sie nicht João, so heißen sie Juan oder José. Sein Alter konnte man auf Mitte, Ende vierzig schätzen; vielleicht war er zehn Jahre älter, gut möglich, ein paar Jahre jünger. Seine Gesichtsfarbe hatte etwas Bläuliches, was auf eine Herzerkrankung schließen ließ, ihn aber mitnichten hinderte, pro Tag zwei bis drei Packungen Zigaretten zu rauchen. Mehrmals täglich verließ er sein gläsernes Refugium, schloss die Schiebetür sorgsam ab, eilte die Treppen zur Straße herunter, an dem Stoffwarengeschäft vorbei, das sich im ersten Stock des Hauses befand, und ging in das kleine Bistro neben dem Hoteleingang, um sich ein Paket Zigaretten zu kaufen. Niemals zwei oder drei, seine Tagesration, sondern immer nur eines, so als gehörte dieser Ritus des Zigarettenholens, dieser täglich mehrmals praktizierte Ausflug aus dem Office zum normalen Arbeitsalltag des Portiers. Kaum hatte er die Glastür seines Arbeitsplatzes wieder geöffnet und hinter dem Tresen seinen Platz wieder eingenommen, riss er die Schachtel auf, zog eine der Zigaretten nach der andern heraus und riss die Filter ab, die er alle zusammen in einen großen Aschenbecher legte, was insofern erwähnenswert ist, weil er das mit den gerauchten Zigaretten niemals tat. Achtlos schnippte er die Kippen auf die Straße oder zertrat die Reste auf dem Boden. Doch die vor dem Rauchen abgetrennten Filter sammelte er, um sie am Abend bei Dienstschluss zusammenzuzählen und in den Papierkorb zu werfen. Die Konversation mit João beschränkte sich in der Regel auf einige Begrüßungen und Verabschiedungen pro Tag, auf einige kurze Unterredungen anlässlich des Wetters der kommenden Tage. Montags sprach Kruse mit ihm ausführlich über die Fußballergebnisse von Benfica und Sporting. Sie sprachen erst montags darüber, weil João am Sonntag seinen freien Tag hatte. Da fuhr er seine Mutter besuchen, die einige Kilometer außerhalb der Stadt in einer Vorortsiedlung wohnte. Umso erstaunlicher war, dass heute, an einem Sonntag, João in der Portiersloge saß.

Meine Mutter ist im Alentejo bei einer Cousine, erklärte er, und was soll ich an solch einem tristen Tag allein zu Hause. Ich gehe lieber hierher und räume ein wenig das Büro auf. Viel hatte er allerdings bei seinen Aufräumungsarbeiten noch nicht zuwege gebracht. In dem, was er Büro nannte, herrschte nach wie vor eine apokalyptische Unordnung aus Rechnungszetteln, Reinigungsmitteln für Saul, ein paar Zahnpasta-Tuben und Rasierwasserfläschchen, die schon einige Jahre dort verstaubten. Kruse überlegte kurz, ob er auf einen Kaffee bei João verweilen sollte. Vielleicht war es ihm ja auch ein wenig langweilig. Das Hotel war kaum belegt, beziehungsweise die wenigen Gäste, die es bevölkerten, waren heute ans Meer gereist genau wie der Rest der Stadt. Aber wahrscheinlich wollte João seine Ruhe haben, wenigstens die Bleistifte anspitzen oder im Fernsehen die Übertragung eines Autorennens anschauen. Man würde ihn nur stören. Schon längst hätte Kruse ihn auf eine Macieira einladen können, aber er glaubte, dass João niemals öffentlich trank, jedenfalls tat er dies nicht mit Hotelgästen. Also erbat er sich lediglich eine Flasche Wasser und erzählte, dass er den Tag unter einem schattenspendenden Baum in Sant’Ana zu verbringen gedenke. Diese Auskunft grenzte schon fast an eine Indiskretion. João rückte umständlich einige Koffer beiseite, die jene Gäste dort abgestellt hatten, die am Abend nach England zurückreisten und noch einen Tag in der Stadt verbrachten. Diese geräuschvolle und in dem engen Büro wirklich komplizierte Tätigkeit umständlich beendend, griff João nach einer Batterie Wasserflaschen, löste die Plastikverpackung und reichte zwei von den Flaschen herüber.

***

Kannst mitkommen, entschied Vince. Es klang etwas plötzlich und überraschend.

Wohin eigentlich?

Das genau war das Problem. Vince hatte nicht die geringste Ahnung, wohin sie gehen sollten. Die letzten Tage hatte er geradezu luxuriös gewohnt in einer komplett eingerichteten Wohnung in der Calle de Argumosa, nahe der Kirche San Lorenzo. Es war die Wohnung der Großeltern seines Freundes Moritz. Moritz war der einzige Mensch, der wusste, in welche Richtung es Vince verschlagen hatte. Heimlich hatten sie einen Schlüssel der großelterlichen Wohnung nachmachen lassen, den Vince mitnehmen konnte. Moritz hatte ihm eingeschärft, spätestens am 23. Dezember zu verschwinden, da würde die ganze Familie samt Großeltern zurückkehren wegen Weihnachten und Silvester. Er, Moritz, müsse auch mit. Aber bis dahin stünde die Wohnung leer. Vince hatte heute Morgen das Geschirr abgewaschen, den einen zersprungenen Teller in einer Mülltonne verschwinden lassen, alle Spuren seines Aufenthalts getilgt und die Wohnung verschlossen. Jetzt stand er da und wusste nicht, wohin in dieser Stadt. Dazu hatte er nun Julia an den Hacken, die wer weiß woher kam und nirgends hinzugehören schien. Und die ihm auch nicht weiterhelfen konnte.

Hast du Geld? Immerhin besaß sie Sinn für das Praktische.

Jedenfalls nicht genug. Nicht genug, um abzuhauen, präzisierte er.

Um abzuhauen, braucht man doch kein Geld.

Ach ja? Und wie macht man das? Hast du denn Geld?

Nicht viel.

Sie zählte ein paar Münzen und kleine Geldscheine aus ihrer Jackentasche.

Wir können uns ja welches besorgen.

Und wie?

Die Geschäfte sind noch offen, die Leute kaufen auf den letzten Ritt Geschenke, da achtet keiner mehr drauf, wohin er seine Brieftasche steckt.

Aber wir achten drauf, meinst du!

Genau.

Und dann?

Dann kaufen wir uns eine Fahrkarte, irgendwohin, wo es nicht so kalt ist, weiter nach Süden oder so. Wir nehmen einfach einen Zug heute Abend, dann wissen wir wenigstens, wo wir die Nacht über bleiben können.

Klingt gut. Vince blieb nicht mehr übrig, als dem Plan Julias eine gewisse Genialität zuzubilligen. Außerdem klang er nicht nur verlockend, sondern auch noch geradezu fantastisch simpel. Diese Verbindung ist selten, fand er.

Und was ist jetzt mit der Sache, die du noch organisieren wolltest?

Vergiss es. War nur so eine Idee.

Sie gingen die Calle de Zorilla zurück, die Vince vorhin nach seinem Steinwurf so atemlos heruntergerannt war. Gingen durch albern weihnachtlich geschmückte Straßen voller hektischer Leute, allesamt schwer bepackt mit Kartons, die in buntes Papier eingeschlagen waren, versehen mit propellergroßen Schleifen. Akazienbäume und Palmen, die mit Nikoläusen behängt waren. Julia und Vince entschieden, in ein großes Kaufhaus zu gehen, dort würden sie eher zum Ziel kommen als in einem kleinen Laden. Sie verabredeten sich. Julia solle jeweils einen der schwitzenden bepackten Weihnachtseinkäufer ansprechen, ihn um eine Auskunft oder die Uhrzeit bitten, während Vince von hinten in die Manteltasche griff und sich die Brieftasche schnappte. Natürlich suchten sie ihre Opfer vorher aus, wussten, wer einen günstigen Fang zu machen versprach; wussten, wo sie zuschlagen konnten. Dabei mussten sie ständig auf der Hut sein vor Kaufhausdetektiven oder anderen Passanten, die sie hätten beobachten können. Dass es so schnell und reibungslos funktionieren würde, hätte Vince nicht gedacht. Sie wiederholten ihre sekundenschnelle Aktion einige Male. Zwischendurch entfernten sie sich voneinander, schlenderten scheinbar ziellos durch die Regalstraßen, verständigten sich mit Blicken, wenn sie sich auf ein neues Opfer geeinigt hatten. Um nicht zu sehr aufzufallen, wechselten sie die Abteilungen und Stockwerke. Insgesamt dauerte ihr Fischzug keine Dreiviertelstunde.

Wieviel haben wir jetzt zusammen? Julia konnte es kaum erwarten, den in Windeseile erbeuteten Reichtum in Augenschein zu nehmen.

Bist du irrsinnig? Glaubst du, ich zähl das jetzt hier im Kaufhaus zusammen?

Ich mein, wie viele Brieftaschen sinds denn jetzt?

Weiß nicht. Sieben oder acht. Ich glaub, das reicht. Lass uns verschwinden. Wir gehen am besten getrennt raus. Du zuerst. Ich komm in ein paar Minuten nach. Wir treffen uns drüben an der Ecke, vor dem Bistro.

Hau bloß nicht ab!

Ich hau nicht ab. Bis gleich.

Bis gleich dann.

Julia verschwand schnell in Richtung Rolltreppe, und Vince schaute ihr nach. Nach zwei, drei Minuten ging auch er.

***

Zwei sind besser, es wird heiß, sagte João, und reichte Kruse zwei Wasserflaschen herüber. Das war wiederum schon fast eine Indiskretion seinerseits. Fast wäre man geneigt, diesen Dialog als eine ausgelassene Plauderei anzusehen. Kruse bedankte sich, nahm die beiden Flaschen, überlegte kurz, wo er sie verstauen konnte. Die Taschen seines Jacketts waren gefüllt mit allerlei scheinbar notwendigem, letztlich unbrauchbarem Zeug, einem Telefonverzeichnis, einem Wohnungsschlüssel, den er vergessen hatte zurückzugeben, einem älteren Brief von Marcenda, den er so oft gelesen hatte, dass er ihn fast auswendig kannte und in dem ihr ein Kommafehler unterlaufen war. Nicht dass er sonderlich pingelig in Sachen Orthografie wäre, aber es war ein äußerst sympathischer Kommafehler, weil er Marcendas so perfekten Erscheinungsbild eine kleine individuelle, abweichende Färbung gab. Die eine Flasche mehr oder minder geschickt unter den Arm geklemmt, die andere in der linken Hand tragend, verabschiedete er sich und wandte sich zum Gehen.

Plötzlich rief ihm João, Kruse hatte den Treppenabsatz schon erreicht, hinterher: Fast hätte ich es vergessen, Senhor, hier ist eine Nachricht für Sie. Sie wurde heute Morgen abgegeben, sehr zeitig am Morgen. Kruse kehrte zurück und stellte die Wasserflaschen auf dem Tresen ab. Er war sich sicher, dass es sich nur um einen Irrtum handeln konnte. Er hatte niemandem seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort mitgeteilt. Niemand konnte seine Adresse ausfindig machen. Er hatte auch kein Interesse daran, dass es jemand tat, denn er wollte absichtlich für eine Weile nachrichtenlos bleiben.

Das muss ein Irrtum sein, niemand weiß, dass ich hier bin, schauen Sie doch bitte noch einmal nach, João. Es handelt sich sicherlich um ein Missverständnis.

Nein, ganz bestimmt nicht, entgegnete João. Der Herr, der die Nachricht abgegeben hatte, wusste, dass Sie hier wohnen. Er sagte nur: Bitte geben Sie diesen Brief meinem jungen Freund, wenn er erwacht ist und das Haus verlassen sollte. Ich wollte den Herrn noch nach seinem Namen fragen oder ob ich sonst irgendetwas für ihn tun kann, aber er war ebenso plötzlich verschwunden, wie er gekommen war. Es war auch noch sehr zeitig am Morgen, wissen Sie. Ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, wie der Herr ausgesehen hat, abgesehen von dieser merkwürdigen alten Hornbrille.

Hier, bitte sehr, sagte João und überreichte einen Umschlag. Kruse nahm ihn entgegen, öffnete ihn und zog eine Karte heraus. Auf ihr stand in schnörkelloser, gerader Schrift ein einziger Satz, mit eleganter Handschrift verfasst. Kein Gruß, keine Adresse, kein Name, nichts, nur der Satz, exakt in der Mitte der Karte platziert: Ich bin so groß wie das, was ich sehe.

***

Julia stand am Eingang, umringt von zwei uniformierten Kaufhausangestellten. Einer zerrte an ihrer Jacke, der andere machte sich an ihrem Rucksack zu schaffen. Sekundiert wurden sie von einem Herrn in einem teuren langen Mantel, der wild gestikulierend auf einen vierten Mann einredete. Vince erkannte ihn sofort. Es war derjenige, den sie in der Parfümabteilung abgegriffen hatten. Der Schock, erwischt zu sein, lähmte ihn. Das Geld!, durchfuhr es ihn. Natürlich, er hatte es. Sie könnten Julia überhaupt nichts nachweisen, wenn er nur verschwinden würde.

Vorsichtig drehte er sich um, suchte einen anderen Ausgang. Es musste, verdammt noch mal, einen zweiten geben. Er war in der Lebensmittelabteilung gelandet, eine Lautsprecherdurchsage verkündete in näselndem Ton, dass in wenigen Minuten geschlossen würde. Soviel konnte er immerhin noch verstehen. Vince spähte noch einmal zum Ausgang und sah, dass Julia und der Mantelmensch zu einer Tür neben dem Eingang gebracht wurden. Julia wehrte sich und schrie auf die Uniformierten ein. Vince konnte es nicht hören, aber er sah es an ihren heftigen Bewegungen. Eine Menschentraube hatte sich um dieses zuckende Quintett gebildet, ebenfalls gestikulierend und wild debattierend. Aus dem Lautsprecher drang dumm-fröhlich scheppernde Weihnachtsmusik. Vince schnappte sich einen Einkaufswagen, der herrenlos abgestellt war und bewegte sich vorsichtig in Richtung des anderen Ausgangs. Auch dort standen Uniformierte. Was ist, wenn Julia ihn verpfiffen und beschrieben hätte? Inzwischen würden auch andere Brieftaschenbesitzer den Verlust bemerkt haben. Man würde das ganze Kaufhaus abriegeln, bis man den Dieb gefasst hätte. Ein ganzes Rudel von Detektiven, Polizisten und Hunden würde nach ihm suchen. Findet ihn, er hat mindestens acht Brieftaschen bei sich! Man würde ihn nicht behandeln wie einen einfachen Kaufhausdieb, der ein paar Nebensächlichkeiten eingesackt hatte. Eher schon wie einen gefährlichen Kriminellen, einen Serientäter. Am schlimmsten war der Gedanke, vielleicht jetzt noch vor Weihnachten abgeschoben zu werden, zurück nach Deutschland.

Vince verfluchte die Idee, sich mit Julia eingelassen zu haben. Weiber sind für sowas eben nicht geeignet. Dann kroch wieder die Angst in ihn. Die Angst, entdeckt zu werden, im Knast zu landen. Plötzlich sah er in einer Ecke, an der die leeren Einkaufswagen abgestellt wurden, einen blauen Kittel hängen. Einen Kittel, wie ihn Lagerarbeiter tragen. Er eilte darauf zu. Ohne sich umzusehen, griff er danach und zog ihn über. Riss sich den Schal vom Hals, versteckte ihn in der Manteltasche neben den Brieftaschen. An der Kasse lagen leere Verpackungen, Margarine-Kästen, leere Tüten, Kartons, in denen Hundefutter verpackt wurde. Er griff sich einen Stapel Kartons und fragte die Kassiererin, wohin damit. Sie sah kurz über die Schulter und bedeutete ihm mürrisch eine Tür neben der Wagenecke. Vince ging seelenruhig mit seiner Ladung auf die Tür zu und trat zweimal mit dem Fuß dagegen. Wie ein Sesam-öffne-dich sprang sie daraufhin auf, bedient von einem tiefschwarzen Lagerarbeiter, der ihm mit einem Fingerzeig den Ort wies, wo Vince die Kästen abstellen sollte. Von dort waren es noch wenige Meter bis zu einer Laderampe.

Vince rannte wie um sein Leben. Im Rennen streifte er sich den Kittel ab. Er sprang die Laderampe hinunter, rannte weiter zwischen Lastwagen, riesigen Mülltonnen, Gabelstaplern und Paletten. Den Hof hatte er schnell überquert. Er erreichte einen Gitterzaun mit rostigen Stacheldrähten obendrauf. In Sichtweite befand sich ein Pförtnerhäuschen mit einem vor sich hindösenden Uniformierten. Vince duckte sich hinter einer Mülltonne ab und wartete ungefähr zwanzig Minuten. Endlich fuhr ein großer Lieferwagen vor, hupte dreimal kurz hintereinander, worauf der Uniformierte aus seiner Ruhestellung zu erwachen schien und einen Knopf bediente, der das große Eisentor öffnete. Während der Lieferwagen im Schritttempo auf den Hof fuhr, schlängelte sich Vince im Schatten des Wagens und außer Sichtweite des Uniformierten daran vorbei. Er befand sich in einer schwach beleuchteten Seitengasse, zog seinen Schal aus der Manteltasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Inquietudo

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