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I. Ursprünge: Religion und Politik in der Weimarer Republik

„Angelus Novus“ – Ein Versuch über „Benjamins Politik“

„Walter Benjamins ,Angelus Novus‘“ – das war für mich lange Zeit nur mehr ein politischer Erinnerungsrest aus der Dämmerung der Studentenbewegung. Doch als ich vor einigen Jahren zum Kongress der Internationalen Walter-Benjamin-Gesellschaft in Frankfurt1 eingeladen war, machte ich die ziemlich deprimierende Erfahrung einer Insider-Gemeinde aus theologisch interessierten Jungakademikern, emeritierten Salonmarxisten und immerhin neugierigen Philosophiestudierenden. Und als ich mich davon durch den Blick in die Benjamin-Literatur etwas erholen wollte, fand ich mich schnell in einem wahren Labyrinth wieder. Ich sah mich konfrontiert mit einer hochtourigen akademischen Deutungsindustrie, die bereits mehrere Konjunkturen durchlaufen hatte und zuletzt, im Zuge der kulturwissenschaftlichen Institutionalisierung des postmodernen Zeitgeistes sogar in eine Schleife der Repolitisierung eingetreten war.

Ist der „Angelus Novus“ zu einer Ikone geworden, die aus einem jüdischen Intellektuellenschicksal der Zwischenkriegszeit den Mut der Verzweiflung schöpft und daraus akademisches Kapital für die Gegenwart schlagen will – oder taugt er auch als Überbringer von Lichtblicken? Gibt es einen Ariadnefaden, der wenigstens aus dem Labyrinth der Benjamin-Literatur herausführt? Ich vermute ihn in der Suche nach möglichen Alternativen zu der geschichtsphilosophischen Grundierung, die Benjamins Denken damals geprägt hat und die es heute – vielleicht aus anderen Gründen – so unwiderstehlich wie missverständlich macht. Diese Suche wird freilich nur dann erfolgreich sein, wenn man sich eingesteht, dass Benjamins Denken selber nichts weniger als ein Labyrinth war, so unheimlich, dass vielleicht nur kritische Engelsgeduld aus dem herausführt, was man „Benjamins Politik“ nennen könnte.

Konjunkturen der Benjamin-Rezeption

Man kann die mittlerweile unüberschaubare Wirkungsgeschichte Benjamins kaum aus der Eindeutigkeit eines Flüchtlingsschicksals erklären, das durch einen selbstmörderischen Kurzschluss an der Grenze nach Spanien sein Ende fand und über dessen Symbolkraft natürlich kein Zweifel besteht. Offensichtlich war es aber neben der disziplinären Fülle und der programmatischen Multimedialität seines Werks auch eine fundamentale Zweideutigkeit, die dem Faszinosum Benjamin immer neue Nahrung zugeführt hat. Im Zentrum von Benjamins Leben und Schaffen stand, so werde ich im Folgenden behaupten und mich dabei der Blickbeschränkung des politischen Ideenhistorikers schuldig machen, eine philosophische Auffassung von Geschichte, die sich zwischen Marxismus und Theologie nicht entscheiden konnte und deren Aufklärungspotential sich – möglicherweise deswegen – in der Zwischenkriegszeit bereits erschöpft hatte. Dass er den analogen Widerspruch zwischen politischem Handlungswillen und messianischer Heilserwartung auch nicht lösen wollte, ist eine Behauptung, die vor einem auf der Hut sein muss: vor dem Zynismus des Überlebens, der zu verkennen droht, wie dicht das jüdische Exil gerade in seiner französischen Endphase vor dem Holocaust zu stehen kam.

Kristallisiert findet sich diese verzweifelte Konstellation bekanntlich an exponierter Stelle, in den berühmten Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ von 1940, die Benjamins letzte Aufzeichnungen waren.2 Sie sind sein Testament geworden und ein Schlüssel für seine Wirkungsgeschichte. In diesen Thesen wiederum, die Benjamin Gretel Adorno mit dem ihm eigenen Charme als einen „auf nachdenklichen Spaziergängen eingesammelten Strauss flüsternder Gräser“ ankündigte, aber ausdrücklich nicht publiziert haben wollte, weil sie „dem enthusiastischen Missverständnis Tor und Tür öffnen würden“, 3 findet sich unter der Ziffer Neun der einigermaßen rätselhafte Passus, in dem Benjamin den „Angelus Novus“ von Paul Klee als Vorlage nimmt, um seine Auffassung von Geschichte in einer Allegorie zu verdichten. So wurde aus einer Zeichnung, die Benjamin im Jahr 1921 selber erworben und seitdem auf allen weiteren Lebensstationen mit sich geführt hatte, der „Engel der Geschichte“.

Die Deutungen dieses Denkbildes sind Legion. Dennoch gibt es – offen oder verschwiegen – einen Konsens, der sich als eine Art Generalklausel für die Interpretation der „Thesen“ festgesetzt hat. Danach steht der „Angelus Novus“ nicht nur für eine Kritik der Fortschrittsidee, die von Benjamin mit dem sozialdemokratischen Reformglauben und der Kontinuitätsvorstellung des Historismus identifiziert wird, sondern verkörpert ein katastrophisches Geschichtsbild: Die Apokalypse ist bereits eingetreten; denn in den schreckensgeweiteten Augen der Engelsfigur stellt sich die Geschichte insgesamt als eine einzige Serie von Katastrophen dar. Zwar beschwört der Text an anderer Stelle eine Gegenkraft, ein „Katechon“, könnte man in theologischer Terminologie sagen, nämlich den revolutionären Kampf des Proletariats und die dazugehörige Theorie des historischen Materialismus. Aber dessen Aussichten bestehen eigentlich nur in der pathetischen Beschwörung eines wenig konkreten „Ausnahmezustandes“, der in der „messianischen Stillstellung des Geschehens […] eine revolutionäre Chance im Kampf für die unterdrückte Vergangenheit“ sucht, aber sich des Sieges ebenso wenig sicher sein kann wie des Zieles. Zwar gibt es eine „messianische Kraft“ in der Geschichte, aber sie ist schwach und nur „als Splitter in die revolutionäre Jetztzeit eingesprengt“, ebenso wie dem historischen Materialismus auch durch die Theologie nicht mehr auf die Beine zu helfen ist; denn die ist „heute bekanntlich klein und hässlich und darf sich ohnehin nicht mehr blicken lassen“.4

So unwiderstehlich die in diesen Formulierungen wirksame Strahlkraft war, so verschieden gestaltete sich ihre Brechung in den drei Phasen der Benjamin-Rezeption, die sich mittlerweile unterscheiden lassen: Für die Ausgangslage, sozusagen die heroische Phase geht man nicht fehl, wenn man die posthume Wirkung Benjamins durch den erbitterten Erbschaftsstreit zwischen Adorno einerseits und Hannah Arendt andererseits charakterisiert, sekundiert und schließlich in gewisser Weise geschlichtet durch die biographischen Interventionen von Gershom Scholem, des engsten der Freunde von Walter Benjamin. Spielte hier der „Angelus Novus“ eine Art Vermittlerrolle, die sich dann nicht zufällig in der Titelgebung für den zweiten Band der deutschen Erstausgabe niederschlug,5 so setzte in der zweiten Phase der Benjamin-Rezeption eine forcierte Politisierung ein. Jetzt tritt die marxistische Seite an Benjamins Geschichtsauffassung hervor, die nicht in der Engelsgestalt selber, aber in anderen – und durchaus gewichtigen Passagen der „Geschichtsphilosophischen Thesen“ greifbar ist und in der Regel auf den Einfluss von Bertolt Brecht und der Lettin Asja Lacis zurückgeführt wird.

In einer dritten Phase schließlich, die durch die kritische Gesamtausgabe und eine immer detailliertere Werkphilologie geprägt ist, zeigt sich eine Entwicklung, die nichts weniger als ein Paradox darstellt, jedenfalls wenn man an Benjamins eigene Auffassung des „dialektischen Bildes“ zurückdenkt, deren vielleicht eindrucksvollste Verkörperung eben der „Engel der Geschichte“ selber ist: Waren die „Geschichtsphilosophischen Thesen“ mit „Jetztzeit“ aufgeladen, d. h. auf die Aktualität des antifaschistischen Kampfes zu Beginn des Zweiten Weltkrieges hin geschrieben, so ergab sich aus der Logik der akademischen Rezeption eine Kanonisierung, die eine beinahe unendliche Differenzierung nach innen mit einer zunehmenden Glättung der Außenwirkung erkaufte. So ist es kein Zufall, dass die vielbändige und jetzt abgeschlossene „Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur“ ein eigenes und sogar ausführliches Stichwort „Angelus Novus“ aufführt,6 ebenso wie den Autoren des voluminösen Benjamin-Handbuchs von 2006,7 so verschieden ihr Zugang sonst auch sein mag, ein stiller Konsens in eine ähnliche Deutungsrichtung unterlegt scheint.

Walter Benjamin auf dem hohen Sockel einer akademisch abgesicherten Gedächtniskultur? Und sein „Angelus Novus“ als Ikone einer weihevollen Verehrung, die längst internationale Ausstrahlung erreicht hat? In der Tat möchte man fragen, ob nicht mittels der hochgehängten Figur Walter Benjamins so etwas wie ein korrekt-linkes Geschichtsbild festgeschrieben zu werden droht, ob im „Angelus Novus“ nicht zum Erinnerungsbild erstarrt ist, was am wenigsten der intellektuellen Intention entsprach, die Benjamin 1940 mit ihm im Sinn hatte. Wenn der „Angelus Novus“ tatsächlich zur Ikone geworden ist – muss sie nicht entsakralisiert, in Benjamins Worten „entauratisiert“ werden? Diese Frage gewinnt in jüngster Zeit an Dringlichkeit, weil sich im Zuge der postmodernen Benjamin-Lektüre eine erneute Politisierung abzeichnet, die zuerst über Jacques Derrida vermittelt und dann durch den italienischen Philosophen Giorgio Agamben zur Mode geworden ist.8

Auffällige Merkmale dieser Reaktualisierung sind ihre dezidiert internationale Ausrichtung, die Gleichzeitigkeit mit dem Aufkommen der militanten globalisierungskritischen Bewegungen sowie eine hohe Internetpräsenz des damit verbundenen Diskurses, die heute als besonders sensibler Seismograph für die Veränderungen des politischen Bewusstseins zu gelten hat. Noch auffälliger aber und eine signifikante Verschiebung des Blicks auf Walter Benjamin ist die penetrante Fixierung auf das Problem der Gewalt, was sich nicht zuletzt darin ausdrückt, dass Walter Benjamin regelmäßig als eine Art intellektueller Zwillingsbruder von Carl Schmitt figuriert. Die politische Gegenwart erscheint als die Wiederholung der „geistesgeschichtlichen Lage“ der Weimarer Republik, genauso düster und ähnlich krisensüchtig, nur eben globalisiert. Der dazu passende Text stammt nicht mehr aus den Thesen von 1940, sondern findet sich in Benjamins „Kritik der Gewalt“ von 1921, der einzigen längeren Abhandlung zur Politik, die er geschrieben hat.9

Gershom Scholem – Fürsprecher des „Angelus Novus“

„Wenn man von einem Genius Walter Benjamins sprechen darf, so war er in diesem Engel konzentriert, und in dessen saturnischem Lichte verlief Benjamins Leben selber, das auch nur aus ,Siegen im Kleinen‘ und ,Niederlagen im Großen‘ bestand […].“10 Was die Stellung von Klees Engelsbild in Benjamins Lebensgeschichte betrifft, so ist Gershom Scholem die nicht zu übertreffende Informationsquelle, er ist zugleich die maßgebliche Interpretationsautorität vor allem für den jüdisch-theologischen Resonanzraum seines Werks. Scholem hat Benjamins Werdegang bis zu seiner Emigration nach Palästina aus größter Nähe begleitet, er blieb mit ihm in intensivem Briefwechsel über alle Stationen der Wanderjahre vor und nach 1933 ebenso verbunden, wie er den Kontakt in der späteren Pariser Zeit nicht abreißen ließ, auch wenn ihn jetzt Benjamins Sympathien zu kommunistischen Intellektuellen zunehmend irritierten.

Vielleicht wird man der ganz besonderen Beziehung zwischen dem angehenden Kaballaforscher in Jerusalem und dem in jeder Hinsicht „freischwebenden Intellektuellen“ (Karl Mannheim), zu dem Benjamin nach dem Scheitern seiner Habilitation 1925 geworden war, am ehesten gerecht, wenn man sich vor Augen hält, dass Scholem ihm Ende der 1920er den Ausweg nach Palästina ganz konkret vorbereitet hat. Die Wahrnehmung dieses Angebots hätte Benjamin vermutlich das Leben gerettet. Wie berechtigt Scholems Fürsorge war, hinter der die Einfühlung in Benjamins ausgesprochen prekäre Lebensverhältnisse stand – die lange Abhängigkeit von den Eltern, das Scheitern seiner Ehe, der Kampf ums finanzielle Überleben als Journalist –, ist z. B. daraus ersehen, dass er der einzige war, der von Benjamins ersten Selbstmordplänen im Jahr 1932 Kenntnis erhielt. Kein Zufall auch, dass er bei dieser dann abgewendeten Existenzkrise den „Angelus Novus“ als Erbstück zugewidmet bekam.11

Aus solcher Intimität ergaben sich die höchst aufschlussreichen Deutungen der Engelsfigur, die Benjamins persönliche Tragik betonten, einschließlich des Blicks hinter die Fassade eines Charakters, der zu Geheimniskrämerei und zu produktiver, aber auch destruktiver Selbstmystifikation neigte. Scholem ist sicherlich darin zuzustimmen, dass es über alle Schaffensperioden hinweg – oder besser: unter ihnen hindurch – eine kontinuierliche Unterströmung an Themen, Motiven und Denkfiguren aus der Tradition der jüdischen Theologie gab, die natürlich durch Scholems Forschungen zur jüdischen Mystik gefärbt waren. Nicht zu unterschätzen ist aber auch das Fortwirken der religiösen oder quasi-religiösen Überzeugungen aus der Jugendzeit vor und nach 1914, die durch eine Fülle von Kontakten zu jüdischen Studentenzirkeln dokumentiert sind und sich in den meist unpubliziert gebliebenen „metaphysisch-geschichtsphilosophischen Schriften“ der Zeit um 1920 niedergeschlagen haben.12

Wie aber steht es um Scholems Zeugenschaft für Benjamins politische Ansichten, für das, was ich „Benjamins Politik“ genannt habe? Ich möchte diese Frage nicht an den späten „Thesen über den Begriff der Geschichte“ diskutieren, sondern an den Ausgangspunkt zurückgehen, an dem Klees Engelsbild in Benjamins Lebensgeschichte sozusagen eintritt. Aus dem Briefwechsel mit Scholem ergibt sich, dass Benjamin, der bereits vorher ein Faible für den Maler Paul Klee hegte, im Frühsommer 1921 den „Angelus Novus“ in München erwarb. Sofort wird das ebenso kryptische wie erklärungsheischende Engelsbild zum Anlass einer lebhaften „Angelologie“, teils um die bereits im Gang befindlichen philosophischen Debatten fortzuführen und theologisch zu vertiefen, teils auch um sich in ironisch-liebenswürdigen Frotzeleien zu ergehen, die zwischen den ungleichen Freunden wieder die gebotene Distanz herstellen. Nicht zu vergessen auch das lange und recht eingängige Gedicht, mit dem Scholem dem Älteren den theologischen Sinn der Engelsfigur nahebringen will (eine Strophe daraus wird Benjamin 1940 seiner Neunten These voranstellen!).13

Dieses Werben fruchtet auch wirklich, freilich auf einem anderen Gebiet, auf dem der Jüngere noch nicht mithalten kann: Der „Angelus Novus“ beflügelt Benjamins Publikationspläne – der Name, den Klee seiner Zeichnung gegeben hat, wird titelgebend für ein ehrgeiziges Zeitschriftenprojekt, das bekanntlich unrealisiert geblieben ist. Erhalten ist aber der Prospekt dieses „Angelus Novus“, in dem Benjamin sich in ebenso allgemeinen wie esoterischen Spekulationen darüber ergeht, wie er seine Zeitschrift aufzumachen gedenkt und vor allem, was er damit bewirken will. Auffällig an Benjamins Programmatik ist ein seltsames Gemisch: einerseits höchste Ansprüche an die philosophische Kritik, andererseits starke Reserven gegenüber dem Publikumsgeschmack, ein Widerspruch, der durch den beschwörenden Rekurs auf eine wenig konkrete „Aktualität“ geschichtsphilosophisch aufgelöst, oder besser: eingelöst werden soll. Benjamin spricht von „dem Ephemeren“ und illustriert es durch den flüchtigen Charakter der talmudischen Engel, von denen es heißt, dass sie „nachdem sie vor Gott ihren Hymnus gesungen, aufhören und in Nichts vergehen“.14

Gedankengänge wie diese, vor allem die Gleichzeitigkeit von angestrengter Argumentation und dunkler Anspielung haben als typisch für Benjamins Denkstil um die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu gelten. Und vielleicht kann man die Texte aus diesen Jahren insgesamt durch eine merkwürdige Widerspruchskonstellation charakterisieren: Angefangen von dem noch in das Jahr 1917 zurückreichenden „Programm der kommenden Philosophie“ und eindringlich verdichtet in der Studie zu „Schicksal und Charakter“ (1919) sieht man ein Denken am Werk, das vom Methodenideal des Neukantianismus ausgeht, diesem eine überscharfe Pointe gibt, um von hier aus den Absprung in eine „andere Wirklichkeit“ zu machen, d. h. „eine noch kommende neue und höhere Art der Erfahrung“ einzuklagen15, die regelmäßig und vergleichsweise unvermittelt in theologische Gefilde führt. Da ist die Rede von der „reinen Erkenntnis“, als deren „Inbegriff die Philosophie Gott denken kann und muss“16, da wird eine pathetische Charakterlehre entworfen, die zwischen mythischer Schuldverstrickung und schicksalhaftem Glück aufgespannt ist17. In der Einleitung zu den Baudelaire-Übersetzungen von 1923 wird die „hohe“ Lyrik (wie die von Hölderlin, George oder eben Baudelaire) durch ihre Beziehung auf die „reine Sprache“ definiert, die ihrerseits auf die „Offenbarung“ verweist.18 Am rätselhaftesten aber, weil bis zur Unkenntlichkeit verknappt liest sich das sog. „Theologisch-politische Fragment“, in dem die Kategorie des „Messianischen“ an oberster Stelle rangiert19. Dieser apokryphe Text von 1920 ist deswegen von besonderem Interesse, weil er manche der späteren geschichtsphilosophischen Gedanken beinahe wörtlich vorwegnimmt. Nicht umsonst hat Adorno, auch gegen den Einspruch Scholems, der es besser wusste, auf der zeitlichen Nähe dieses frühen Fragments zu den späten „Thesen zum Begriff der Geschichte“ beharrt. Und wenn Benjamin in dem zitierten Brief an Gretel Adorno nicht weniger kryptisch andeutet, dass er die Thesen „an die zwanzig Jahre bei mir verwahrt, ja, verwahrt vor mir selber gehalten habe“, so wird er vor allem dieses Fragment und die in ihm festgehaltenen Chiffren im Sinn gehabt haben. In einem sachlichen Sinn hat Adorno also recht behalten.20

Zur Kritik der „Kritik der Gewalt“

Wenn es zutrifft, dass theologische Spuren in Benjamins Denken und Schreiben zu Beginn des Zweiten Weltkriegs einerseits allpräsent, andererseits schwer dingfest zu machen sind – wie stellt sich diese delikate Konstellation dar, wenn man nach den frühen Manifestationen dessen sucht, was man „Benjamins Politik“ nennen könnte? Gibt es sie überhaupt, und wenn ja, wie fügt sie sich in Benjamins Schaffensbiographie ein? „Fernere Attraktionen in Berlin: eine kleine Klee-Ausstellung am Kurfürstendamm und ,Zur Kritik der Gewalt‘ in den Korrekturbögen“, vermeldet Benjamin seinem Freund Anfang April 1921,21 kurz bevor er in München den „Angelus Novus“ erwirbt und sich dann frohgemut nach Heidelberg aufmacht, wo er Kontakte für sein Zeitschriftenprojekt knüpft, die Möglichkeiten einer Habilitation an der Universität sondiert und sich auf das Erscheinen seines ersten größeren Aufsatzes freut. In denselben Wochen versucht er sich der Jugendfreundin Jula Cohn wieder anzunähern, eine vergebliche Liebeswerbung, die seiner Ehe zum Verhängnis werden wird, aber ihn auch zu seinem großen Essay über Goethes Wahlverwandtschaften anregt, mit dem er sich, wenige Jahre später und vermittelt über Hugo von Hofmannsthal, als Literaturkritiker etablieren wird.

Nach der Publikation seiner Schweizer Dissertation verfolgte Benjamin größere Pläne zum Thema der Politik, aber fertiggestellt wurde nur ein einziger Text, die um 1920 geschriebene „Kritik der Gewalt“. Was so ein isoliertes Stück im Gesamtwerk von Walter Benjamin geblieben ist, ragt dennoch als Solitär heraus, weil hier ein Thema aufgegriffen wurde, das in den politischen Nachkriegsturbulenzen und im Gefolge der Russischen wie der deutschen Revolution hochaktuell war, jedenfalls unmittelbar politisch verstanden werden konnte. Das war vielleicht auch der einzige Grund, weshalb der Aufsatz im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ zur Publikation angenommen wurde, immerhin eines der Hauptorgane der deutschen Sozialwissenschaft, das u.a. von Max Weber redigiert worden war.22 Wenn man sich nämlich in die etwas mehr als 20 Seiten hineinliest, die der Text in der Gesamtausgabe umfasst, so kann man nur erstaunt sein: einerseits wie schematisch und hochabstrakt Benjamins Argumentation daherkommt, andererseits wie dunkel oder sogar mystifizierend der Assoziationshorizont sich gestaltet, in den sie eingelassen ist.

Hier ist sie wieder, die bereits angedeutete Konstellation von Kritizismus und Mystifizierung, von Neukantianismus und spekulativer Geschichtsphilosophie, die jetzt aber eine bemerkenswerte Konkretisierung erfährt. Benjamin geht aus von der Unterscheidung zwischen Recht und Gerechtigkeit und korreliert sie mit der noch abstrakteren Unterscheidung von Zweck und Mittel. Nachdem er die beiden maßgeblichen Denktraditionen der Rechtstheorie – das Naturrecht einerseits, den Rechtspositivismus andererseits – zwar angesprochen, aber gleich wieder verworfen hat, stellt er die Generalthese auf, dass alle menschengesetzte Rechtsordnung, die moderne vernunftbegründete eingeschlossen, aus einer Gewaltsetzung hervorgegangen ist, ja hervorgehen muss; denn selbst der Versuch, ein Äquilibrium zwischen legalen Mitteln und gerechten Zwecken herzustellen, hat noch denselben gewaltförmigen Ursprung. Unter dieser Prämisse stehen alle weiteren Differenzierungen, sowohl die funktionalen (wie Rechtssetzung und Rechtserhaltung) als auch die institutionellen (wie Polizei und Strafe, Kriegsrecht und Todesstrafe). Sie alle sind von Grund auf gewaltkontaminiert, verdorben, ja sündhaft – oder wie Benjamin generalisiert: Sie sind „mythischen Ursprungs“.23

Dieser vom „Mythos“ umklammerten Kasuistik kleiner Antithesen tritt nun ein ganz anderes Ordnungsprinzip als große Antithese gegenüber, nämlich die „göttliche Gerechtigkeit“. Auch sie wird nicht als gewaltlos vorgestellt, vielmehr ist sie durch eine andere Form der Gewalt definiert, die sowohl gegenüber dem Recht wie gegenüber jeder Rechtfertigung frei und gerade dadurch „rein“ und „gerecht“ ist. Die göttliche Gerechtigkeit ist „heilig“, sie hat ihren Ursprung in der „reinen Gewalt“ und ist „rein“ vor allem deswegen, weil sie dem Zweck-Mittel-Schema insgesamt entzogen ist. Dieses wiederum steht für die Verstrickung in einen tragischen Schuldzusammenhang, von dem die menschliche Geschichte insgesamt durchwirkt ist und an dem jeder Versuch einer Versöhnung durch Recht abprallt. An dieser Stelle wird unübersehbar, dass hinter den rechtstheoretischen Überlegungen von Walter Benjamin eine tragische Geschichtsmetaphysik steht. Wenn als der „Ursprung“ aller Rechtsverhältnisse wie der Geschichtsentwicklung insgesamt der Mythos erscheint, so wird dieser Konstruktion zwar durch die „göttliche Gerechtigkeit“ entgegengearbeitet, beide aber sind gewaltförmig und unterscheiden sich lediglich darin, dass die eine an das Zweck-Mittel-Schema gebunden bleibt, während die andere „reine Manifestation“, „grundlose Willensäußerung“ ist. 24

Den Aufriss dieser „Kritik der Gewalt“ so dichotomisch, als pures Nebeneinander von immanenter und transzendenter Kritik stehen zu lassen, wäre freilich nicht vollständig25; denn Benjamin kennt sehr wohl gewisse Übergänge, die in der Mitte des Textes eingeführt werden, jetzt auch konkreter Bezug auf die politische Gegenwart nehmen. Während die „gewaltlose Beilegung von Konflikten“, wie sie in der „Kultur des Herzens“, in der „Technik ziviler Übereinkunft“ oder ganz allgemein in der Sprache als der „eigentlichen Sphäre der Verständigung“ nur nebenher erwähnt werden, tritt ins Zentrum der „revolutionäre Generalstreik“. Er wird vom „normalen“, d. h. dem der Zweck-Mittel-Logik der Interessensvertretung unterworfenen Gewerkschaftskampf scharf unterschieden – einmal durch die radikale Lahmlegung sämtlicher Produktions- und Reproduktionsmechanismen und die Herbeiführung des gesellschaftlichen „Ausnahmezustandes“, zum andern dadurch, dass er auf die „Vernichtung der Staatsgewalt“ zielt, d. h. auf die Aufhebung jener Institution, in der sich die Gewaltförmigkeit des Rechts konzentriert.26

Den Begriff des Generalstreiks ebenso wie dessen emphatische Hervorhebung übernimmt Benjamin bekanntlich von Georges Sorel und fügt sie zunächst wenig modifiziert in seine eigene Begriffswelt ein. Im Verlauf seiner Deduktion aber, und besonders an ihrem Ende erhält er, in Gestalt des „revolutionären Umsturzes“, etwas von jenen Attributen zugesprochen, die eigentlich nur in der Sphäre der „göttlichen Gewalt“ zu Hause sind. Es ist, schreibt Benjamin, die „revolutionäre Gewalt, mit welchem Namen die höchste Manifestation reiner Gewalt durch den Menschen zu belegen ist“, die also eine Art irdischer Repräsentation der göttlichen Gerechtigkeit ist oder jedenfalls am ehesten als Schritt zu deren Verwirklichung aufgefasst wird.27

Mit welchem Recht, möchte man fragen? Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die damit gegebene Konkretisierung der geschichtsphilosophischen Grundlagen bei Benjamin mehr angedeutet als wirklich ausgeführt ist, dürfte ein Urteil wie das folgende nicht zu streng sein: Diese „Analyse“ des Problems von Recht und Gewalt ist wenig diskursiv und macht sich einer politischen Haltung schuldig, die man als voluntaristisch oder gar als dezisionistisch bezeichnen muss, sie ist durchzogen von suggestiven Gedankenblitzen und extremen Formulierungen, die eine gewisse Schockwirkung hatten, wenn nicht sogar intendierten, ansonsten aber in der zeitgenössischen Debatte nicht aufgenommen wurden. Benjamins Beitrag zu einer rationalen Aufklärung der ganz erheblichen politischen Probleme am Anfang der Weimarer Republik war offensichtlich gering, er verwies weder auf rechtspolitische Alternativen noch zeigte er sich besorgt um die Zukunft der deutschen Demokratie.

Noch zwielichtiger erscheint die „Kritik der Gewalt“, wenn man sich vergegenwärtigt, worauf der so hoch gehängte Anspruch auf eine „philosophische“ Kritik in theoretischer Hinsicht hinausläuft – ziemlich genau auf das Gegenteil dessen, was die Anspielung auf Kant suggeriert: nicht die Zurückführung auf Vernunftpostulate und eine strenge Form der logischen Deduktion, sondern Rekurs auf mythische und theologische Ursprungsmächte – unter souveräner Missachtung der historischen Umstände und der politischen Aktualitäten, die in Deutschland auf die Chancen (und die Schwierigkeiten) einer demokratischen und sozialen Neuordnung lauteten. Vor allem fehlt jedes Gespür für die Voraussetzungen und die Möglichkeiten einer gesellschaftskritischen Durchdringung der Problematik von Recht und Gewalt. In dieser „Kritik der Gewalt“ steckt nichts weniger als ein gerüttelt Maß an politischem Irrationalismus, der sich in einer pessimistischen Geschichtsmetaphysik genüsslich eingerichtet hat. Ihre spezifische Einbettung in religionsphilosophische oder theologische Traditionen hat dieses Defizit eher noch befördert.

Alternativen des Geschichtsdenkens

Eine solche Metakritik der Gewalt mag wohlfeil und im Falle Walter Benjamins sogar müßig sein. War es nicht gerade seine Bereitschaft, die widersprüchlichsten Impulse aufzunehmen und zu neuen Synthesen zu bringen, seine Fähigkeit, hochabstrakte und wenig greifbare und in dem Sinne „irrationale“ Denkmotive zusammenzuführen, woraus sich die schier unerschöpfliche Fülle seiner intellektuellen Produktion und vor allem ihre atemberaubende Dynamik ergab? Die Rückbindung seines Denkens an theologische Motive, der vom Anfang bis zum Ende durchgehaltene Bezug auf ein messianisches Ende der Geschichte gehörte dazu ebenso wie die Orientierung an einem paradoxen Motto wie dem Satz von Karl Kraus: „Ursprung ist das Ziel!“ Dennoch gibt es im Geschichtsdenken von Walter Benjamin problematische Ambivalenzen und Indifferenzen, die auch in den „Thesen zum Begriff der Geschichte“ nicht etwa gelöst sind, sondern verstärkt wiederkehren. In der Tat ist gerade für die geschichtsphilosophische Grundierung von „Benjamins Politik“ eine hohe Kontinuität zwischen Anfang und Ende der sog. Zwischenkriegszeit anzunehmen.

Vielleicht kommt man in der Auseinandersetzung mit Benjamins Geschichtsphilosophie am besten voran, wenn man sie in den Horizont der frühen Weimarer Republik rückt und dort den Vergleich mit anderen, ähnlich gelagerten Problemstellungen sucht. Tatsächlich wird man da rasch fündig, war doch der religionsphilosophische „Diskurs“, wie man das heute nennt, nicht nur weit verbreitet, sondern im jüdischen Milieu geradezu konzentriert. Dazu gehört die religionsphilosophische Wendung, die der führende Vertreter des Neukantianismus, Hermann Cohen mit seiner nachgelassenen „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ macht,28 ebenso wie Franz Rosenzweigs fulminanter „Stern der Erlösung“ 29 oder selbst Ernst Blochs „Geist der Utopie“,30 sofern man sich an seine theologischen Untertöne hält. Ihnen allen liegt neben einer schmerzlichen Krisenempfindung das starke Verlangen zugrunde, aus dem „Tal der Tränen“ in eine lichtere Zukunft zu blicken, und welche Denkfigur konnte sich dafür besser eignen als eine Geschichtskonstruktion, die auf das Kommen des Messias hoffte.

Ein bislang wenig beachteter Repräsentant dieser Tendenz zu einer jüdischen Geschichtsphilosophie ist Leo Löwenthal, der später als Literatursoziologe der sog. Frankfurter Schule Karriere gemacht hat. Er empfiehlt sich als Vergleichsfigur zu Walter Benjamin zunächst aus einem biographischen Zufall: Benjamin wohnte nämlich in eben dem kritischen Sommer, in dem der „Angelus Novus“ in sein Leben eintrat, für ein paar Wochen in Löwenthals Heidelberger „Studentenbude“31, dort konzipierte er sein Zeitschriftenprojekt und wartete auf die Publikation der „Kritik der Gewalt“. Während Benjamin in der Folgezeit hauptsächlich an seinem Goethe-Essay arbeitete, kam Löwenthal in der Festschrift für den Frankfurter Rabbiner Nehemias Nobel mit seiner ersten Publikation heraus, die unter dem Titel „Das Dämonische“ den ziemlich abenteuerlichen Entwurf einer messianischen Geschichtsspekulation vorlegte.32 1923 besann er sich dann auf einen akademischen Abschluss und promovierte an der Universität Frankfurt mit einer Arbeit über Franz von Baader, die das Kunststück fertigbrachte, aus einem katholisch-restaurativen Ordnungsdenken den Funken einer kritischen Religionssoziologie zu schlagen, die sich der „sozialen Frage“ nicht verweigerte – und er konnte dies mittels einer rationalen Rekonstruktion, die noch den „theologischsten“ Elementen von Baaders System einen diskursiven Sinn abzugewinnen verstand.33

Wirklich interessant wird es, wenn man Löwenthals weiteren Denkweg in die 1920er Jahre hinein verfolgt: Nach einer Phase des sozialen Engagements für ostjüdische Emigranten verfasste er nämlich 1926 eine Staatsexamensarbeit für den Preußischen Gymnasialdienst, die sich genau demselben Thema wie Benjamins „Kritik der Gewalt“ stellte, es aber auf eine ganz andere Art zu bearbeiten wusste: „Gewalt und Recht in der Staats- und Rechtsphilosophie Rousseaus und der deutschen idealistischen Philosophie“ – so der lange Titel – ist eine knappe, aber höchst instruktive Abhandlung, die von einer soliden Bestandsaufnahme der rechtsphilosophischen Debatte ausgeht, sodann aus dem Rousseau’schen Freiheitsgedanken eine vertragstheoretische Begründung des Staates entwickelt, in der das Recht die zentrale Instanz darstellt. Die Schlussfolgerung ist ganz eindeutig, aber geradezu konträr zu Benjamin: „Gewalt begründet nie Recht; rechtsbegründende Gewalt ist eine contradictio in adjecto“ – und umgekehrt: „Recht allein kann Gewalt begründen.“34

Dieser Grundsatz, der dann über Kant und Fichte fortgeführt und modifiziert wird, bedeutet keineswegs die umstandslose Anerkennung aller positiven oder historischen Rechtssetzungen, ganz im Gegenteil: Er dient zu deren Kritik. Dennoch geht die Rechnung nicht in einer einfachen, d. h. idealistischen Vorstellung vom Fortschritt des Menschengeschlechts mittels Freiheit und Recht auf. Löwenthal verweist sowohl auf Goethe als auch auf Marx als kritische Instanzen für den Verlauf der bürgerlichen Gesellschaft und kommt am Ende doch ohne messianische Heilserwartung nicht aus, die in der „Ahnung von einem völlig gewaltfreien Zustand“ besteht.35 Löwenthals letzter Satz liest sich fast wie ein wörtliches Zitat aus Benjamins dämonischer Reduktion des Rechts auf den Mythos: „Die Geschichte der Korrelation ,Gewalt und Recht‘ von Rousseau bis Fichte ist zugleich die Geschichte der immer anwachsenden Aktualisierung der rechtsphilosophischen Probleme.“36 Aber nicht Benjamins apokalyptische Vision ist damit gemeint, vielmehr hatte er dessen Versuch, dem „Problem mit messianischen Kategorien beizukommen“, schon in der Einleitung mit der ironischem Bemerkung beiseitegeschoben, dass sie „etwas gewalttätig“ sei.37

Sieht man sich die Schriften an, mit denen sich Walter Benjamin akademisch qualifiziert hat oder qualifizieren wollte und von denen die „Kritik der Gewalt“ gleichsam eingerahmt wird: die Dissertation zur Romantik (1919/20)38 und die (abgelehnte) Habilitationsschrift über das barocke Trauerspiel (1925),39 so fällt schon von den Themen her auf, dass genau die geistesgeschichtliche Epoche ausgespart ist, von der her Löwenthal seine rechtsphilosophische Fragestellung entwickelt: die Aufklärung, ihre radikale französische Variante zumal. Das mag dazu beigetragen haben, dass sein religionsphilosophischer Diskurs gewissermaßen den Weg der „Säkularisierung“ einschlagen konnte und schließlich in die Bahn einer „kritischen Theorie der Gesellschaft“ einmündete. Benjamin hingegen ging einen ganz anderen Weg, der sich der Faszination der Ästhetik und parallel dazu der ästhetischen Moderne auslieferte, aber auf dem Gebiet von Politik und Gesellschaft wenig wissenschaftlichen Ehrgeiz entwickelte. Dass er dennoch ein „politischer Autor“ wurde, steht außer Zweifel, besonders in den Pariser Jahren nach 1933 wird die Politik zur entscheidenden Schubkraft. Was aber die spätere Entwicklung der Frankfurter Schule betrifft, ist ebenso wenig zweifelhaft, dass ohne Benjamins „Geschichtsphilosophische Thesen“ Horkheimer und Adorno die „Dialektik der Aufklärung“ nicht hätten schreiben können.

Paul Klees „Angelologie“

Folgt man der Spur, die Paul Klees „Angelus Novus“ durch Leben und Werk von Walter Benjamin zieht, so ist eine gewisse Verdunkelung, eine schicksalhafte Verwicklung nicht zu übersehen: Die freundlich-ironische Intonation des Anfangs wird Schritt für Schritt überlagert von persönlichen Enttäuschungen und beruflichen Misserfolgen bis hin zur erzwungenen Flucht aus Hitler-Deutschland, den Entbehrungen im Pariser Exil und schließlich dem Endpunkt, wie er tragischer nicht sein konnte: Das Bild, das ihn seit 1921 begleitet hatte, das alle Umzüge miterlebt hatte, musste von seinem Besitzer im Sommer 1940 aus dem Rahmen geschnitten und von Georges Bataille in der Bibliotheque Nationale vor dem Zugriff der Nazis versteckt werden. Und während die mit ihm verwobenen „Geschichtsphilosophischen Thesen“ noch von Benjamin selber auf den Weg in die Freiheit gebracht wurden, nahm sich ihr Verfasser das Leben, kurz bevor er die rettende Grenze nach Spanien hätte überschreiten können. Wenn die Formulierung nicht zynisch klänge, könnte man von einer tragischen Mimesis sprechen, die sich in dieser Beziehungsgeschichte ereignete. Dass sie hochproduktiv war, bedeutet keinerlei Trost: Der „Angelus Novus“ wurde tatsächlich zum Boten des Untergangs.

Gibt es einen Ausweg aus dem Sog, der in dieser Assoziationskette steckt? Er könnte greifbar werden, wenn man den „Angelus Novus“ in den Kontext des originären Schaffensprozesses stellt, aus dem er als Bildkunstwerk hervorgegangen ist. Offensichtlich gibt es eine ganze Reihe von Parallelen zwischen Benjamin und dem Maler und Zeichner Paul Klee – sie reichen von der Prägung durch das bürgerliche Herkunftsmilieu und die Erfahrung von Diskriminierung und Exil über ein mehr oder weniger hintergründiges Interesse an religiösen und theologischen Motiven und kulminieren in einer gemeinsamen Orientierung am Kanon der ästhetischen Moderne, so verschieden sie sich in der professionellen Spezialisierung auch ausgeprägt hat: Bildkunst und Malerei hier, Literatur und Kunstkritik dort. Geht man aber von der Vielfalt der Engelsbilder aus, die Paul Klee im Laufe seines Lebens geschaffen hat, so zeigt das Engelsmotiv im Vergleich zu Benjamin nicht nur eine andere Tendenz, sondern auch ein deutlich anderes Verhältnis zu den christlich-jüdischen Traditionsbeständen.

Von den beinahe 50 Engelsdarstellungen Paul Klees, die eine Kumulation um 1933 und dann noch einmal um 1940 haben40, strahlen zwar etliche eine ebenso düstere Zweideutigkeit aus, wie sie der „Todesengel“, der „Angelus militans“ (beide 1940) oder eben der frühe „Angelus Novus“ zeigen, doch weitaus dominanter und auch häufiger ist der Ausdruck des Witzigen und Ironischen, vielleicht sogar des Komischen und Spöttischen. Das hängt nicht nur mit dem emotionalen Gehalt dieser Darstellungen zusammen, sondern auch mit der Technik, in der die meisten dieser Zeichnungen gearbeitet sind: Viele von ihnen sind in einfachen oder auch ineinander übergehenden Strichen gehalten und ermöglichen so einen raschen und emotionalen Zugang, was durch die knappen und witzigen Titel der Bilder noch befördert wird. Da gibt es den „wachsamen“, den „altklugen“ und den „vergesslichen Engel“, da ziert sich der „Schellen-Engel“ mit dem Glöcklein am Kleidersaum, während man ganz besonders ergriffen wird von dem zarten Wesen mit dem Namen: „es weint“. Klee variiert alle Sorten von Weiblichkeit, zeigt den „bald flüggen“, den „befruchteten“ und den „noch weiblichen Engel“, aber auch das „Engelspaar“, nicht zu vergessen die Serie der „Engel im Werden“: der „Engel-Anwärter“, der „noch tastende“ oder der „zweifelnde Engel“.41

Klees Engelbilder sind vielfältig und einfältig zugleich, sie sind so energisch wie zart, sie bilden einen ganzen Kosmos ab, in dem so gut wie alle menschlichen Stimmungen und Gefühle versammelt sind. Aber das Besondere an ihnen kann man darin vermuten, dass sie zwar in Engelsgestalt daherkommen, d. h. tatsächlich etwas Überirdisches repräsentieren, also „Boten aus einer anderen Welt“ sind, aber sie scheinen nichts „Heiliges“, nichts „Erhabenes“ verkünden zu wollen. Selbst der „heilige Schrecken“, den sie bisweilen auslösen, bewirkt keine Einschüchterung, sondern verliert sich in einem Geheimnis, das eher hell als dunkel ist, jedenfalls irgendwie transparent bleibt, wenn es sich nicht in einer ironischen Brechung auflöst. So sind die „himmlischen Heerscharen“, die Klee – übrigens fast immer als Einzelwesen – in seinen Bildern aufmarschieren lässt, eigentlich nur Botschafter einer freundlichen Menschenkunde, sie zeigen die vielen Gesichter der condition humaine und verzichten absichtsvoll auf den Goldhintergrund der theologischen Tradition und die dazugehörigen Mythologien, um die Freuden wie die Leiden des alltäglichen Lebens erträglich zu machen.

Wenn es bei Paul Klee so etwas gibt wie eine bildkünstlerische „Angelologie“, dann steckt sie in der Form, in der die Engelswelt in die Menschenwelt gleichsam umgemodelt wird: Repräsentiert wird durchaus eine jenseitige Welt, die das Wunderbare, das Heilige, das Messianische zur Geltung bringt, aber weil dem ironischen, dem witzigen oder auch dem rätselhaften Ausdruck der Vortritt gelassen wird, rückt das Überirdische in ein produktives Zwielicht: Ist etwa der Engel, der seine Rolle in der messianischen Geschichtsauffassung zu spielen hat, gar nicht der Überbringer einer bestimmten Botschaft (sei es des Heils oder des Unheils), sondern lediglich Lichtbringer aus irdischer, gemeinmenschlicher Machtvollkommenheit – ein „Aufklärer“, der Licht in eine dunkle Geschichte bringt, während die Botschaft als solche nur vom leibhaftigen Menschen stammen kann, d. h. vom Betrachter oder Interpreten allererst zu stiften ist? Solche Überlegungen sind sicherlich spekulativ, aber sie gewinnen an Wahrscheinlichkeit, wenn man bedenkt, was sich Paul Klee in Voraussicht seines eigenen Todes vom Engel erhofft haben soll:

„Einst werd ich liegen

im Nirgend

bei einem Engel

irgend“ 42

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