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Der Fluch (D.-Day)
ОглавлениеKurzgeschichte (Satire)
›Der Baron von Dragulyd liegt im Sterben! – Der Inhaber der Konservenfabrik TRANS-SYL wurde gestern in die städtische Klinik eingeliefert. Die behandelnden Ärzte haben wenig Hoffnung. Lesen Sie weiter auf S. 5 …‹
»Hast Du das gelesen, Vlad? Unser Großonkel! Jetzt auch noch er! – Gestern Tante Viktoria, am Wochenende davor unser Neffe Viktor …«
»Ja, furchtbar, Drac! – Bald ist die ganze Familie betroffen!«
Zwei Männer sitzen in schweren Sesseln vor einer Regalwand mit Büchern und lesen Zeitung.
»Was ist da nur los?«, fragt Vlad seufzend und wirft dabei seine zusammengefaltete Zeitung auf den Beistelltisch. »Papa geht es seit vorgestern richtig schlecht und Du hast auch schon mal frischer ausgesehen!«
In der unscheinbaren Villa nahe eines Gewerbeparks am Stadtrand von Wolfenbüttel herrscht bedrückte Stimmung. Während Drac und Vlad die neuesten Nachrichten lesen, liegt das Oberhaupt der Familie Dragulya in einem verdunkelten Kellergemach in seinem prunkvollen Sarg – das Ende erwartend.
Seit Tagen schon ist er fiebrig und kraftlos. Kein frisches Blut will ihm mehr schmecken, keine unberührte Jungfrau mit auch dem makellosesten Nacken reizen … er fühlt mit jedem Sonnenuntergang –allen Gewohnheiten zum Trotz– die Kräfte schwinden, die ihn jahrhundertelang mit unvorstellbarer Energie geladen haben. Selbst das Schlagen der Mitternachtsstunde vermag ihm nur noch ein müdes, ja gequältes Lächeln auf die eingefallenen, grau-bläulich schimmernden Lippen zu zaubern.
»Oh je, oh je … was geschieht nur mit mir! Was geschieht mit uns allen? Wo ist unsere ewige Kraft geblieben? – Was machen meine lieben Söhne? Was macht Vlad? Er ist so empfindlich! – Und sein Bruder, Drac, wie es geht es ihm? Leidet er noch an diesem seltsamen Geschwür?«
Jedes Wort erfordert größte Anstrengungen des alten Grafen und seine als mächtig, ja … majestätisch bekannte Stimme bricht bei fast jedem Satz in ein unbeschreibliches Leid weg.
Seine Nichte Jeanne, die Marquise d’H, eine in dunkelgrüne Seide gekleidete Schönheit, die auf eine E-Mail hin sofort aus Frankreich angereist ist, steht an seiner Liegestatt und tupft ihm mit einem schwarzen Taschentuch die feuchte Stirne.
»Sprecht nicht so viel, mon oncle!«
Ihre Augen verraten, dass auch sie sich nicht wohlfühlt. Denn nicht unstet und dabei verlangend sieht sie ab und zu unruhig herum – es ist eher wie der Blick einer Verfolgten.
Dabei hätte das alte Gemäuer sie eigentlich in Hochstimmung versetzen müssen. Spinnweben reichen in wundervoll verschlungenen Bahnen von den hintersten Gewölbewinkeln bis fast in den offenen Sarg hinein. Überall huschen Ratten, Mäuse und allmögliches Krabbelgetier herum, es quiekt und raschelt in jeder Ecke. Der Sarg selbst ist mit edelstem, schwarzen Feinsamt ausgeschlagen, rundherum mit kleinen Kupferelementen bestückt, in deren aufwendig gehämmertem Ornament je ein großer Rubin prangt. Die Steine leuchten jedoch nur mit sehr mattem Verlangen … so wir ihr Besitzer.
Selbst das fahle Mondlicht, das durch ein kaum zu erahnendes Kellerfenster im oberen Bereich des Raumes scheint, kann mit all seiner mystischen Macht die Szene nicht genügend vom vergänglichen Leben hin zur unsterblichen Finsternis wandeln.
»Es ist zu hell!«, schimpft Jeanne d’H plötzlich los und erschreckt dabei eine in einen weiten, hellblauen Umhang gehüllte Gestalt, die auf einem Hocker neben dem Sarg kauert.
»Ja, bitte?«, ruft sie aus und schnellt von ihrem Hocker hoch.
Erst jetzt kann man ein junges Mädchen sehen, ganz und gar frisch und unschuldig … so richtig nach Geschmack des Grafen.
»Resi, es ist zu hell!« Jeanne pflanzt sich vor der hübschen Person auf, versetzt ihr einen Klaps und dabei rutscht der Umhang von ihren Schultern und auf den Boden. Ein einfaches, im Bereich der festen Brüste eingerissenes Blümchenkleid kommt zum Vorschein. An ihrem Hals kann der aufmerksame Beobachter zwei kleine, leicht gerötete Male erkennen. Der Kenner weiß: das Zeichen notwendigen Labsals … frische Bisswunden eines Unsterblichen!
»Oh, Graf … was soll ich denn machen? Es gibt doch eh kein Licht!«, wimmert sie und beugt sich über den im Sarg liegenden Alten.
»Immer diese Frisch-Gebissenen!«, flucht Jeanne. »Weg … hol’ seine Söhne. Wir müssen was tun!«
Resi, das hübsche Persönchen, hält sich schützend die Arme vors Gesicht. Jeannes Befehle gehen grundsätzlich mit Hieben, Schlägen und Schubsern einher, die nicht immer ohne schmerzhafte Auswirkung bleiben. Aber – was kann sie denn dafür, dass sie sich dem Grafen vorige Woche als neues Dienstmädchen vorgestellt und er ihr die Stelle auch prompt in Aussicht gestellt hat? Es kann doch nicht ihre Schuld sein, dass er sich seit ihrer ersten gemeinsamen Nacht so miserabel fühlt.
»Wo sind denn die jungen Herrschaften?«, fragt sie Jeanne – bringt sich aber vorsichtshalber außer Reichweite.
»Ja, woher soll ich denn das wissen, Du blöde Ziege! – Mon Dieu! –Such’ sie! Irgendwo im Haus oben werden sie wohl rumlungern und ihren 11-o’clock-drink nehmen«
Jeanne versetzt Resi noch einen Tritt und schon ist diese aus der Türe hinaus. Ihre Schritte sind tippelnd auf den Steinstufen der Treppe zu hören.
Im Obergeschoss herrscht eine völlig andere Stimmung als im Schlafgemach des Hausherrn. Hier gibt es weite, sehr modern möblierte Räume, nutzlosen Schnickschnack (wie einige der Familienmitglieder das bezeichnen), der nur zur Dekoration gut sein dürfte und sogar Pflanzen, die tagsüber Licht und Sonne brauchen!
In einem als ›Wohnzimmer‹ bezeichneten Raum, der Besuchern meist eher wie eine Halle erscheint, gibt es einen großen Kamin, an dem in den Wintermonaten auch ein offenes Feuer prasselt. An diesem Abend jedoch lungern die beiden Söhne des Hausherrn tatsächlich nur gelangweilt in ihren Sesseln herum und blättern in verschiedenen Tageszeitungen.
»Dem Herrn ist es zu hell!«, erklärt Resi den beiden Männern, die ohne Weiteres in die Lounge eines exklusiven Golfclubs gepasst hätten. Modisches Beige, lockerer Sitz, bequeme Sportschuhe … und alles von feinster, ja erlesenster Qualität. Adel verpflichtet eben!
»Tja … das ist schon ein Leid mit den älteren Herrschaften, gell Resi?«, bemerkt Drac mit einem kurzen, trockenen Lachen und rollt – wie er es immer tut, wenn attraktive Weiblichkeit in der Nähe ist – mit den dunklen, großen Augen.
»Setz’ Dich zu uns, Resi! – Auf ein Gläschen?« Vlad, der etwas jüngere Bruder Dracs, hebt seinen mit einer schweren, roten Flüssigkeiten gefüllten Kelch und bedeutet ihr mit einem Nicken, sich neben ihn zu setzen.
»Ein Schluckerl nur … dann muss ich aber gleich dem Herrn helfen. Es ist zu hell im Schlafzimmer und er leidet«, erwidert Resi.
In diesem Augenblick klingelt das Telefon. Ein Mobilteil liegt zwar auf dem schweren Beistelltisch aus handpolierter Eiche, doch die Hausanlage klingelt überall durch die Räume.
»Gehst Du ran, Drac?«, fragt Vlad. »Ich bin irgendwie schlapp heute. Nicht dass es wieder unser Meister ist. Der fehlt mir heute noch mit seinen Schreckensvisionen.«
»Resi … nimm’ Du!« Drac reicht dem Mädchen das Telefon. »Wir sind nicht da!«
»Ja, aber … was soll ich denn sagen?«
»Egal!«, erwidert Vlad. »Du bist allein im Haus. Alle ausgeflogen. Es geht auf Mitternacht zu … also nichts Ungewöhnliches!«
Resi drückt die große grüne Taste und hält sich das Gerät an die Ohren.
»Hallo. Bei Graf von Dragulya.«
›Hier ist Dragstone … Count Dragstone, my dear! Kann ich sprechen meine Bruder!‹
»Ihr …«
›Die Graf! Sie arbeiten doch nicht im Haus ohne zu wissen, wer er ist.‹
»Es ist niemand im Haus. Alle ausgeflogen … Party … und so! Ist doch normal um diese Zeit.« Resi versucht fröhlich rüberzukommen.
Währenddessen hat Vlad die Freisprechanlage eingeschaltet und man hört die Stimme des Count Dragstone im ganzen Wohnzimmer.
»Gerade hat mich unser Onkel, der Vicomte de la Cul aus Paris angerufen. Er kann Jeanne nicht erreichen auf dem Handy, deshalb hat er angerufen mich. Es geht ihm sehr … sehr schlecht! – Geben Sie mir jetzt meine Bruder. Er ist da. Ich weiß es, weil ich alles weiß! Ich kann fühlen, dass er ist unten in seine Schlafgemach. Los jetzt! Hurry up!«
Drac und Vlad springen fast gleichzeitig hoch. Die Nachricht, dass auch der Vicomte im Sterben liegt, wirkt wie eine Alarmglocke. Ein weiteres Mitglied ihrer unsterblichen Familie kämpft mit der irdischen Vergänglichkeit.
Irgendetwas stimmt nicht mehr. Die Traditionen, die über Jahrhunderte gewachsen sind, scheinen keinen Wert mehr zu haben.
»Gib’ her!« Drac entreißt Resi das Mobilteil. »Hallo, lieber Count. Wir sind gerade zurückgekehrt. Ein kleines Festmahl außerhalb … Du weißt ja.«
›Idiot! – Gebe mir Deine Vater … und jetzt ohne Verzögerung, ja?‹
»OK, OK, OK … bin schon unterwegs!«
Die alte Wanduhr gleich rechts hinter dem Kamin schlägt gerade Mitternacht, als der Graf –von seinen beiden Söhnen gestützt– in der Wohnzimmertüre erscheint.
»Es wird unvermeidlich sein, eine Konferenz einzuberufen, Kinder!«, erklärt der Graf mit erstaunlich fester Stimme. Jeanne hat ihm seinen Lieblingssessel neben dem Kamin zurechtgerückt, doch er winkt ab.
»Nicht? – Wieso nicht?« Sie stemmt ihre Fäuste in die Hüften und wartet auf eine Reaktion ihres Onkels.
»Wir müssen unsere neumodische Anlage anschalten«, erklärt der Graf. »Drac … Vlad … öffnet den Schrank! Ihr kennt euch mit solchen Dingen besser aus als ich. Ich bin zu alt für diese technischen Spielereien.«
Sofort springen die Brüder heran, öffnen die wuchtigen Schiebetüren einer gewaltigen, die ganze hintere Breitseite des Wohnraumes einnehmenden Schrankwand, und ziehen dann eine Art Konsole hervor.
»Heh, geil … habt ihr auch Internet?« Resis Augen strahlen vor Freude, als sie den riesigen Monitor sieht. »Ich müsst’ ein paar Mails loswerden! Mein Freund wartet auf Nachricht von mir, seit ich mich hier vorstellen gefahren bin. Er weiß ja noch nicht einmal, wo ich bin, weil ich …«
»Jetzt nicht, Weib!«, knurrt der Graf. »Jeanne … bring’ mir den Stuhl dort. Drac, schalt’ das Gerät an.«
Drac kann jedoch nicht … wie es scheint, erleidet er gerade einen Kreislaufkollaps. Röchelnd hängt er über einem der Sessel beim Kamin.
»Dann Du, Vlad!«
Doch auch der hat inzwischen gewisse Schwierigkeiten auf den Beinen zu bleiben. Er bringt es gerade noch fertig, einen großen silbrigen Knopf zu drücken, doch mit dem einsetzenden Brummen des startenden Geräts sinkt er ächzend zu Boden und muss von Resi und Jeanne versorgt werden.
Wenn technisches Hochleistungsequipment nie benutzt wird, hilft es auch nicht, sämtliche Gebrauchsanweisungen zur Hand zu haben. Graf Dragulya und seine Familie finden sehr schnell heraus, dass ein Einschalt-Knopf noch lange kein Mittel für den Zugang zu einem Programm ist. Entsprechend ihrer Unerfahrenheit benötigen sie mehr als eine halbe Stunde, um eine Verbindung mit dem World Wide Web zustande zu bringen – bis sie endlich Resi an den Computer lassen. Sie hat es von Anfang an angeboten, doch einer ›Neuen‹, einer fast noch Sterblichen, wollen weder Drac noch Vlad noch Jeanne die Führung in dieser hochwichtigen Angelegenheit überlassen.
»So, ich bin drin!«, erklärt Resi schließlich mit hörbarem Vergnügen und einem nicht zu unterdrückenden Überlegenheitsgefühl. »Was jetzt?«
»Wir müssen auf unsere eigene Site!«, erklärt Vlad.
»www.immortal.org?« Die giftigen Blicke, die Resi für diese Bemerkung erntet, sprechen eine eigene Sprache.
Es dauert noch eine knappe Stunde, dann haben sie in gemeinsamer Arbeit, unter Flüchen und Jammern endlich eine Verbindung zu Vigor Dracul auf Schloss Sans Sylvan, dem Stammsitz der Familie, hergestellt … dem Urvater, den sie alle als den ›Meister‹ bezeichnen … und als solchen fürchten und ehren.
Der Bildschirm flackert noch ein wenig, doch dann taucht das Symbol des Drachenordens aus alter Zeit auf und sie wissen irgendwie alle, dass sie es endlich geschafft haben.
Gespannte Minuten vergehen, dann plötzlich verschwindet das Startbild mit dem sich selbst verzehrenden Drachen und eine weite, hohe Halle erscheint auf dem Bildschirm. Vorne ist die Fläche eines Schreibtisches zu sehen, links der hinterste Teil einer Tastatur, daneben eine schnurlose Computer-Maus.
»Ah … habt ihr’s jetzt endlich geschafft, ja?«
Sie hören eine Stimme, die jeden Zweifel an Autorität ausräumt. Hier gibt es nur einen, der das Sagen hat: Meister Vigor!
»Ja, wir …«
Weiter kommt der Graf nicht. Der Meister schneidet seine Erklärungsversuche wie mit einem Samurai-Schwert ab.
»Schweig, Du alter Narr!«
Es folgt eine quälend lange, unheilvolle Pause.
»Wo bleibt Cul? Ist er zu dumm, einen Rechner zu bedienen? Oder hat er wieder einen rheumatischen Anfall? – Und Dragstone? Braucht er eine Extraeinladung?«
Dank Resis Hilfe, die anmerkt, dass man eine Webcam auch im Hauptrechner einstecken muss, kommt innerhalb der nächsten halben Stunde eine Konferenzschaltung mit Ton und Bild zustande. Der Vicomte de la Cul, Count Dragstone, Graf von Dragulya und die übrigen Anwesenden können nun mit dem Meister reden, als säßen sie zusammen an einem einzigen Tisch.
»Wie siehst Du eigentlich aus, Dragstone?« Der Meister nähert sich mit seinem Gesicht offenbar der eigenen Webcam und es sieht ganz so aus, als würde er Dragstones Äußeres eingehend studieren. »Du bist fett geworden. Liegt das an diesem neuen Fastfood? – Blut in Dosen, ja?– Nimmst Du so was?«
Dragstone, der bei der Zuschaltung immer wieder versäumt, sein eigenes Gerät auf ›Vollbild‹ zu stellen, ist auf dem Monitor des Grafen nur ganz klein in der linken unteren Ecke zu sehen.
»Er ist wirklich fett geworden!«, bemerkt der Graf. »Sein Neffe hat mir das berichtet … aber ich wollte es nicht wahrhaben.«
»Und Du, Gulya … schaust ja aus wie dieser Schauspieler … Christopher Lee war das, glaube ich!«, erklärt jetzt der Meister in höchst belustigtem Tonfall. »Hast Du Aids … oder biste schon tot?«
Schallendes Gelächter folgt.
Die ganze Konferenz beinhaltet eigentlich nur die Anschuldigungen für jedes der Familienmitglieder, die der Meister auf seinem Bildschirm zur Begutachtung vergrößert. Nur bei Resi hält er kurz inne.
»Neu?«
»Ja, Meister Vigor … ich bin erst seit ein paar Tagen im Haus.«
Sie wird von Drac und Cul etwas näher an die Webcam positioniert – während aber alle anderen ihre Köpfe mit ins Bild zu stecken versuchen.
»Ja, sie ist ganz frisch … bei uns!«, bestätigt der Graf.
»Hübsch!«, hört man den Kommentar des Count Dragstone.
»Gerade Du, alter Lüstling!«, herrscht ihn der Meister an. »Dein letzter Biss war doch bei diesem Friseur irgendwo in Iowa … oder hat man mich da falsch unterrichtet?«
»Das war nicht irgendein Friseur, Meister! Er war ein junger Gott!«
»Lebt er noch?«, kontert Vigor.
Das eingeblendete Bild Dragstones zeigt ein ziemlich verstörtes Gesicht des mächtigen englischen Fürsten.
»Also … kein Gott!«, brummelt der Meister. »Wenn schon die Bisse von den Ältesten nichts mehr bewirken, dann … dann ist das Ende nah!«
»Das Ende?«
Niemand kann alle gleichzeitig sehen … vor allem nicht das eigene Gesicht. Aber jeder kann sich vorstellen, wie die anderen Mitglieder der unsterblichen Familie empfinden.
»Wie kann das sein?« Der Graf ist es, der jetzt die eine Frage stellt, die sie wohl alle bewegt. »Jahrhunderte haben wir gelebt und bis auf ein paar dumme Ausnahmen hat es nie einen von uns gegeben, der auch nur das geringste Zeichen von Schwäche gezeigt hätte.«
»Die Kräfte der Finsternis schwinden, mein Freund!«, erklärt der Meister. »Schaut her … ich habe die Meldungen gesammelt und in diesen kurzen Überblick für euch kommentarlos zusammengeschnitten.«
Ein Film spielt nun ab, der die Schlagzeilen der letzten Monate auf den Monitor bringt, mit denen sie sich alle beschäftigt haben … voller Unverständnis, Unglauben und … Entsetzen.
Die Erkrankung des Herzogs von Nohs.
Der Autounfall mit nachfolgendem Koma der Gräfin von Fera.
Das lange Leiden des Grafen von Tuh.
Die vielen anderen Familienmitglieder, die in den letzten Wochen und Monaten gelitten und ihnen allen angezeigt haben, dass ihrer aller Unantastbarkeit zu wanken begonnen hat.
Sehr viel später geht bereits die Sonne über dem angrenzenden Gewerbepark auf und die ersten Schwertransporter, Kleinlaster und Pkws beginnen die Straßen zu beleben.
Resi hat die Vorhänge im großen Wohnzimmer geöffnet, die Computeranlage ausgeschaltet und wieder in die Schrankwand zurück geschoben.
Auf dem schweren Eichentisch, auf den der Graf beim Ausruhen immer gerne seine Füße gelegt hat, lässt sie die ausgedruckte E-Mail des Meisters liegen, die ihnen allen erklärt hat, warum die Unsterblichen diese Welt zu verlassen haben.
Das eingescannte Dokument trägt ein unleserliches Datum … aber die Jahreszahl ist sehr gut zu erkennen: 1345
›Ich, Vigor Dracul, weise Euch, vom Blute der Draculea, einen Weg in die ewige Freiheit. Ich weise Euch einen Weg aus der Abhängigkeit von Tag und Nacht, von Gut und Böse, von Sein und Nichtsein, von Tod und Leben.
666 Jahre Zeit will ich Euch geben, vom heutigen Tag an, da einer aus unserer Mitte sich gegen sein Erbe versündigt und eine niedere Magd aus dem Dorf zu sich geholt hat, anstatt bei Seinesgleichen oder zumindest Ebenbürtigen zu bleiben.
Ihr werdet mit aller Macht ausgestattet sein, Sterblichkeit zu überwinden und Vergänglichkeit zu spotten. Doch dürft Ihr nie vergessen, dass es ein finales Ziel zu beachten gibt. Innerhalb der vorgegebenen Zeit soll einer von Euch erreichen, dass der Sieg über die Vergänglichkeit nicht auf Kosten der Vergänglichkeit selbst errungen werden darf.
Von heute an soll dies der Fluch sein, der auf Euch lastet und zugleich soll es die Erlösung bedeuten, diesen Fluch zu brechen.
Erlösung von Tod und Leben, von Sein und Nichtsein, von Gut und Böse, von Tag und Nacht … und von Vergangenem und Vergessenem.
Sei es denn nun so, dass die Zeiten sich nach Euch richten und enden, wenn ihr das Ziel verfehlt oder aus den Augen verloren habt. Die ewige Uhr wird das Ende ebenso anzeigen wie den Neubeginn.
In Asche oder im Lichte – so sei die Erfüllung dieser Prophezeiung!‹
»Jo mei … jetzt muss ich mir doch wieder eine andere Herrschaft suchen«, sagt sie bei sich, kehrt die Aschehaufen auf dem Boden vor der Schrankwand zusammen und ordnet die Sessel zurück zur Sitzgruppe vor dem Kamin.
© a. zeram, München 2011