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4. DAS LEIB-SEELE-PROBLEM

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Es kann heute keinem Zweifel mehr unterliegen, dass alles, was wir als Körper bezeichnen, ein Streben zeigt, ein Ganzes zu werden. Im Allgemeinen kann das Atom in dieser Hinsicht mit der lebenden Zelle verglichen werden. Beide besitzen latente und manifeste Kräfte, die teils zur Abrundung und Begrenzung, teils zur Ansetzung anderer Teile Anlaß geben. Der hauptsächliche Unterschied liegt wohl im Stoffwechsel der Zelle gegenüber der Selbstgenügsamkeit des Atoms. Nicht einmal die Bewegung innerhalb oder außerhalb von Zelle und Atom bietet grundlegende Unterschiede. Auch die Elektronen sind nie im Ruhezustand und ein Streben danach, wie Freud es für seine Anschauungen vom Todeswunsch postuliert, kann nirgendwo in der Natur gefunden werden. Was beide am deutlichsten unterscheidet, ist der Assimilations- — und Ausscheidungsprozess der lebenden Zelle, die zum Wachstum, zur Erhaltung der Form, zur Vermehrung und zum Streben nach einer idealen Endform Anlaß gibt.

Wäre die lebendige Zelle, gleichgültig woher sie gekommen ist, in ein ideales Milieu gesetzt gewesen, das ihr mühelos die ewige Selbsterhaltung garantiert hätte — ein freilich undenkbarer Fall —, so wäre sie sich stets gleichgeblieben. Unter dem Drucke von Schwierigkeiten, die man sich im einfachsten Falle nahezu physikalisch denken kann, mußte das, was wir unverstandenermaßen den Lebensprozess nennen, zu irgendwelchen Abhilfen gedrängt werden. Die in der Natur gegebenen, sicherlich auch in der Amöbe vorliegenden tausendfachen Verschiedenheiten bringen günstiger gelagerte Individuen näher zum Erfolg und lassen sie die bessere Form und somit die bessere Anpassung finden. In den Billionen von Jahren, da Leben auf dieser Erde besteht, war offenbar Zeit genug, aus dem Lebensprozess der einfachsten Zellen den Menschen zu gestalten, ebenso Myriaden von Lebewesen untergehen zu lassen, die der Wucht der Angriffe ihrer Umgebung nicht gewachsen waren.

In dieser Auffassung, die grundlegende Anschauungen Darwins und Lamarcks verbindet, muß der „Lernprozess“ als ein Streben gesehen werden, das seine Richtung im Strome der Evolution durch ein ewiges Ziel der Anpassung an die Forderungen der Außenwelt erhält.

In dieser Zielstrebigkeit, die niemals zu einem ruhenden Ausgleich kommen kann, da offenbar die fordernden und fragenden Kräfte der Außenwelt von Wesen, die von ihr geschaffen wurden, nie vollkommen beantwortet werden können, muß sich auch jene Fähigkeit entwickelt haben, die wir, von verschiedenen Seiten betrachtend, Seele, Geist, Psyche, Vernunft nennen, die alle anderen „seelischen Fähigkeiten“ einschließen. Und obwohl wir uns bei Betrachtung des seelischen Prozesses auf transzendentalem Boden bewegen, dürfen wir, in unserer Anschauung fortfahrend, behaupten, dass die Seele als dem Lebensprozess, und was immer wir unter diesem Prozess zusammenfassen, zugehörig, den gleichen Grundcharakter aufweisen muß wie die Matrix, die lebende Zelle, aus der sie hervorgegangen ist. Dieser Grundcharakter ist in erster Linie in dem fortdauernden Bemühen zu finden, sich mit den Forderungen der Außenwelt siegreich auseinanderzusetzen, den Tod zu überwinden, einer idealen dazu geeigneten Endform zuzustreben und gemeinsam mit den dazu in der Evolution vorbereiteten Kräften des Körpers, in gegenseitiger Beeinflussung und Hilfe, ein Ziel der Überlegenheit, der Vollkommenheit, der Sicherheit zu erreichen. So wie in der evolutionären Entwicklung des Körpers, so ist auch in der seelischen Entwicklung dauernd die Richtung angegeben, durch richtige Lösung der Aufgaben der Außenwelt zur Überwindung ihrer Schwierigkeiten zu gelangen. Jede unrichtige Lösung, sei es durch eine unzweckmäßige körperliche oder seelische Entwicklung, zeigt ihren Mangel an Eignung durch die Niederlage, die bis zur Ausmerzung und Austilgung des irrenden Individuums führen kann. Der Prozess der Niederlage kann über die Einzel­personen hinausgreifen und Teilglieder derselben, die Nachkommen­schaft, schädigen, Familien, Stämme, Völker und Rassen in größere Schwierigkeiten verwickeln. Oft, wie immer in der Evolution, können diese Schwierigkeiten in ihrer Überwindung zu größeren Erfolgen, zu größerer Widerstandskraft führen. Hekatomben von Pflanzen, Tieren und Menschen sind aber diesem grausamen Selbstreinigungsprozess zum Opfer gefallen. Was derzeit im Durchschnitt widerstandsfähig erscheint, hat die Probe vorläufig bestanden. Aus dieser Anschauung geht hervor, dass wir es im körperlichen Prozess mit einem Streben zu tun haben, das den Körper in Beziehung zu seinen Leistungen ungefähr im Gleichgewicht zu halten hat, um den Anforderungen der Außenwelt, ihren Förderungen und Nachteilen, siegreich entgegentreten zu können. Betrachtet man diese Prozesse einseitig, so kommt man zu der Auffassung von der „Weisheit des Körpers“. Aber auch der seelische Prozess ist gezwungen, sich zu dieser Weisheit zu entschließen, die ihn instand setzt, siegreich die Fragen der Außenwelt zugunsten eines stets aktiven Äquilibriums von Leib und Seele zu lösen. Für das Äquilibrium sorgt in gewissen Grenzen die erreichte evolutionäre Stufe, für die Aktivität das in der Kindheit gefundene Ziel der Überlegenheit, der Lebensstil, das Bewegungsgesetz des einzelnen.

Grundgesetz des Lebens ist demnach Überwindung. Ihr dient das Streben nach Selbsterhaltung, nach körperlichem und seelischem Gleichgewicht, das körperliche und seelische Wachstum und das Streben nach Vollendung.

Im Streben nach Selbsterhaltung ist eingeschlossen das Verständnis und die Vermeidung von Gefahren, die Fortpflanzung als evolutionäre Bahn zur Fortdauer eines leiblichen Anteils über den persönlichen Tod hinaus, die Mitarbeit an der Entwicklung der Menschheit, in der der Geist der Mitarbeiter unsterblich ist, und die vergesellschaftete Leistung aller Beitragenden zu allen den genannten Zwecken.

Wie der Körper stets bestrebt ist, alle lebenswichtigen Teile gleichzeitig zu erhalten, zu ergänzen, zu ersetzen, zeigt das Wunderwerk der Evolution. Die Blutgerinnung anlässlich von blutenden Wunden, die in weiten Grenzen gewährleistete Erhaltung von Wasser, Zucker, Kalk, Eiweißstoffen, die Blut — und Zellregeneration, das Zusammenwirken der endokrinen Drüsen sind Produkte der Evolution und beweisen die Widerstandskraft des Organismus gegenüber den äußeren Schädlichkeiten. Die Erhaltung und Steigerung dieser Widerstandskraft ist die Folge einer weitgehenden Blutmischung, in der Mängel verkleinert, Vorteile festgehalten und vergrößert werden können. Auch hier hat die Vergesellschaftung der Menschen, die Gemeinschaft, helfend und siegreich durchgegriffen. Die Ausschaltung des Inzests war demnach kaum mehr als eine Selbstverständlichkeit im Streben nach Gemeinschaft.

Das seelische Gleichgewicht ist fortdauernd bedroht. Im Streben nach Vollendung ist der Mensch immer seelisch bewegt und fühlt seine Unausgeglichenheit gegenüber dem Ziele der Vollkommenheit. Einzig das Gefühl, eine zureichende Stelle im Streben nach aufwärts erreicht zu haben, vermag ihm das Gefühl der Ruhe, des Wertes, des Glückes zu geben. Im nächsten Augenblick zieht ihn sein Ziel wieder hinan. In diesem Augenblick wird es klar, dass Menschsein heißt, ein Minderwertigkeitsgefühl zu besitzen, das ständig nach seiner Überwindung drängt. Die Richtung der gesuchten Überwindung ist ebenso tausendfach verschieden wie das Ziel der gesuchten Vollkommenheit. Je größer das Minderwertigkeitsgefühl ist und erlebt wird, umso heftiger der Drang zur Überwindung, umso stärker die Bewegung der Gefühle. Der Ansturm der Gefühle aber, die Emotionen und Affekte bleiben nicht ohne Wirkung auf das körperliche Gleichgewicht. Der Körper gerät auf den Wegen des vegetativen Nervensystems, des Nervus vagus, der endokrinen Veränderungen in Bewegungen, die sich in Änderungen der Blutzirkulation, der Sekretionen, des Muskeltonus und fast aller Organe äußern können. Als vorübergehende Erscheinungen sind diese Veränderungen natürlich, zeigen sich nur verschieden in ihrer Ausgestaltung je nach dem Lebensstil des Befallenen. Dauern sie an, so spricht man von funktionellen Organneurosen, die, wie die Psychoneurosen, ihre Entstehung einem Lebensstil verdanken, der eine Neigung zeigt, im Falle eines Versagens, bei stärkerem Minderwertigkeitsgefühl, einen Rückzug vom vorliegenden Problem anzutreten und diesen Rückzug durch Festhaltung der entstandenen Schock-Symptome körperlicher oder seelischer Art zu sichern. So wirkt sich der seelische Prozess auf den Körper aus. Aber auch im Seelischen selbst, indem er dort zu allen seelischen Fehlschlägen, zu Handlungen und Unterlassungen Anlaß gibt, die den Forderungen der Gemeinschaft feindlich sind.

Desgleichen wirkt sich der körperliche Bestand auf den Seelenprozess aus. Der Lebensstil wird nach unseren Erfahrungen in der frühesten Kindheit ausgestaltet. Der angeborene körperliche Bestand hat dabei den größten Einfluß. Das Kind erlebt in seinen anfänglichen Bewegungen und Leistungen die Validität seiner körperlichen Organe. Erlebt sie, hat aber noch lange weder Worte noch Begriffe dafür. Da auch das Entgegenkommen der Umgebung durchaus verschieden ist, bleibt dauernd unbekannt, was das Kind etwa von seiner Leistungsfähigkeit verspürt. Mit großer Vorsicht und im Besitz einer statistischen Wahrscheinlichkeitserfahrung ist der Schluß gestattet, aus unserer Kenntnis der Minderwertigkeit von Organen, des Verdauungsapparates, der Blutzirkulation, der Atmungsorgane, der Sekretionsorgane, der endokrinen Drüsen, der Sinnesorgane zu folgern, dass das Kind seine Überbürdung zu Beginn seines Lebens erlebt. Wie es aber damit fertig zu werden trachtet, kann man nicht anders als aus seinen Bewegungen und Versuchen ersehen. Denn hier ist jede kausale Betrachtung vergebens. Hier wirkt sich die schöpferische Kraft des Kindes aus. Strebend im unausrechenbaren Raum seiner Möglichkeiten ergibt sich dem Kinde aus Versuch und Irrtum ein Training und ein genereller Weg zu einem Ziel der Vollkommenheit, das ihm Erfüllung zu bieten scheint. Ob aktiv strebend oder in Passivität verharrend, ob herrschend oder dienend, ob kontaktfähig oder egoistisch, mutig oder feig, verschieden in Rhythmus und Temperament, ob leicht bewegbar oder stumpf — das Kind entscheidet im vermeintlichen Einklang mit seiner Umgebung, die es in seinem Sinne auffaßt und beantwortet, für sein ganzes Leben und entwickelt sein Bewegungsgesetz. Und alle Richtungen nach einem Ziel der Überwindung sind anders für jedes Individuum und in tausend Nuancen verschieden, so dass uns die Worte fehlen, in jedem Falle mehr als das Typische zu benennen, und wir gezwungen sind, zu weitläufigen Beschreibungen unsere Zuflucht zu nehmen.

Wohin sein Weg geht, kann das Individuum selbst ohne individual­psychologische Einsicht kaum je deutlich sagen. Oft sagt es das Gegenteil. Erst das erkannte Bewegungsgesetz gibt uns Aufschluß. Dabei stoßen wir auf den Sinn, auf die Meinung der Ausdrucksbewegungen, die Worte, Gedanken, Gefühle und Handlungen sein können. Wie sehr aber auch der Körper unter diesem Bewegungsgesetz steht, verrät der Sinn seiner Funktionen, eine Sprache, meist ausdrucksvoller, die Meinung deutlicher aufzeigend als Worte es vermögen, aber immerhin eine Sprache des Körpers, die ich Organdialekt genannt habe. Ein Kind zum Beispiel, das sich fügsam benimmt, aber des Nachts das Bett nässt, gibt dadurch deutlich seine Meinung kund, sich der angeordneten Kultur nicht fügen zu wollen. Ein Mann, der mutig zu sein vorgibt, vielleicht sogar an seinen Mut glaubt, zeigt doch durch sein Zittern und Herzklopfen, dass er aus dem Gleichgewicht gekommen ist.

Eine 32jährige verheiratete Frau klagt über linksseitigen, heftigen Schmerz um das linke Auge herum und über Doppelsehen, das sie zwingt, das linke Auge geschlossen zu halten. Solche Anfälle hatte die Patientin seit elf Jahren; den ersten, als sie sich mit ihrem Manne verlobte. Der diesmalige Anfall kam vor sieben Monaten, die Schmerzen blieben zeitweilig aus, doch das Doppelsehen blieb konstant. Sie führt diesen letzten Anfall auf ein kaltes Bad zurück und glaubt die Erfahrung gemacht zu haben, dass Zugluft auch sonst die Anfälle hervorgerufen habe. Ein jüngerer Bruder leidet an ähnlichen Anfällen mit Doppelsehen, die Mutter an den Folgen einer Kopfgrippe. Die Schmerzen konnten in früheren Anfällen angeblich auch um das rechte Auge herum auftreten oder wechselten von einer Seite auf die andere.

Vor ihrer Ehe unterrichtete sie Violinspielen, trat auch in Konzerten auf und liebte ihren Beruf, den sie seit ihrer Ehe aufgegeben hatte. Sie lebt derzeit, wie sie meint, um dem Arzt näher zu sein, in der Familie ihres Schwagers und fühlt sich da glücklich.

Sie schildert ihre Familie, besonders den Vater, sich selbst und mehrere Geschwister als aufbrausend und jähzornig. Fügen wir noch hinzu, was bei Befragen bestätigt wird, dass sie herrschsüchtig sind, so haben wir es mit jenem Typus zu tun, den ich als zu Kopfschmerz, Migräne, nervöser Trigeminusneuralgie und zu epileptiformen Anfällen geneigt beschrieben habe.

Patientin klagt auch über Harndrang, der stets auftritt, sobald sie in nervöser Anspannung ist, anlässlich von Besuchen, Zusammentreffen mit fremden Personen etc.

Ich habe in meiner Arbeit über die psychische Wurzel der Trigeminus­neuralgie darauf hingewiesen, dass man bei nicht organisch fundierten Fällen immer eine erhöhte emotionelle Spannung findet, die sich leicht in allerlei nervösen Symptomen äußert, wie sie auch oben festgestellt sind, und die auf dem Wege der vasomotorischen Erregung sowie der Erregung des Sympathico-Adrenalinsystems an Prädilektionsstellen mit großer Wahrscheinlichkeit durch Veränderung der Blutgefäße und der Blutzufuhr Symptome wie Schmerz, aber auch Lähmungserscheinungen hervorrufen kann. Ich habe damals auch die Vermutung geäußert, dass Asymmetrien des Schädels, der Gesichtshälften, der Kopfvenen und -arterien verräterische Zeichen dafür sind, dass auch innerhalb der Schädeldecke, in den Hirnhäuten und wohl auch im Gehirn solche Asymmetrien sich finden dürften, die wahrscheinlich Verlauf und Kaliber der dortigen Venen und Arterien betreffen; vielleicht zeigen hier auch die begleitenden und naheliegenden Nervenfasern und Zellen in einer der beiden Hälften schwächere Ausbildung. Besonderes Augenmerk wäre dann dem Verlauf der Nervenkanäle zu schenken, die, sicher ebenfalls asymmetrisch, sich bei Erweiterung der Venen und Arterien auf einer Seite als zu eng erweisen könnten. Dass bei Emotionen, besonders bei Ärger, aber auch bei Freude, Angst und Kummer die Füllung der Gefäße sich verändert, kann man an der Gesichtsfarbe, und, im Ärger, an den hervortretenden Venen des Schädels sehen. Es liegt nahe, solche Veränderungen auch in den tiefer liegenden Schichten anzunehmen. Es bedarf wohl noch vieler Untersuchungen, um alle die Komplikationen aufzuklären, die dabei im Spiele sind.

Gelingt es uns aber, auch in diesem Falle, nicht nur die durch den herrschsüchtigen Lebensstil bereitgestellte Zornmütigkeit zu erweisen, sondern auch das exogene Moment vor dem Anfall, der unter den bisherigen der stärkste war, können wir die dauernde seelische Spannung seit frühester Kindheit feststellen, den Minderwertigkeitskomplex und den Überlegenheitskomplex, den Mangel an Interesse für andere, Eigenliebe sowohl in ihrem jetzigen Leben als auch in Erinnerungen und Träumen, haben wir auch noch dazu Erfolg mit der individualpsychologischen Behandlung, etwa gar einen Dauererfolg, so ist damit ein weiterer Beweis geliefert, dass Erkrankungen wie nervöser Kopfschmerz, Migräne, Trigeminusneuralgie und epileptiforme Anfälle, sofern keine organischen Störungen nachzuweisen sind, durch eine Veränderung des Lebensstils, durch Herabsetzung der seelischen Spannung, durch Erweiterung des Gemeinschaftsgefühls möglicherweise einer dauernden Heilung zuzuführen sind.

Der Harndrang bei Besuchsgelegenheiten gibt uns schon ein Bild einer allzu leicht aufgeregten Person, wobei die Ursache des Harndranges, ebenso wie die Ursache des Stotterns und anderer nervöser Störungen und Charakterzüge, wie auch des Lampenfiebers exogen ist, in der Begegnung mit anderen Personen liegt. Dabei ist auch das erhöhte Minderwertigkeitsgefühl zu sehen. Wer individualpsychologische Einsicht besitzt, wird hier auch leicht die Abhängigkeit vom Urteil der anderen, demnach das erhöhte Streben nach Anerkennung, nach persönlicher Überlegenheit wahrnehmen. Die Patientin selbst erklärt, an anderen kein besonderes Interesse zu haben. Sie behauptet, nicht ängstlich zu sein, auch ohne Anstrengung mit anderen sprechen zu können, geht aber im Vielreden weit über das gewöhnliche Maß hinaus und läßt mich kaum zu Wort kommen, was ein sicheres Zeichen ihrer Neigung zu krampfhafter Selbstdarstellung ist. In ihrer Ehe ist sie wohl die regierende Person, scheitert aber an der Indolenz und an dem Ruhebedürfnis ihres Gatten, der angestrengt arbeitet und spät am Abend müde nach Hause kommt, nicht geneigt, mit seiner Frau auszugehen oder mit ihr Unterhaltungen aufzusuchen. Wenn sie vorspielen sollte, litt sie an starkem Lampenfieber. Die von mir als bedeutsam empfohlene Frage, was sie tun würde, wenn sie gesund wäre — eine Frage, deren Beantwortung deutlich zeigt, wovor die Patienten zurückschrecken —, beantwortet die Patientin ausweichend mit dem Hinweis auf die dauernden Kopfschmerzen. An der linken Augenbraue befindet sich eine tiefsitzende Narbe nach einer Operation der Ethmoidhöhle, einer Operation, der sehr bald wieder der Migräneanfall folgte. Dass ihr Kälte in jeder Form schade und Anfälle hervorrufen könne, behauptet die Patientin steif und fest. Nichtsdestoweniger ging sie vor dem letzten Anfall in ein kaltes Bad, das, wie sie meint, den Anfall prompt auslöste. Die Anfälle sind nicht von einer Aura eingeleitet. Übelkeiten im Beginne des Anfalles treten gelegentlich auf, nicht immer. Sie ist von verschiedenen Ärzten gründlich untersucht worden, ohne dass eine organische Veränderung gefunden worden wäre. Röntgenuntersuchung des Schädels, Blut- und Harnuntersuchung waren negativ. Uterusbefund: infantil, Anteversio und Anteflexio. Ich habe in meiner „Studie über Minderwertigkeit von Organen“ darauf hingewiesen, dass man nicht nur häufig Organminderwertigkeiten bei Neurotikern findet, wofür die Ergebnisse der Kretschmerschen Untersuchungen eine gute Bestätigung abgeben, sondern auch, dass man bei Organminderwertigkeiten stets auch Minderwertigkeiten der Sexualorgane zu erwarten hat, was durch Kyrie, der leider zu früh verstorben ist, nachgewiesen wurde. Hier ist ein solches Beispiel.

Es stellte sich heraus, dass die Patientin, seit sie die Geburt eines jüngeren Geschwisters unter größtem Schrecken erlebt hatte, vor dem Gebären eine wahnsinnige Angst hatte. Dies bestätigt meine Warnungen, Kindern sexuelle Fakten zu früh nahezulegen, solange man nicht sicher ist, dass sie sie richtig verstehen und verdauen können. Als sie elf Jahre alt war, beschuldigte sie ihr Vater zu Unrecht, dass sie sexuellen Umgang mit einem Nachbarssohn gehabt hätte. Auch dieses mit Schreck und Angst verknüpfte Nahebringen der Sexualbeziehung verstärkte ihren Protest gegen die Liebe, der sich während ihrer Ehe als Frigidität darstellte. Vor Eingehen ihrer Ehe verlangte sie die bindende Erklärung von ihrem Bräutigam, dass er auf Kinder dauernd verzichten würde. Ihre Migräneanfälle und die stets festgehaltene Furcht vor solchen setzten sie leicht in die Lage, den ehelichen Verkehr auf ein Minimum zu reduzieren. Wie man oft bei sehr ehrgeizigen Mädchen findet, gestalten sich ihre Liebesbeziehungen irgendwie schwierig, weil sie diese in einem schweren Minderwertigkeitsgefühl, dem unsere kulturelle Zurückgebliebenheit Vorschub leistet, missverständlich als Zurücksetzung der Frau erlebte.

Das Minderwertigkeitsgefühl und der Minderwertigkeitskomplex, diese fundamentale Anschauung der Individualpsychologie, einst von den Psychoanalytikern als das rote Tuch betrachtet ebenso wie der männliche Protest, sind heute von Freud vollkommen aufgenommen und nur ganz schwächlich in sein System eingezwängt. Was aber bis heute von dieser Schule noch nicht verstanden ist, ist die Tatsache, dass ein solches Mädchen unter fortwährenden protestierenden Emotionen steht, die den Körper und die Seele vibrieren machen und sich jedesmal nur im Falle eines exogenen Faktors, im Falle einer Prüfung auf das vorhandene Gemeinschaftsgefühl als akute Symptome äußern.

In diesem Falle sind die symptomatischen Äußerungen Migräne und Harndrang. Als Dauersymptom besteht seit ihrer Ehe Furcht vor Kindersegen und Frigidität. Ich glaube, ein gutes Stück zur Erklärung der Migräne bei dieser herrschsüchtigen und jähzornigen Person — und es scheint, dass nur solche Personen unter Hinzukommen der oben beschriebenen Asymmetrie an Migräne und ähnlichen Schmerzen erkranken können — beigebracht zu haben, habe aber noch jenen exogenen Faktor nachzuweisen, der den letzten, so außerordentlich schweren Anfall erzeugt hat. Ich kann nicht ganz leugnen, dass in diesem Falle das kalte Bad den Anfall ausgelöst hat, bin aber stutzig darüber, dass die Patientin, die so genau und so lange schon über den Schaden der Kälte Bescheid weiß, vor sieben Monaten ohne weiteres bereit war, ins kalte Wasser zu steigen, wie sie sagt, ohne an die Gefahr zu denken. Sollte damals ihre Zornwelle gestiegen sein? Kam ihr damals vielleicht ein Anfall gelegen? Hatte sie einen Gegenspieler, wie etwa den ihr in Liebe ergebenen Gatten, den sie damit treffen wollte, und ging sie ins kalte Wasser etwa wie einer, der Selbstmord aus Rache, zur Bestrafung einer anhänglichen Person begehen will? Wütet sie noch immer gegen sich, weil sie gegen einen anderen wütet? Vertieft sie sich in die Lektüre über Migräne, geht sie zu Ärzten und erfüllt sie sich mit der Überzeugung, nie gesund werden zu können, um die Lösung ihrer Lebensprobleme, vor denen sie sich aus mangelhaftem Gemeinschaftsgefühl fürchtet, hinauszuschieben?

Sie schätzt wohl ihren Gatten, ist aber von Liebe weit entfernt, hat auch niemals wirklich geliebt. Auf die Frage, die wiederholt an sie gestellt war, was sie täte, wenn sie dauernd geheilt wäre, antwortet sie endlich, sie würde aus der Provinz in die Großstadt gehen, dort Violinunterricht geben und in einem Orchester mitspielen. Wer die individualpsychologische Kunst des Erratens erworben hat, wird unschwer heraushören, dass dies die Trennung von ihrem Gatten bedeuten würde, der an den Provinzort gebunden ist. Bestätigung siehe oben: wie wohl sie sich im Hause der Schwägerin fühlt, sowie die Vorwürfe gegen den Gatten. Da der Gatte sie sehr verehrt, ihr auch die unvergleichlich beste Gelegenheit gibt, ihrer Herrschsucht die Zügel schießen zu lassen, so ist es natürlich sehr schwer für sie, sich von ihm zu trennen. Ich würde davor warnen, ihr den Weg der Trennung durch Rat und gute Worte zu erleichtern. Ich muß besonders davor warnen, in einem solchen oder ähnlichen Falle einen Liebhaber zu empfehlen. Solche Patienten wissen wohl, was Liebe ist, verstehen es aber nicht, und würden sich nur schwere Enttäuschungen holen, die Verantwortung für alles aber dem Arzt aufladen, wenn sie seinem Rat folgen. Die Aufgabe in diesem Falle besteht darin, diese Frau für ihre Ehe tauglicher zu machen. Zuvor aber müssen die Irrtümer in ihrem Lebensstil hinweggeräumt werden.

Feststellung nach genauer Untersuchung: Die linke Gesichtshälfte ist etwas kleiner als die rechte. Deshalb ist die Nasenspitze etwas nach links gerichtet. Das linke, derzeit erkrankte Auge zeigt eine engere Augenspalte als das rechte. Warum die Patientin auch gelegentlich auf der rechten Seite das Symptom zeigt, vermag ich derzeit nicht zu erklären. Vielleicht irrt die Patientin in dieser Angabe.

Ein Traum: „Ich war mit einer Schwägerin und einer älteren Schwester im Theater. Ich sagte ihnen, sie sollten ein bisschen warten, ich werde mich ihnen auf der Bühne zeigen.“ Erklärung: Sie sucht sich immer vor ihren Verwandten hervorzutun. Möchte auch in einem Theaterorchester spielen. Glaubt, von ihren Verwandten nicht genug geschätzt zu werden. Auch die von mir begründete Organminderwertigkeitslehre mit seelischer Kompensation, ein Befund, der, wie einmal festgestellt werden soll, den Ergebnissen Kretschmers und Jaenschs zugrunde liegt, kommt zu ihrem Recht. Es ist kaum zu bezweifeln, dass im Sehapparat dieser Frau etwas nicht richtig ist. Auch bei ihrem an der gleichen Krankheit leidenden Bruder nicht. Ob es mehr ist als Gefäßanomalien oder Weganomalien, kann ich nicht entscheiden. Der Visus soll normal sein, ebenso der Grundumsatz. Die Schilddrüse ist äußerlich nicht verändert. Der Traum vom Theater und vom Sichzeigen auf der Bühne sprechen deutlich für einen visuellen, auf die äußere Erscheinung bedachten Menschentypus. Ihre Ehe, ihr Wohnort in der Provinz hindern sie, sich zu zeigen. Das gleiche Hindernis wäre Gravidität und ein Kind.

Die vollständige Heilung vollzog sich innerhalb eines Monats. Vorher kam die Erklärung des exogenen Faktors, der zur letzten Attacke geführt hatte. Sie fand in der Rocktasche ihres Mannes den Brief eines Mädchens, der nur einen kurzen Gruß enthielt. Ihr Mann konnte ihren Argwohn zerstreuen. Nichtsdestoweniger verblieb sie in argwöhnischer Stimmung und nährte die bisher nie gefühlte Eifersucht, überwachte auch ihren Mann seit dieser Zeit. In diese Periode fiel ihr kaltes Bad und der Beginn ihres Anfalls. Einer der letzten Träume, schon nach der Feststellung ihrer Eifersucht und ihrer verletzten Eitelkeit geträumt, zeigt noch das Festhalten an ihrem Verdacht und zielt auf Vorsicht und Mißtrauen dem Gatten gegenüber. Sie sah, wie eine Katze einen Fisch fing und mit ihm davonlief. Eine Frau lief hinterdrein, um der Katze den Fisch abzujagen. Die Erklärung ergibt sich, ohne dass man viel Wesens machen müßte. Sie sucht sich in metaphorischer Sprache, in der alles stärker klingt, für einen ähnlichen Raub ihres Gatten scharfzumachen. Eine Auseinandersetzung ergibt, dass sie nie eifersüchtig gewesen sei, da ihr Stolz ihr diese Unart verboten hatte, dass sie aber seit der Auffindung jenes Briefes die Möglichkeit einer Untreue ihres Mannes in Betracht gezogen habe. Indem sie damit rechnete, steigerte sich ihre Wut — gegen die vermeintliche Abhängigkeit der Frau vom Manne. Ihr kaltes Bad war demnach wirklich die Rache ihres Lebensstils gegenüber der nun, wie sie glaubte, sichergestellten Abhängigkeit ihres Wertes von ihrem Manne und gegenüber seiner mangelhaften Anerkennung ihres Wertes. Hätte sie ihren Migräneanfall — die Folge ihres Schocks — nicht, so müßte sie sich wertlos vorkommen. Dies aber wäre das Schrecklichste von allem.

Alfred Adler - Der Sinn des Lebens

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