Читать книгу Wild soul - Alexia Meyer Kahlen - Страница 6
I. Alegría
ОглавлениеSam wachte auf und spürte ihr Herz, wie es völlig verrückt klopfte. Sie hatte wieder den Traum gehabt.
Ein breites, seichtes Flussbett am Grund eines Tales. Rechts und links des friedlich dahinplätschernden Wassers ragten bewaldete Hänge empor. Es war still. Plötzlich erschien ein großer schwarzgrauer Hengst, gefleckt wie ein Leopard und schlank wie ein englisches Vollblut, zwischen den Bäumen und blieb regungslos stehen. Aufmerksam schaute er sich um, sog die Luft ein, lauschte. Entweder bemerkte er Sam nicht oder sie schien ihn nicht zu stören.
Der Hengst trat ganz aus dem Wald hervor und näherte sich dem Flussufer. Noch einmal spitzte er die schlanken Ohren und überprüfte seine Umgebung auf mögliche Gefahren, bevor er seinen edlen Kopf senkte und ein paar Schlucke Wasser nahm. Dann wandte er sich um und zog sich etwas zurück.
Zuerst zögerlich, dann immer vertrauensvoller, traten nun mehrere Stuten aus dem Wald zum Wasser. Einige hatten Fohlen neben sich laufen, andere schienen noch trächtig. Auch ihre Farben waren außergewöhnlich: Die meisten waren Blau-, Braun- oder Rotschimmel, die an Rücken und Hüften dieselbe Tigerschecken-Zeichnung aufwiesen wie der Schwarzgraue.
Im Traum hielt Sam den Atem an, während sie auf einer flachen Sandbank am Flussufer kauerte. Die Pferde strahlten etwas überirdisch Schönes aus.
Die Stuten und Fohlen schienen sich an Sams Anwesenheit ebenfalls nicht zu stören. Ein Pferd nach dem anderen senkte seinen Kopf zum Fluss und begann zu trinken. Auch die etwas älteren Fohlen versuchten, mit ihrer Nase den Wasserspiegel zu erreichen, was ihnen aufgrund ihrer langen, staksigen Beine aber kaum gelang.
Während die Stuten ihren Durst löschten, blieb der grau gefleckte Hengst abseits stehen und nahm weiterhin aufmerksam seine Umgebung wahr. Sein Blick streifte unbewegt über Sam, als wäre sie einfach ein Teil der ihn umgebenden Natur.
Als die letzte Stute sich vom Wasser abgewandt hatte, trat der große Schwarzgraue noch mal selbst an den Fluss und trank sich in großen Zügen satt. Dann drehte er sich zum Waldrand und verschwand mit seiner Herde zwischen den Bäumen.
An dieser Stelle erwachte Sam normalerweise immer und spürte ihr klopfendes Herz.
Sie drehte sich auf den Rücken und blickte an die Decke ihres Zimmers. Warum nur rief der Traum in ihr jedes Mal so starke Gefühle hervor? Er kam seit drei Jahren in unregelmäßigen Abständen und spielte sich stets so oder so ähnlich ab. Doch jeder Version war gemein, dass die ungewöhnlichen Geschöpfe, die offenbar vollkommen frei in der atemberaubend schönen Natur des Traumes lebten, sich durch Sams Anwesenheit in keinster Weise aus der Ruhe bringen ließen.
Zum ersten Mal aufgetaucht war der Traum, kurz nachdem ihre Mutter Alegría gekauft hatte. An Sams zwölften Geburtstag. Die knapp vierjährige Andalusierstute war damals im Schulbetrieb des Stalles mitgelaufen, in dem Sam und Kati Reitstunden nahmen. Halb, um sie aus ihrem Schulpferdedasein zu erlösen, und halb, weil ihre Mutter überzeugt war von Alegrías gutem Charakter, wurde die junge Stute Sams Pferd. In den letzten drei Jahren hatte sich Alli, wie Sam sie zärtlich nannte, zu einer selbstbewussten Spanierin entwickelt und war für jeden Spaß zu haben. Es störte sie ganz und gar nicht, wenn Sam mal wieder auf irgendwelche verrückten Ideen kam, wie falsch herum auf ihr zu reiten, im Galopp auf ihrem Rücken zu stehen oder auf dem am Boden liegenden Pferd einen Handstandüberschlag zu machen.
Sam griff nach ihrem Wecker. Halb zwei. Mist. Sie musste morgen fit sein. Alli und Sam hatten es ins Finale des Cavallo-Videowettbewerbs geschafft und morgen in aller Frühe ging es mit dem Hänger nach Schloss Wickrath. Dort würde die bekannte Pferdezeitschrift nach den Live-Darbietungen der fünf Finalisten das „beste Kumpel-Pferd Deutschlands“ auswählen. Es war der Hammer, dass sie überhaupt unter die letzten fünf gewählt worden waren. Noch viel mehr bedeutete es Sam allerdings, dass es ihre erste Show vor einem großen Publikum sein würde und sie endlich auch mal live zeigen konnte, was sie und Alli in der Freiheitsdressur erreicht hatten.
Seit sie mit elf Jahren auf einer Galashow einen berühmten französischen Meister der Freiheitsdressur gesehen hatte, dem seine zehn Pferde allesamt mit viel Freude folgten, wusste sie: Genau da wollte sie eines Tages auch mal stehen. Ganz frei mit einem Pferd diese Art von Verbindung zu haben, egal ob da eine Umzäunung stand. Und diese Verbindung auch zu spüren, wenn sie auf dem Rücken des Pferdes ohne Zaum und Sattel galoppierte. Das Gefühl musste einfach unbeschreiblich sein.
Jetzt war sie fünfzehn und ihrem Herzenswunsch ein gutes Stück näher gekommen, auch wenn sie noch lange nicht da war, wo sie einmal sein wollte.
Ob sie Kati texten sollte, dass sie wieder den Traum gehabt hatte? Kati – allerbeste Freundin, Seelenvertraute und unverzichtbare Partnerin in der Arbeit mit Alli.
Es war zu einem guten Teil Katis unermüdlicher Unterstützung zu verdanken, dass Alli heute mit Sam durch dick und dünn ging und ihre echte Freundin und Lehrmeisterin geworden war.
„Bling.“ Genau in diesem Moment tauchte eine Nachricht auf Sams Display auf. „Kann nicht schlafen. Guck mal, was für ein cooles Zitat ich grade gelesen habe: Ich bin das Land, meine Augen sind der Himmel, meine Glieder die Bäume, ich bin der Fels, die Wassertiefe. Ich bin nicht hier, um die Natur zu beherrschen oder sie auszubeuten. Ich bin selbst Natur. Hoffentlich läuft morgen alles gut.“
Sam musste lächeln. Typisch Kati. Seit sie sich zu Beginn der 5. Klasse begegnet waren – die eine im Pferdepulli, die andere mit Pferdemäppchen –, waren sie immer auf genau derselben Wellenlänge.
„Bin auch wach“, textete Sam zurück. „Hatte wieder den Traum.“
„Echt? Meinst du, es hat was mit morgen zu tun?“
„Weiß nicht. Vielleicht ist es ja ein gutes Zeichen.“
„Wie findest du den Spruch?“
Sam las ihn noch mal: Ich bin das Land, meine Augen sind der Himmel, meine Glieder die Bäume, ich bin der Fels, die Wassertiefe. Ich bin nicht hier, um die Natur zu beherrschen oder sie auszubeuten. Ich bin selbst Natur.
„Irgendwie krass. Das beschreibt genau die Atmo in meinem Traum. Woher hast du den?“
„Im Internet gefunden“, schrieb Kati zurück. „So ein Indianerspruch.“
„Cool. Können wir ja auf unserem Kanal posten.“
„Hab ich auch schon gedacht.“
Als Sam mit Kati vor drei Jahren einen YouTube-Kanal gestartet und kleine Filmchen eingestellt hatte, wie sie mit Alli wild johlend durch die Obstplantagen galoppierten, hätte niemand gedacht, dass sie mal so weit kommen würden. Jetzt waren sie schon bei über 10 000 Followern.
„Hey. Meinst du, wir haben morgen eine Chance?“
Kaum hatte Sam die Worte eingetippt, ärgerte sie sich, dass sie sie geschrieben hatte. Darauf kam es doch gar nicht an. Wichtig war, dass Alli mit ihrer Aufmerksamkeit ganz bei ihr blieb, wenn sie zum ersten Mal in total fremder Umgebung und vor so vielen Leuten miteinander frei arbeiteten. Wenn sie zusätzlich noch unter die ersten drei kämen, konnte das der Anfang eines neuen Weges sein – mit Einladungen zu weiteren Shows oder der Möglichkeit für Sam, auch mit anderen Pferden frei zu arbeiten. Aber das war jetzt total zweitrangig.
Schon texte Kati zurück: „Wenn ihr es nicht verdient habt, auf dem Treppchen zu stehen, dann weiß ich nicht, wer.“
„Du bist die Beste!“
„Du auch.“
Sam wälzte sich im Bett hin und her. Sie wusste, dass sie versuchen sollte zu schlafen, doch ihre Gedanken kehrten immer wieder zum morgigen Tag zurück. Würde ihr Auftritt die Leichtigkeit und Harmonie ausstrahlen, die ihr in der Verbindung zu Alli so wichtig war? Das Bewerbungsvideo aus dem ganzen Material zusammenzuschneiden, das Kati in den letzten Monaten gefilmt hatte, war eine Sache gewesen. Klar hatten sie dort viele tolle Elemente aus ihrer Arbeit gezeigt: wie Alli Sam draußen in der Natur frei im Galopp über Hindernisse folgte, wie sie sich auf Sams Kommando auf die Hinterhand setzte oder stieg, wie sie zusammen Ball spielten oder die Stute ihr Küsschen gab. Und natürlich durfte Sams Spezialität im Video nicht fehlen: der Handstandüberschlag auf der liegenden Alegría.
All das war schön und eindrucksvoll und sicher auch der Grund dafür gewesen, dass sie es ins Finale des Cavallo Cups geschafft hatten. Doch in der Show morgen musste sie das toppen.
Keiner außer Kati und Sams Mutter Bea konnte nachvollziehen, was für ein langer und mühseliger Weg es gewesen war, aus dem abgestumpften Schulpferd, das sich in seinen jungen Jahren schon in sein Schicksal ergeben hatte und nichts mehr vom Leben erwartete, das Bündel an Lebendigkeit und Freude zu machen, das Alli heute war.
Jedenfalls meistens, denn einstudierte Dinge abzufragen war bei Alegría immer noch tagesformabhängig. Manchmal schaltete sie einfach ab, wie sie es damals als Schulpferd getan hatte, und verlor sich irgendwo in sich selbst. Aber das alles war in den vergangenen drei Jahren so viel besser geworden!
Jetzt musste sich zeigen, ob Alegría wirklich Gefallen daran fand, sich vor einem Publikum zu präsentieren.
Ein Grinsen schlich sich auf Sams Gesicht, als ihr Katis Kommentar dazu einfiel: „Alli ist genauso eine Rampensau wie du, darauf könnte ich wetten. Sie ist schließlich nicht ohne Grund dein Pferd.“
Sam seufzte auf. Kati kannte sie und Alli besser als irgendjemand sonst auf der Welt. Hoffentlich hatte sie recht.
Plötzlich kamen ihr die Worte aus Katis Spruch wieder in den Sinn: Ich bin nicht hier, um die Natur zu beherrschen oder sie auszubeuten. Ich bin selbst Natur.
Und was, wenn es hieß: Ich bin nicht hier, um das Pferd zu beherrschen oder es auszubeuten. Ich bin selbst Pferd?
Konnte man wirklich dahin kommen, das zu spüren? Dass man im Fühlen, Denken und Handeln komplett eins war mit seinem Pferd?
Sams Herz begann, wild zu klopfen. Ich bin selbst Pferd. Ja, genau so musste es heißen, und irgendwann würde sie aller Welt zeigen, dass das möglich war.
Nach nicht einmal zwei Stunden Schlaf wachte Sam erneut auf. Draußen wurde es gerade hell. Der Wecker würde sowieso um Viertel nach fünf klingeln, da konnte sie auch jetzt schon zu Alli fahren.
Ihrer Mutter legte sie einen Zettel hin: „Hi Bea. Bin schon zum Stall. Wir wollen um halb 7 verladen. Es reicht, wenn du mit dem Hänger 6.15 da bist. Danke! Sam.“
Sie griff sich zwei Äpfel, einen für sich und den anderen für Alli, schwang sich auf ihr Fahrrad und radelte los. Es war nicht ungewöhnlich, dass Sam noch vor der Schule die sieben Kilometer zum Stall fuhr, um mit Alegría in Ruhe etwas zu üben. In dem modernen Freizeitstall standen über achtzig Pferde, und auch wenn die Anlage sehr weitläufig war, benutzte immer irgendwer die Halle, den Roundpen oder einen der beiden Außenplätze. Und abends war es sowieso rappelvoll.
Zu diesen Zeiten war es Sam und Kati nicht möglich, mit Alli frei zu arbeiten – es sei denn, sie gingen mit ihr ins Gelände. Die Freundinnen hatten keine Lust auf Gaffer, und viele im Stall fanden das, was sie mit Alli machten, sowieso total schräg und auch irgendwie beängstigend.
„Pferde sind dazu da, geritten zu werden, und nicht, Menschen hinterherzulaufen“, kam ihr die Stimme einer entrüsteten Pferdebesitzerin in den Sinn, die beobachtet hatte, wie Sam mit Alli das freie Folgen im Schritt, Trab und Galopp übte.
Manchmal kam es ihr so vor, als seien sie und Kati auf einem ganz anderen Planeten als der Rest der Pferdewelt – von ein paar Ausnahmen abgesehen.
Klar, ihr Weg war nicht immer einfach. Wie oft hatte es in den letzten drei Jahren mit Alli Diskussionen, Frustrationen und Rückschritte gegeben. Doch Kati und sie hatten gelernt, jeden Tag einfach nur ihr Bestes zu geben. Es ging in jedem Moment eben nur, was ging. Das musste man akzeptieren. Geduldig sein, das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Und vor allem, niemals aufgeben. Dann wurden die guten Tage irgendwann mehr. Und jetzt würde sie ihre erste Live-Show mit Alli geben. Unfassbar!
Die hübsche braune Andalusierstute mit dem weißen Stern zwischen den Augen brummelte zärtlich, als Sam sich im frühen Morgenlicht durch die Stallgasse schlich. Allis Herdenkumpel waren alle auf der Weide, aber sie schien zu fühlen, dass es einen besonderen Grund gab, warum sie in der Box zurückgeblieben war.
„Na, meine Schöne“, flüsterte Sam und trat zu ihr.
Alli schnoberte behutsam Sams Gesicht und Hals ab.
Sam liebte diese Momente der Nähe und hielt ganz still, bis Alli ihr Begrüßungsritual beendet hatte. Immer wenn die Stute ihre Zuneigung so spontan ausdrückte, wurde Sam von einer Welle der Dankbarkeit durchflutet. Die kleine Spanierin war so eine Kämpferin. Sie wollte leben, lernen und glücklich sein. Und hatte Sam trotz aller Schwierigkeiten niemals im Stich gelassen.
„Du warst immer für mich da. Und ich werde immer für dich da sein“, flüsterte Sam ihr zu und gab ihr einen sanften Kuss auf die Nase. „Und wir werden gemeinsam noch soooo viele Abenteuer bestehen.“
Als verstehe sie jedes Wort, spitzte Alli die Ohren und blickte Sam aufmerksam an.
„Heute ist der Beginn von etwas ganz Großem, meine Schöne“, fuhr Sam fort. „Heute dürfen wir vielen Menschen zeigen, wie toll du dich entwickelt hast. Und wie stolz wir alle auf dich sind!“
Alli stupste Sam übermütig mit der Nase an, als wolle sie sagen: Ich bin bereit. Wann geht’s los?
Obwohl Sam schon so früh aufgestanden war, verlief die Abfahrt wie üblich chaotisch. Tausend Sachen fielen ihr in letzter Minute noch ein, die sie unbedingt mitnehmen musste, und dabei vergaß sie fast die wesentlichen Dinge. Auch Kati, die um halb sechs am Stall aufgetaucht war, war vor lauter Aufregung nicht so organisiert wie sonst. Dreimal lief sie los, um das Putzzeug zu holen, doch erst als sie schon eine Stunde unterwegs waren, fiel Kati ein, dass sie es doch hatte stehen lassen.
„Zum Glück ist Alli schön sauber. Wir müssen nur aufpassen, dass sie sich dort vor der Show nicht noch in irgendwelche Äppel legt, dann passt das schon“, meinte Sam gelassen.
„Eure Nerven möchte ich haben“, warf ihre Mutter kopfschüttelnd ein.
Bea Gerst hatte sich breitschlagen lassen, die beiden Mädchen samt Alli nach Schloss Wickrath zu fahren. Aber natürlich war sie auch gespannt darauf, wie ihre Tochter und Alegría sich präsentieren würden.
„Es ist wie verhext“, meinte Sam jetzt. „Egal, wie viel wir vorausplanen, es läuft bei uns einfach nie nach Plan. Wer da nicht spontan und flexibel ist, bekommt mit uns wirklich die Krise.“
„Das kannst du wohl laut sagen“, lachte ihre Mutter in gespielter Verzweiflung auf. „Mich wundert nur, wo ihr die Disziplin herholt, so fokussiert mit Alegría zu arbeiten.“
„Am Ende hat zum Glück immer alles geklappt“, warf Kati ein. Ihre Eltern und die Gersts waren gut befreundet, sodass sie Beas ironische Kommentare nicht persönlich nahm.
„Wenn Sophie mitgekommen wäre, würde sie uns jetzt erst mal einen Vortrag über effiziente To-do-Listen halten“, grinste Sam. Ihre drei Jahre jüngere Schwester war wirklich das komplette Gegenteil von ihr. Sophie war genau in dem Alter, in dem Sam damals Alli bekommen hatte, doch für Pferde interessierte sie sich keinen Deut. Gnädig hatte sie ihre Mutter mit Sam auf den Cavallo Cup nach Schloss Wickrath ziehen lassen.
„Sam. Ruf doch bitte mal zu Hause an, ob bei Sophie alles in Ordnung ist“, meinte Bea Gerst jetzt. Sie hatten geplant, erst am nächsten Tag wieder zurückzufahren, damit die ganze Fahrerei für Alli nicht zu viel würde. „Ich habe schon ein ganz schlechtes Gewissen, die Kleine allein zu Hause zurückzulassen.“
„Mama, Sophie ist 12!“, rief Sam nun entrüstet aus. „In dem Alter sind Kati und ich mit Alli schon stundenlang allein durch die Wälder gezogen.“
„Du bist eben immer etwas anders gewesen“, gab ihre Mutter zurück. „Sophie ist nicht so ein Freigeist. Sie ist noch so viel kindlicher als du in dem Alter.“
„Aber Robert ist doch heute Abend zu Hause“, versuchte Kati, Sams Mutter zu beschwichtigen.
„Genau. Papa ist doch auch noch da“, gab Sam zurück. „Alles ist gut, Mama.“ Damit war das Thema für sie erledigt.
Sie wandte sich Kati zu. „Hey. Lass uns bitte noch mal den Ablauf durchgehen.“
Die Freundinnen besprachen ausführlich die Choreografie von Sams Show, die sie in den letzten Tagen zu einer fröhlichen spanischen Musik zusammengestellt hatten.
Zuerst kam der Teil, wo Sam Alli nur mit Halsring und ohne Sattel in verschiedenen Tempo- und Richtungswechseln ritt. Dann wollte sie die Stute durch einen großen gelben Ring springen lassen, und im Anschluss sollte Alli sich in engen Kreisen galoppierend um eine Tonne biegen, ohne dass Sam auf ihrem Rücken sie zu lenken schien.
„Den Ring und die Tonne haben wir eingepackt, richtig?“, hakte Sam nach.
„Check. Sind im Hänger“, nickte Kati.
Zum Abschluss des ersten Teils würde Sam ein paarmal im Galopp von Alli abspringen und nach ein paar Galoppsprüngen wieder auf ihren Rücken hinaufspringen.
Dann ging es zum Herzstück ihrer Show. Sam wollte Alli vom Boden aus als Erstes zu beiden Seiten in engen Volten dirigieren. Anschließend hatten sie einige schnelle Tempo- und Richtungswechsel eingeplant, um zu zeigen, wie bereitwillig Alegría Sam folgte. Zum Abschluss dieses Teils sollte Alli sich auf Sams Zeichen hin zu einer kleinen Levade erheben.
„Spätestens wenn die Musik in den langsameren Teil wechselt, musst du auf die Tonne“, erinnerte Kati sie.
Sam nickte. Sie würde auf die Tonne hinaufspringen, und Alli sollte frei im Trab um sie zirkeln, während Sam auf der Tonne stehend ihrerseits ein paar Kunststücke vorführte. Dann ging es noch mal auf den Boden, wo Alli neben ihr her galoppieren und sich dann direkt aus dem Galopp hinlegen würde. Über der liegenden Alli wollte Sam zum Abschluss ihren berühmten Handstandüberschlag zeigen.
Sam und Kati gaben sich ein High Five: „Das wird!“
„Klar wird das was“, grinste Bea Gerst in den Rückspiegel. „Daran hatte ich nie den geringsten Zweifel!“
Nach ihrer Ankunft bezog Alli ihre Paddockbox in dem Reitzentrum, wo sie bis morgen untergebracht sein würde, während Sam, Kati und Bea im Strom der Besucher über das Gelände der Cavallo Academy bummelten. Entlang der Alleen des Schlossparks boten Dutzende Aussteller die neuesten Pferdeartikel an, ein großes Zelt war zum „Hörsaal“ umfunktioniert worden und dort fanden zahlreiche Vorträge statt. Auf dem Reitplatz, der zum Cavallo-Ring umbenannt worden war, gaben bekannte Pferdetrainer jeder Ausrichtung im Halbstundentakt Shows und Demos, Workshops und Live-Trainings.
„Das ist ja der Wahnsinn, was hier los ist“, meinte Bea Gerst zu den Mädchen, die ihr gar nicht richtig zuhörten. An jeder Ecke war ein anderes bekanntes Gesicht der Pferdeszene zu entdecken.
Sam bekam ganz rote Ohren bei dem Gedanken, dass sie in ein paar Stunden selbst vor all diesen Leuten auftreten würde.
„Das sind hier bestimmt 2 000 Zuschauer!“, flüsterte Kati ihr aufgeregt zu.
Sam nickte. Ihr Mund war zu trocken, um irgendetwas zu antworten.
„Schatz, du solltest unbedingt noch etwas essen“, meinte nun Bea Gerst und steuerte einen Essensstand an.
Das war zu viel.
„Muss zu Alli“, murmelte Sam, drehte sich auf dem Absatz um und rannte davon.
Erst als sie in Allis Box hockte und der Stute zusah, wie sie bedächtig kleine Büschel von Halmen aus ihrem Heunetz zupfte, kam Sam wieder runter.
Alli schien die Ruhe selbst zu sein. Als habe sie die lange Fahrt und die fremde Umgebung total lässig weggesteckt.
„Hey. Machen wir das gleich zusammen?“, flüsterte Sam ihr zu und zupfte einen Heustängel aus ihrer Mähne.
Alli schnaubte zufrieden und auch Sam entfuhr ein tiefer Seufzer.
Wo war eigentlich das Problem? Egal, wer da nachher am Ring stehen und ihr zusehen würde – das, was sie und Alli verband, konnte ihnen keiner nehmen. Sie würden einfach zusammen sein, aufeinander hören und tun, was sie sonst auch taten.
Sie strich Alli über die Stirn. „Du hast recht, mein Schatz. Danke.“
Während Sam und Alli vor dem Cavallo-Ring im Park von Schloss Wickrath auf ihren Auftritt warteten, hatte Sam für einen Moment die Augen geschlossen und ließ im Schnelldurchgang noch mal die Choreo ihrer Show durchlaufen. Irgendwann spürte sie, wie Kati sanft ihren Arm berührte.
„Ihr seid gleich dran. Break a leg. Alles wird gut.“
Sam atmete tief durch und konzentrierte sich einen Moment auf Alli. Sie spürte, dass ihre kleine Stute ganz bei ihr war. Dann öffnete sie die Augen und sprang auf Allis Rücken.
Die Stimme der Ansagerin ertönte aus dem Lautsprecher: „Unsere nächste Finalistin ist die fünfzehnjährige Samantha Gerst und ihre siebenjährige Andalusierstute Alegría. Kurz etwas zu ihrer Geschichte: Als Sam Alegría vor drei Jahren bekommen hat, war die Stute schon täglich im Schulunterricht eines Reitstalls mitgelaufen. Sam hat uns erzählt, dass Alegría damals auf nichts mehr Lust hatte. Jetzt zeigen uns die beiden, wie weit sie miteinander gekommen sind. Einen dicken Applaus für Sam und Alegría. Wir wünschen euch viel Erfolg und dem Publikum viel Spaß an euer Darbietung.“
Es ging los. Sam spürte eine prickelnde Aufregung, die auch ihre kluge und mutige Spanierin erfasste.
Wir machen das jetzt zusammen, schien sie Sam zu kommunizieren. Und wir machen es gut.
Ihre Musik setzte ein. Sam ritt nur mit Halsring auf Allis blankem Rücken im Trab ein und ließ die Stute zunächst zu beiden Seiten ein paar Volten gehen. Das bunte Publikum, das auf allen vier Seiten den Platz umringte, schien Alli nicht im Geringsten zu stören. Ganz im Gegenteil. Sie schien sogar Spaß daran zu haben, sich vor allen zu präsentieren.
Dann galoppierte Sam an und sprang mit Alli durch den gelben Reifen. Wenn sie irgendeinen Zweifel gehabt haben sollte, ob die Andalusierstute heute zeigen würde, was sie konnte, war dieser verflogen. Als seien sie mit einer Art unsichtbarem Band verbunden, flogen sie von Höhepunkt zu Höhepunkt ihrer Show. Nach dem Ring kam die Tonne, das Auf- und Abspringen im Galopp, die Levade, es war wie ein Rausch, ein Traum. Unbeirrbar blieb Alli mit ihrem Fokus ganz bei Sam und ließ sich von ihr durch die verschiedenen Showelemente führen. Und obwohl Sam ganz konzentriert bei ihrem Pferd und ihrer Darbietung war, konnte sie gleichzeitig spüren, dass das Publikum von der kleinen Andalusierstute, die Sam so bereitwillig folgte, total berührt war.
Kaum stand Sam nach ihrem abschließenden Handstandüberschlag wieder auf dem Boden, brach ein tosender Beifall aus. Das Publikum hörte gar nicht mehr auf zu applaudieren.
Sie nahm Kati und ihre Mutter wahr, die am Ausgang des Platzes standen und übers ganze Gesicht strahlten. Sam lief auf sie zu, während Alli munter neben ihr hergaloppierte. Ja, es war für sie beide gut gelaufen, sogar sehr gut, das hatte sie mit jeder Faser gespürt.
Sam war die letzte der fünf Finalistinnen gewesen, die ihre Show präsentiert hatte, und so erklang schon eine halbe Stunde später die Stimme der Ansagerin: „Ich glaube, die Jury hat fertig beraten.“
Sam hatte neben Kati und ihrer Mutter am Rande des Platzes gewartet und meinte, vor Spannung zu platzen. Würde es für sie und Alli einen Platz auf dem Treppchen geben?
Sie erhaschte einen Blick ihrer Mutter und atmete tief aus. „Ich weiß, Mama“, stieß sie hervor. „Wir haben eine super Show gemacht und es kommt nicht aufs Gewinnen an. Aber trotzdem …“
Die Ansagerin meldete sich wieder: „Wir rufen jetzt die Kandidatinnen noch mal alle zurück in die Bahn, damit wir die Platzierung vornehmen können.“
Kati trat einen Schritt zur Seite, sodass Sam mit Alli, die immer noch nur einen Halsring trug, den Reitplatz betreten konnte, wo die anderen vier Paare sich schon aufgestellt hatten.
Die Chefredakteurin der Cavallo trat mit ihrem Mikrofon auf den Platz.
„Wir kommen nun zur Siegerehrung des Cavallo Cups hier auf der Cavallo Academy. Noch mal zur Erinnerung: Siebenundvierzig hatten sich mit einem Video beworben, fünfzehn hatten es ins Voting geschafft, fünf ins Finale, und die haben Sie jetzt hier alle gesehen. Jede einzelne Leistung war großartig. Ich bin schwer beeindruckt von euren Auftritten, die Jury stimmt mir zu, und ich denke, Ihnen im Publikum wird das ähnlich gehen. Insofern stehen hier aus meiner Sicht schon mal fünf Sieger.“
Es gab einen Applaus vom Publikum.
Sam stand mit Alegría zwischen einem Mädchen mit einem Minishetty und einem anderen, das ebenfalls eine Andalusierstute neben sich hatte, die allerdings deutlich größer als Alli war.
Die Frau verkündete nun, dass es zwei vierte Plätze gab, rief genau diese beiden nach vorne, gratulierte ihnen und überreichte jeder einen Geschenkkorb.
Dann fuhr sie fort: „Das dritt-tollste Kumpelpferd in Deutschland ist …“
Hier machte sie eine Pause, und Sam bemerkte, dass sie aufgehört hatte zu atmen. Alli schien dagegen tiefenentspannt, und als ein Mädchen mit einem großen Warmblut nach vorne gerufen wurde, nahm auch Sam wieder einen tiefen Atemzug. Alles, was jetzt kam, war ehrenvoll.
Marschmusik setzte ein und die Redakteurin fuhr fort. „Zweitplatzierte in unserem Cavallo Cup sind Alegría und Samantha. Auch euch beiden herzlichen Glückwunsch.“
Sam schritt mit Alli stolz nach vorne und stellte sich auf. Während die Frau weitersprach, begann Alli, seelenruhig den Inhalt des Geschenkkorbs zu untersuchen.
„Das sah alles sehr leicht aus, sehr harmonisch. Du hattest viele tolle Elemente drin, es war sehr sportlich und zugleich einfallsreich, zum Beispiel mit dem Auf- und Abspringen. Das hat alles ganz super geklappt und ihr habt uns eine wunder-, wunderschöne Show geliefert.“
Sam strahlte über so viel Lob, während Alli inzwischen ein Bündel Möhren aus dem Geschenkkorb gezogen hatte, das sie am Grün wild kopfnickend hin und her schleuderte.
„Und dein Pferd scheint ein echtes Showtalent zu sein“, setzte die Cavallo-Chefredakteurin lachend hinzu, während das Publikum spontan applaudierte.
Dann erfolgte die Vergabe des ersten Platzes an ein älteres Mädchen auf einem großen Schecken, das sein Pferd zunächst mit Sattel und Kandare dressurmäßig geritten und dann erst Letztere gegen einen Halsring eingetauscht hatte.
Als sie zusammen mit den anderen vier Finalistinnen die Ehrenrunde drehte, fühlte Sam sich mit ihrem zweiten Platz total zufrieden und glücklich. In ihrer Art der Freiheitsdressur war sie unschlagbar gewesen, das stand fest. Vor lauter Übermut sprang sie im Galopp noch ein paarmal vom Pferd ab und wieder auf.
Kati fiel Sam als Erste jubelnd um den Hals. „Ich hab dir doch gesagt, dass ihr aufs Treppchen kommt. Suuuuper. Herzlichen Glückwunsch.“
Sam drückte ihre Freundin ganz fest und flüsterte: „Danke, Kati. Ohne dich wäre das alles nicht passiert.“
Dann wurde sie von ihrer Mutter umarmt.
„Ich bin stolz auf dich“, flüsterte sie Sam ins Ohr. „Diesen Erfolg habt du und Alli euch echt verdient. War ein langer Weg …“
„Danke, Mama, für dein Vertrauen in uns und deine ganze Unterstützung“, gab Sam bewegt zurück.
Bea Gerst wandte sich an die beiden Mädchen. „Wie wär’s, wenn ich mal eben in unserem Hotel für die Nacht einchecke und ihr hier alles klarmacht? Wir treffen uns dann später bei Alli an der Box, gehen irgendwo lecker essen und feiern ein bisschen, was meint ihr?“
Kati und Sam nickten begeistert. Lecker essen klang jetzt wunderbar, nachdem die ganze Aufregung von ihnen abgefallen war.
Kaum war Sams Mutter im Trubel der aufbrechenden Menschenmassen verschwunden, drängelte sich ein Typ Mitte dreißig, mit Spitzbärtchen und einer Bandana als Kopfbedeckung zu ihnen durch.
„Sam? Hi. Mein Name ist Joe Gärtner, ich schreibe für die Alternative Horsemanship. Weiß nicht, ob du die Zeitschrift kennst. Erst mal Glückwunsch zu deiner tollen Show, hat mich schwer beeindruckt, wie deine Stute dir gefolgt ist. Ich würde gerne in unserer nächsten Ausgabe etwas über dich machen. Da geht es schwerpunktmäßig um Problempferde und was Leute für Wege gefunden haben, ihnen zu helfen. Ich hab gehört, deine Stute hatte keinen so guten Start. Jetzt steht sie ja top da. Darf ich dir dazu ein paar Fragen stellen?“
Sam wurde knallrot. „Klar. Gleich hier sofort?“, sprudelte es aus ihr heraus.
„Ähm, wollten wir nicht mit Bea essen gehen und deinen Erfolg feiern?“, warf Kati vorsichtig ein.
„Dauert nicht lang“, gab Sam schnell zurück und warf ihrer Freundin noch einen beschwörenden Seitenblick zu, der so viel sagte wie: „Komm mir jetzt bloß nicht mit so was Unwichtigem wie Essen.“
„Okay, okay …“, meinte Kati betont beiläufig. „Ich bring dann schon mal Alli in ihre Box und packe unsere Sachen zusammen, du kannst ja nachkommen.“ Damit schlenderte sie davon.
Sam setzte sich mit Joe etwas abseits auf ein Rasenstück vor dem historischen Barockschloss.
„Cool, dass es gleich geklappt hat”, grinste Joe. „Was getan ist, ist getan, sage ich immer. Also, erzähl mir doch einfach mal, wie es angefangen hat mit Alegría und dir.“
Er schaltete sein Aufnahmegerät ein.
„Für Alli ist am Anfang so ziemlich alles schiefgelaufen“, setzte Sam an. „Sie wurde viel zu jung eingeritten, mit zweieinhalb, und mit drei hat man mit ihr schon Sliding Stops auf dem eisigen Reitplatz gemacht. Das war umso schlimmer, da andalusische Pferde bis fünf wachsen, sie war also mit drei sehr zerbrechlich und sah aus wie ein halbes Fohlen.“
„Das ist ja gruselig“, schauderte Joe. „Kannst du den Lesern kurz erklären, was ein Sliding Stop ist?“
„Das ist ein Manöver aus dem Westernreiten, wo das Pferd aus dem vollen Galopp anhält, indem es sich auf die Hinterbeine setzt und auf den Hinterhufen weiterrutscht, während es mit den Vorderbeinen bis zum Stillstand weiterläuft. Der Hammer, das mit so einem jungen Pferd zu machen. Ja, und kurz darauf musste Alli dann jeden Tag mit Ausbindern in der Anfängerreitstunde gehen. Sie war selbst noch ein Baby, im Kopf und körperlich, deshalb war sie ‚todbrav‘ und wurde bei den Kindern eingesetzt und vormittags in der Hausfrauenstunde. Das alles war natürlich megaschlecht für ihren Geist und ihren Körper.“
Joe nickte betroffen. „Das ist echt hart. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch auf den Beinen steht.“
„Meine Freundin Kati und ich ritten sie in den Reitstunden und verliebten uns in sie“, fuhr Sam fort. „Meine Mutter hat sie auch sehr gemocht, also kaufte sie Alegría. Ein Traum wurde wahr! Wir haben so viele Pläne gemacht … Zu dieser Zeit waren wir gerade mal 12 und ritten einfach herum, meistens ohne Sattel und vor allem draußen, alles, was Spaß bringt, zum Beispiel Wettrennen. Wilde Sachen eben, die nicht jeder macht. Wir ritten auch mit ihr ‚Dressur‘, aber wir wussten nicht viel über Muskeln und wie man ein Pferd richtig trainiert. Wir haben viele Fehler gemacht, und uns war nicht bewusst, wie schlecht sie damals aussah. Das eigentliche Problem waren die Reitstunden, in denen sie lief. Einfach viel zu viele Reitstunden in viel zu jungem Alter. Selbst als wir sie bereits gekauft hatten, sollte sie weiter im Reitunterricht gehen. Wir hatten null Ahnung und haben gesagt: Okay, sie darf weiter in den Stunden laufen, das junge Pferd muss ja bewegt werden.“
„Und sie hat keinen Schaden aus alldem davongetragen?“, zweifelte Joe.
Sam schüttelte hilflos den Kopf. „Später haben wir dann den Stall gewechselt und im neuen Stall fingen die Probleme mit ihr an. Sie hatte durch all das komplett den Spaß daran verloren, geritten zu werden. Ist ja kein Wunder. Sie wollte noch nicht mal mehr Schritt gehen, wenn jemand auf ihrem Rücken saß. Sie schien echt gebrochen. Wir sahen Alegría an und dachten, sie könnte niemals ‚tanzen‘. Wie sehr wir uns geirrt haben, hast du ja grade gesehen! Aber das war damals nicht zu ahnen.“
Sie unterbrach ihre Erzählung und blickte Joe an. Tränen standen ihr in den Augen. „Sorry, aber wann immer ich Allis Geschichte erzähle, muss ich weinen. Das alles ist natürlich nicht spurlos an ihr vorübergegangen und im Training spüre ich bis heute die Auswirkungen ihrer ersten Jahre. Es macht mich wütend, wie sie junge Pferde brechen, bis sie tote Augen haben und wie Maschinen funktionieren. Deswegen ist es mein erklärtes Ziel im Leben, Pferde zu Menschenfreunden zu machen. Ihnen einen guten Start zu geben. Wir haben am Anfang auch Fehler gemacht, die ich nie mehr wiederholen würde. Und ich will andere davor bewahren, dasselbe zu tun.“
Joe nickte anerkennend. „Du hast mit deinen 15 Jahren echt schon ’ne Menge kapiert, was viele sogenannte ‚Pferdeprofis‘ nie lernen werden. Erzähl doch jetzt mal, was genau die Probleme waren, die Alegría hatte, und wie du damit umgegangen bist.“
Sam atmete tief durch. „Meine Freundin Kati und ich haben von Anfang an mit Alli so ’ne Art Freiarbeit gemacht, aber ziemlich planlos. Ich habe mich halt ohne alles draufgesetzt und Alli ist auf dem Platz ein bisschen rumgaloppiert, aber das war natürlich total unkontrolliert. Dann habe ich verschiedene Sachen ausprobiert. Zuerst habe ich es mit Leckerlies versucht, aber ich wollte nicht, dass sie mir nur wegen des Futters folgt. Also habe ich das wieder gelassen. Dann habe ich so klassisches Horsemanship versucht, aber da war viel zu viel Druck drin, und sie ist ständig vor mir weggerannt, anstatt zu mir zu kommen, hat gebuckelt und mir die Hinterbeine entgegengeschleudert. Hat also auch nicht funktioniert. Dann kam die Zeit, wo sie total fertig war und wir vom alten Stall weg sind. Alli war durch das, was sie erlebt hatte, völlig unmotiviert, auch nur irgendwas mit einem Menschen zu machen. Es wurde nach dem Stallwechsel ein bisschen besser, weil sie da in einer Herde stand, aber im Prinzip hatte sie erst mal keine Lust auf gar nichts mehr. Und ich habe versucht, einen neuen Weg mit ihr zu finden, habe mir immer wieder Videos von den Großen der Freiheitsdressur angeschaut, viel gelesen. Das Wichtigste war aber, dass ich Zeit mit Alli verbracht habe. Viel Zeit. Die Halle und der Reitplatz waren für sie erst mal vergiftet, das war mir klar. Also bin ich anfangs stundenlang mit ihr spazieren gegangen, habe im Wald kleine Übungen mit ihr um Bäume herum gemacht und so. Und ich hab mir ein Bein abgefreut, wenn von ihr mal ein Feedback kam. Wenn sie mitgemacht hat. Langsam bin ich dahintergekommen, dass für sie das Wichtigste ist, dass sie bei mir entspannen kann. Ich habe mit ihr dann viel auf Gras gearbeitet, und bei mir, also in unserer Zweierherde, durfte sie immer fressen, gucken, wiehern, einfach machen, was sie will. Ab da, wo sie anfing, die Entspannung bei mir zu suchen, war es, als hätten wir eine Schallmauer durchbrochen. Alli wurde von Tag zu Tag motivierter, und wir konnten anfangen, Sachen zu erarbeiten. Und bis heute ist sie meistens mit viel Freude bei der Sache.“
Joe schwieg einen Moment. Dann meinte er: „Danke für deine Offenheit, Sam. Eure Geschichte hat mich echt bewegt, und ich bin sicher, viele Leser sehen das genauso. Hey, wenn du Lust hast, auch mal woanders was mit deinem Pferdchen zu zeigen, sag einfach Bescheid. Ein Kumpel von mir bucht die Shows für so einen Western-Themenpark unten in Bayern. Da könnt ihr bestimmt mal was machen.“
„Cool. Echt?“, strahlte Sam über beide Ohren. „Klar hab ich da total Lust drauf. Ich gebe dir mal meine Nummer und dann kann er mich ja kontakten wegen Terminen.“
„Ja, super“, grinste Joe. „Ich sag gleich dazu: Damit wird man nicht reich. Aber darauf kommt es dir wahrscheinlich auch nicht an.“
Sam schüttelte lachend den Kopf.
„Nee. Ich würde sogar ’ne Show machen, wenn ich draufzahlen müsste.“
Sam fand Kati vor Allis Paddockbox. „Und?“, grinste die Freundin sie spöttisch an. „Kommste auf’s Cover?“
Sam setzte ein zerknirschtes Gesicht auf. „Sorry, Kati, ich wollte nicht blöd zu dir sein. Aber das war eben ’ne Riesenchance. Der Typ wird über Allis Geschichte schreiben. Und er kann mir Shows mit Alli in irgend so einer Westernstadt vermitteln, ist das nicht mega?“
Kati blickte sie ernst an. „Als deine und Allis allerbeste Freundin muss ich dir jetzt mal den Kopf waschen. Ihr habt gerade eure erste richtige Show gemacht und es war superschön. Anstatt sich blöd zu freuen und erst mal zu relaxen, planst du gleich wieder das nächste Event. Gib Alli Zeit. Warum machst du so einen Stress? Ihr werdet schon noch berühmt.“
„Ich weiß auch nicht“, antwortete Sam. „Ich hab einfach das Gefühl, dass ich echt was dazu beitragen kann, dass Pferde besser verstanden und behandelt werden. Und ich will den Leuten an unserem Beispiel mit Alli auch zeigen, wie wichtig es ist, an seine Träume zu glauben, gerade auch mit Pferden, bei denen es viele Probleme gibt. Wenn man Ausdauer, Geduld und ein Ziel hat, geht echt so viel.“ Sie grinste. „Aber ein bisschen bekannt will ich dabei schon auch werden.“
Kati knuffte sie. „Ich pass schon auf, dass du nicht aus dem Ruder läufst.“
Nach ihrem zweiten Platz beim Cavallo Cup und dem Artikel über sie und Alegría in der Alternative Horsemanship, der kurz darauf erschien, war Sam plötzlich am Stall in ihrem Heimatkaff so etwas wie eine kleine Berühmtheit.
„Ich kann nicht glauben, dass selbst die arrogantesten Zicken, die immer darüber hergezogen haben, was wir mit Alli veranstalten, mich jetzt auf einmal grüßen“, lachte Sam.
„Die, die uns immer zu laut fanden und zu crazy, meinst du?“, gab Kati breit grinsend zurück. Die Freundin war total stolz auf Sam und Alli. „Ich weiß noch, wie die das immer voll ‚gefährlich‘ fanden, wenn wir komische Sachen aufgebaut haben und Alli da nur mit Halsring rumgesprungen ist.“ Sie schüttelte den Kopf. „Jetzt sehen alle, dass da ein Plan hinter war. Meistens jedenfalls“, setzte sie giggelnd hinzu.
„Weißt du, was das Beste ist?“, warf Sam ein. „Ich soll übernächstes Wochenende hier bei uns in der Halle eine Freiheitsdressur mit Alli zeigen! Die Stallbesitzerin hat mich gefragt.“
„Am Tag der offenen Tür?“, rief Kati aus. „Und? Machst du’s?“
„Klar“, gab Sam zurück. „Die Gesichter von denen, die immer noch nicht kapiert haben, wie es mit Pferden auch ganz anders gehen kann, lassen wir uns auf keinen Fall entgehen!“
Nachdem die Freundinnen ausführlich debattiert hatten, welche neuen Elemente sie in die Show einbauen wollten, entschieden sie sich schließlich dafür, den Ablauf vom Cavallo Cup in Grundzügen zu übernehmen, aber noch eine Nummer mit einem großen Flattertuch einzubauen, das Kati halten sollte, während Sam auf Alli um sie herum galoppierte. Außerdem wollte Sam unbedingt noch das rückwärts sitzende Galoppieren in die Nummer mit dem Auf- und Abspringen einbauen.
„Sam. Fahr deine Ansprüche runter. Du musst niemandem etwas beweisen, am wenigsten irgendwelchen Leuten im Stall“, meinte Bea Gerst, als sie von den hochfliegenden Plänen ihrer Tochter hörte.
„Quatsch, Mama, das hat nichts mit Ansprüchen zu tun. Ich will den Leuten einfach zeigen, was alles möglich ist, wenn das Pferd einem vertraut.“
„Aber musst du das denn alles in einer einzigen Show tun?“, seufzte ihre Mutter.
Sam antwortete nicht. Sie spürte, dass sie nicht ganz ehrlich gewesen war. Jetzt, wo sie das Gefühl hatte, einen Ruf in der Freiheitsdressur verlieren zu können, spürte sie einen feinen Druck: Sie wollte einfach mehr zeigen. Als sie am nächsten Tag mit Kati die Nummer mit dem Tuch einstudierte und es auch beim zehnten Mal einfach nicht so klappen wollte, wie Sam es sich vorgestellt hatte, meinte die Freundin: „Lassen wir es einfach weg. Wir haben doch genug Elemente in der Show.“
„Ich will das aber drin haben“, beharrte Sam bockig. „Los, wir machen das jetzt noch mal. Ich trabe eng um dich herum, du reichst mir eine Ecke vom Tuch, und ich ziehe den Zirkel immer größer, während sich das Tuch entfaltet. Dann galoppiere ich an und es fliegt zwischen dir und mir. Ist doch voll cool.“
Kati schüttelte verständnislos den Kopf. „Du musst es wissen …“
Sam trabte Alli an. Doch aus irgendeinem Grund weigerte sich die Stute plötzlich, in engen Wendungen um Kati zu gehen.
„Das gibt’s doch nicht“, murmelte Sam und sprang von ihrem Rücken ab. Sie versuchte vom Boden aus, Alli zum Trab in engen Kreisen zu animieren, aber es schien fast so, als habe die Spanierin Angst, ihr Gleichgewicht zu verlieren.
„Was ist denn mit dir los?“, rief Sam ungeduldig. „Ich hole jetzt den Kappzaum und dann üben wir das noch mal.“
„Nichts holst du!“, unterbrach Kati sie plötzlich energisch. „Was ist mit dir los, Sam?“ Sie schien richtig wütend. „Du gehst gerade gegen alles, an was wir glauben! Erinnerst du dich? Kleine Schritte, das Pferd nie überfordern, Grenzen akzeptieren. Alli will nicht, das zeigt sie dir gerade ganz deutlich. Und sie will nicht, weil sie nicht kann. Das würdest du auch sehen, wenn du aufs Pferd schauen würdest. Anstatt auf dich und das, was du mit aller Gewalt durchsetzen willst. Du bist gerade keinen Deut besser als all die Leute, die du so dringend belehren willst!“
Mit diesen Worten drehte Kati sich um und stapfte davon.
Sam blieb allein in der Halle zurück, während die Worte der Freundin in ihr widerklangen. Es war das erste Mal in ihrer langen Freundschaft, dass sie Kati so wütend gesehen hatte.
Sie schämte sich plötzlich. Was war nur in sie gefahren? Sie wandte sich Alli zu, die mit gesenktem Kopf neben ihr stand.
„Hey. Sorry.“
Doch die kleine Spanierin hob nicht den Kopf, wie sie es sonst immer tat, wenn Sam sie ansprach.
Plötzlich durchfuhr Sam ein heißer Schreck. Kati hatte recht, irgendetwas stimmte nicht mit Alli. Sie hatte gerade dieselbe Ausstrahlung wie damals als Schulpferd. Irgendwie total abgeschnitten und leblos.
Als sie ihre Stute betrachtete, fiel Sam auf, dass Alli neben dem total in sich gekehrten Blick die Nüstern eng zusammengezogen und ihre Maulspalte angespannt hatte. Sie musste Schmerzen haben.
„Komm, mein Schatz, ich bring dich in deine Box zurück“, flüsterte Sam heiser.
Doch als Alli hinter ihr hertrotten wollte, schwankte sie plötzlich, als sei sie betrunken. Als könne sie ihre Gliedmaßen nicht mehr koordinieren.
„Scheiße!“, stieß Sam hervor. Sie fühlte Panik in sich aufsteigen. Alles sagte ihr, dass das hier etwas ziemlich Ernstes war. Sie mussten sofort einen Tierarzt verständigen. Kati, wo war nur Kati?
Sam fühlte sich plötzlich total allein.
„Du schaffst das, mein Schöne. Halte durch“, beschwor sie Alli. „Wir gehen jetzt ganz langsam in deine Box zurück, und dann rufe ich jemanden, der dir hilft. Alles wird gut. Du wirst sehen.“
Doch ganz tief drinnen spürte Sam, dass das eine Lüge war.
Der herbeigerufene Tierarzt Dr. Sälzer ließ sich Alli zunächst im Schritt vorführen und bat Sam dann, sie, so gut es ging, aus dem Schritt und Trab abrupt abzustoppen. Jedes Mal knickten Allis Hinterbeine ein, manchmal schien es fast, als würde sie hinten komplett zusammenbrechen. Dann sollte Sam die Stute eng um die eigene Achse drehen. Bei dieser Bewegung schien sich Allis Gesicht vor Schmerz wieder ganz fest zusammenzuziehen. Außerdem pendelte ihr Bein beim Anhalten auf eine bizarre Weise nach außen.
„Ich habe genug gesehen“, nickte der Tierarzt schließlich. „Ihr könnt sie zurück in die Box bringen.“
„Und?“, fragte Bea Gerst nervös nach. Sie war zeitgleich mit dem Tierarzt am Hof eingetroffen.
„Ich habe leider keine gute Nachricht. Ich halte es für eine spinale Ataxie, eine Störung im Bewegungsapparat“, meinte Dr. Sälzer. „Das schwankende Laufen, die tappende Fußung beim Auftreten, das Einknicken der Hinterhand, alles deutet darauf hin. Wir können das natürlich noch mal röntgenologisch überprüfen, aber ich bin mir ziemlich sicher.“
„Was heißt das genau?“, hakte Bea Gerst nach.
„Das hängt vom Schweregrad und vor allem von der Ursache der Ataxie ab. Sie kann zum Beispiel von einem Trauma herrühren. Ist die Stute vielleicht kürzlich auf der Weide gestürzt oder hat sich überschlagen?“
„Nein, also … ich weiß es nicht“, stotterte Sam.
„Heute Morgen ist sie noch ganz normal gelaufen!“, warf Kati verzweifelt ein.
Die Freundinnen hielten sich vor lauter Angst um Alli so fest an den Händen, dass es schon fast wehtat. Von ihrem Streit war nichts mehr zu spüren.
Dr. Sälzer zuckte mitleidig mit den Schultern. „Irgendwann treten die Symptome der Ataxie einfach auf. Ein Sturz oder Ähnliches kann zu einer kleinen Verschiebung von zwei Wirbelkörpern der Halswirbelsäule führen. Die Nervenstränge, die für die Bewegungskoordination des Pferdes zuständig sind, liegen an der Oberfläche des Halsmarks. Entsteht durch die verschobenen Wirbelkörper ein Druck aufs Halsmark, gibt es eine Entzündung, es kommt zu Flüssigkeitsansammlungen, die noch mehr Druck erzeugen, und irgendwann zeigen sich die typischen Bewegungsstörungen der Ataxie.“
Er blickte in die entsetzten Gesichter der Mädchen und fügte hinzu: „Das ist der beste Fall.“
„Und was ist der schlimmste?“ Auch die Stimme von Bea Gerst zitterte nun.
„Eine Arthrose der Halswirbelsäule.“ Dr. Sälzer machte eine Pause, dann sprach er weiter. „Alegría ist ja noch ziemlich jung. Doch grobe Trainingsfehler, schlecht sitzende Sättel, Blockaden und massive Muskelverspannungen, falsche Hufbearbeitung – all das kann dazu führen, dass Bänder und Bandscheiben der Wirbelsäule verschleißen. Auch schon bei einem jungen Pferd. In weiterer Folge werden die verschlissenen elastischen Strukturen durch knöcherne Zubildungen ersetzt. Dann haben wir eine arthritische Veränderung der Wirbelsäule, also eine Wirbelgelenksarthrose, die ebenfalls zu einem Druck auf das Halsmark und zu den entsprechenden Bewegungsstörungen führen kann.“
Sam und Kati war jetzt der blanke Horror ins Gesicht geschrieben.
„Als ganz junges Pferd hat Alegría alles, was Sie eben aufgezählt haben, erfahren“, flüsterte Bea Gerst heiser. „Wir haben sie aus einem Schulpferdedasein herausgekauft, wo sie schon mit drei Jahren ausgebunden in den Reitstunden gelaufen ist.“
„Wir wollen den Teufel nicht an die Wand malen“, versuchte Dr. Sälzer, sie zu beruhigen. „Um wirklich abzuklären, ob es sich bei Alegrías Ataxie ursächlich um eine Arthrose handelt, müssten wir die Halswirbelsäule röntgen. Da lassen sich arthrotische Veränderungen in der Regel leicht erkennen. In der Regel, sage ich. Denn manchmal muss man, um eine Wirbelgelenksarthrose definitiv auszuschließen, das Pferd in der Klinik in Vollnarkose legen und bei einem maximal abgewinkelten Hals röntgen. Das kann man leider nicht im Stehen tun.“
Bea Gerst schluckte. „Das kann ich so jetzt nicht allein entscheiden. Wir müssen erst mal alles in der Familie besprechen. Da kommen ja auch unüberschaubare Kosten auf uns zu.“
Sam schossen die Tränen in die Augen. Verzweifelt stieß sie aus: „Mama, wir müssen alles tun, um Alli zu retten. Wir können sie jetzt nicht aufgeben, nach allem, was wir schon zusammen durchgemacht haben.“
Auch Kati war kreidebleich geworden.
„Ich mache mal einen Vorschlag“, schaltete sich Dr. Sälzer ein. „Ein Röntgenbild im Stehen könnten wir hier in der Stallgasse machen. Das kostet nicht die Welt. Da sieht man schon mal, ob arthrotische Veränderungen augenfällig sind. Doch auch wenn die Vorgeschichte der Stute durchaus eine Wirbelgelenksarthrose nahelegt, spricht gegen diese Diagnose, dass sich eine Ataxie in der Regel innerhalb von ein paar Wochen bis Monaten entwickelt. Und ihr habt Alegría ja nun schon einige Jahre in guter Haltung, stimmt’s?“
„Wir sind hier jetzt knapp zwei Jahre“, flüsterte Sam.
„Na, siehst du“, antwortete Dr. Sälzer. „Das spricht aus meiner Sicht gegen Arthrose als Ursache für ihre Ataxie.“
Sam fühlte einen winzigen Schimmer Hoffnung in sich aufflackern. Hoffentlich hatte der Tierarzt recht und es war nicht das Allerschlimmste.
„Es gibt auch die Möglichkeit, einfach mal abzuwarten“, fuhr Dr. Sälzer fort. „Wurde die spinale Ataxie bei eurer Stute durch eine einmalige Verletzung des Rückenmarks ausgelöst, können sich die Symptome unter Umständen von selbst verringern. Wir können ihr etwas gegen die Entzündung spritzen, und wenn die sich zurückbildet, werden die Nervenbahnen nicht mehr durch die Flüssigkeitsansammlung zusammengedrückt. Die für die Ataxie typische Bewegungsstörung bildet sich dann automatisch zurück. Die verbleibende Instabilität zwischen den Wirbeln kann man später durch gezielten Muskel- und Koordinationsaufbau ausgleichen.“
„Danke, Dr. Sälzer. Das müssen wir, glaube ich, alle erst mal verdauen.“ Bea Gersts Stimme klang eine Spur leichter.
Nach einem flehenden Blick von Sam fügte ihre Mutter hinzu: „Selbstverständlich können Sie Alli etwas gegen die Entzündung und die Schmerzen spritzen und dann schauen wir weiter.“
Der Tierarzt nickte. „Ich halte das für ein gutes Vorgehen. Stellen Sie sie irgendwo auf die Weide und lassen Sie sie ein paar Monate ganz in Ruhe. Die Entzündung wird sich nach der Spritze schnell zurückbilden und Schmerzen hat sie eigentlich keine. Wenn sie sich bewegen kann, wie sie will, wird sie Biegungen der Halswirbelsäule, die ihr wehtun, vermeiden. Und die Bewegungsstörungen sehen schlimmer aus, als sie für die Stute selbst sind.“
Er zog eine Spritze auf und verabreichte sie Alegría.
„In acht Wochen sehen wir uns wieder. Dann müssten deutliche Verbesserungen eingetreten sein. Ansonsten …“ Er führte seinen Satz nicht zu Ende.
Noch am selben Abend tagte der Familienrat. Auch Kati und ihre Eltern waren dazu gebeten worden und selbst Sophie nahm an dem Krisentreffen teil.
Nachdem Robert Gerst und Katis Eltern Anja und Thomas Hofmann betroffen dem Bericht von Bea gelauscht hatten, legte sich Stille über die Runde.
Schließlich brach Sams Vater das Schweigen. „Also, wenn ich es richtig verstanden habe, ist die Prognose im schlimmsten Fall, dass Alegría als Reitpferd nicht mehr geeignet ist.“
„Und im besten Fall, dass nur ganz minimale Bewegungsstörungen zurückbleiben, die man durch gezieltes Training ausgleichen kann“, fügte Sam hastig hinzu.
„Und ja wohl auch alles dazwischen“, meinte Sophie trocken.
Sam warf ihrer jüngeren Schwester einen wütenden Blick zu. Wie konnte sie nur so gefühllos sein?
„Ich möchte noch mal wiederholen, was Dr. Sälzer gesagt hat“, versuchte Bea Gerst, die aufflackernde Spannung zwischen ihren Töchtern zu lösen. „War die Kompression des Rückenmarkes einmalig, kann sich das Symptom unter Umständen von selbst verringern. Eine abwartende Haltung ist also laut Dr. Sälzer gerechtfertigt.“
Thomas Hofmann, der Vater von Kati, räusperte sich. „Also, wenn ihr die Einschätzung eines Außenstehenden haben wollt, dann können wir doch nichts verlieren, wenn wir das Pferd erst mal acht Wochen auf der Weide stehen lassen. Danach muss man dann schauen, was der Stand ist und wie es weitergeht.“
Robert Gerst nickte. „Thomas hat recht. Gleichzeitig muss euch beiden, Sam und Kati, aber auch bewusst sein, dass wir es uns nicht leisten können, ein Pferd durchzufüttern, das nicht mehr reitbar ist.“
Sam schossen sofort die Tränen in die Augen. „Das ist mir egal. Dann höre ich eben mit dem Reiten auf. Wir dürfen Alli auf gar, gar, gar keinen Fall weggeben.“
Auch Kati lief bei dem Gedanken, sich vielleicht in acht Wochen von der kleinen Spanierin trennen zu müssen, ein Strom von Tränen über die Wangen.
„Es hat doch keinen Sinn, sich jetzt verrückt zu machen“, schaltete sich Anja Hofmann ein. „Warten wir es doch einfach mal ab.“
Mit dem Stallbesitzer war vereinbart worden, dass Alli in den kommenden zwei Monaten zusammen mit einer kleinen Herde, die sie kannte, auf einer entlegenen Sommerweide bleiben sollte. Sam und Kati besuchten sie dort jeden Tag. Alli fühlte sich in der Herde offenbar sehr wohl und genoss es, Tag und Nacht draußen zu sein. Wie Dr. Sälzer gesagt hatte, schien sie an keinerlei Schmerzen zu leiden.
Für Sam waren die Besuche eine einzige Tortur. Ihre schöne Stute mit den abstrus-tollpatschigen Bewegungen der Ataxie über die Weide torkeln zu sehen, brach ihr wieder und wieder das Herz. Hinzu kamen die gehässigen Bemerkungen der Leute am Stall. Mehr als einmal mussten sie und Kati sich Sätze anhören wie: „So ein Pferd braucht kein Mensch“, „Die wäre früher direkt weggekommen“ oder: „Erlöst den armen Gaul doch. Ihr quält den nur“.
„Wie hältst du das alles nur aus?“, stieß Sam verzweifelt hervor, als sie und Kati nach einer besonders gemeinen Bemerkung einer Stallkollegin nach Hause radelten.
„Weiß auch nicht“, gab Kati zurück. „Ich fühle mich wie in einem Tunnel. Ich schaue nur auf den Tag x in acht Wochen, wo wir erfahren werden, wie es um Alli steht. Und bis dahin, sage ich mir, ist alles offen.“
Sam seufzte. Sie wurde gequält von Schuldgefühlen über die blöde Szene in der Halle mit Alli und dem Tuch. Da hatte Alli schon ihre ersten Symptome gezeigt, ohne dass Sam es gemerkt hatte. Ganz im Gegenteil hatte sie es für bloße Sturheit gehalten. Ihre Alli hatte Schmerzen gehabt, und sie hatte sie auch noch gezwungen, immer und immer wieder die Biegung zu versuchen.
„Das eine hat doch mit dem anderen rein gar nichts zu tun“, versuchte Kati in ihrer pragmatischen Art, die Freundin zu beruhigen.
Doch Sams Gedanken kehrten immer wieder zu dem Nachmittag zurück. Auch wenn ihr Verstand wusste, dass sich die Ataxie genauso gut zu jedem anderen Zeitpunkt hätte zeigen können, war sie genau da zum ersten Mal aufgetreten. Als sie unfair zu Alli gewesen war. Als sie das Vertrauen der kleinen Spanierin enttäuscht hatte.
Wie unter Zwang musste sie sich vor dem Einschlafen immer wieder ihre ganzen Videos auf YouTube anschauen und wieder und wieder die Aufzeichnung ihrer Show vom Cavallo Cup. Ein Teil von Sam konnte und wollte nicht realisieren, dass das alles vielleicht für immer vorbei sein sollte.
Wie hatte sie zu ihren Eltern gesagt? Dann höre ich eben mit dem Reiten auf. Sam spürte, dass das nicht die Wahrheit war. Sie konnte gar nicht aufhören. Pferde waren ihr Leben. Und der Welt zu zeigen, was man mit Vertrauen und Geduld bei einem Pferd erreichen konnte, war ihre Bestimmung, das fühlte sie ganz tief innen drin. Doch was, wenn Alli wirklich nicht mehr okay werden würde? Wenn sie verdammt war, für den Rest ihres Lebens als Krüppel über irgendwelche Weiden zu torkeln? Und was, wenn sie sich entscheiden musste zwischen einer Zukunft als Pferdefrau und Alli zu behalten?
Sam hatte das Gefühl, dass ihr Kopf zerplatzte. So durfte sie nicht denken. Warum konnte sie nicht sein wie Kati? Jetzt einfach alles beiseiteschieben und in acht Wochen schauen, was war. Allen schien das zu gelingen, nur nicht ihr.
Eines Abends machte sich ihre ganze angestaute Verzweiflung Luft. Die Familie saß beim Abendessen, es wurde über Alltägliches geredet. Als Sophie gerade irgendetwas von ihrem neuen Tennis-Camp plapperte, sprang Sam plötzlich auf.
„Wie könnt ihr nur so tun, als wäre nichts?“, schrie sie. „Euch allen ist Alli doch komplett scheißegal.“
Ihre Eltern blickten sie vollkommen überrumpelt an.
„Sam, bitte …“, setzte Bea Gerst an.
Doch Sam war außer sich. „Seht ihr nicht, wie irre das ist? Alli torkelt da draußen rum und wird vielleicht nie wieder die Alte sein und ihr macht hier business as usual. Da stimmt doch was nicht.“
„Es gibt jetzt im Moment absolut nichts, was wir tun können, und das weißt du“, schaltete sich ihr Vater ruhig ein.
Sam brach in einen unkontrollierten Weinkrampf aus und rannte türenknallend in ihr Zimmer.
Nach einiger Zeit hörte sie ein sachtes Klopfen. Als sie nicht antwortete, öffnete ihre Mutter die Tür einen Spaltbreit.
„Darf ich zu dir kommen?“
Sam lag auf dem Bett und wurde von Tränen geschüttelt.
Ihre Mutter setzte sich neben sie, ohne eine Antwort abzuwarten. „Ist grade alles ziemlich viel, hmmm?“ Sie strich Sam über den Rücken, die daraufhin noch mehr weinen musste. „So ist gut. Heul es einfach raus“, ermunterte ihre Mutter sie.
Irgendwann waren die Tränen tatsächlich versiegt und Sam fühlte sich vollkommen leer.
„Magst du mit mir reden?“, fragte Bea Gerst sanft.
Sam meinte zunächst, keinen Ton rauszubringen. Doch schließlich kamen Worte aus ihrem Mund: „Das mit Alli … ich hab so ein schlechtes Gewissen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es meine Schuld ist, dass sie diese schlimme Krankheit bekommen hat.“
Bea Gerst nahm ihre Tochter in den Arm. „Wie kommst du denn nur auf so einen Unsinn. Es ist dein Verdienst, dass sie heute so gut dasteht. Wenn du und Kati euch nicht so reingehängt hättet, wer weiß, was mit ihr passiert wäre …“
Sam schüttelte verzweifelt den Kopf. „Als sie mich am meisten gebraucht hat, als es ihr schon nicht gut ging und sie Schmerzen hatte, habe ich ihr noch mehr abverlangt. Wo ich den Mund immer so voll nehme von wegen Vertrauen und Geduld ist die Basis für alles. Ich habe selbst das komplette Gegenteil davon getan. Es kommt mir vor, als wäre ihre Krankheit wie eine Strafe dafür.“
„Sam, das ist kompletter Unsinn. Und du weißt das“, ermahnte sie ihre Mutter.
„Und wenn es nicht wieder weggeht?“, fuhr Sam verzweifelt fort. „Ich könnte Alli um nichts in der Welt abgeben, am allerwenigsten in diesem Zustand. Aber ich weiß, dass ich auch nicht aufhören kann, mit Pferden zu arbeiten. Was soll ich dann nur machen?“
„Mein armer Schatz“, flüsterte ihre Mutter, „du machst dir viel zu viele unnötige Gedanken. Du musst die Brücke erst suchen, wenn du am Fluss stehst.“
„Das sagt Kati auch immer“, entgegnete Sam, „aber ich kann das irgendwie nicht.“
Bea Gerst richtete sich auf. „Weißt du, was? Mir ist gerade eine Idee gekommen.“
Sam hörte ihr gar nicht richtig zu, doch ihre Mutter sprach einfach weiter. „Papa und ich wollten dir zu Weihnachten einen Aufenthalt auf einer Pferde-Ranch im Nordwesten der USA schenken. Ich habe vor einiger Zeit über die Züchter einen Artikel gelesen, sie stammen von den Nez-Perce-Indianern ab und scheinen wirklich ein ganz besonderes Pferdewissen zu haben. Warum fährst du nicht einfach jetzt?“
Sam blickte ihre Mutter entgeistert an. „Ich kann doch Alli nicht verlassen!“
„Du kannst nicht nur, du musst sogar. Dein kleiner Nervenzusammenbruch heute Abend hat mir gezeigt, dass die Situation dich komplett überfordert. Und in dem Zustand bist du für Alli keine Hilfe, ganz im Gegenteil. Kati schaut nach ihr und du kommst auf ganz andere Gedanken. Es sind sowieso Sommerferien. Ich finde die Idee hervorragend!“, beharrte ihre Mutter.
„Nee, Mama, echt nicht. Das geht nicht. Ich kann das nicht“, entgegnete Sam matt.
Ihre Mutter gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Schlaf drüber und morgen reden wir noch mal. Ich bin sehr dafür, dass du fährst!“
Sie saß wieder auf der Sandbank am Flussbett. Der große Schwarzgraue hatte seine Herde zum Wasser geführt, und alle tranken, während er wie immer die Stuten bewachte.
Plötzlich hob eine kleine Stute den Kopf und schaute Sam direkt an. Sie hielt den Atem an. Noch nie zuvor hatte eines der Pferde mit ihr Blickkontakt aufgenommen. Sie wagte nicht, sich zu rühren.
Auch die Stute bewegte sich keinen Millimeter, blickte sie einfach nur unverwandt aus ihren großen dunklen Augen an.
Sie war von einem goldschimmernden Braun, interessanterweise ohne Tigerschecken-Zeichnung, und eine lange, schmale Blesse zog sich über ihren ganzen Kopf. Das Auffällige an ihr war aber ihre unglaublich lange silbergraue Mähne. So ungewöhnlich wie ihre Farbkombination war auch die Ausstrahlung der Stute. Sie war nicht mehr ganz jung und strahlte etwas Erfahrenes und Weises aus. Gleichzeitig zeugte ihr Blick von einer freien und wilden Seele, die sich noch nie einem Menschen geöffnet hatte. Fasziniert verharrte Sam, in den Augen der Stute versunken. Plötzlich begannen sich wie von allein Worte in ihrem Kopf zu formen.
„Ich warte auf dich.“
Ihr Herz begann, wie verrückt zu klopfen, während die Stute Sam weiter unvermittelt anblickte.
„Ich warte auf dich“ – hatte sie das gerade zu der Stute gesagt oder war das von der Silbermähne gekommen? Oder von ihnen beiden?
In diesem Moment wachte Sam auf.
Als sie verschlafen die Küche betrat, saß ihre Mutter noch am Frühstückstisch und machte gerade die Wochenend-Einkaufsliste.
Sie blickte auf. „Und, mein Schatz? Geht es dir besser?“
Sam nickte.
„Ich habe gute Nachrichten“, fuhr Bea Gerst fröhlich fort. „Gestern Abend noch habe ich Jon und Rosa Redheart eine Mail geschickt und heute Morgen war schon die Antwort da. Du kannst zu ihnen kommen und sechs Wochen auf ihrer Farm arbeiten. Passt doch perfekt, oder?“
Sam starrte ihre Mutter ausdruckslos an, doch die fuhr unbekümmert fort: „Die Redhearts sind mit ihren Pferden im Nordosten Oregons, im Wallowa Valley. Ich habe Bilder gesehen, es ist wunderschön dort. Flüge habe ich auch schon gecheckt: Es gibt in drei Tagen einen nach Seattle, wo ich für dich einen Last-minute-Platz bekommen könnte, und von dort weiter nach Portland. Von da müsstest du dann mit dem Überlandbus fahren, Rosa hat geschrieben, dass es noch mal gut acht Stunden sind. Aber das ist ja kein Problem.“
Sie machte eine kurze Pause und blickte Sam erwartungsvoll an. „Was sagst du?“
„Ihr könnt mich gar nicht schnell genug loswerden“, grunzte Sam und schenkte sich einen Kakao ein.
„Das heißt, du fährst?“
Sam zögerte mit einer Antwort. Ihr Kopf fühlte sich merkwürdig wattig an.
„Kann ich dir heute Mittag Bescheid geben?“, hörte sie sich sagen.
Bea Gerst nickte. „Vor zwölf bitte, so lange kann ich den Flug reservieren.“
„Einverstanden“, gab Sam zurück.
Am Gatter von Alegrías Weide angekommen, schaute Sam der kleinen Herde erst mal eine ganze Weile still beim Grasen zu. Aus der Ferne konnte man meinen, dass mit Alli alles in Ordnung war, wie sie da friedlich mit abgesenktem Kopf an den Grashalmen rupfte. Richtig zufrieden sah sie aus.
Sam schlüpfte unter dem Zaun hindurch. Die kleine Spanierin hob den Kopf und blickte ihr aufmerksam entgegen, während Sam sich langsam näherte. Bei Alli angekommen, setzte sie sich vor ihrer Stute ins Gras.
Wie immer begann Alli als Erstes, Sam zärtlich abzuschnobern.
„Na?“, flüsterte Sam. Sie strich Alli über die Nase. „Wie geht es dir heute, meine Schöne?“
Alli schnaubte und wandte sich ungerührt wieder dem Gras zu.
Sam sah ihr eine Weile dabei zu, wie sie genüsslich Büschel für Büschel vertilgte, und lauschte auf das gleichmäßige Rupfgeräusch. Irgendwie hatte es eine total beruhigende Wirkung.
„Soll ich fahren?“, flüsterte sie.
Die anderen Pferde bewegten sich langsam zum entgegengesetzten Ende der Weide. Alli hob plötzlich den Kopf, als bemerke sie erst jetzt, dass sich ihre Herde entfernte. Umständlich drehte sie sich um und tappte den anderen tollpatschig hinterher. Für einen kurzen Moment zog sich Sams Herz schmerzhaft zusammen.
Dann murmelte sie: „Du hast recht, meine Schöne. Danke.“