Читать книгу Patricia Vanhelsing Sammelband 5 Romane: Sidney Gardner - Übersinnlich - Alfred Bekker - Страница 5

Bleiche Lady

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Grau und moosbewachsen erhoben sich die düsteren Mauern des verwinkelten Schlosses. Die Türme ragten spitz in den Nachthimmel und hoben sich gegen den Vollmond ab, dessen fahles Licht dem Schloss die Aura unvorstellbaren Alters zu verleihen schien. Schwarze Wolken zogen wie drohende Ungeheuer von Osten heran. Graue Nebel krochen wie gestaltlose böse Geister über den Boden und umlagerten die grauen Mauern wie Spinnweben.

Das Licht des Mondes spiegelte sich in dem dunklen, modrigen Teich, der sich vor dem Schloss befand. Eine junge Frau stand dicht an der kniehohen Ummauerung, die den Teich begrenzte und blickte auf die spiegelglatte Wasseroberfläche. Ihr eigenes, totenbleiches Gesicht blickte ihr entgegen. Ihre Augen vermittelten den Eindruck tiefer Melancholie. Das blonde Haar fiel ihr auf die schmalen Schultern, die von dem fließenden Stoff ihres dunkelroten Kleides bedeckt waren. Sie atmete tief durch. Ihr Blick bekam dabei etwas Schmerzvoll-Sehnsüchtiges.

"Tom...", flüsterte sie. "Geliebter..." Sie schluckte und eine Träne rann ihr über das fast weiße Gesicht. Und in Gedanken fügte sie hinzu: Wo mag deine Seele jetzt sein?

Nichts geht verloren, auch durch den Tod nicht. Davon bin ich überzeugt... Aber wir wurden durch ein grausames Schicksal getrennt! Getrennt durch die Abgründe von Raum und Zeit... Die junge Frau ballte die Fäuste. Sie schloss die Augen, während ihre Tränen die Wangen hinunterliefen.

Erinnerungen stiegen in ihr auf.

Das Gesicht eines Mannes erschien vor ihrem inneren Auge. Dunkles Haar umrahmte seine sympathischen Züge. Der Blick seiner grüngrauen Augen ging ihr durch und durch.

"Ich liebe dich, Tom", flüsterte sie. Sie glaubte beinahe körperlich zu spüren, wie seine Hände die ihren berührten. Ein wohliger, warmer Schauer überlief ihren Rücken. Eine Empfindung, die so völlig im Gegensatz zur düsteren, kalten Umgebung stand...

Ich rufe dich!, ging es ihr durch den Kopf. Wo immer du auch sein magst, ich rufe dich... deine Seele!

Einen Augenblick lang stand sie mit geschlossenen Augen da. Und im Geist hörte sie Tom ihren Namen flüstern.

"Mary..."

Es klang wie Musik in ihren Ohren. Sein dunkles Timbre verzauberte sie.

Für einen Moment verlor sie sich in diesen Empfindungen, verlor sich in dem Gefühl der tiefen Liebe, die sie empfand. Bis langsam aber sicher wieder die düstere Erkenntnis in ihr aufstieg, dass das alles nichts weiter als eine Illusion war. Eine Vorspiegelung ihres Geistes. Sie war allein, so schrecklich allein...

Oh, Tom...

Einsamkeit.

Ein schreckliches Gefühl, das sie in einer großen dunklen Woge zu überschwemmen und mit sich zu reißen drohte. Sie fröstelte.

Auf der bleichen, zarten Haut ihrer Unterarme fror sie jetzt.

Sie öffnete die Augen, blickte ihr eigenes Spiegelbild in dem düsteren, modrigen Teich an und sah dann zu den uralten Mauern des Schlosses hinüber.

Delancie Castle, der uralten Stammsitz ihrer Familie, die einst als normannische Grafen mit Wilhelm dem Eroberer auf die britischen Inseln gekommen waren.

Ein verfluchtes Gemäuer, dachte sie. Ein verfluchter Ort... Mehr und mehr zog sich nun die dunkle Wolkendecke über den Himmel. Der Mond verschwand jetzt phasenweise dahinter. Ein kühler Wind kam auf und strich eisig über das Land. Die glatte Wasseroberfläche auf dem Teich kräuselte sich leicht und das Spiegelbild wurde zerstört.

Modergeruch trug der Wind an ihre Nase.

Der Geruch des Alters und des Verfalls.

Des Todes!, dachte sie schaudernd.

Und das Grauen legte sich wie eine eiserne Hand um ihr Herz. Eine Hand, die unerbittlich und fest zudrückte. Das Atmen fiel ihr schwer.

Irgendwo in der Ferne leuchtete etwas grell in den dunklen Wolkengebirgen auf.

Ein Blitz.

Es schien, als ob sich nun ein Gewitter ankündigte. Das dumpfe Grollen des Donners bestätigte diese Vermutung. Und während sie die ersten Regentropfen auf der totenbleichen Haut spürte, sah sie andere Bilder vor ihrem inneren Auge. Es waren ebenfalls Erinnerungen.

Keine Szenen des Glücks und der Liebe.

Nein, Augenblicke des blanken Schreckens...

Eine dunkle Kapuze hatte man ihr über den Kopf gezogen. Hände hatten sie wie in einem Schraubstock gepackt. Sie war gefesselt.

Sie glaubte, noch einmal zu spüren, wie der Henker ihr den groben Strick um den Hals legte, hörte die Worte des Reverends, die ihre verdammte Seele ins Jenseits begleiten sollten und das schreckliche, harte Geräusch, als der Galgen betätigt wurde.

Wie eine Puppe hing sie im Wind, schwang hin und her...

"Nein!", schrie Mary in die Nacht hinein. Sie fuhr sich mit den Händen über das blasse Gesicht, so als hätte sie sich davon überzeugen müssen, dass sie noch existierte. Sie raufte sich das schulterlange, blonde Haar, während ihre Augen weit aufgerissen waren. Eine Mischung aus Wahnsinn und Schrecken leuchtete aus ihnen.

"Nein!", schrie sie und versuchte verzweifelt , die grausamen Bilder aus ihrer Erinnerung abzuschütteln. Sie schluckte, berührte tastend ihren Hals.

Mein Gott...

Sie glaubte, den Abdruck des groben Hanfseils auf ihrer Haut zu spüren.

Der Puls schlug ihr bis zum Hals.

Sie fühlte, dass sie am Abgrund stand. An einem Abgrund des Wahns, der wie ein großer finsterer Schlund vor ihr gähnte. Der Regen wurde stärker.

Dicke Tropfen benetzten ihre weiße Haut und die Haare. Sie umrundete den Teich, raffte ihr langes Kleid zusammen und lief auf die grauen Mauern von Delancie Castle zu. Aber sie lief nicht auf das eindrucksvolle Portal des Schlosses zu, sondern hielt mitten in ihrem Weg an, und wandte sich dann nach links.

Sie zitterte.

Etwas bewegte sich dort, zwischen den Büschen. Etwas Dunkles, das nur als bloßer Schemen zu sehen war. Sie hörte Schritte. Vielleicht ein Tier...

"Lady Mary!", rief dann eine heisere Stimme durch die Nacht. Sie kam vom Portal her.

Ein grauhaariger Butler stieg die steinernen Stufen hinab, auf denen sich das Moos bereits heimisch zu fühlen begann. Der Butler trug einen Schirm in der Linken.

"Lady Mary, kommen Sie! Sie werden sich den Tod holen!“

Inzwischen prasselte der Regen nur so herab.

Aber Mary schien das nicht zu kümmern.

Wie entrückt stand sie da, fast wie zur Salzsäule erstarrt.

Und ihre bleichen Lippen murmelten immer wieder einen Namen.

"Tom!"

*


ICH ERWACHTE SCHWEIßNASS mitten in der Nacht. Wirre Träume hatten mich in meinen Kissen hin und her wälzen lassen. Ich hatte einfach keine Ruhe gefunden, so sehr ich es auch versucht hatte.

Und als ich dann schließlich doch eingeschlafen war, hatten sich vor meinem inneren Auge Szenen entfaltet, die mir den kalten Angstschweiß auf die Stirn trieben. Bilder von unglaublicher Intensität, die mir mindestens so real erschienen, wie der Mond, der wie ein großes Oval am Himmel stand. Von meinem Bett aus konnte ich ihn durch das Fenster scheinen sehen.

Er wirkte wie das große, kalte Auge eines Riesen, der mich aus großer Ferne musterte.

Der Puls schlug mir bis zum Hals.

Das Nachthemd klebte an meinen Schultern. Schwer atmend schlug ich die Bettdecke zur Seite. Langsam begriff ich, dass das, was ich gesehen hatte, nichts weiter als ein Traum gewesen war.

Ich trat zum Fenster, öffnete es und einen Augenblick später wehte der kühle Hauch der Nacht von draußen herein. Das brachte mich wieder etwas zur Besinnung.

Ein Gesicht erschien vor meinem inneren Auge. Jenes Gesicht, das ich in meinem Traum immer wieder vor mir gesehen hatte.

Ich konnte nicht genau sagen, was mich an diesem Gesicht so sehr geängstigt hatte. Dieses Gefühl namenloser Furcht war einfach da. Und war mit diesem Gesicht verbunden. Es handelte sich um das totenbleiche Antlitz einer Frau. Ihre Züge waren feingeschnitten und wirkten wie aus Elfenbein modelliert. Eine hübsche Frau, ohne Zweifel. Aber so...

...tot!

Mir schauderte bei dem Gedanken an sie.

Wie eine kalte, glitschige Hand kroch dieses Gefühl meinen Rücken empor. Gänsehaut überzog meine Unterarme. Hast du dieses Gesicht schon einmal gesehen?, ging es mir durch den Kopf. Ich zermarterte mir förmlich das Hirn über diese Frage. Nein, dachte ich. Aber ich war mir nicht hundertprozentig sicher.

Dieses blasse Gesicht war die einzige Erinnerung, die mir aus meinem Alptraum geblieben war. Alles andere war nicht mehr als ein Konglomerat aus düsteren Farben, leckenden Schatten, Mondlicht und einem finsteren Gemäuer. Ein Detail war da allerdings noch...

Der Strick!

Wie eine Galgenschlinge hatte er um ihren Hals gelegen. Warum hat dich dieser Traum so aufgewühlt?, fragte ich mich. Ich sah keinen wirklichen Grund dafür. Und doch schlug mein Herz wie wild. Selbst jetzt, da der kühle Hauch dieser winddurchtosten Nacht eigentlich alle Traumgespenster hätte verscheuchen müssen.

Ich brauchte nur die Augen zu schließen.

Dann stand es wieder vor mir, dieses bleiche Gesicht einer elfenbeinhäutigen Frau, die mir wie ein Bote des Todes erschien.

Schon im ersten Moment, nachdem ich erwacht war, hatte ich gewusst, dass es sich um einen jener Träume handelte, die meine leichte übersinnliche Gabe mir sandte. Eine Gabe, mit deren Hilfe ich schlaglichtartig in Träumen, Tagträumen und Ahnungen die Abgründe von Raum und Zeit überwinden konnte. Diese Frau wird in deinem Schicksal irgendwann in nächster Zeit eine Rolle zu spielen beginnen!, wurde es mir klar. Und ich wagte kaum daran zu denken, welche Bedeutung vielleicht hinter den Bildern verborgen lag, die mir im Traum vorgegaukelt worden waren.

*


SPÄTER SETZTE ICH MICH in einen der klobigen Sessel in meinem Schlafzimmer und schlief ein. Wie ein Stein. Es war der Schlaf der Erschöpfung. Am Morgen erwachte ich trotzdem früh. Eine innere Unruhe hatte mich geweckt. An weitere Träume konnte ich mich nicht erinnern.

Nur an diesen einen...

Ich zog mich an und fühlte mich seltsam benommen. Das Gesicht dieser Frau ging mir nicht aus dem Sinn. Aber sobald ich in der Redaktion der LONDON EXPRESS NEWS angekommen war, würde mich die Hektik und der Stress, die mein Job als Reporterin bei diesem großen Londoner Boulevardblatt mitbrachte, schon zu genüge ablenken.

Ich ging die Treppe hinunter ins Erdgeschoss von Tante Lizzys Villa, in der ich die obere Etage bewohnte. Tante Lizzy hieß eigentlich Elizabeth Vanhelsing und war meine Großtante. Nachdem ich schon früh meine Eltern verlor, zog sie mich wie eine eigene Tochter auf.

Seit dem Tod meiner Eltern wohnte ich hier, in dieser verwinkelten und etwas unheimlich wirkenden viktorianischen Villa, deren größter Teil von Tante Lizzys berühmtem Okkultismus-Archiv eingenommen wurde.

Tante Lizzy war bereits auf den Beinen.

Sie brauchte nicht viel Schlaf und es kam durchaus vor, dass sie ganze Nächte in der Bibliothek verbrachte und in alten, okkulten Schriften forschte.

Ich traf sie in der Küche, wo sie den Tee auf ihre unverwechselbare Weise zubereitete. Das war ein Ritual, an dem nicht das Geringste geändert werden durfte.

"Hallo, Patricia", begrüßte sie mich lächelnd. Dann zog sie die Augenbrauen empor. "Du siehst nicht gerade besonders frisch aus."

"So fühle ich mich auch nicht."

"Schlecht geschlafen?"

Ich nickte.

"Kann man wohl sagen."

Ich nahm die volle Teekanne und ging damit zum Tisch, den Tante Lizzy bereits für das Frühstück gedeckt hatte. Wir setzten uns, und sie sandte mir einen sehr ernsten Blick zu.

"Ein Traum?", fragte sie.

"Ja", nickte ich.

Mehr brauchte ich nicht zu sagen. Tante Lizzy wusste nur zu gut über meine Gabe Bescheid. Sie war es gewesen, die mich einst als erste darauf aufmerksam gemacht hatte.

"Willst du mir erzählen, was du gesehen hast, Patti?"

"Das Gesicht einer Frau."

"Kennst du sie?"

"Ich glaube nicht. Aber hundertprozentig sicher bin ich mir auch nicht. Die Frau war sehr bleich. Wie eine Tote beinahe. Sie hatte blondes Haar und eine Henkerschlinge um den Hals..."

"Gibt es sonst noch irgendwelche Einzelheiten, an die du dich erinnerst?"

"Nein." Ich zuckte die Achseln. "Aber ich werde dieses Gesicht einfach nicht mehr los... Es scheint mich zu verfolgen. Ich brauche nur die Augen zu schließen und sehe es wieder vor mir. Es wirkt so real..."

"Was empfindest du dabei?", fragte Tante Lizzy, während sie den Tee einschüttete.

"Bedrohung", sagte ich spontan. "Und dann dieser Strick um ihren Hals..." Ich musste unwillkürlich schlucken. "Was auch immer er bedeuten mag, es kann kaum etwas Gutes sein. Weder, wenn man ihn symbolisch versteht, noch wenn diese Szene tatsächlich eintreten sollte..."

"Du musst wachsam sein und alles um dich herum aufmerksam beobachten", riet Tante Lizzy mir. Sie nahm dabei meine Hand. "Dieser Traum hat zweifellos eine Bedeutung, aber im Moment ist es nicht mehr als ein Schlaglicht... Es fehlt der Zusammenhang."

"Ja." Ein Gefühl der Kälte erfasste mein Inneres. Unbehagen hatte sich in mir ausgebreitet. Etwas wird geschehen, dachte ich. Schon sehr bald...

Es hatte keinen Sinn solch düstere Ahnungen einfach verscheuchen zu wollen oder sie zu ignorieren. Das hatte ich früher versucht, als ich meine Gabe noch nicht als Teil meiner selbst akzeptiert hatte. Ich musste mich dem stellen, was auf mich zukam. Es gab keine andere Möglichkeit.

*


IN DER REDAKTION DER LONDON EXPRESS NEWS herrschte die übliche Hektik. Ich traf mit leichter Verspätung ein, wofür mein kirschroter Oldtimer-Mercedes verantwortlich war. Er hatte sich gehörig Zeit gelassen, bis endlich der Motor angesprungen war.

Ich hoffte nicht, dass das gute Stück - ein Geschenk von Tante Lizzy - jetzt langsam seine Mucken bekam. Ich betrat mit schnellem Schritt das Großraumbüro unserer Redaktion, das beinahe eine ganze Etage im Verlagsgebäude an der Lupus Street einnahm. Ziemlich direkt hielt ich auf meinen Schreibtisch zu, hängte die Handtasche über den Sessel des Drehstuhls und schaltete das Computerterminal ein. Dann atmete ich tief durch, nahm mir eine Tasse des dünnen Redaktionskaffees und wartete, bis das Logo unserer EDV auf dem Computerschirm erschien.

Unser Chefredakteur Michael T. Swann hatte als einziger ein Extra-Büro. Ich sah aus den Augenwinkeln heraus, wie sich dort gerade die Tür öffnete. Aber nicht unser allgewaltiger Chef trat mit den gewohnt hochgekrempelten Hemdsärmeln heraus, sondern mein Kollege Jim Field.

Jim war wie ich 26 Jahre alt und galt als der Starfotograf der LONDON EXPRESS NEWS. Sein blondes Haar war wie gewöhnlich ungebändigt und stand wirr herum, nachdem er sich mit der Hand hindurchgefahren war. Sein Jackett war knitterig, das Revers von den Riemen der Kamerataschen völlig ruiniert. Und seine Jeans wirkte wie ein Museumsstück für Woodstock-Veteranen.

Jims Kopf war hochrot.

Eigentlich war er ein stets gutgelaunter und zu witzigen Bemerkungen aufgelegter Mann. Aber in diesem Moment stand ihm der Ärger ins Gesicht geschrieben.

"Glauben Sie vielleicht, die NEWS ist das einzige Blatt, das Bilder druckt?", rief er empört in das Büro hinein, so dass man es bis zu meinem Schreibtisch hören konnte. Der Geräuschpegel im Großraumbüro legte sich etwas. Das Stimmengewirr wurde leiser.

Swanns Erwiderung war nicht zu verstehen.

Jim machte eine wegwerfende Handbewegung.

Und dann ging er davon.

Direkt auf meinem Schreibtisch zu.

Die Tür zu Swanns Büro wurde von innen ziemlich unsanft geschlossen.

Als Jim mich sah, stoppte er mitten in der Bewegung. Dann zwang er sich zu einem Lächeln.

"Hallo, Patti!"

"Was ist denn los, Jim?"

Jim verdrehte die Augen. "Du kennst Swann doch..."

"Sicher..."

"Er regt sich auf, nur weil er die Bilder ein bisschen später auf dem Tisch liegen hatte. Mein Gott, was gut werden will, muss manchmal auch die nötige Zeit dazu haben! Aber für Swann zählt die Minute. Als ob es um den Untergang der LONDON EXPRESS NEWS oder gar des Abendlandes ginge!" Er atmete tief durch. Dann ging er an die Kaffeemaschine.

"Vielleicht genehmige ich mir auch mal einen Becher von dem Gebräu!"

"Aufgeregt hast du dich ja auch genug!"

"Na ja..."

"Wenn du mich fragst, brauchst du eher einen Beruhigungstee. Earl Grey, lang durchgezogen..." Jim schüttelte den Kopf.

"Darauf werde ich nie umsteigen", meinte er. "Ist mir zu spießig. Außerdem..."

Ich sah ihn an.

"Was?"

"Man muss zu oft auf die Toilette. Und du weißt ja, als Pressefotograph hat man ja sowieso schon häufig genug das Pech, das die wirklich wichtigen Dinge immer dann passieren, wenn man den Finger nicht am Auslöser hat." Wir lachten beide.

Jim schien bei allem Ärger über Michael T. Swann seinen Humor wiedergefunden zu haben.

Dann deutete er in Richtung von Swanns Bürotür.

"Trotzdem", meinte er. "Ich frage mich, ob ich mir so etwas bieten lassen muss!"

"Du kennst Swann doch. Er wird sich beruhigen - und du dich auch!"

"Vermutlich hast du recht, Patti! Bist du eigentlich so vernünftig auf die Welt gekommen oder hat sich das erst später entwickelt?"

"Na, hör mal!"

Er grinste.

"War ja nur 'ne Frage", lachte er dann. Er sah auf die Uhr. "Ich muss jetzt los. Eine Standpauke von Swann reicht mir am Tag!"

Er wollte gehen, aber ich hielt ihn noch einen Moment zurück.

"Jim..."

"Ja?"

"Hast du Tom heute morgen schon gesehen?"

"Ja. Aber du bist heute ein bisschen spät dran. Er ist schon unterwegs."

"Schade."

Jim grinste breit. "Na, ich denke ihr seht euch doch oft genug. Außerhalb der Bürozeiten in der Redaktion wohlgemerkt!"

Ich lächelte milde und hob die Augenbrauen.

"Hast du noch nichts davon gehört, dass wir neuerdings 26 Stunden täglich in der Redaktion anwesend sein müssen? Da wird die Zeit schon mal ziemlich knapp, um sich anschließend noch zu treffen!"

Jim zwinkerte mir zu. Das war ein Spaß nach seinem Geschmack.

"Fragt sich, ob das eine neue Sparmaßnahme des Verlages ist oder Mr. Swann sich nachts allein in diesem großen Haus fürchtet..."

Wir bemühten uns beide, so dezent zu lachen, dass man es nicht bis in Mr. Swanns Büro hören konnte. Die Milchglasscheibe in der Bürotür war nämlich nicht gerade das, was man heutzutage unter einer guten Schallisolierung verstand.

*


ICH VERBRACHTE DIE nächsten anderthalb Stunden damit, Routinearbeiten zu erledigen. Unter anderem bearbeitete ich verschiedene Pressemeldungen so, dass daraus Artikel für unsere Zeitung wurden, gestaltete Überschriften und Unterzeilen zu den Bildern.

Ich war dermaßen konzentriert, dass ich für eine Weile alles andere vergaß.

Selbst das leichenblasse Gesicht der jungen Frau, der man einen Strick um den Hals gelegt hatte.

Meine Finger glitten über die Computertastatur, und ich schrak zusammen, als plötzlich der Griff zweier Hände meine Schultern erfasste.

"Hallo, Patti", begrüßte mich eine Stimme mit unverwechselbarem, dunklen Timbre. Eine Stimme, deren Klang mir durch und durch ging und mir einen wohligen Schauder über den Rücken trieb.

Ich drehte mich herum.

"Tom...", flüsterte ich und sah in ein paar grüngrauer Augen. Tom Hamilton - ehemals Korrespondent für eine große Nachrichtenagentur - war seit einiger Zeit genau wie ich als Reporter für die LONDON EXPRESS NEWS tätig und inzwischen hatte ich mich unsterblich in diesen gutaussehenden, dunkelhaarigen Mann verliebt.

Unsere Lippen trafen sich zu einem kurzen Kuss.

"Ich hoffe, du hast mich auch richtig vermisst", raunte er mir zu.

"Du hast ja keine Ahnung, wie sehr", erwiderte ich und strich ihm leicht über das Kinn. "Bist du wenigstens einer interessanten Story auf der Spur?"

Tom machte eine wegwerfende Geste.

"Ich war in Old Baily. Wegen einer Gerichtsreportage. Leider ist man über die Personalien des Angeklagten nicht hinweggekommen. Die Verhandlung ist vertagt worden, und ich frage mich jetzt, wie ich aus der ganzen Sache noch einen Artikel mache..."

Ich erhob mich aus meinem Drehstuhl. Tom fasste mich am Oberarm und half mir auf. Unsere Blicke verschmolzen miteinander. Ich wünschte mir in diesem Moment, allein mit ihm zu sein. Nur wir beide, seine Arme um meine Schultern, unsere Körper so nah, dass jeder den Herzschlag des anderen spüren konnte...

Aber wir befanden uns leider an einer der unromantischsten Örtlichkeiten in ganz London: dem Redaktionsbüro der LONDON EXPRESS NEWS.

Tom strich mir eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus meiner Frisur herausgestohlen hatte.

"Leider werde ich den Rest des Tages wohl mehr oder weniger in den Katakomben verbringen müssen..." Mit den Katakomben meinte er das Archiv unseres Verlages, das sich im Keller befand.

"Was ist mit heute Abend?"

Er lächelte.

"Das geht in Ordnung."

"Ich freue mich drauf!"

"Ich mich auch."

"Um acht Uhr hole ich dich zu Hause ab, okay?"

"Ja..."

"Gehen wir nach dem Kino noch essen?"

"Aber zur Abwechslung mal nicht italienisch." Tom lachte. Er hatte eine Vorliebe für italienisches Essen, die ich normalerweise auch durchaus teilte. Und so waren wir vorwiegend in eines der zahlreichen italienischen Restaurants gegangen, die es in London gab. "Okay...", sagte er sanft.

"Weißt du, ich kann einfach für eine Weile keine Pasta mehr sehen", erwiderte ich. "Genug ist einfach genug!"

"Bis nachher!"

Er küsste mich zärtlich auf die Wange. Und dann sah ich ihm nach, wie er sich in Richtung der Tür bewegte, um auf den Flur und dann in den Aufzug zu gelangen. Ich hatte Schmetterlinge im Bauch und fragte mich, ob dieses intensive Gefühl wohl irgendwann nachlassen oder sich ewig erhalten würde. Ein toller Mann, dachte ich. Und sein Herz gehörte mir. Ich würde es so schnell nicht loslassen.

*


ES WAR EIN GEWÖHNLICHER Tag in der Redaktion, an dem nichts besonderes mehr geschah.

Oder vielleicht doch.

Ich bekam nämlich ein dickes Lob von Michael T. Swann, der sich eine Reportage von mir vorgenommen und eigenhändig redigiert hatte. Und mit Lob ist Swann nicht sehr verschwenderisch. Vielleicht wollte er mich aber auch darüber hinwegtrösten, dass er meine Reportage auf die Hälfte zusammengestrichen hatte, weil plötzlich ein wichtiger Anzeigenkunde mit einem Großauftrag gekommen war. Es hatte leicht zu nieseln begonnen, als ich am frühen Abend das Verlagsgebäude verließ.

Einen Schirm hatte ich nicht dabei, denn der Tag hatte sonnig und warm begonnen. So blieb mir nichts anderes übrig, als den Parkplatz so schnell wie möglich zu überqueren. Ich atmete tief durch, hielt meine Handtasche fest und spurtete los. Dabei versuchte ich, darauf zu achten, nicht gerade in eine Pfütze zu treten. Aber es war schon zu spät. Ich fühlte, wie das Wasser in meinen linken Turnschuh eindrang. Zu Hause würde ich mich ohnehin für den Abend umziehen. Das war mein einziger Trost in dieser Sekunde. Den kirschroten Mercedes 190 hatte ich am äußersten Rand des Parkplatzes abgestellt. Da ich am Morgen ja etwas zu spät dran gewesen war, hatte es einfach keine andere Möglichkeit mehr gegeben. Und dabei hatte ich noch froh sein können, überhaupt eine Parkmöglichkeit zu finden.

Ich spurtete die lange Reihe von Pkws entlang und hielt dann kurz inne.

Der Regen wurde stärker. Das Haar klebte mir bereits am Kopf. Graue Wolken hatten den Himmel wie ein schmutziges Tuch überzogen. Es war verhältnismäßig dunkel geworden. So dunkel, dass die Helligkeitsmelder der Straßenbeleuchtung reagierten. Die Laternen leuchteten auf.

In einer Entfernung von gut fünfzig Metern sah ich eine Gestalt.

Eine Frau.

Irgend etwas war an ihr, das meinen Blick unwillkürlich fesselte.

Und gleichzeitig spürte ich jenes charakteristische Unbehagen, das stets mit meinen Ahnungen einherging. Ich lief nicht weiter, stand nur da und riss die Augen auf. Eine junge Frau mit blondem, fast schulterlangem Haar und einem Gesicht, das hübsch und feingeschnitten war. Aber bleich. So blass wie das Antlitz einer Toten. Wie aus Elfenbein modelliert wirkte dieses Gesicht. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag vor den Kopf, dass ich niemand anderen vor mir hatte, als jene Frau, die ich Traum gesehen hatte.

Ihr Kleid war fast knöchellang. Es war dunkelrot und reich verziert. Es entsprach nicht dem, was derzeit modern war. Ich glaubte zu erkennen, dass es aus schwerem Samt oder einem ähnlichen Stoff gefertigt war. Ein Winterkleid, das überhaupt nicht in die Jahreszeit passte.

Aber das schien die bleiche Frau nicht zu kümmern. Obwohl es seit Einsetzen des Regens etwas abgekühlt hatte, war es noch immer sommerlich warm. Viel zu warm für so ein Kleid.

Die bleiche Frau schien das ebenso wenig zur Kenntnis zu nehmen wie den Regen, der auf sie hernieder prasselte und immer stärker wurde.

"Heh, Sie!", rief ich.

Sie schien mich nicht zu hören.

Ich kniff die Augen etwas zusammen.

Seltsam, dachte ich. Der Regen schien sie nicht zu berühren. Die Haare hätten ihr genau wie mir längst tropfnass am Kopf kleben müssen. Aber das war nicht der Fall. Ich fühlte, wie mir der Puls bis zum Hals schlug. Ich winkte ihr zu.

Sie wandte den Kopf in meine Richtung. Ihr Blick schien traurig, fast schmerzvoll zu sein.

Ein kalter Schauder ging mir über den Rücken. Eine Aura des Todes schien sie zu umgeben. Ich lief los. Direkt in ihre Richtung. Ich musste einfach wissen, wer sie war und was sie hier, vor dem Gebäude der LONDON EXPRESS NEWS wollte. Es muss eine Bedeutung haben, dass sie hier ist, durchfuhr es mich. Ich spürte es. Ganz deutlich. Vor meinem inneren Auge war dann wieder jene Traumsequenz präsent, in der ich sie mit dem Strick um den Hals gesehen hatte.

Dem Strick des Henkers...

Ich lief immer schneller, weil ich das Gefühl hatte, dass sie mir ansonsten entwische. Wie ein Schatten, ein Geist, ein flüchtiges Gas, das sich mit Händen nicht greifen lässt...

Ich rutschte aus, taumelte kurz, konnte mich aber auf den Beinen halten. Eine Moment lang hatte ich zu Boden geblickt und die bleiche Frau aus den Augen verloren.

Jetzt sah ich auf, ließ den Blick schweifen und... Wo ist sie?, ging es mir durch den Kopf.

Panik stieg in mir auf.

Ich glaubte, mein Herz schlagen hören zu können. Hektisch ließ ich den Blick umherschweifen, während im Hintergrund die Geräusche des Londoner Straßenverkehrs zu hören waren.

Sie ist weg!

Ich wollte es nicht wahrhaben, lief mit schnellen Schritten zu jener Stelle, an der ich sie gerade noch gesehen hatte. Aber von der bleichen Frau war nirgends etwas zu sehen. Keine Spur.

Vielleicht hast du nur geglaubt, sie zu sehen, ging es mir durch den Kopf. Eine Halluzination, mehr nicht... Ich mochte nicht so recht daran glauben. Durch meine übersinnliche Gabe hatte ich zwar hin und wieder Visionen, aber im allgemeinen wusste ich sehr genau zwischen Vision und der Realität des Hier und Jetzt zu unterscheiden. Ganz auszuschließen war diese Möglichkeit natürlich nicht. Und dann war da noch ein anderer, schrecklicher Gedanke, der langsam aber sicher an die Oberfläche meines Bewusstseins stieg, obwohl ich ihn weiß Gott lieber unter der Oberfläche gehalten hätte.

Was, wenn du die Kontrolle verlierst, Patti?

Das Grauen erfasste mich und legte sich wie eine eisige Hand um mein Herz. Das Gefühl von Enge und tödlicher Bedrohung machte sich in mir breit. Ein Gefühl, als ob ich dem Ersticken nahe war. Ich atmete tief durch.

Du wärst nicht die erste, die über eine außersinnliche Begabung verfügt und daran zerbricht, rief ich mir ins Gedächtnis.

In Tante Lizzys Archiv fanden sich Dutzende von Pressemeldungen und Berichte über derartige Fälle. Menschen, die über besondere, parapsychische Begabungen verfügt hatten, dann in die Fänge von Geheimdiensten oder okkulten Zirkeln geraten waren und schließlich mehr oder minder wahnsinnig geworden waren.

Es war ein schmaler Grad, auf dem ich wandelte. Nicht erst seit heute.

Aber zuvor war es mir meistens nicht so bewusst gewesen. Ich blickte in den grauen Regen.

Meine Kleider klebten mir am Leib, und ich musste niesen. Es hat keinen Sinn!, durchzuckte es mich. Ich gab mir einen Ruck, drehte mich herum und ging in Richtung meines 190er Mercedes.

Und doch...

Wer war sie?

Diese Frage blieb.

Und während ich Schritt für Schritt vorwärts ging, hatte ich das Gefühl, als würde ich im selben Moment beobachtet... Ich glaubte, den Blick eines totenblassen Gesichts auf meinem Rücken spüren zu können. Ich drehte mich herum, aber da war niemand zu sehen.

Ein Unbehagen blieb...

Ein unangenehmes Kribbeln in der Magengegend. Und die Ahnung, dass ich die bleiche Lady nicht zum letzten Mal gesehen hatte...

*


ALS ICH ZU HAUSE EINTRAF, stand ein Wagen in der Einfahrt von Tante Lizzys Villa. Es war der Lieferwagen eines Schreinermeisters und ich fragte mich, wofür Tante Lizzy ihn wohl bestellt haben mochte. Das Parkett in der Bibliothek sah nicht mehr besonders gut aus, aber wenn es ausgewechselt werden sollte, bedeutete das unter anderem auch, dass sämtliche Bücher in der Zwischenzeit anderswo gelagert werden mussten. Und das konnte ich mir nun beim besten Willen nicht vorstellen.

Erstens befanden sich in Tante Lizzys Sammlung okkulter Literatur so seltene und kostbare Lederfolianten, dass ich mir kaum denken konnte, dass Tante Lizzy sie etwa im Keller zwischenlagern würde. Zumal sie einen Großteil dieser Bücher selbst liebevoll restauriert hatte! Und zweitens füllte Tante Lizzys Sammlung so gut wie die ganze Villa aus und selbst im Keller wäre kaum noch genügend Platz gewesen.

Meine okkultfreie Zone!, ging es mir dann siedendheiß durch den Kopf.

Vielleicht hatte Tante Lizzy daran gedacht, die Stapel von staubigen Büchern in der Zwischenzeit in meinen Räumen zu lagern!

Ich dachte mit Schrecken daran.

Der Staub würde mich vermutlich unablässig niesen lassen. Ich ging zur Haustür, trat ein und ging den Flur entlang. Aus der halboffenen Tür zur Bibliothek hörte ich die Stimmen von Tante Lizzy und einem Mann.

Ich kam näher, blickte durch den Spalt und sah, wie beide sich an dem eigenartigen antiken Schreibtisch zu schaffen machten, den Tante Lizzy vor einiger Zeit erworben hatte. Der Schreibtisch hatte an den Ecken jeweils furchteinflößende Schnitzereien. Köpfe mit zahnbewehrten, weit aufgerissenen Mäulern, die groteske Kreuzungen zwischen menschlichen und tierischen Elementen zu sein schienen. Angeblich sollte sich im Inneren dieses antiken Stücks ein Geheimfach befinden und Tante Lizzy versuchte schon seit längerem vergeblich, dessen Geheimnis zu lüften. Bislang war ihr das allerdings trotz aller Mühe nicht gelungen.

Offenbar hatte sie sich nun einen Spezialisten ins Haus geholt, der zumindest etwas mehr von Möbelstücken verstand, als sie selbst.

Der Tischler hantierte an dem guten Stück herum, und Tante Lizzy zeterte lautstark herum. Sie befürchtete offenbar, dass der Tischler zu grob damit umging und eventuell die kostbaren und in ihrer Skurrilität wirklich einzigartigen Schnitzereien beschädigt würden.

"Mr. Groves! So seien Sie doch etwas vorsichtiger!"

"Ma'am, ich gehe seit Jahrzehnten mit Holz um und habe noch nie etwas kaputtgemacht!"

Tante Lizzy seufzte hörbar. "Ich habe ein schwaches Herz, Mr. Groves, und Sie müssen schon entschuldigen, aber es fällt mir sehr schwer, mitanzusehen, wie Sie mit diesem guten Stück umgehen..."

"Wie ein Fachmann, Ma'am!"

"Mr. Groves..."

"Das ist ein Stück Holz, Ma'am. Kein zerbrechliches Baby!" Ich wandte mich vom Türspalt ab und ging möglichst geräuschlos nach oben, wo meine Räume lagen. Ich zog mir die nassen Klamotten aus, duschte mich und stand dann schließlich vor meinem Kleiderschrank.

Mein Gott, was soll ich nur anziehen?, fragte ich mich. Mein Blick ging zur Uhr. Acht Uhr rückte unaufhaltsam näher. Und dann wollte Tom mich ja schließlich abholen. Ich seufzte, nahm eines der Kleider aus dem Schrank, hielt es mir kurz an und warf es dann auf das Bett. Ich wusste genau, dass keine zehn Minuten vergehen würden, bis sich dort ein ganzer Garderobenberg gebildet hatte...

Das Rote? Das Lindgrüne?

Ich hielt plötzlich inne.

Eine Erinnerung tauchte wie ein Schlaglicht in mir auf. Ich sah die bleiche Lady vor mir, wie sie im Regen stand und doch nicht nass wurde. Ein kalter Schauder überkam mich unwillkürlich, und ich wünschte mir in dieser Sekunde nichts so sehr, als mir nur darüber Sorgen machen zu müssen, ob ich für heute etwas Vernünftiges zum Anziehen finden würde... Mit unerbittlicher Gewalt drängten sich dann Bilder vor mein inneres Auge.

Bilder, für die meine Gabe verantwortlich war. Ich spürte es ganz deutlich.

Eine Vision!

Wieder sah ich die blassgesichtige Frau vor mir. Im Hintergrund ein düsteres Gemäuer. Ihr bleiches Gesicht spiegelte sich in einem dunklen Teich.

Die junge Frau schmiegte sich an die breite Brust eines dunkel gekleideten, aristokratisch wirkenden Mannes mit schmalem Oberlippenbart.

Ich sah die Augen dieses Mannes vor mir.

Sie waren grüngrau.

Ein Schrecken durchfuhr mich.

Nein!

Ich musste schlucken und zitterte.

Tom...

Es war nicht sein Gesicht, nur seine Augen und sein Blick. Ja, er war es. Ich fühlte es.

Dann war alles vorbei. Die Vision war verflogen wie ein böser Traum. Ich stand verwirrt da, fühlte mich ein wenig schwindelig. Und dabei fragte ich mich, was Tom mit dieser bleichen Lady zu tun hatte, die mich bis in meinen Schlaf verfolgte.

*


"GEHST DU NOCH WEG?", fragte mich Tante Lizzy, als ich endlich fertig war und die Treppe hinunterkam. Ich hatte ein lindgrünes, schlichtes Kleid an, dazu eine Perlenkette. Vielleicht war ich für den Besuch im Kino ein bisschen overdressed, aber ich hatte Lust darauf. In meinem Job ist es wichtig praktische Sachen zu tragen. Flache Schuhe und Jacken mit zahlreichen Taschen. Dazu Jeans.

Aber an diesem Abend wollte ich etwas stilvoller daherkommen.

Ich präsentierte mich Tante Lizzy und drehte mich einmal herum. "Na, sehe ich gut aus?"

"Deinem Tom Hamilton werden die Augen aus dem Kopf fallen", war Tante Lizzy überzeugt.

"Das will ich nicht hoffen, denn dann kann er mich ja gar nicht mehr bewundernd anschauen."

Wir mussten beide lachen.

Der Tischler war längst gegangen. Durch den Spalt in der Tür zur Bibliothek erhaschte ich einen Blick auf das Chaos, das dort herrschte.

Tante Lizzy zuckte mit den Schultern, als sie meinen Blick sah. "Da denkt man, dass so ein Mann sein Handwerk gelernt hat und dann..." Sie atmete tief durch und griff sich in die Herzgegend. "Für mich war das jedenfalls für heute genug der Aufregung."

"Das Geheimfach habt ihr nicht gefunden?"

"Nein. Langsam beginne ich an meinen Kenntnissen über Antiquitäten zu zweifeln!"

"Vielleicht hättest du diesen Mr. Groves einfach machen lassen sollen..."

"Bist du des Wahnsinns? Sieh dir die Bibliothek an! Bei einem seiner stümperhaften Versuche, das Geheimnis dieses raffinierten Möbelstücks zu entschlüsseln, ist er ziemlich unsanft gegen eines der Regale gekommen. Ein Buch fiel um. Santinis Magische Welten, glaube ich. Du weißt ja, was für ein dicker Klotz das ist. Naja, und dann ging es wie mit den berühmten Dominosteinen..."

Ich nickte.

Dann sah ich zur Uhr.

"Wenn ich zurückkomme, helfe ich dir aufräumen, Tante Lizzy!"

"Lass nur! Du weißt, dass ich eigentlich niemanden in meiner Ordnung herumpfuschen lasse. Ein Gutes hatte das ganze aber!"

"Ach ja?" Ich sah sie erstaunt an. In Tante Lizzys Augen blitzte es.

Sie bedeutete mir mit einer Handbewegung, ihr in die Bibliothek zu folgen. Einige runde Tischchen fanden sich dort, die einem immer nur leid tun konnten, wenn Tante Lizzy sie mit schweren, ledergebundenen Folianten befrachtete. Manche dieser Tischchen waren daher schon ziemlich aus dem Leim gegangen und es war nur eine Frage der Zeit, wann der erste unter ihnen schlicht und ergreifend zusammenbrach. Auf den ersten dieser Tische hatte Tante Lizzy ein dünnes Bändchen mit verblichener Umschlagzeichnung gelegt. Die Fadenheftung löste sich bereits in ihre Bestandteile auf und als Tante Lizzy es in die Hand nahm und aufschlug, erhob sich eine Wolke feinen, grauen Staubes in die Luft.

Ich musste niesen.

Millionen kleiner Milben produzierten diesen Staub und hatten sich in Tante Lizzys Archiv häuslich eingenistet. Aber ein echter Bücherfreund denkt besser nicht an diese Dinge...

"Hier", sagte sie und hielt das Bändchen empor. "Dies ist ist die sogenannte SCHULE DER UNSTERBLICHKEIT, eine Schrift des britisch-indischen Geistersehers und Okkultisten John Pranavindraman. Er wurde 1848 in Bombay geboren und reiste als junger Mann nach London. Während eine Reise auf den Kontinent soll er angeblich mit Hermann von Schlichten zusammengetroffen und später mit ihm korrespondiert haben. Allerdings ist dieser Briefwechsel nicht erhalten geblieben. Es spricht viel dafür, dass die Briefe bei demselben Hausbrand vernichtet wurden, der aller Wahrscheinlichkeit nach auch den zweiten, bislang verschollenen Band von Herman von Schlichtens Hauptwerk Absonderliche Kulte verschlang..." Tante Lizzy atmete tief durch und sah mich an. "Ich glaube, ich schweife etwas ab", gestand sie dann ein.

"Nun..."

"Du wirst jetzt sicher andere Gedanken im Kopf haben. Aber Pranavindramans SCHULE DER UNSTERBLICHKEIT könnte für Mr. Hamilton von Interesse sein... Der Autor beschreibt darin ähnliche Konzentrationstechniken, wie dein geliebter Tom sie im Tempel von Pa Tam Ran erlebte..."

Ich ergriff das Buch, blätterte in den halbzerfallenen Seiten.

Vor seiner Tätigkeit bei den LONDON EXPRESS NEWS war Tom bei einer großen Nachrichtenagentur angestellt gewesen. Unter anderem hatte es ihn auch in den Dschungel Südostasiens verschlagen, wo er im Dreiländereck von Thailand, Kambodscha und Laos zu einem geheimnisvollen Tempel gelangt war, dessen Mönche ihm mit Hilfe ihrer besonderen Konzentrationstechniken zu der Fähigkeit verholfen hatten, sich an frühere Leben zu erinnern.

Tom war dutzendfach wiedergeboren worden.

Seit seiner Kindheit litt er unter merkwürdigen Träumen. Erst die Mönche von Pa Tam Ran hatten ihn erkennen lassen, worum es sich dabei wirklich handelte. Um Erinnerungsbruchstücke aus früheren Leben.

"Ich gebe das Buch nicht gerne aus der Hand, aber Mr. Hamilton schätze ich als zuverlässig genug ein, mir den Band unbeschadet zurückzugeben", hörte ich Tante Lizzy sagen.

"Ich werde es ihm geben", sagte ich. "Aber erst morgen..." Tante Lizzy lächelte.

"Ich verstehe", murmelte sie.

*


UM PUNKT ACHT UHR HOLTE Tom Hamilton mich ab.

Der Regen hatte aufgehört, so als wollte er uns damit einen Gefallen tun.

Ich ließ mich von ihm zu seinem Wagen, einem Volvo führen. Bevor ich einstieg, schlang ich die Arme um seinen Hals und zog ihn an mich. Unsere Lippen verschmolzen zu einem leidenschaftlichen Kuss.

"Du siehst blendend aus", hauchte Tom mir ins Ohr. In einem Kino in der Nähe des Picadilly Circus sahen wir uns eine Komödie mit Leslie Nielsen an. Etwas, das die Lachmuskulatur gründlich traktierte und den Stress des Tages von einem abfallen ließ.

Am in Arm gingen wir dann später durch enge Nebenstraßen zum Wagen zurück. Nebel war von der Themse herausgekrochen und hatte sich durch die Straßen Londons gequält wie ein vielarmiges Kriechtier. Die Wolkendecke am Himmel hatte sich hingegen fast gänzlich aufgelöst. Hin und wieder zogen dunkle Schatten am Firmament entlang und verdeckten die Sterne. Der Mond stand hell und oval am Himmel. Wie das Auge eines übermächtigen Wesens, das uns beobachtete, gleichgültig wo auch immer wir waren.

Es war nicht kalt in dieser Nacht.

Nur feucht.

Als wir den Volvo erreichten, schreckte ich kurz zusammen, als ich an einer Ecke die Gestalt einer Frau im langen Kleid sah...

Ein bleiches Gesicht wurde für den Bruchteil einer Sekunde vom Mond beschienen.

"Tom!", rief ich und deutete in jene Richtung. Tom sah mich an und runzelte die Stirn.

"Patti, was ist los?"

"Da war jemand..."

Wir starrten gemeinsam in jene Richtung, in der ich die bleiche Lady gesehen hatte. Es war nichts zu sehen. Kein Mensch. Und schon gar keine Lady in einem langen, schweren Samtkleid...

"Vielleicht sehe ich schon Gespenster", murmelte ich.

"Kann das eine deiner Visionen gewesen sein?", fragte Tom.

Ich schüttelte den Kopf. "Nein, das glaube ich nicht. Die kann ich im allgemeinen eindeutig als solche erkennen... Aber ich hatte eine Vision... Einen Traum..."

Ich sah ihn an. Das Mondlicht spiegelte sich in seinen Augen.

"Willst du darüber sprechen, Patti?" Außer Tante Lizzy gab es niemanden, mit dem ich über meine Visionen sprechen konnte. Niemanden, dem ich mich so weit anzuvertrauen wagte.

"Wir wollen uns an diesem Abend amüsieren, Tom! Und nicht über schwerwiegende Probleme nachdenken. Die sind morgen früh auch noch da..."

Er strich mir über das Haar.

Sein Lächeln verzauberte mich jedesmal aufs Neue. Auf der linken Wange bildete sich dabei ein kleines Grübchen, das ihm einen schelmischen Gesichtsausdruck verlieh.

"Erzähl mir ruhig, was dir im Kopf herumspukt und dich so beschäftigt. Das spüre ich doch ganz genau. Schon den ganzen Abend..."

"Ich habe mir Mühe gegeben, es zu vergessen!"

"Was für dich wichtig ist, hat auch für mich eine Bedeutung, Patti..."

Ich nestelte am Revers seiner Jacke herum und erklärte dann: "Ich habe eine Frau gesehen. Sie trug ein aufwendiges Samtkleid und wirkte wie... wie eine Lady. Sie war jung, das Gesicht war hübsch und ebenmäßig wie bei einer Statue. Aber sie war bleich wie eine Tote... Ich sah sie mit dem Strick des Henkers um ihren Hals... Und ich traf sie vor dem Verlagsgebäude der NEWS. Sie stand im Regen und schien nicht nass zu werden, starrte mich nur an."

"Hast du mit ihr gesprochen?"

"Nein. Ich wollte es tun, aber sie war schon nicht mehr da, als ich..." Ich brach ab. Ich schwieg von der zweiten Vision, in der ich die bleiche Lady zusammen mit einem Mann gesehen hatte, dessen Augen mich an Tom erinnerten.

Ich schluckte unwillkürlich.

Toms grüngraue Augen musterten mich nachdenklich. Immer, wenn ich in diese Augen sah, hatte ich das Gefühl, in einen tiefen See voller Geheimnisse zu blicken. Augen, die so vieles gesehen hatten.

Ein kalter Schauder erfasste mich.

Ich war mir jetzt absolut sicher, dass es seine Augen gewesen waren, die jenem Fremden in meiner Vision gehört hatten. Daran gab es keinerlei Zweifel. Und mir war auch klar, dass das etwas zu bedeuten hatte. Etwas, das mit meinem oder seinem Schicksal in unmittelbarer Verbindung stand.

"Komm", sagte ich. "Wir wollten noch essen..." Tom sah mich noch einen Augenblick lang fragend an. Dann nickte er.

"Aber nicht italienisch", sagte er. "So war es doch, oder?"

"Ja."

"Dann lass dich mal überraschen!"

*


WIR FUHREN IN DIE AUßENBEZIRKE Londons, hinaus aus dem eigentlichen City Bereich und hinein in das, was man gemeinhin als Greater London bezeichnete. Nach und nach hatte die Riesenstadt das Umland quasi aufgefressen und immer weitere Gemeinden in sich aufgenommen. Es wurde sehr dunkel. Wir kamen durch enge Straßen, die mit Kopfsteinpflaster bedeckt waren, und ich hatte das Gefühl, als ob in diesem Teil Londons der Strom ausgefallen wäre...

Ich hatte einige Zeit träumend auf dem Beifahrersitz gesessen und nicht so auf den Weg geachtet. Jetzt sah ich um so interessierter heraus.

"Sag mal, wohin entführst du mich denn heute Abend?"

"Komisch, bei Tag war das viel leichter zu finden..."

"Soll das heißen, dass du dich verfahren hast?"

"Aber, Patti!"

"Es war ja nur eine Frage..."

"Ich bin mir sicher, richtig abgebogen zu sein, aber..." Er sprach nicht weiter.

"Was ist los?", fragte ich.

"Nichts... Vielleicht suchst du doch mal den Stadtplan aus dem Handschuhfach. Meine Güte, ich hätte nie gedacht, dass ich den so bald wieder brauche! Schließlich lebe ich doch schon eine ganze Weile hier!"

"Und ich bin hier aufgewachsen", gab ich zu bedenken.

"Trotzdem verfahre ich mich noch mindestens einmal pro Woche!"

"Du Ärmste!"

"Du meinst, wenn man sich im Regenwald Südostasiens zurechtfindet, kann einem das nicht passieren, ja?" Wir lachten beide. Aber es war kein fröhliches, befreites Lachen. Es wirkte seltsam gequält. Irgend etwas stimmte nicht, auch wenn noch keiner von uns es offen auszusprechen wagte. Ich spürte ein unangenehmes Kribbeln in der Magengegend. Eine leichte Gänsehaut legte sich über meine Unterarme.

Irgend etwas geht in diesem Augenblick vor sich!

Ich spürte es ganz deutlich.

Tom fuhr die Straße entlang, die immer schlechter und schmaler wurde. Das Kopfsteinpflaster war teilweise lückenhaft. Und an den Rändern brach es schroff ab. Diese Straße sah nicht gerade so aus, als wäre sie von einem Meister seines Fachs geschaffen worden...

Die Häuser wirkten seltsam grau und in den Mauern zeigten sich im Licht der Scheinwerfer Risse, in die sich Moos gesetzt hatte. Die Häuser waren alt. Selten handelte es sich um mehrgeschossige Bauten.

Nirgends gab es noch eine Beleuchtung.

Wir ließen die Häuser hinter uns.

Zu beiden Seiten der schmalen Straße war nichts als Finsternis. Der Mond war hinter einer dunklen Wolke verschwunden.

Ich blickte mich um. Das Lichtermeer der nahen City... Wo war es geblieben?

Ein beklemmendes Gefühl machte sich in mir breit. Aber so sehr ich auch in die Schwärze dieser unheimlichen Nacht blickte - ich konnte nicht ein einziges Licht erkennen. Keine Autobahn, auf der sich die Lichtpunkte wie Perlen an einer Schnur aufreihten. Nicht die regelmäßigen Muster aus sternähnlichen Gebilden, bei denen es sich um die Fenster großer Wolkenkratzer und Bürotürme handelte. Nicht das pulsierende Flackern von Neonreklame, die rund um die Uhr in Betrieb war.

"Mein Gott, wo sind wir hier?", fragte ich.

"Bei der nächsten Tankstelle werde ich mal nachfragen", erklärte Tom.

Aber es kam keine Tankstelle mehr.

Es kam zunächst einmal überhaupt nichts. Kein Gebäude, kein Straßenschild, kein anderes Fahrzeug. Der Pferdemist auf dem Pflaster verwunderte mich zwar etwas, war aber noch kein Zeichen, das Besorgnis in mir auslöste.

Erst später sollte ich begreifen.

Wir fuhren in eine große schwarze Wand aus purer Dunkelheit hinein. Nebel kroch die Straßenböschung empor und waberte über das unebene Pflaster.

"Tom, lass uns umdrehen!", forderte ich. Angst stieg langsam in mir auf. Das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte, verstärkte sich. Ich fragte mich, was es war, fand aber keine Erklärung. Verwirrung herrschte in mir. Vor meinem innere Auge sah ich das Antlitz der bleichen Lady.

Es lächelte.

Und in ihren stahlblauen Augen blitzte es auf eine Weise, die mir nicht gefiel.

Dieses Traumbild stand nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde vor meinem inneren Auge und doch erschreckte es mich bis tief ins Mark.

"Sofort anhalten, Tom!"

"Aber, Patti!"

"Tom!"

"Ich verspreche dir, dass ich drehe, sobald ich die Gelegenheit dazu habe. Irgendwann muss ja mal eine Abzweigung oder so etwas kommen."

Aber auch die kam nicht.

"Tut mir leid, Patti, aber ich glaube, wir sind hier wirklich nicht richtig...", gestand Tom dann ein. "Seltsam... Wir sind hier doch immer noch in London, aber man sieht buchstäblich... nichts!"

Der einzige Trost war mir in diesem Moment, dass ich nicht die einzige war, die das merkwürdig fand.

*


TOM STELLTE DEN WAGEN am Straßenrand ab. Wir stiegen aus und sahen uns etwas um. Tom leuchtete mit einer Taschenlampe, die er aus dem Handschuhfach geholt hatte in der Umgebung herum. Aber viel war auch so nicht zu erkennen. Der Strahl schien von der allgegenwärtigen Finsternis verschluckt zu werden.

Wir lauschten in die Nacht hinein.

Wir hörten nichts, als den Ruf einer Eule. Ansonsten herrschte eine geradezu gespenstische Stille. Nichts vom Lärm der Großstadt schien bis hier her dringen zu können. Wir vernahmen nicht einmal das unablässige Rauschen, das von den Stadtautobahnen ausging, die London wie ein Geflecht aus dicken Adern durchzogen.

"Hast du eine Ahnung, wo wir hier sein könnten?", fragte ich.

"Tut mir leid, Patti!"

"Das geht hier nicht mit rechten Dingen zu, Tom..."

"Was willst du damit sagen?"

"Ich weiß nicht..."

Ich legte den Stadtplan auf die Kühlerhaube des Volvos. Tom leuchtete mit dem Strahl seiner Lampe darauf herum. Aber auch das Kartenstudium machte uns nicht klüger. "Eigentlich müssten wir genau hier sein!", stellte Tom fest und deutete mit der Kuppe seines rechten Zeigefingers auf eine ganz bestimmte Stelle.

"Dem Plan nach ist das ein dicht besiedeltes Gebiet...", gab ich zu bedenken.

"Ich weiß." Tom zuckte die Schultern. "Nur ist hier leider nichts davon zu sehen..."

Eine Bewegung ließ mich den Blick heben.

"Da!", rief ich.

In der Dunkelheit glaubte ich, eine Gestalt erkennen zu können. Ein schwarzer Schemen hob sich düster gegen die Nacht ab und bewegte sich. Ich nahm Tom die Lampe aus der Hand. Der Lichtkegel kreiste im nächsten Moment in der Umgebung herum und dann...

Für den Bruchteil eines Augenblicks sah ich sie. Ihr bleiches Gesicht.

Das Glitzern ihrer Augen...

Ich zögerte nicht eine Sekunde, sondern rannte los. Erst die Böschung hinunter, dann über den tiefen weichen Boden, der hier vorherrschte. Es musste sich um einen umgepflügten Acker oder etwas ähnliches handeln. Mein Schuhwerk war nicht gerade passend für diese Gelegenheit, aber ich achtete nicht darauf.

Ich wollte jetzt endlich Klarheit.

Endlich wissen, was hier gespielt wurde.

"Patti!", rief Tom hinter mir hier. Ich hörte seine Schritte in meinem Rücken. Die Tatsache, dass er in meiner Nähe war, gab mir Sicherheit.

Ich lief weiter in jene Richtung, in der ich die bleiche Lady zu sehen glaubte. Noch war da ihre dunkle Gestalt. Ein schwarzer Umriss. Nebelschwaden krochen mir entgegen. Sie hüllten auch die Gestalt bis etwa in Höhe der Kniekehlen ein. Ich leuchtete noch einmal mit der Taschenlampe.

Aber die Lampe begann plötzlich zu flackern.

Das Licht wurde gelblich.

Dann erlosch sie.

Und gleichzeitig spürte ich die Anwesenheit einer geistigen Kraft als dumpfen Druck hinter meinen Schläfen. Tom hatte mich indessen eingeholt.

"Was ist mit der Lampe?"

"Keine Ahnung... Die Batterien!"

"Die waren neu", gab Tom zu bedenken. Er nahm mir die Lampe ab und versuchte, sie wieder zum Leuchten zu bringen. Vergeblich.

In diesem Augenblick schimmerte der Mond matt durch die graue Wolkendecke.

Ein kühler Wind blies über die Ebene, die vor uns lag. Eisig blies es uns entgegen. Ich hatte das Gefühl, als würde binnen wenige Augenblicke die Temperatur um mindestens zehn Grad fallen...

Ein unbarmherziger Eishauch, der uns beide erfasste. Ich fror bis in das tiefste Innere meiner Seele. Toms Arm spürte ich um meine Schultern. Aber selbst seine Nähe schien gegen diese unmenschliche Kälte nichts ausrichten zu können.

Wir gingen auf die Gestalt zu.

Ich griff nach Toms Hand. Sie fühlte sich so kalt an, dass es mich erschreckte.

Wo waren wir nur hingeraten?

Mein Atem ging schneller. Er kondensierte als graue Wolke vor meinem Mund...

Ein grauenhafter Ort...

Der Schrei einer Krähe durchschnitt die unheimliche Stille. Die Gestalt bewegte sich nicht.

Wie ein Schatten stand sie da. Unbeweglich.

"Wer bist du?", fragte ich laut. Der Klang meiner Stimme kam mir verloren und schwach vor. In meinem Hals kratzte es. So sehr ich mich auch bemühte. Ich konnte vom Gesicht der Gestalt nichts erkennen. Sie hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen, so dass sich ein geradezu undurchdringlicher Schatten bildete.

Ihr Gewand ging bis zum Boden.

Wir traten auf sie zu.

Sie zeigte keinerlei Reaktion.

Angst kroch mir wie eine kalte, glitschige Hand den Rücken hinauf und hielt mich fest in ihrem unerbittlichen Griff. Aber die Neugier war stärker. Ich wusste, dass diese Frau für mein Schicksal wichtig sein würde...

Dann zuckten wir beide zusammen.

Aus dem dunklen Schatten, den wir anstelle ihres Gesichts sahen, kam etwas Dunkles hervor.

Ein krächzender Laut ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, während mich das nervöse Schlagen schwarzer Schwingen reflexartig den Arm heben ließ, um mich zu schützen.

Ein großer, krähenartiger Vogel schnellte auf uns zu. Tom riss mich nieder. Wir duckten uns, und das Tier stob über uns hinweg. Wir sahen der Krähe nach. Sie verschwand in der Nacht. Ihr krächzender Schrei war noch ein paar Mal zu hören. Dann verlor er sich in der Stille dieses unheimlichen Ortes. Tom trat an die Gestalt heran.

Er legte die Kapuze zurück.

Es war kein Gesicht, was sich uns im fahlen Licht des matt durch die Wolken hindurch glänzenden Mondes darbot. Nur Stroh...

"Eine Vogelscheuche", stellte Tom etwas irritiert fest.

"Das kann nicht sein!", stieß ich hervor. "Ich habe doch gesehen, wie..." Ich brach ab. Welchen Sinn hatte es, an dem zu zweifeln, was unwiderlegbar war. Das Stroh dieser Puppe lag zum Greifen vor uns. Ich berührte es mit der Hand, um die letzten Zweifel zu verscheuchen.

"Ich habe sie gesehen", sagte ich noch einmal.

"War es diese bleiche Frau, von der du erzählt hast?"

"Ja."

"Bist du dir sicher?"

"Ja. Hast du sie denn nicht gesehen?" Tom sah mich ernst an. Seine Hände nahmen meine Schultern. Ich zitterte vor Kälte.

"Ich habe jemanden gesehen. Oder glaubte es zumindest..."

"Woher kommt diese Kälte... Das ist ja furchtbar..."

"Komm, lass uns zum Wagen zurückgehen", meinte Tom.

"Ja."

"Hattest du das Licht an deinem Volvo angestellt?"

"Ja, warum?"

"Müsste man die Scheinwerfer nicht bis hierher leuchten sehen?"

"Ja, natürlich..."

Tom kniff die Augen zusammen.

Mein Puls beschleunigte sich.

Der Wagen hob sich nur noch als ein dunkler Schatten gegen die Nacht ab. Bodennebel kroch die Böschung hinauf und umgab ihn wie Spinnweben.

Ich schmiegte mich an Tom, und gemeinsam gingen wir zurück in Richtung Straße. Etwas helles rieselte derweil vom Himmel herab. Wir hielten an. Ich hielt die Hand hoch und fing es mit ungläubigem Gesicht mit der Handfläche auf. Es fühlte sich kalt und glitschig an.

"Schneeflocken", flüsterte ich.

Auch Tom stellte das überrascht fest.

Er schüttelte verwundert den Kopf.

"Vor ein paar Minuten hatten wir doch noch Sommer..."

"Jedenfalls sind wir dafür angezogen!" Wir sahen uns an. Keiner von uns hatte eine vernünftige Erklärung für das, was hier vor sich ging. Aber für uns beide stand fest, dass es etwas Außergewöhnliches war. Etwas, das vielleicht mit dem zu tun hatte, was man das Übersinnliche nannte...

"Für einen Moment konnte ich die Anwesenheit einer großen geistigen Energie spüren", sagte ich. "Ich weiß nicht, wo wir hier sind, Tom, aber ich fühle, dass wir uns in großer Gefahr befinden..."

"Abwarten, Patti!", versuchte Tom mich zu beruhigen. Aber ich kannte ihn gut genug, um zu merken, dass auch bei ihm unter der ruhigen Fassade bohrende Fragen an ihm nagten. Wir erreichten die Straße.

Der Wagen lag noch immer als düsterer Schatten vor uns. Seltsam!, dachte ich. Die Form...

Irgend etwas störte mich.

Fiebrige Unruhe erfasste mich.

Der dicke grauweiße Nebel reichte uns bis zu den Knien. Wir traten näher. Und dann sahen wir es beide. Dies war nicht Toms Volvo.

Dies war ein Pferdefuhrwerk mit einem defekten Rad, das am Straßenrand abgestellt worden war.

"Das ist unmöglich!", rief Tom. "Das ist völlig unmöglich!" Zum ersten Mal hörte ich so etwas wie die Ahnung von Verzweiflung im dunklen Timbre seiner Stimme mitschwingen. Ich hatte nicht einmal mein Handy dabei, um Tante Lizzy anrufen zu können. Der Apparat befand sich in meiner Handtasche und die hatte ich in dem Volvo gelassen, der jetzt auf so geheimnisvolle Weise verschwunden zu sein schien.

*


IN IMMER DICKEREN FLOCKEN begann Schnee vom Himmel zu rieseln. Und es war eisig kalt. Unser Atem gefror zu weißgrauen Wolken, und wir klammerten uns aneinander, um wenigstens unsere gegenseitige Wärme zu spüren. Der Wagen war weg.

Ganz gleich, wie absurd uns das erscheinen mochte. Es war eine Tatsache, an der kein Zweifel erlaubt war. Etwas, womit wir uns abzufinden hatten.

Es schien genauso gegen alle Logik und jedes Naturgesetz, wie der eigenartige Wechsel der Jahreszeiten, der innerhalb von Augenblicken geschehen war.

Frostige Gedanken schlichen sich bis in den letzten Winkel der Seele, erfassten mich völlig. Ich dachte an die Spekulationen über den nuklearen Winter, der Berechnungen zufolge eintrat, wenn Dutzende von Atombomben tonnenweise Staub in die Atmosphäre wirbelten und auf diese Weise das Sonnenlicht abgefiltert wurde.

Prozesse, wie man sie auch für den Fall eines Meteoriteneinschlags oder eines gigantischen Vulkanausbruchs vermutete.

Aber das eine solche Katastrophe sich in einem derartigen Tempo vollzog erschien mir unwahrscheinlich.

Andererseits... Wo waren all die menschlichen Ansiedlungen geblieben? Wo die Millionenstadt London geblieben?

Die Kälte ließ meine Gedanken zu Eis erstarren. Ich glaubte eher an die Wirkung von übersinnlichen Kräften, als an all die anderen Katastrophenszenarien.

"Tom, was machen wir jetzt?"

"Dort hinten ist ein Licht", sagte er. Ich bewunderte ihn dafür, in dieser Lage noch immer Ruhe bewahren zu können. Das einzige, was mich von der Hysterie abhielt war die furchtbare Kälte, die wie ein lähmendes Gift wirkte.

Ich folgte Toms ausgestreckter Hand. Sein anderer Arm umfasste meine Schulter, die dadurch die einzige warme Region meines Körpers zu sein schien. Ich zitterte und versuchte zu verhindern, dass die Zähne allzu sehr aufeinander klapperten. Die Kälte, die uns in diesem Augenblick peinigte, schien alles zu durchdringen.

Ich blinzelte und versuchte zu erkennen, worum es sich bei dem fernen Licht handelte, das Tom mir gezeigt hatte.

"Das war doch gerade noch nicht da", stellte ich fest. Ich war mir sicher.

"Was weiß ich", meinte Tom. "Jetzt ist es da. Ich glaube, es ist..." Er zögerte. Dann setzte er plötzlich hinzu: "Ein Haus!"

"Wir sollten dort nicht hingehen, Tom!" Ich weiß nicht, weshalb ich das plötzlich sagte. Aber da war auf einmal ein sehr starkes Gefühl in mir. Eine Ahnung, vielleicht. Ich war mir nicht sicher. Jedenfalls glaubte ich die Gefahr beinahe körperlich spüren zu können, die von jenem Haus - oder was auch immer es auch sonst sein mochte - ausging.

"Komm schon, Patti! Wir erfrieren hier! Eine Lungenentzündung ist das mindeste..."

Er hatte recht. Ich wusste es. Und es gab nicht ein einziges Argument, dass ich seinen Worten entgegenzusetzen hatte. Und doch blieb da dieses Unbehagen, das sich von meinem Magen aus verbreitete. Tom nahm mich bei der Hand.

Sie war eiskalt, so wie die meine.

Sei keine Närrin!, sagte ich mir insgeheim.

"Tom", flüsterte ich.

Ich sah ihn an.

Das Mondlicht spiegelte sich in seinen grüngrauen Augen, die mich auf ihre eigentümliche Weise ansahen.

Sein Lächeln war verhalten.

Nase und Ohren waren bereits rot gefroren.

"Was ist Patti?"

"Ich habe Angst."

Er wirkte nachdenklich, antwortete aber nicht.

*


WIR GINGEN SCHWEIGEND dem Licht entgegen, das größer wurde und sich in mehrere Lichtpunkt aufteilte. Es handelte sich tatsächlich um ein Haus, wie wir bald feststellten. Die Fenster waren erleuchtet.

Es war ein verwinkeltes Gebäude, das mich unwillkürlich an ein Schloss erinnerte. Erst, als wir uns noch weiter genähert hatten, wurde erkennbar, wie groß es war. Turmartige Erker reckten sich spitz in den Nachthimmel. Das Gemäuer war grau und rissig. Moos schimmerte graugrün im Licht des Mondes. Es wucherte die Wände empor und hatte sich in den Rissen eingenistet.

Vor dem düsteren Schloss befand sich ein Teich mit dunklem, spiegelglatten Wasser. Das Schloss spiegelte sich darin. Schnee rieselte hinein. Die Flocken schwammen auf der Oberfläche.

Tom blieb plötzlich stehen.

Er schien nicht mehr auf die Kälte zu achten. Ich sah sein Gesicht, sah, wie sich plötzlich Anspannung und Verwirrung darin zeigten.

"Was ist los, Tom?"

"Dieser Ort..."

"Was ist damit?"

Er sah mich sehr ernst an.

"Ich habe das Gefühl, schon einmal hiergewesen zu sein. Vor langer Zeit..."

"In einem anderen Leben?"

"Ja, ich denke schon. Aber..." Er schüttelte den Kopf.

"Vielleicht täusche ich mich, aber dieses Gebäude sieht aus wie Delancie Castle..."

Die Art und Weise, wie er diesen Namen aussprach gefiel mir nicht.

"Warum soll das nicht möglich sein?", fragte ich und presste die blaugefrorenen Lippen aufeinander.

"Weil es Delancie Castle nicht mehr gibt. Es fiel einer Bombardierung im zweiten Weltkrieg zum Opfer und wurde danach nicht wieder aufgebaut..."

Wir umrundeten den Teich.

An was für einen bizarren Ort waren wir nur gelangt? Ein Ort, über dem die Aura unvorstellbaren Alters wie Glocke aus grauem Dunst hing.

Wir schritten die breiten Steinstufen des Portals empor. Der Treppenaufgang wirkte hochherrschaftlich. Die steinernen Handläufe endeten in grimmig dreinschauenden Löwenköpfen. An der zweiflügeligen dunklen Holztür prangte ebenfalls ein Löwe, der allerdings vergoldet war. Ein schwerer Metallring hing ihm in der Nase. Mit ihm konnte man gegen das Holz klopfen.

Tom griff nach dem Ring.

Die Schläge hallten dumpf im Inneren des Schlosses wieder. Es dauerte einen Augenblick, bis endlich Schritte zu hören waren.

Schleppende Schritte, so als ob jemand ein Bein etwas nachzog.

Die Tür wurde geöffnet.

Sie war nicht verriegelt.

Ein großgewachsener Butler mit hagerem Gesicht und bewegungsloser, starrer Miene trat uns entgegen. Sein Gesichtsausdruck war regungslos. Seine Haut wirkte pergamentartig und bleich. Das Haar leichengrau. Er zog eine seiner dünnen, kaum sichtbaren Augenbrauen in die Höhe.

Der Blick seiner wässrig-blauen Augen war gleichermaßen durchdringend und prüfend.

Ein Blick, so kalt wie das Wetter in dieser unheimlichen Nacht.

"Guten Abend, Sir", sagte der Butler mit heiserer Stimme.

"Sie werden bereits erwartet.."

"Erwartet?", echote Tom.

"Willkommen auf Delancie Castle", sagte der Butler. Seine Stimme schien dabei wie Eis zu klirren. Tom rieb die Hände gegeneinander. "Es ist ziemlich kalt draußen..."

"Ja, der Winter wird sicher hart."

"Winter?", echote ich.

"Folgen Sie mir bitte in den Salon. Wie mögen Sie den Tee?"

Sowohl Tom, als auch ich waren im ersten Moment viel zu verwirrt, um darauf eine Antwort geben zu können.

"Wir sind jedenfalls froh, nicht mehr da draußen zu sein", meinte ich.

"Ja, das verstehe ich gut", erwiderte der Butler düster.

"Eine schauderhafte Nacht..."

Wir folgten dem Butler durch die große, hohe Empfangshalle. Dann ging es einen breiten Treppenaufgang hinauf. Die Wände waren mit Portraits behängt. Großformatige Bilder, die in verschiedenen Techniken und Stilen angefertigt worden waren. Bleiche, traurig aussehende Gesichter blickten uns von diesen Gemälden an.

"Die Ahnengalerie der Delancies", murmelte Tom. "Mein Gott, es ist wirklich wahr... Ich bin wieder hier..."

"Erklär es mir, Tom!"

"Nein, nicht jetzt, Patti. Später..." Die Parkettbohlen knarrte unter unseren Schritten, so als würde dieses Gebäude förmlich aufstöhnen.

Der Butler führte uns in einen hell erleuchteten Salon. Es gab kein elektrisches Licht, nur Kerzen, Kronleuchter und ähnliches. Mir fiel das erst auf den zweiten Blick auf. Eine Gesellschaft gut gekleideter Damen und Herren starrte uns an.

Die Herren trugen Anzüge mit langen Schößen, wie man sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts getragen hatte. Die Kragen waren hochgestellt und als Krawatten dienten breite Schleifen. Manche dieser Gentlemen trugen die Koteletten bis zur Kinnbeuge.

Die Damen trugen lange Kleider, die beinahe den Boden berührten. Die Haare waren zu kunstvollen Frisuren aufgesteckt. Juwelen glänzten an ihren Hälsen und den zierlichen Händen, mit denen sie ihre langstieligen Gläser hielten.

Schwarzgekleidete Diener liefen mit übervollen Tabletts herum und sorgten dafür, dass jedermann zu trinken bekam. Der Geruch von Zigarrenqualm erfüllte den Raum.

Und dann sah ich sie.

Jene Frau, die mir im Traum begegnet war. Und vor dem Verlagsgebäude der LONDON EXPRESS NEWS. Dieses geheimnisvolle, blasse Phantom, dessen Haar der Regen nicht zu benetzen vermocht hatte.

Das blonde Haar fiel ihr bis zu den Schultern herab. Ein mattes Lächeln erschien auf ihrem farblosen, aber wie aus Elfenbein gearbeiteten Gesicht. Es war eine kalte Schönheit, die sie ausstrahlte. Und die Art und Weise, wie sie lächelte, konnte einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Ich konnte die mentale Energie spüren, die an diesem Ort vorhanden war.

Eine sehr starke, sehr geballte übersinnliche Kraft mit einer Intensität, wie ich sie selten zuvor erlebt hatte. Sie ging auf uns zu und ihre Augen hingen wie hypnotisiert an Tom.

Nichts anderes schien die junge Frau wahrzunehmen. Das langstielige Sektglas, das sie zuvor mit abgespreiztem kleinen Finger in der Rechten gehalten hatte, stellte sie so ungeschickt auf eines der Tabletts, dass der betreffende Diener alle Mühe damit hatte zu verhindern, dass es zu Boden fiel.

Sie erreichte uns.

Von mir nahm diese bleiche Lady zunächst nicht die geringste Notiz.

Ein verklärtes Lächeln erschien auf ihrem hübschen Gesicht, während ihr Blick in den grüngrauen Augen von Tom Hamilton zu versinken schien. Auf eine Weise, die mir einen Stich ins Herz versetzte. Mit wachsendem Unbehagen beobachtete ich, was weiter geschah.

"Ich habe lange auf dich gewartet, Tom", flüsterte sie voller Inbrunst. "Aber ich habe nie den Glauben verloren. Den Glauben an unsere Liebe, Tom..."

"Lady Mary Delancie!", entfuhr es Tom. Offenbar kannte er diese Frau tatsächlich!

So wie ihm auch dieses unheimliche Schloss wohlbekannt zu sein schien. Schatten, die ihn aus einem anderen Leben verfolgten. Einem Leben, von dem ich nichts wusste...

"Warum so kühl, Tom? Oder bevorzugt Ihr jetzt die förmliche Anrede, Sir William Thomas Millroy?" Sie trat näher an ihn heran, so nahe, dass es mir nicht gefiel.

Ihre Hand hob sich, berührte das Revers seiner Jacke. Mit einer fast zärtlichen Bewegung strich sie ihm eine Schneeflocke weg.

"Ihr nanntet mich Mary", flüsterte sie. "Ich werde nie vergessen, mit welcher Inbrunst ihr mir diesen Namen ins Ohr gehaucht habt... Mein Gott, es ist fast nicht zu glauben! Ihr seid wirklich hier. Endlich - nachdem ich mich so lange nach Euch gesehnt habe..."

Sie näherte sich ihm noch weiter. Aber Tom fasste zart ihre Schultern und schob sie ein Stück von sich weg.

"Ich bin nicht mehr Sir William Thomas Millroy", sagte er sehr ernst.

"Natürlich seid Ihr es! Eure Seele mag einen anderen Körper gefunden haben, aber Ihr seid noch immer derselbe! Über den Abgrund von Zeit und Raum hinweg, habe ich Euch gerufen! Und Ihr habt hier hergefunden! Wenn das nicht eine schicksalhafte Fügung ist, dann weiß ich nicht, für welches Ereignis man diesen Begriff sonst gerechtfertigterweise verwenden könnte! Tom!" Sie sah ihn geradezu beschwörend an. Sehnsucht, Angst, Verzweiflung und - ja, auch Liebe spiegelten sich in ihren Augen. "Ihr gehört zu mir! Zu niemand anderem. Ich habe auf Euch gewartet... Eine Ewigkeit lang. Aber jetzt wird wieder Freude und Liebe auf Delancie Castle einkehren. Dieses Haus wird wieder aufblühen - durch Eure Gegenwart..."

Tom wandte den Kopf in meine Richtung.

Ich hatte das alles mit wachsendem Unbehagen mitangesehen. Die Art und Weise, wie Lady Mary von Toms Anwesenheit auf diesem Schloss sprach, ließ mich innerlich frösteln. Es hatte etwas Endgültiges.

Tom trat auf mich zu.

Er nahm mich bei der Hand. Dann drehte er sich in Richtung von Lady Mary.

"Darf ich Ihnen Miss Patricia Vanhelsing vorstellen?", meinte er dann.

Lady Marys bleiches Gesicht musterte mich mit kalter, unter der Oberfläche verborgener Leidenschaft. In Ihren Augen flackerte kurz etwas auf. Etwa, das ich nur als Hass identifizieren konnte.

Ich reichte ihr die Hand.

Sie zögerte.

Dann gab sie mir die ihre.

Sie fühlte sich eiskalt an. Wie die Hand einer Toten. Ein prickelndes Gefühl durchlief meinen Arm. Der kalte Schauer einer unheimlichen Kraft, die von dieser Frau auszugehen schien. Mir schauderte unwillkürlich. Sie war ohne Zweifel der Ursprung jener geistigen Energie, die ich zuvor gespürt hatte.

Sie musste übersinnliche Kräfte besitzen.

"Wir haben uns bereits einmal gesehen, nicht wahr?", sagte ich.

Sie starrte mich an.

Lady Mary antwortete nicht.

"Erinnern Sie sich nicht? Vor dem Gebäude der LONDON EXPRESS NEWS in der Lupus Street, London... Es regnete. Sie starrten mich an..."

Lady Marys Gesicht versteinerte.

"Schon möglich", sagte sie dann kühl. "Aber ich erinnere mich nicht. Darf ich fragen, wer Sie sind und welche Rolle Sie in Toms Leben spielen?"

"Ich bin Journalistin bei den LONDON EXPRESS NEWS."

"Eine Frau als Journalistin? Sehr unwahrscheinlich." Ihr Lächeln bekam eine grausame Note. "Ich schlage vor, dass Sie versuchen, etwas intelligenter zu lügen, Miss Vanhelsing."

"Es ist die Wahrheit."

"Nun, wie auch immer. Ich lese schon seit Jahren keine Zeitungen mehr. Seit der Zeit, als..."

"Als was?", fragte ich.

"Seit die Zeitungen nicht sehr günstig über mich zu berichten begannen und nicht nur meinen Namen, sondern auch den meiner Familie hemmungslos in den Schmutz zogen." Ein kurzer Blick glitt zwischen mir und Tom hin und her. Dann setzte Lady Mary hinzu: "Aber Ihr Berufsstand ist nicht der einzige Grund, weshalb Sie nicht mit meiner Sympathie rechnen können, Miss Vanhelsing..."

"Lassen Sie uns telefonieren, dann sind Sie uns schnell los!", sagte ich. Obwohl ich ahnte, dass das unmöglich war. Aber es war ein letzter, verzweifelter Versuch.

"Telefonieren? Ich weiß nicht, was das sein könnte, Miss Vanhelsing. Aber eins steht fest: Sie können in dieser Winternacht nicht hinausgehen. Nicht so unzureichend - um nicht zu sagen, unzüchtig - angezogen, wie Sie jetzt sind. Nein, Sie beide werden meine Gäste sein...Es ist alles vorbereitet..."

Wie sie das letzte Wort aussprach, gefiel mir nicht. Vorbereitet.

Sie legte eine besondere Betonung hinein.

Ehe ich etwas erwidern oder fragen konnte, brandete plötzlich Applaus im Salon auf.

Ich hatte das Gefühl, Teil einer schlechten Inszenierung zu sein.

"Was wird hier gespielt, Tom?", fragte ich verzweifelt in das Klatschen der anwesenden Herrschaften hinein, die plötzlich ihre Blickrichtung änderten. Ein junger, hochgewachsener Mann mit gelocktem Haar und einem dunklen Oberlippenbart betrat den Raum. Er trug einen Frack. An seiner Kleidung schien alles bis auf den Millimeter genau ausgerichtet zu sein. Das Stecktuch, die Brosche, die Schleife... Er wirkte etwas steif in seinem Auftreten. Sein Gesicht war von derselben, eigentümlichen Blässe wie das aller anderen im Raum.

Er hob leicht die Hand, um die Ovationen entgegenzunehmen. Lady Mary hakte sich bei Tom unter.

"Das ist Dostan Radvanyi, den der Kritiker der Times für den größten lebenden Pianisten hält. Selbst Chopin soll sich lobend über ihn geäußert haben... Lauschen wir seinem virtuosen Spiel..."

Dostan Radvanyi verbeugte sich, schritt zum Flügel, setzte sich und begann dann in die Tasten zu greifen.

Dissonante, unheimliche Harmonien, die einen an die Dunkelheit in der Tiefe der Meere oder den finsteren Schlund einer unergründlichen Höhle denken ließen, drangen an mein Ohr.

Ich beobachtete die Gesichter der anderen Anwesenden. Sie wirkten angestrengt und sehr konzentriert. Lady Marys Blick wurde etwas verklärt. Sie wandte den Kopf und sah zu Tom herüber.

Wo sind wir hier?, ging es mir schaudernd durch den Kopf. Auf Delancie Castle. Aber was bedeutet das schon? Der Name eines grauen Gemäuers, mehr nicht...

Ich fühlte mich, wie in einem schrecklichen Alptraum gefangen.

Aber gleichzeitig herrschte die Gewissheit in mir, dass ich aus dieser Alptraumwelt nicht durch ein einfaches Erwachen entkommen konnte.

*


LADY MARY SAH TOM AN.

"Es ist spät geworden, aber ich bin überzeugt davon, dass wir noch viel Zeit haben werden." Sie seufzte. "Ich weiß, du wirst etwas verwirrt sein und es wird dir gewiss nicht leicht fallen, dich an das Leben auf Delancie Castle zu gewöhnen."

"Sie irren sich, Lady Mary", sagte Tom. "Ich werde nicht hierbleiben. Es mag sein, dass ich dich geliebt habe in einem anderen Leben. Aber jetzt bin ich nicht mehr Lord William Thomas Millroy, sondern Thomas Hamilton, ein Mann, der in einer anderen Zeit lebt. Und eine andere Frau liebt."

"Das alles hat keine Bedeutung", behauptete Lady Mary Delancie mit einem Lächeln, dessen Süßlichkeit durch eine grausame Note verwässert wurde. "Wie gesagt, Tom. Du bist verwirrt. Aber du wirst noch erkennen, was deine wahre Bestimmung ist. Heute Nacht jedenfalls wirst du hier bleiben, denn es gibt keine Möglichkeit zur Rückkehr. Und das wisst ihr!" Sie machte eine kurze Pause. Ihr Blick wirkte ernst. Sie atmete tief durch. Sie hatte mit einer Bestimmtheit gesprochen, die mich erschreckte.

Als ob bereits jetzt feststünde, das alles genau so geschieht, wie sie es gesagt hat!, ging es mir schaudernd durch den Kopf.

Dann sagte sie schließlich: "Der Butler wird euch eure Quartiere zeigen."

Der Butler trat etwas heran.

Sein Gesicht blieb wie gewohnt regungslos und maskenhaft.

"Wenn die Herrschaften mir bitte folgen wollen", sagte er dann.

Lady Mary hauchte: "Ich wünsche dir eine gute Nacht, Tom."

Tom erwiderte nichts.

Wir folgten dem Butler durch einen langen Flur. Dann ging es eine steile Treppe hinauf, deren einzelne Stufen unter unserem Gewicht knarrten. Tom wandte sich an den Butler und fragte ihn: "Woher wusste Lady Mary, dass wir hier auftauchen würden?"

Der Butler hielt auf einem Absatz an. Er drehte sich halb herum. "Sie wusste es einfach, Sir."

"Verfügt sie vielleicht über so etwas wie eine übersinnliche Begabung?", fragte ich.

"Ich bin nicht befugt, über meine Herrschaft zu sprechen", erwiderte der Butler dann im Tonfall klirrender Kälte. "Das sind alles Fragen, die Sie Lady Mary selbst stellen sollten. Aber ich bin gewiss, dass sich dafür noch ausreichend Gelegenheit ergeben wird."

Der Flur, den wir jetzt betraten, war sehr hoch. Er wirkte herrschaftlich.

Der Butler entzündete einige Lampen, die alles in ein weiches Licht tauchten. Dann hatten wir eine große, schwere Tür erreicht, deren Holz mit absonderlichen Schnitzereien versehen war. Eigenartige Fabelwesen rankten sich empor. Ihre Gesichter waren derart überzeugend aus dem Holz herausgearbeitet worden, dass man befürchten konnte, sie würden jeden Augenblick zum Leben erwachen. Dämonenhafte, fratzenartige Gesichter, die uns auf eine Weise anzustarren schienen, die mir nicht gefiel.

"Hier ist ihr Quartier, Lord Millroy", sagte der Butler. Er schloss die Tür auf.

Wir betraten den Raum.

Es war ein sehr weitläufiges, herrschaftlich eingerichtetes Gästezimmer.

Das breite Himmelbett war mit denselben Fabelwesen verziert wie die Tür. Die Möbel waren zierlich und wirkten sehr zerbrechlich und kostbar. Überdimensionale Ölgemälde hingen an den Wänden. Düstere Landschaftsbilder, die Motive aus der Umgebung zeigten.

Es war auch ein Bild darunter, das Delancie Castle zeigte, jenes graue, unheimliche Gemäuer, dessen Gefangene wir nun zu sein schienen - auch wenn das so deutlich niemand sagte. Der Butler deutete auf eine kunstvoll geflochtene Kordel über dem Nachttisch.

"Wenn Sie etwas wünschen, Sir, dann läuten Sie doch bitte nach mir!"

"In Ordnung", sagte Tom.

Dann wandte sich der Butler an mich.

"Für Sie habe ich ein anderes Quartier."

"Aber..."

"Kommen Sie. Es liegt nebenan."

"Ich werde dich begleiten", sagte Tom. Der Butler wandte ihm einen strengen Blick zu. "Wenn Sie finden, dass sich das schickt, Lord Millroy!"

"Das finde ich durchaus!", erwiderte Tom eisig. So traten wir hinaus auf den Flur. Ich fühlte nach Toms Hand. Sie fühlte sich kalt an - so wie alles in dieser furchtbaren Alptraumwelt kalt zu sein schien. Die Wände dieses grauen Gemäuers strahlten eine klamme Kälte ab, wie man sie ansonsten in einer unterirdischen Gruft vermuten würde. Draußen schien der nasskalte englische Winter zu herrschen und ich spürte, dass diese unheimliche Kälte nach und nach auch von meinem Inneren Besitz zu ergreifen begann. Der Butler brachte uns zu jenem Zimmer, das als mein Quartier vorgesehen war. Es unterschied sich von dem, welches man für Tom vorbereitet hatte, nur in unwesentlichen Details. Ich rieb die Hände gegeneinander.

Der Gedanke, hier die Nacht verbringen zu müssen, sorgte dafür, dass sich meine kleinen Nackenhärchen aufrichteten. Aber ich registrierte auch, dass in der Tür von innen ein Schlüssel steckte.

"Die Kleider in den Schränken können Sie in Anbetracht ihrer etwas unzureichenden Bekleidung gerne benutzen, Miss Vanhelsing", erklärte der Butler. "Das gilt übrigens auch für Sie, Lord Millroy."

"Mein Name ist Hamilton", erwiderte Tom.

"Welchen Namen Sie auch immer zu tragen vorgeben - hier auf Delancie Castle sind Sie niemand anderes als Lord Millroy. Jeder kennt Sie hier unter diesem Namen..." Ich deutete auf den Kamin.

"Können Sie für etwas Wärme sorgen?", fragte ich den Butler.

"Sehr wohl. Wie Sie wünschen. Ich werde frische Holzscheite heranschaffen. Auch für Ihr Zimmer, Lord Millroy." Der Butler verschwand durch die halbgeöffnete Tür, die jetzt mit einem knarrenden Geräusch ins Schloss fiel. Ich fasste Tom bei den Schultern.

Er nahm mich in den Arm, und ich schmiegte den Kopf an seine breite Brust.

"Tom, was geschieht hier?"

"Ich weiß es nicht..."

"Aber du warst einst jener Lord Millroy, mit dessen Namen dich hier jeder anredet?"

"Ja", sagte Tom. Er seufzte. "Es ist gut hundertfünfzig Jahre her, seit ich dieses Schloss zum ersten Mal betrat... Das Schloss der Familie Delancie. Damals ein Landsitz, heute muss das Gebiet längst ein Teil von London sein..."

"Du meinst, wir haben eine Art Zeitreise unternommen?", fragte ich.

"Es hat fast den Anschein... Andererseits..."

"Was?"

"Es gibt kleine Details, die nicht stimmen." Tom ging zur Tür, berührte mit den Fingern leicht die Schnitzereien. Die grimmigen Gesichter dieser zweifellos ziemlich unfreundlichen Fabelwesen passten tatsächlich nicht in den Stil dieses Schlosses. "Diese Schnitzereien zum Beispiel..." Ich sah Tom fragend an.

"Wo sind wir? In einer Art Schattenwelt? Im Reich der Toten?"

"Ich habe keine Ahnung."

"Ich habe eine starke übersinnliche Präsenz gespürt", murmelte ich. "Lady Mary scheint über besondere Kräfte zu verfügen... Tom, alles, was hier geschieht, wirkt so irreal. Die Gäste, die auf diesem Schloss weilen, sehen aus wie lebende Tote..."

"Nicht zu vergessen, dass die Jahreszeit abrupt gewechselt hat, als wir hier her kamen." Er sah mich an, fasste meine Schultern und der Blick seiner grüngrauen Augen tat mir gut. Er war so warm und voller Liebe. "Ganz gleich, wo wir auch sind, ob in einer anderen Dimension, der Vergangenheit oder einem Alptraum - wir gehören zusammen. Ich möchte, dass du das weißt."

"Du hast diese Lady Mary geliebt", stellte ich fest.

"In einem anderen Leben. Ich war ein anderer Mensch damals - und auch sie hatte nichts mit jenem Geschöpf gemein, das jetzt aus ihr geworden zu sein scheint."

"Sie scheint anders zu empfinden, Tom."

"Mag sein. Ich kann es nicht ändern. Aber für mich ist sie nur eine Erinnerung..."

"Tom, was ist damals geschehen? Erzähl mir die ganze Geschichte!"

"Das werde ich."

"Lady Mary war die Frau aus meiner Vision!", sagte ich. "Ich sah sie zuerst im Traum und später im Regen, vor dem Verlagsgebäude der LONDON EXPRESS NEWS. Der Regen schien ihr Haar nicht benetzen zu können. Es war seltsam... Sie stand da, als ob sie auf jemanden wartete. Ich habe mich gefragt, was sie von mir wolle. Jetzt weiß ich, dass sie deinetwegen dort gewesen sein muss..."

Tom hob die Augenbrauen.

Dann nickte er.

"Ja, das ist gut möglich..."

"In meinem Traum sah ich sie mit einem Strick um den Hals! Dem Strick des Henkers!"

Tom atmete tief durch.

"Sie wurde hingerichtet, Patti."

"Weshalb?"

"Weil sie einen Menschen getötet hat. Aber das alles geschah, nachdem ich selbst bereits verstorben war..."

"Du sprichst in Rätseln!"

Schritte waren jetzt zu hören.

Tom verstummte.

Der Butler kehrte zurück. Er schaffte Holzscheite heran, schichtete sie im Kamin auf und schaffte es nach ein paar Minuten schließlich, das Feuer zu entzünden. Das Holz knackte. Er wandte sich an Tom.

"Ich werde auch in Ihrem Kamin einheizen, Lord Millroy", versprach er. Wir warteten, bis seine Schritte im Flur verhallt waren.

Tom wandte sich mir zu.

"Ich war damals Lord Millroy, ein entfernter Verwandter und einziger Erbe von Sir Giles Farnsworth, dem ein großer Besitz hier ganz in der Nähe gehörte. Sir Giles hatte Brüder, Cousins und Neffen in seinem Testament übergangen und mich, seinen Großneffen zum Alleinerben eingesetzt. Die Übergangenen versuchten, das Testament vor einem Londoner Gericht anzufechten, was ihnen allerdings misslang. Ich nahm Farnsworth Manor in Besitz und lernte dabei Lady Mary kennen, die zusammen mit ihrem Bruder Willard dieses Schloss bewohnte. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben, während ihr Vater ein paar Jahre zuvor einer tückischen Krankheit erlegen war..."

"Du hast dich in Lady Mary verliebt!"

"Wir hatten sogar vor, zu heiraten, Patti. Obwohl ihr Bruder Willard mich als seinen Feind betrachtete. Vermutlich fürchtete er, dass ich nach einer Heirat Ansprüche auf Teile des Delancie-Vermögens erheben könnte..."

"War Willard unter den Herren im Salon?", fragte ich. Tom schüttelte den Kopf.

"Nein, ich habe ihn nirgends gesehen..."

"Könnte das auch einer der kleinen Unterschiede sein, die dieses Delancie Castle von jenem unterscheidet, dass du damals betreten hast?"

"Möglich."

"Was geschah weiter?"

"Nun, meine übergangenen Anverwandten besuchten mich eines Tages auf Farnsworth Manor. Sie packten mich und stürzten mich aus dem Fenster des dritten Stocks. Ich habe die nachfolgenden Ereignisse viel später erst durch intensive Nachforschungen rekonstruieren können. Jedenfalls hielt die Polizei alles für einen Unfall, und meine Mörder konnten Farnsworth Manor untereinander aufteilen. Aber Lady Mary glaubte nicht an einen Unfall. Trauer, Wut und der Gedanke an Rache müssen sie beherrscht haben. Sie lud ihre neuen Nachbarn auf Delancie Castle zum Tee und vergiftete sie. Die Polizei arbeitete in diesem Fall sehr viel sorgfältiger als in meinem, was vielleicht auch daran lag, dass Willard Delancie ihr ein paar entsprechende Hinweise gab. Jemand anders kommt für die anonymen Nachrichten jedenfalls kaum in Frage, die die untersuchenden Beamten ihren Akten nach erreichten. Willard wollte den Delancie Besitz nun wohl endgültig für sich allein. Er versuchte, seine Schwester für geisteskrank erklären zu lassen, das Gericht wollte dem nicht folgen. Sie wurde als Mörderin gehenkt. Den Berichten nach starb sie sehr gefasst und lächelte zufrieden, als ihr die dunkle Kapuze über das Gesicht gezogen wurde. Ihr Leichnam verschwand später auf nie geklärte Weise. Man machte Schlamperei dafür verantwortlich und glaubte, ein übereifriger Totengräber ihrer Majestät hätte Lady Marys sterbliche Überreste einfach zusammen mit den Gebeinen eines anderen hingerichteten Mörders in ein namenloses Armengrab versenkt."

"Eine furchtbare Geschichte..."

"Leider entspricht sie der Wahrheit."

"Lady Mary liebt dich noch immer, Tom. Und sie wird dich nicht gehen lasen. Um keinen Preis. Sie wirkt zu allem entschlossen!"

Ich blickte düster auf die Flammen, die jetzt die Holzscheite emporzüngelten. Es knisterte und knackte. Ich näherte mich ein wenig dem Feuer.

Die Flammen schienen mir einen eigenartig farblosen Eindruck zu machen.

Ich streckte die kalten Hände etwas vor, um mich zu wärmen. Aber von diesem Kaminfeuer schien keinerlei Wärme auszugehen.

Es war gespenstisch.

Kalte Flammen brannten dort, die nicht die geringste Hitze zu verbreiten schienen.

Ich streckte Hände noch etwas weiter vor.

"Patti!", rief Tom entsetzt.

Die Flammen züngelten um meine Hände herum. Sie hätten mich verbrennen müssen. Ein unerträglicher Schmerz hätte mich erfassen und wie wahnsinnig aufschreien lassen müssen. Aber ich empfand - nichts.

Die Flammen tanzten - und meine Haut rötete sich nicht einmal. Selbst die Gänsehaut, die mir bis über die Ellbogen reichte, blieb erhalten!

"Was immer das sein mag - Feuer ist es nicht", sagte ich und zog meine Hände zurück.

*


LADY MARY DELANCIE ging hinaus in die Nacht. Das Schneerieseln hatte aufgehört. Ein eisiger Wind pfiff jetzt um die Zinnen von Delancie Castle.

Bleich stand der Mond wie ein großes, ovales Auge am Himmel und schien auf sie herabzublicken.

Zuerst spiegelte er sich in der dunklen Oberfläche des Teichs.

Aber dann...

Etwas Schwarzes schien die Wasseroberfläche zu überziehen. Wie ein dunkles Leichentuch. Einem Vorhang gleich legte sich dieses finstere Etwas über das Spiegelbild und verhängte es gewissermaßen. Dann war da nur noch eine einzige, dunkle Oberfläche zu sehen.

Lady Mary stand starr vor dem Teich, den Blick in die Finsternis dieser unergründlichen Tiefe gerichtet. Ein Schlund, so schwarz wie das Nichts zwischen den Sternen... Sie hob die Hände, breitete sie aus...

Und die glatte, wie schwarzes Leder wirkende Oberfläche des Teiches begann sich zu heben. In Lady Marys Augen verschwand jetzt jegliche Farbe. Nur noch Dunkelheit war dort. Kein Flecken weiß blieb auf ihren Augäpfeln zurück, die jetzt aussahen, wie dunkle Höhlen.

Ihr Gesicht war eine grimassenhafte Maske geworden. Fast tierhaft verzog sie den Mund, und ein dumpfes Knurren kam aus ihrer Brust. Ein Laut, der an Wölfe oder Raubkatzen erinnerte.

Ein dämonischer Anblick.

Nichts hatte dieser Anblick noch mit jener schönen Frau gemein, als sie vor kurzem erst im Salon von Delancie Castle erschienen war.

Ihre Haut war jetzt nicht mehr weiß. Sie verfärbte sich ins Grünliche. Und sie leuchtete.

Man hatte den Eindruck, dass ihr gesamter Körper fluoreszierte.

Ein geisterhaftes Leuchten umgab sie, strahlte vor allem von ihrem Gesicht und ihren Händen ab.

Die Teichoberfläche hob sich weiter und formte einen Umriss, der entfernt an eine menschliche Gestalt erinnerte. Eine Gestalt, der man ein schwarzes Laken über den Kopf geworfen hatte.

Dann schoss je ein Lichtstrahl aus ihren Augen heraus. Grellweiß wie Platin waren diese Strahlen. Sie trafen die schwarze Gestalt etwa eine Handbreit unterhalb jener Rundung, an der sich ihr Kopf befinden mochte.

Zwei Augen bildeten sich.

Augen, die leuchteten wie geschmolzenes Platin. Ein Lichtquelle, die alles überstrahlte und die jeden bis zur Blindheit blenden musste, der es wagte, direkt in diese Helligkeit zu sehen.

Die Gestalt schien jetzt durch den Teich zu waten, dessen Wasser plötzlich zähflüssig wie Sirup geworden war. Der Düstere kam ans Ufer, wankte an Land. Er stand vor Mary, deren Haut noch immer zu strahlen schien. Er wandte den Kopf, sah sie mit seinen grell-leuchtenden Augen an.

Sie muss sterben!, ging es Lady Mary durch den Kopf. Sie muss sterben, aber ich muss auf der Hut sein. Sie hat große Kräfte, auch wenn sie vielleicht nicht weiß, WIE groß sie sind... Immerhin waren diese Kräfte zu groß, um verhindern zu können, dass sie ihrem geliebten Tom hier her folgt...

Ein grunzender Brummlaut ging von dem Düsteren aus. Der Düstere wusste, was er zu tun hatte.

Lady Mary lächelte wie eine Teufelin.

Und dann lachte sie.

Ein schauderhaftes Gelächter, das die Nacht durchhallte und mit dem klagenden Wind zu einer schauderhaften Symphonie verschmolz.

Der Düstere wandte sich ab.

In Richtung des Schlosses.

Mit etwas unsicher wirkenden Schritten ging er auf das Portal von Delancie Castle zu.

Ein schmatzendes Geräusch entstand, als seine Füße die steinernen Stufen erstiegen.

"Töte!", flüsterte Lady Mary. "Töte!"

*


ALS SICH DAS DÜSTERE Etwas über mich beugte, schrie ich auf.

Zwei Augen, so hell wie kleine, funkelnde Sterne schienen mich mit kalter Verachtung anzusehen.

Ich fuhr hoch, spürte, wie mir das Grauen kalt den Rücken hinaufkroch. Angstschweiß stand mir auf der Stirn. Ich keuchte. Der Puls schlug mir hämmernd bis zum Hals... Ich hatte Todesangst, als ich in die namenlose Finsternis blickte, die sich vor mir ausbreitete.

Eine grauenhafte Kälte hatte jeden Winkel meiner Seele erfasst und ließ mich bis ins tiefste Innere frösteln. Ich zitterte.

Mein eigener Schrei erschien mir wie das farblose Echo eines Lebens, das längst ausgehaucht war.

"Nein, nicht", flüsterte ich und hob die Hand tastend dem Unbekannten entgegen.

"Patti!", sagte hinter mir eine Stimme. Eine ruhige, tiefe Stimme, die mir nur allzu vertraut war.

Tom!

Ich fühlte seinen Arm um meine Schulter. Er hatte sich ebenfalls im Bett aufgesetzt.

Der Mond schien fahl durch das Fenster. Ich drehte mich herum und sah, wie er sich in Toms Augen spiegelte.

"Einer jener Träume, Patti?", fragte er.

"Ja", flüsterte ich.

Ich musste unwillkürlich schlucken. Dann fasste ich nach seiner Hand.

Ganz gleich, was der staubtrockene Butler oder irgendwer sonst in diesem alten Gemäuer auch davon halten mochte - ich hatte es einfach nicht allein in einem dieser Gästezimmer ausgehalten. Hier allein zu schlafen, erschien mir unmöglich. Kein Auge hätte ich zugekriegt - und auch so war es noch schwer genug gewesen. Ich war in Toms Armen auf dem großen Himmelbett in meinem Zimmer eingeschlafen, während das kalte Kaminfeuer vor sich hingeknistert hatte.

Weder Tom noch ich hatten uns richtig für die Nacht fertiggemacht und die Wäsche benutzt, die in unseren Zimmern zu finden war.

Einen kurzen Schlummer der Erschöpfung. Mehr hatte wohl niemand von uns wirklich erwartet, denn dies war kein Ort, an dem man sich gemütlich in die Kissen legen mochte.

"Es ist alles in Ordnung, Patti", sagte Tom. Ich sah mich im Raum um.

Er schien recht zu haben.

Da war nichts.

"Was hast du geträumt?", fragte er.

"Es hatte mit dem Teich zu tun, der sich vor dem Portal befindet. Diese düsteren, unergründlich tiefen Wasser... Etwas Dunkles, Unheimliches stieg daraus empor... Ein Wesen, das mich töten wollte... Es war bereits über mir!" Ich berührte mit den Händen mein schweißnasses Gesicht. Tom strich mir über den Rücken.

Aber meine angespannten Nerven wollten sich einfach nicht so recht beruhigen.

Ich spürte etwas.

Die Anwesenheit einer übersinnlichen Kraft... Ein dumpfes Pochen spürte ich unaufhörlich hinter meinen Schläfen. Ich hielt den Atem an.

Tom bemerkte das sofort.

"Was ist?", fragte er.

"Es kommt", flüsterte ich.

Ein schmatzender Laut war vom Flur her zu hören. Dieses Schmatzen hatte einen eigenartigen Rhythmus und erinnerte an...

Schritte!

Ein eisiger Schrecken fuhr mir in die Glieder. Das kalte Feuer im Kamin war unterdessen ausgebrannt. Nur eine schwache Glut blieb und leuchtete wie eine Handvoll Katzenaugen in der Dunkelheit.

*


DIE SCHMATZENDEN SCHRITTE hielten vor der Zimmertür an. Wir erhoben uns aus dem Bett und standen dann wie erstarrt da.

Ich wandte einen Blick durch das Fenster und sah Lady Mary vor dem See stehen. Ihre Haut leuchtete auf geisterhafte Weise. Sie schien sich grünlich verfärbt zu haben.

Leise drang ihr Lachen bis zu uns herauf, während der Wind um die Mauern von Delancie Castle heulte. Die Bäume und Sträucher in der Umgebung wurden heftig hin und her gebogen. Ein knarrendes Geräusch ließ uns zur Tür blicken. Wer oder was dort auch immer auf der anderen Seite dieser Tür sein mochte - es machte sich am Schloss zu schaffen. Wir hatten abgeschlossen.

Aber für jenes Etwas schien das kein Hinderungsgrund zu sein.

Wie durch Geisterhand bewegt, drehte sich der Schlüssel herum. Dann sprang die Tür auf. Sie knallte seitwärts gegen die Wand. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall dabei. Und dort stand er...

Jener Düstere, den ich im Traum gesehen hatte. Dieses unheimliche, formlose Wesen, das dem Teich entstiegen war. Es setzte plump und etwas wankend einen Fuß vor den anderen. Ein schmatzendes Geräusch entstand dabei. Und auf dem Boden blieben Reste einer zähflüssigen schwarzen Substanz zurück.

Die Augen glühten heller als das verkohlte Holz im Kamin. Die Lichtkegel, die von ihnen ausgingen, tauchten den Raum in ein eigenartiges Licht.

Wir wichen zurück.

Der Düstere kam näher.

Ein Knurren mischte sich mit dem schmatzenden Laut. Es kam immer näher.

Und das pulsierende Pochen hinter meinen Schläfen wurde geradezu unerträglich. Ich taumelte. Schwindel erfasste mich. Ich hatte Mühe, mich auf den Beinen zu halten. Tom hielt mich am Ellenbogen.

Ein barbarischer, halb menschlicher halb tierischer Schrei ging von dem unheimlichen Monstrum aus.

Es schien aus einer zähflüssigen, schleimigen Substanz zu bestehen, deren Oberfläche wie schwarzer Kunststoff wirkte. Das Mondlicht glänzte darauf.

Einen Augenblick geschah gar nichts.

Alles schien in der Schwebe zu hängen. Das Monstrum war sich nicht ganz schlüssig darüber, was nun zu geschehen hatte.

Es will mich töten!, dachte ich. Ich wusste es in dieser Sekunde. Es war wie in dem Traum, den ich noch vor wenigen Augenblicken geträumt hatte. Dieses Ungeheuer war gekommen, um mich zu vernichten.

Ein halbes Dutzend tentakelartige Arme wuchsen dann in atemberaubendem Tempo aus dem düsteren Monstrum heraus. Dicke Tropfen dieser eigenartigen, zähen Substanz, aus der es bestand, tropften dabei zu Boden. Und diese Tropfen krabbelten als kleine Miniatur-Kopien dieses unheimlichen Wesens auf mich zu.

Ich schrie.

Mit einem schmatzenden Laut umfasste eines dieser kleinen Wesen mein Bein, und ich schüttelte es mit einem Tritt ab. Aber gleichzeitig griff einer der überlangen Arme nach meinem Hals. Finger bildeten sich und drückten zu. Ich rang nach Atem, versuchte noch einmal zu schreien, aber kein Laut entrang sich meiner Kehle.

Ich schlug verzweifelt um mich, versuchte den schwarzen Armen auszuweichen, die nach meinem Körper griffen. Abgrundtiefe Verzweiflung erfasste mich.

Ich war halbbetäubt.

Das Pochen hinter den Schläfen beschleunigte sich noch und wurde gerade unerträglich. Eine Welle aus Schmerz und Kälte überflutete meinen Körper. Ich hatte das Gefühl, als ob mir buchstäblich das Blut in den Adern gefrieren würde... Lethargie erfasste mich.

Die Lethargie des Todes...

*


UNDEUTLICH NAHM ICH wahr, dass ich mich wieder bewegen konnte. Neben mir bewegte sich sehr schnell etwas. Tom hatte sich auf das Monstrum gestürzt.

Ich taumelte zurück, während ich gleichzeitig spürte, wie die finsteren Arme sich von mir zurückzogen.

Ein fast wehklagender Laut durchdrang den Raum. Es klang wie das Jaulen eines getretenen Hundes. Verwunderung und Ärger mischten sich darin.

Mit Entsetzen sah ich, wie Tom und das Monstrum sich auf dem Boden wälzten. Die Arme des Ungeheuers hatten sich um Toms Schultern gelegt. Das schmatzende Geräusch, das entstand, während die beiden auf dem Boden miteinander rangen, ließ mich erschauern.

Ich fasste mir an den Hals, während ich hinter mir die Wand fühlte. Ich rang nach Luft.

"Tom!", schrie ich.

Er hatte sich dem Ungeheuer entgegengeworfen, um mich zu retten. Und nun packten ihn die tentakelartigen Arme dieses formlosen Monstrums.

Mein Kopf schmerzte. Ich hatte den Eindruck, als ob er eine einzige Wunde war, obwohl ich sicherlich nicht einmal einen Kratzer abbekommen hatte. Es war der mentale Druck... Doch der Einfluss dieser übersinnlichen Kraft ließ jetzt nach. Das Pochen hinter meinen Schläfen wurde schwächer. Toms Angriff schien dafür gesorgt zu haben, dass dieses Wesen sich nicht mehr so sehr auf mich konzentrieren konnte. Das Monstrum deckte Tom fast völlig zu. Es saß auf ihm. Tom wehrte sich verzweifelt. Ich zermarterte mir das Hirn darüber, was ich tun konnte.

Aber dann geschah etwas Seltsames.

Das Wesen zog sich zurück.

Die dunklen Tentakel ließen Tom los. Mit einem schmatzendem Geräusch rollte sich das Monstrum zu einem kugelförmigen Gebilde zusammen. Die Augen leuchteten noch immer so stark, dass man unmöglich direkt in sie hineinblicken konnte, ohne Gefahr zu laufen, geblendet zu werden.

Es kauerte am Boden.

Ein unfreundliches Knurren war zu hören. Drohend und mit einer deutlichen Portion Wut. Vielleicht sogar Enttäuschung. Tom rollte auf dem Boden herum und sprang auf. Ich lief zu ihm, schlang die Arm um seine Taille.

"Alles in Ordnung, Tom?"

"Wie man's nimmt..."

Die selbstständig gewordenen, über den Boden kriechenden Tropfen dieser seltsamen Substanz, aus der das Monstrum bestand, bewegten sich nun auf das kugelförmige Gebilde zu und vereinigten sich wieder mit ihm.

Das Mondlicht spiegelte sich in der glatten, schwarzen Oberfläche, die an Kunstleder erinnerte.

Dann wurde diese Substanz transparent.

Es dauerte nur ein oder zwei Sekunden, dann hatte sich das Monstrum vollständig aufgelöst.

Nichts blieb zurück.

Man konnte denken, dass es niemals existiert hatte. Ich blickte Tom an und sah, dass sein Gesicht kreidebleich war.

Er ging zum Fenster.

"Dort unten steht sie...", murmelte er. "Lady Mary..."

"Sie will meinen Tod", flüsterte ich. Tom nickte.

"Ja, ihre Liebe scheint so maßlos und monströs zu sein, wie ihr Hass..."

"Dieses Etwas kam dort unten aus dem Teich. Ich weiß es. Und es kann wiederkommen."

Tom atmete tief durch.

Sein Blick war auf Lady Mary gerichtet.

"Ich werde sie zur Rede stellen. Jetzt! Ich will wissen, was hier gespielt wird!"

"Tom..."

"Komm mit!"

Er nahm mich bei der Hand, und wir gingen die langen, düsteren Flure entlang.

Delancie Castle war ein einziges Labyrinth, aber Tom kannte sich hier allem Anschein nach hervorragend aus. Er fand mit traumwandlerischer Sicherheit den Weg.

Wenig später waren wir unten in der Eingangshalle. Wir gingen auf die Tür zu.

Sie stand weit offen.

Ein eisiger Hauch wehte von draußen herein.

Ein paar Schritte und wir waren im Freien. Die Kälte schnitt durch unsere Kleidung. Lady Mary stand noch immer neben dem Teich, blickte versonnen in das dunkle Wasser und drehte dann den Kopf, so dass sie zu uns herübersah. Ihr Gesicht hatte wieder seine normale Färbung. Bleich sah sie aus im Licht des Mondes. Und ihr Gesicht hatte einen Ausdruck, der irgendwo in der Mitte zwischen Trauer und Wut lag.

"So spät noch auf den Beinen?", sagte sie mit schneidender Stimme, als wir ihr entgegentraten. "Sagen Sie bloß, Sie haben schlecht geträumt, Miss Vanhelsing!"

"Was war das für ein Monstrum, das hier, aus diesem Teich herauskroch?", fragte ich unmissverständlich.

"Ich weiß nicht, wovon Sie reden!"

"Das wissen Sie sehr gut!"

"Sie müssen verwirrt sein, Miss Vanhelsing!"

"Sie wünschen meinen Tod, nicht wahr?"

"Sind wir nicht alle frei, zu wünschen, was uns beliebt, Miss Vanhelsing? Oder sehen Sie das anders?" Tom wandte sich dem dunklen Wasser zu.

Es war spiegelglatt.

"Tom, mein Geliebter", hauchte Lady Mary. "Ich sehe soviel Misstrauen in Eurem Antlitz."

"Dieses Wesen hat mich angegriffen", sagte er gelassen.

"Glaubst du, dass ich etwas damit zu tun habe?" Sie seufzte. "Geht ins Haus und schlaft... Ihr seid übermüdet. Ihr wisst ja nicht, was ihr so daherredet!"

Und damit wandte sie sich ab.

Sie ging auf das Portal zu.

Der Butler war dort völlig lautlos erschienen. Seine Gestalt hob sich dunkel gegen das Gemäuer aus grauem Stein ab.

"Ich hatte mir schon Sorgen um Euch gemacht, Milady", erklärte er.

"Wie fürsorglich", erwiderte Lady Mary. Sie drehte sich halb herum, als sie die ersten drei Stufen des Portals hinter sich gelassen hatte. Und dann lachte sie. Ein Lachen, das mir kalte Schauder über den Rücken trieb...

*


ICH BLICKTE IN DIE Dunkelheit. Die Umgebung von Delancie Castle machte beinahe den Eindruck, als wäre nach ein paar Meilen buchstäblich nichts mehr.

Ein Ort am Ende der Welt.

"Eine seltsame, irreale Welt, in die wir hier verschlagen wurden", sagte Tom. "Vielleicht sind wir selbst bereits tot und in das Reich der Schatten eingegangen. Wer weiß? Vielleicht denken wir nur noch, dass wir leben - und in Wahrheit starben wir durch einen Unfall, während wir London auf der Suche nach einem Restaurant durchquerten..." Der Gedanke war mir auch schon gekommen.

Aber ich hatte nicht gewagt, ihn auch zu Ende zu denken. Die Möglichkeit konnte ich nicht von der Hand weisen. Ich seufzte und blickte zum Teich. "Aus diesem tiefen Schlund kam das Ungeheuer", murmelte ich vor mich hin. Ich beugte mich nieder, streckte die Hand aus...

"Nicht!", warnte mich Tom.

"Warum nicht?", fragte ich. "Was soll schon passieren?" Meine Hand tauchte in das schwarze Wasser ein. Ein modriger Geruch schlug mir entgegen.

Der Gestank von Fäulnis und Verwesung.

Das Wasser war kalt. Ich steckte meine Hand bis zum Gelenk hinein und hob sie wieder heraus. Es schien gewöhnliches Wasser zu sein. Etwas dreckig vielleicht und mit Algen und allerlei anderem Leben durchsetzt.

"Warum hast du das getan?", fragte Tom.

"Ich weiß nicht..." Ich zuckte die Schultern. Der kalte Wind ließ meine Hand beinahe zu einem Eiszapfen werden. "Als dieses Ungeheuer angriff, habe ich eine übersinnliche Macht gespürt. Es war dieselbe Kraft, die auch von Lady Mary auszugehen schien..." Ich deutete auf den düsteren Teich.

"Aber hier... Hier ist nichts dergleichen..." Tom sah mich an.

"Was willst du damit sagen?"

"Sie ist der Schlüssel zu allem... Das Zentrum! Es scheint hier nichts geschehen zu können, ohne dass sie das will. Umgekehrt kann Lady Mary offenbar alles auf Delancie Castle beeinflussen..."

"Sie wollte dich töten, Patti!"

"Ich weiß. Und in dem Moment, als du dich dem Monstrum entgegengeworfen hast, stellte es seinen Angriff ein."

"Woran, denkst du, lag das?"

"Das muss ihr Einfluss sein, Tom! Es waren schließlich ihre Kräfte, die dieses Ungeheuer aus dem Teich emporsteigen ließen. Mich will sie töten, aber nicht dich, Tom. Dich liebt sie über den Tod hinaus... Deshalb hat das Monstrum von dir abgelassen."

"Das wäre eine Erklärung."

Ich näherte mich ihm, strich ihm mit der Hand über Kinn. Seine Arme schlossen sich um meine Taille. Und für einen Moment glaubte ich, die Kälte nicht zu spüren, die hier herrschte.

"Du musst wahnsinnig gewesen sein, dich diesem furchtbaren Ungeheuer entgegenzuwerfen!"

Er lächelte matt.

"Vielleicht habe ich geahnt, was geschehen wird!"

"Ach, Tom!"

Ich küsste ihn. Wir gingen Arm in Arm auf das große Portal zu und schritten die Stufen empor.

Die Tür stand noch immer offen.

Es schien Lady Mary nicht zu kümmern, dass ein Schwall eiskalter Luft auf diese Weise ins Innere von Delancie Castle hereinwehte.

Der Butler wartete im Türrahmen auf uns. Er blickte uns mit seinem starren Gesicht an.

"Sie sollten jetzt schlafen", schlug er vor. "Es ist sehr spät..."

"Sie wissen natürlich auch nichts über das Monstrum aus dem Teich", sagte Tom leicht sarkastisch.

Der Butler hob die Augenbrauen.

"Vieles mag es Ihnen seltsam erscheinen, Sir. Aber ich bin überzeugt davon, dass Sie sich daran gewöhnen..."

*


ALS WIR WIEDER IN MEINEM Zimmer waren, fielen wir tatsächlich in einen leichten, unruhigen Schlaf. Instinktiv versuchte ich, mich so nahe wie möglich an Tom zu klammern. Denn ich spürte, dass mir in seiner Gegenwart nichts geschehen konnte. Jedenfalls hoffte ich das.

Als ich erwachte, griff ich neben mich und geriet einen Augenblick lang in Panik.

Ich griff ins Leere.

Tom war nicht mehr da.

Er stand am Fenster und blickte hinaus.

Ich schlug die Decke zur Seite und trat neben ihn. Er warf mir einen liebevollen Blick zu und strich mir über Haar.

"Guten Morgen, Darling! - Wenn man überhaupt von einem Morgen sprechen kann!"

Er deutete aus dem Fenster hinaus.

Es schien überhaupt nicht richtig hell geworden zu sein. Grauer Nebel umgab Delancie Castle wie eine undurchdringliche Wand. In dicken Schwaden kroch er über den dunklen Teich.

Die Sonne war nicht zu sehen.

Das Getrappel von Pferdehufen war jetzt zu hören. Selbst durch das Fensterglas hindurch. Eine Gestalt formte sich als dunkler Umriss aus dem Nebel heraus.

Ein Reiter.

Mehr war nicht zu erkennen.

Der Reiter näherte sich noch etwas. Die Hufe des Pferdes klackerten auf dem kalten Pflaster.

Er trug einen langen Umhang. Sein Kragen war hochgestellt, so dass die untere Hälfte des Gesichts nicht zu sehen war. Er trug einen dunklen Zylinder, der an einen Totengräber erinnerte.

Vor dem Portal zügelte er erneut das Pferd.

Dann schlug er den Umhang zur Seite.

Er holte etwas darunter hervor.

Tom und ich sahen beide, was es war.

Eine Henkerschlinge, die wenige Zoll oberhalb des fachmännisch geknüpften Knotens vom Rest des Seils abgeschnitten worden war.

"Mary!", rief die heisere Stimme des Reiters.

"Mary, du kannst deinem Schicksal nicht entkommen? So lange du dich auch in diesem modrigen Gemäuer verstecken magst!"

Der Reiter lachte schauderhaft.

Und dann schleuderte er die Schlinge von sich, so dass sie auf den Stufen des Portals liegenblieb.

Er stand jetzt so, dass sein Gesicht im grauen Dämmerlicht dieses nebligen Tages gut zu sehen war.

"Mein Gott!", entfuhr es Tom.

"Was ist?"

"Ich weiß, wer der Mann ist!"

"Wer?"

"Willard! Marys Bruder!"

Tom riss das Fenster auf.

Ein Schwall nasskalter Luft kam herein und ließ mich frösteln. Tom beugte sich heraus, während der Reiter sein Pferd bereits wieder gewendet hatte.

"Willard!", rief Tom. "Warten Sie, Willard Delancie!" Willard blickte mit gerunzelter Stirn zu unserem Fenster hinauf. Dann veränderte sich sein Gesicht. Er lachte schallend und gab seinem Pferd die Sporen.

Als er den Teich erreichte, riss er noch einmal die Zügel herum und ließ das Tier stoppen.

Dicke Schwaden von Bodennebel kroch um den Reiter herum. Sie reichten bis zum Bauch des Pferdes hinauf, dessen Beine nur zu erahnen waren.

Der Reiter drehte den Kopf.

Ein grinsender Totenschädel blickte uns aus leeren Augenhöhlen an.

Nur den Bruchteil eines Augenblicks war dieser schaurige Anblick zu sehen. Das Pferd stob vorwärts, direkt in den grauen Nebel hinein. Es dauerte nicht lange und es war nichts mehr von ihm zu sehen.

Der Nebel schien ihn verschluckt zu haben.

*


IN DEN SCHRÄNKEN UNSERER Zimmer fanden wir Kleidung, die der hiesigen Jahreszeit etwas angemessener waren, als das, was wir am Leib getragen hatten.

Tom trug einen Anzug aus dickem Tweed.

Ich zog mir keines der kunstvoll gearbeiteten Kleider an, die im Schrank meines Zimmers zu finden waren, sondern bediente mich ebenfalls bei jenen Sachen, die Tom zum Gebrauch gegeben worden waren. Ich fand in seinem Schrank eine Reiterhose aus Drillich, ein Hemd und eine warme Jacke. Diese Sachen waren einfach praktischer als das, was bei den Damen von Delancie Castle ansonsten üblich war.

"Ich frage mich, was Willards Auftreten hier zu bedeuten hatte", sagte Tom. "Das was er getan hat, war alles andere als freundlich gegenüber Lady Mary. Sie scheint also nicht alles kontrollieren zu können, was hier vor sich geht..."

"Was war er?", fragte ich. "Der Geist eines Toten?"

"Vielleicht. Jedenfalls müssen wir ihn finden. Überhaupt kann es nicht schaden, wenn wir dieses Gemäuer verlassen und die Umgebung erkunden..."

Allein schon der Gedanke ließ mich schaudern.

"Was glaubst du, was wir dort draußen finden werden? Die uns vertrauten Außenbezirke Londons?"

Tom atmete tief durch.

"Ich weiß es nicht", bekannte er. "Aber hier wie ein Gefangener auszuharren widerstrebt mir..."

*


AUF DEM FLUR BEGEGNETEN wir dem Butler. Unser Aufzug sorgte für keinerlei Reaktion in seinem Gesicht. Er musterte uns kühl und regungslos.

"Lady Mary wünscht Sie zu sehen, Lord Millroy."

"Dann wird Sie etwas auf mich warten müssen", erwiderte Tom. "Haben Sie den Reiter gesehen, der sich vorhin vor dem Portal befand?"

"Welchen Reiter?"

Tom achtete nicht weiter auf den Butler. Er ging an ihm vorbei. Ich folgte ihm. Der Butler lief etwas irritiert hinter uns her. "Wovon sprechen Sie, Sir!"

"Ich werde es Ihnen zeigen!", versprach Tom. Wir gelangten nach kurzer Zeit in die Eingangshalle von Delancie Castle.

Tom wandte sich mit schnellen Schritten der zweiflügeligen Tür zu. Er drehte die Klinke herum und öffnete sie. Ein Schwall eiskalter Luft wehte von draußen herein. Die warme Kleidung, die wir jetzt trugen, durchschnitt sie wie ein Messer. Ich folgte Tom hinaus auf die Stufen des Portals. Wie eine graue Wand umgab der Nebel dieses seltsame Schloss. Die Komturen der Umgebung waren nur als geisterhafte Schatten erkennbar. Dicke Schwaden krochen jetzt wie formlose, vielarmige Ungeheuer über die dunkle

Wasseroberfläche des Teichs, aus dem ich jenes Monstrum hatte hervorkommen sehen, dass mich zu töten versucht hatte. Ich zitterte leicht, als ich hinaus auf das Portal trat.

"Halt!", rief der Butler.

Seine Stimme klang gar nicht mehr so kalt und beherrscht wie bisher. So etwas wie Panik mischte sich in seinen Tonfall hinein.

Tom hatte bereits die ersten Stufen hinter sich gelassen. Er stieg weiter hinab und bückte sich.

Die Schlinge!

Sie lag auf den kalten Stufen - genau dort, wo der Reiter sie hingeschleudert hatte.

Tom griff nach ihr, versuchte sie hochzuheben, aber als er sie zu fassen versuchte, zerfiel sie unter seiner Hand zu Staub.

Als feines, grauweißes Pulver wurde sie vom Wind verstreut. Tom erhob sich.

Er sah mich an.

"Was ist das nur für ein Ort?", murmelte er. "Es kann weder die Vergangenheit, noch die Gegenwart sein..." Der Butler verzog keine Miene.

*


"DAS FRÜHSTÜCK IST GEDECKT. Wenn Sie mir bitte ins Esszimmer folgen würden...", sagte der Butler.

Mir knurrte tatsächlich der Magen. Und Tom konnte es kaum anders ergehen.

Außerdem nahm ich mir vor, Lady Mary nach ihrem Bruder Willard Delancie zu fragen.

Ich war auf ihre Antwort gespannt.

Im Esszimmer fanden wir eine lange Tafel vor. Gut zwei Dutzend Personen hatten daran platzgenommen. Ich erkannte die Gäste vom Vorabend wieder, die auf Delancie Castle so etwas wie eine zweite Heimat gefunden zu haben schienen. Die Gespräche verstummten augenblicklich, als wir den Raum betraten. Bleiche Gesichter wandten sich uns zu. Mir fröstelte innerlich, trotz der warme Sachen, die ich jetzt trug.

Lady Mary hatte am Ende der Tafel platzgenommen. In ihren Augen blitzte es, als sie mich ansah. Ein Blick, so hasserfüllt, dass einem schaudern konnte. Und wieder spürte ich das Pochen hinter den Schläfen. Diesen unheimlichen Druck ihrer geistigen Kraft.

Dostan Radvanyi, der Pianist, war auch unter den Anwesenden. Er musterte uns mit gerunzelter Stirn und leicht amüsiertem Zug um die Mundwinkel. Sein Gesicht war so totenblass wie das aller anderen.

"Oh, eine zweite Georges Sand", stellte er lächelnd fest. Er wandte sich an mich. "Es kann gar nicht anders sein, als dass Sie sich diese Männerkleider tragende und unter einem Männernamen schreibende Schriftstellerin zum Vorbild genommen haben..."

Lady Mary verzog das Gesicht und meinte: "Durch Ihre Arbeit bei der Zeitung sind Sie über den Klatsch vom Kontinent sicher besser informiert als wir!" Ich wollte etwas erwidern, aber der Butler kam mir zuvor.

"Bitte setzen Sie sich", sagte er. "Sie, Lord Millroy, wollen bitte dort Platz nehmen!" Bei diesen Worten deutete der Butler auf einen freien Stuhl mit hoher Lehne, der sich neben Lady Marys Platz befand. "Und Sie, Miss Vanhelsing..." Ein Muskel zuckte im Gesicht des Butlers. "Mr. Radvanyi wird Ihnen sicher ein charmanter Gesprächspartner sein."

Mir gefiel es nicht, dass Lady Mary uns durch ihre Sitzordnung trennte. Dahinter stand natürlich eine klare Absicht. Tom drückte meine Hand und lächelte matt. Ich erwiderte den Blick seiner grüngrauen Augen. Nichts wünschte ich mir so sehr, als aus diesem furchtbaren Alptraum endlich zu erwachen.

Wir setzten uns.

Der Butler schenkte mir den Tee ein. Die Tasse aus chinesischem Porzellan war hauchdünn. Beinahe durchsichtig. Der Tee schmeckte allerdings sehr fade.

Ham and Eggs wurde vom Butler serviert. Aber alles war geschmacklos und hatte auch keine wirklich sättigende Wirkung. Es war wie bei dem geisterhaften Kaminfeuer, dass

einfach nicht in der Lage gewesen war, etwas Wärme zu spenden.

Dostan Radvanyi wandte sich an mich.

"Ihre Kleidung steht Ihnen gut, Miss Vanhelsing. Ich wollte Sie keineswegs mit meiner Bemerkung beleidigen."

"Das haben Sie auch nicht."

"Ist das Ihr besonderer - Stil?"

"Nein, Mr. Radvanyi. Ich habe einfach nur etwas gesucht, was warm und praktisch ist."

"Nun, wie auch immer. Ich habe eine Vorliebe für das Außergewöhnliche. Wussten Sie das?"

"Nun, Sie sind ein Künstler."

"Und denen verzeiht man einen exzentrischen Geschmack. Meinen Sie das?"

"Ist es nicht so?"

"Vielleicht haben Sie recht." Radvanyi lächelte. "Worin besteht Ihre Kunst, Miss Vanhelsing?"

"Ich fürchte, da muss ich sie enttäuschen..." Ich blickte an ihm vorbei, schräg über die Tafel und versuchte etwas von dem Gespräch mitzubekommen, das Tom in der Zwischenzeit mit Lady Mary führte.

"Ich bin so froh, dass du hier bist, Tom!" Marys zunächst etwas verhärtete Gesichtszüge wurden weicher. Ein Lächeln umspielte ihre schmalen, farblosen Lippen. Ein Hauch von Melancholie spiegelte sich in ihren Augen. "Du wirst mit der Zeit erkennen, dass du derselbe geblieben bist - auch über den Abgrund des Todes hinweg. Ich habe dich lange gesucht, Tom... Du weißt gar nicht, wie lange."

"Du sprichst von Dingen, die vergangen sind, Mary..."

"Meine Gefühle für dich sind Gegenwart, Tom! Die Leidenschaft, die nie aufgehört hat, in mir wie ein heißes Feuer zu brennen..."

"Für mich ist es Vergangenheit", beharrte Tom. "Erinnerungen aus einem anderen Leben, nicht mehr. Bilder, die sich mit so vielen anderen zu einer Geschichte anordnen, von der ich manchmal nicht sicher bin, ob es nicht doch ein Fremder war, der sie erlebt hat."

"Du empfindest wirklich nichts mehr für mich?" Sie schüttelte den Kopf. "Das kann nicht sein. Deine Gefühle werden zurückkehren. Du warst einmal Lord Millroy. Warum solltest du es nicht wieder werden?"

"Man kann das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Zu viel ist inzwischen geschehen...."

"Oh, doch, man kann dieses Rad, von dem du sprichst, sehr wohl zurückdrehen, Tom!" Ihre Stimme bekam einen schrillen Unterton. In ihren Augen blitzte es wieder unruhig auf. Ihre Hände krampften sich zusammen.

Ich griff mir unwillkürlich an die Schläfen.

Es pochte dort wie wild.

Ich spürte ihre Kraft.

Hoffentlich kann sie sie auch kontrollieren, ging es mir durch den Kopf, während mich Schwindel erfasste. Mir schauderte vor den gewaltigen Energien, über die diese Frau gebieten musste. Sie war sehr stark... Und vermutlich hatten wir von ihrer wahren Macht bislang noch gar keinen wirklichen Begriff.

Wieder herrschte Totenstille am Tisch.

Auch Dostan Radvanyi, der zuvor unaufhörlich auf mich eingeredet hatte, schwieg jetzt. Er saß mit starrem Gesicht da, genau wie die anderen Gäste. Wie Wachsfiguren wirkten sie. Der Blick war tot, die Haut wie Pergament. Kein Augenlid bewegte sich. Kein Atemzug war zu hören.

Es war gespenstisch.

Wie Marionetten! ging es mir schaudernd durch den Kopf. Diese Gäste - sie mussten alle unter Lady Marys Kontrolle stehen. Auf welch geheimnisvolle Weise auch immer sie ihren Einfluss auf sie ausüben mochte...

Tom blickte zu mir.

Ich sah das Entsetzen auch in seinen Augen aufblitzen. Wir saßen an einer Tafel, an der außer uns nur pergamenthäutige, wie wächsern wirkende Leichname platzgenommen hatten.

Innerhalb eines einzigen Augenblick legte sich ein grauer Flaum über ihre Gesichter, Schultern und Hände. Spinnweben.

So als ob diese Gestalten seit vielen Jahren nichts anderes getan hatten, als hier zu sitzen und langsam zu mumifizieren.

"An diesem Ort", so durchschnitt dann Lady Marys Stimme scharf die unheimliche Stille, "geschieht all das, was ich will! Meine Kräfte sind gewaltig und es gibt nichts, was ihnen widerstehen könnte! Selbst die Zeit nicht... Begreifst du nun, Tom? Nichts ist hier unmöglich, wenn ich es will!"

*


EIN TEUFLISCHES LÄCHELN glitt über Lady Marys Lippen. Ihr anschließendes Gelächter war schrill und schauderhaft.

"Auf Delancie Castle bin ich die absolute Herrin über Leben und Tod, Raum und Zeit..." Die deutete mit der Hand über die erstarrten Toten an der Tafel. "Sie alle sind nichts weiter, als meine Marionetten."

"Und Willard?", fragte ich. "Was ist mit Ihrem Bruder, Lady Mary?"

In ihren Augen flackerte es unruhig.

Es schien ihr nicht zu gefallen, auf ihren Bruder angesprochen zu werden. Sie schluckte. Ihre Augen wurden schmal, als sie Tom ansah. "Du hast Miss Vanhelsing alles erzählt, nicht wahr? Die ganze Geschichte..."

"Das ist wahr."

"Ich verstehe nicht, wie du so kühl und abweisend sein kannst."

"Das bin ich nicht", erwiderte Tom. "Aber ich bin auch nicht mehr der, dessen Vorstellung du dir in deiner Erinnerung bewahrt hast. So leid es mir tut. Lord Millroy existiert nicht mehr..."

"Geschwätz!", zischte sie.

"Was ist mit Willard?", hakte Tom dann nach. Lady Mary schien bei der erneuten Nennung dieses Namens geradezu zusammenzuzucken. "Wir haben ihn gesehen. Er kam bis zum Portal geritten und schleuderte eine Galgenschlinge auf die Stufen. Und er rief nach dir, Mary...."

"Nein", flüsterte sie.

"Ihn hast du nicht unter Kontrolle, nicht wahr?" Es war eine Feststellung, keine Frage, was in diesem Moment über Toms Lippen kam.

Lady Mary sprang auf. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Ihr Gesicht wirkte angespannt und verzog sich zu einer Grimasse. "Ich bin die Herrin von Delancie Castle!", schrie sie. "Ich! Ich! Und jeder, der es wagt, das anzuzweifeln, dem wird es schlecht ergehen!" Wir erhoben uns ebenfalls. Tom umrundete den Tisch und trat neben mich.

Ich versuchte, die Toten, die in ihrer gespenstischen Starre an der Tafel saßen, nicht anzusehen. Es war ein schauderhafter Anblick. Ich glaubte zu bemerken, dass die feine Schicht von Spinnweben, die sie überzog, noch zunahm. Langsam wurde sie zu einem dicken, grauweißen Film, der die Gäste jetzt wie monströse, nicht menschliche Wesen aussehen ließ.

Von irgendwoher blies ein eisiger Wind.

Er schien aus dem Nichts zu kommen, denn Fenster und Türen waren geschlossen.

Ich zitterte.

Meine Hand griff nach Toms Arm.

"Wo sind wir?", fragte ich. "Im Reich der Toten?"

"Nein, nicht ganz...", erwiderte Lady Mary mit einer Stimme, die an klirrende Eiswürfel erinnerte. "Meine Seele fand keine Ruhe, nachdem man mich dem Henker überantwortet und hingerichtet hatte. Ich habe immer daran geglaubt, dich wiederzufinden, Tom. Man hat dir damals ein furchtbares Unrecht angetan und ich habe es gerecht..."

"Und deswegen glaubst du, ein Recht dazu zu haben, mich hier gewissermaßen gefangenzunehmen?", erwiderte Tom.

"Habe ich denn nicht das Recht dazu?", fauchte Lady Mary auf eine Art und Weise, die an eine wütende Katze erinnerte. "Habe ich dich denn nicht lange und vergeblich genug geliebt, um jetzt endlich die Erfüllung meiner Sehnsucht einzufordern? Lange habe ich hier, in diesem Zwischenreich ausgeharrt und gewartet... So unendlich lange! Niemand kann von mir erwarten, dass ich meinen Traum jetzt so einfach aufgebe... Niemand!"

Tom legte den Arm um meine Schulter.

"Dann lass Patricia wenigstens zurückkehren..."

"Nein!", rief ich.

Eine Rückkehr in unsere gewohnte Welt kam ohne Tom für mich nicht in Frage. Ich wollte ihn hier auf keinen Fall zurücklassen.

Lady Mary lächelte teuflisch.

"Es steht Miss Vanhelsing jederzeit frei, zu gehen, wohin sie will... Und im Grunde ihres Herzens weiß sie das auch. Aber sie klammert sich mit aller Gewalt an dich, Tom."

"Sie haben versucht mich umzubringen", sagte ich.

"Das ist nicht das richtige Wort", erwiderte Lady Mary. "Der Tod ist nur eine Illusion. Tom weiß das. Aber ich glaube nicht, dass er noch Gelegenheit dazu bekommen wird, es Ihnen wirklich zu erklären, Miss Vanhelsing!" Ich deutete auf die von Spinnweben überwucherten Gestalten am Tisch. "Wenn Sie hier wirklich allmächtig wären, hätten Sie mich schon längst in so etwas verwandelt!"

"Wer sagt, dass ich das nicht noch tun werde?"

"Ich glaube Ihnen kein Wort mehr!"

"Sie besitzen starke Kräfte, Patricia. Energien, die stärker sind, als ich befürchtet hatte. Aber nicht stark genug, um mir auf Dauer zu widerstehen. Ich weiß, dass ich Sie nicht endgültig vernichten kann. Vielleicht werden Sie irgendwo, jenseits von Raum und Zeit existieren, vielleicht in jene Sphäre eingehen, in der sich die toten Seelen befinden. Aber es steht fest, dass ich Sie früher oder später von diesem Ort vertreiben werde! Sie haben keinen Platz in meiner Welt, Patricia!"

Wie wild begann es genau in dieser Sekunde hinter meinen Schläfen zu Pochen. Ich hatte das Gefühl, als hätte mir soeben jemand einen heftig Schlag vor den Kopf versetzt. Schwindel erfasste mich und Lady Marys unheimliche Energien drohten mich geradezu zu erdrücken.

Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Kein klarer Gedanke wollte sich noch bilden.

Vor meinen Augen drehte sich alles, während mir der Puls bis zum Hals schlug.

Lady Mary suchte jetzt die endgültige Konfrontation. Ich versuchte verzweifelt, mich gegen ihren Einfluss zu wehren.

Noch immer war ich nur unzureichend in der Lage, meine übersinnlichen Kräfte zu bündeln und gezielt einzusetzen. In dieser Hinsicht lag noch ein weiter Weg vor mir, das wusste ich nur zu gut. Und obwohl mich manchmal im Angesicht dieser Tatsache ein frostiges Schaudern überkam, wünschte ich mir in diesem Moment, ihn schon zurückgelegt zu haben. Verzweifelt versuchte ich mich mental abzuschirmen.

"Tom!", schrie ich.

Meine eigene Stimme klang wie ein fernes Echo. Verloren und schwach. Ich hatte das Gefühl zu fallen. Ein Strudel aus wirren Bildern bildete sich vor meinen Augen. Ein unwiderstehlicher Sog schien mich in diesen Strudel hineinzuziehen, ohne dass ich dieser Kraft auch nur das Geringste hätte entgegensetzen können. Ich fiel ins Bodenlose. Dann kam die Dunkelheit.

Sie war schwärzer als die tiefste Nacht.

Bewusstlosigkeit legte sich wie ein Leichentuch über meine Seele.

Ich sah nichts, ich hörte nichts.

Im ersten Moment war da noch die Empfindung von grauenvoller Kälte, aber auch das dauerte nicht länger als einen Augenblick.

Das war das Ende.

*


TOM BLICKTE ENTSETZT auf die grauenerregende Verwandlung, die mit Lady Mary Delancie vor sich gegangen war. In ihren Augen leuchtete es dämonisch. Gleißend hell kam ein blendendes Licht aus ihren Augenhöhlen heraus, die aussahen, als wäre geschmolzenes Platin in ihnen. Tom hob die Hand, um die Augen zu schützen.

Auch Lady Marys Kopf hatte sich verändert.

Seltsame, halbkugelförmige Auswüchse waren aus der Stirn herausgewuchert, so als hätte ihr Gehirn nicht mehr genug Raum gehabt. Ihr Schädel schien sich auf eigenartige Weise vergrößert zu haben. Der Mund war weit aufgerissen. Auch er wurde größer, die Zähne länger. Lady Mary bekam jetzt beinahe tierhafte Züge.

Ein Monstrum!, durchschoss es Tom. Er konnte den Blick für Augenblicke nicht von diesem so grausam verwandelten Antlitz wenden. Dem Antlitz eines Menschen, den er immerhin einst geliebt hatte - auch wenn seitdem mehr als nur ein einziges Leben vergangen war.

Jetzt war Lady Marys Gesicht nur noch eine grimassenhafte, monströse Karikatur jenes Antlitzes von vollendeter Schönheit, das sie einst gekennzeichnet hatte. Es war entsetzlich.

Ein knurrender Laut kam aus ihrer Brust.

Dumpf und drohend, wie von einem Raubtier.

Und eine leuchtende Aura begann nun ihre Gestalt zu umgeben. So als wäre ihre pergamentartige Haut mit einer fluoreszierenden Substanz bestrichen worden, deren Strahlung so stark war, dass sie auch noch im Hellen leuchtete. Mary hob ihre Hände wie die Krallen eines Greifvogels. Ihre Nasenflügel bebten.

Sie zischte wie eine Schlange.

Nichts Menschliches schien ihr in diesem Augenblick noch anzuhaften.

Dann schossen grelle Strahlen aus ihren Augen heraus. Tom zuckte zusammen.

Die Strahlen trafen Patricia, die sich krümmte.

"Nein!", schrie Tom.

Er wollte sie an sich ziehen.

Noch fasste seine Hand die ihre, doch...

Er griff ins Leere. Der Schrecken jagte ihm in die Glieder, als sich Patricias Hand unter seinen Fingern aufzulösen schien.

Er sah sie taumeln und fallen. Tom wollte sie auffangen, aber noch während sie fiel, verwandelte sie sich in grauweißen Staub.

Ein Handvoll davon rieselte ihm zwischen den Fingern hindurch auf den Boden. Das Grauen packte Tom. Er konnte kaum fassen, was er gesehen hatte.

"Patti", flüsterte er, beinahe stumm vor Schrecken. Die Frau, die er über alles geliebt hatte, gab es nicht mehr. Vor seinen Augen war sie zerfallen, wie es ein menschlicher Körper sonst nur innerhalb vieler Jahrzehnte tun konnte. Einfach ausgelöscht!

Wut und Trauer packten ihn.

Er blickte auf.

Einen Moment lang erwog er, sich auf das Monstrum zu stürzen, das vor ihm stand.

Mary!

Aber als sie ihn mit ihrem sengenden Blick ansah, taumelte er zurück. Er schützte sich mit den Armen. Er hatte keinerlei Mittel gegen die Kräfte, die Lady Mary zur Verfügung standen.

Nie war es ihm bewusster gewesen, als in diesem Augenblick. Tom ballte die Hände zu Fäusten.

Hass fühlte er in sich aufsteigen. Lady Mary hatte ihm den Menschen genommen, der ihm am meisten bedeutete. Bilder stiegen vor seinem inneren Auge auf. Jener Augenblick, als sie sich das erste Mal in der Redaktion der LONDON EXPRESS NEWS begegnet waren und er sie beinahe umgelaufen hatte. Der Blick ihrer Augen... Erinnerungen an Augenblicke voller Zärtlichkeit, an den Geschmack ihrer Lippen und den Schlag ihres Herzens, den er nahe bei sich gespürt hatte. Im ersten Moment war ihm alles gleichgültig. Er wollte sich auf das Monstrum stürzen, zu dem Mary geworden war. Aber dann hielt er doch inne.

Es hatte keinen Sinn. Er konnte sie nicht angreifen. In ihrer eigenen Welt schien sie mehr oder minder unverletzlich zu sein. Ihre dämonisch leuchtenden Augen schienen ihn kalt und unbeteiligt zu mustern.

Das drohende Knurren drang wieder über ihre Lippen. Aber der übergroße Mund mit den auf groteske Weise verlängerten Zähnen schloss sich nun.

Tom Hamilton stand wie erstarrt da.

Und Lady Marys grotesk verzerrte Gestalt verwandelte sich zurück. Die Auswüchse an ihrer Stirn schrumpften und der tierhafte Mund verkleinerte sich wieder. Sekunden nur und und das elfenbeinfarbene Gesicht war wieder in seiner alten Schönheit hergestellt.

Einer kalten Schönheit.

Das grelle Leuchten verschwand aus ihren Augen. Die Lichtaura, die sie bis jetzt umgeben hatte ebenfalls.

"Du hast sie getötet!", stellte Tom bitter fest, während sein Blick zu Boden glitt.

Das grauweiße Pulver, das noch von Patti geblieben war, löste sich nun ebenfalls auf. Es schien einfach zu verschwinden. Jener seltsame, kalte Wind, der aus dem Nichts zu kommen schien, verwehte den letzten Rest. Es war so, als hätte es sie nie gegeben. Nichts würde von ihr bleiben. Nicht ein Staubkorn.

"Du bist jetzt frei!", sagte Mary auf eine Weise, die ausdrückte, dass sie das völlig ernst meinte. "Du bist frei, Tom! Sie hat dich keinen klaren Gedanken fassen lassen und deine Seele verwirrt. Aber nun wirst du erkennen, wohin du wirklich gehörst..." Sie lächelte, umrundete den Tisch und trat auf Tom Hamilton zu.

*


"DU BIST WAHNSINNIG, Mary!", stieß Tom hervor.

"Wahnsinnig vor Liebe!", erwiderte sie. "Gestern Nacht waren ihre Kräfte noch zu stark. Ich konnte ihr nichts anhaben unter anderem natürlich auch deshalb, weil du so töricht warst, dich zwischen sie und jene Mächte zu stellen, die Patricia Vanhelsing aus dieser Welt verbannen sollten..."

"Du sprichst von dem Monstrum aus dem Teich."

"Eine andere Gestalt meiner selbst", erwiderte sie. "Bewegt einzig und allein durch die Kraft meines Geistes. So wie alles hier..."

Leben kam jetzt in die als starre Mumien dasitzenden Gäste - wenn das vielleicht auch nicht ganz das richtige Wort war. Sie bewegten sich, wandten die Köpfe, hoben die Arme und standen schließlich auf. Rau kratzen die Füße der Stuhlbeine über den steinernen Boden. Die grauweiße Schicht aus Spinnweben, die aussah, als hätte sie sich in vielen Jahren Stück um Stück gebildet, verschwand innerhalb von Augenblicken.

Sie scheint wirklich selbst die Zeit beherrschen zu können, ging es Tom Hamilton schaudernd durch den Kopf. Anders war das, was vor seinen Augen geschah, nicht zu erklären. All diese Menschen starrten Tom an. Sie verteilten sich im Raum. Tom wich noch etwas zurück, doch ehe er sich versah umgaben sie ihn in einem Halbkreis.

Lady Mary lächelte.

Im selben Moment sah er das gleiche kalte Lächeln auf allen anderen Gesichtern.

Es war gespenstisch.

"Ich kann dir hier jeden Wunsch erfüllen, Tom! Jeden!", sagte Mary dann.

Und Dostan Radvanyi, jener begnadete Pianist, dem sie am vorhergehenden Abend im Salon gelauscht hatten, fügte hinzu: "Die Macht meines Geistes ist hier unbegrenzt, Tom..." Radvanyi lachte schallend, als er die Verwunderung in Toms Gesicht sah. "Ja, auch ich bin nur eine Maske, Tom. Hinter all dem steht nichts anderes, als der Geist von Mary Delancie!"

Jetzt meldete sich eine der Damen zu Wort, die zu der Gästegesellschaft gehörten. "Du solltest aber auf keinen Fall auf den Gedanken kommen, dich gegen mich zu stellen!"

"Ich kann mit dir jederzeit mit Leichtigkeit dasselbe tun, wie mit Patricia!", kam es jetzt wieder über Mary eigene Lippen. Aber auch all das, was zuvor gesagt worden war, war ihrer Seele entsprungen. Fast zwei Dutzend Augenpaare starrten Tom an.

"Du hast schon einmal davor zurückgeschreckt!", erinnerte Tom sie.

"Du sprichst von gestern Nacht."

"Ja."

"Verlass dich nicht darauf, dass das immer so sein muss!" Ihr Gesicht bekam einen säuerlichen Ausdruck. "Liebe verwandelt sich mitunter auch in Hass, Tom! Daran solltest du immer denken!"

Eine Drohung!, durchfuhr es Tom. Es war eine unverhohlene Drohung. Er war ein Gefangener und es schien keinen Ausweg zu geben. Und keine Macht, die es mit der ihren hätte aufnehmen können.

"Was ist mit Willard?", fragte Tom dann plötzlich. "Ist er auch nur ein Produkt deines Geistes? Hast du ihn ebenso unter Kontrolle wie alles andere?"

"Natürlich", flüsterte sie.

"Dann zeig es mir!", forderte Tom. "Ruf ihn her! Zeig mir, dass du ihn so unter Kontrolle hast, wie alles andere! Ich glaube dir nämlich nicht!"

Für einen Augenblick begann sich Marys Gesicht wieder zu verformen. Es verzog sich zu einer grimmigen, wütenden Maske. Ein fauchender Laut ging von ihr aus.

Gleichzeitig schien sich Dostan Radvanyis Gesicht für einen Moment zu verwandeln.

Für Sekunden nur zeigte sein Kopf das Antlitz von Willard Delancie, so wie Tom es bei dem Reiter gesehen hatte. Doch das währte nicht länger als einen Augenaufschlag, dann war der alte Zustand wieder hergestellt. Ein Schrei der Wut ging über Marys Lippen.

Tom machte ein paar schnelle Schritte und war bei der Tür. Er riss sie auf, stieß den Butler zur Seite, der dahinter zum Vorschein kam und rannte den langen Flur entlang. Dann hatte er die Eingangshalle erreicht.

Er blickte sich kurz um, riss die Tür auf und trat hinaus auf die Stufen des Portals. Der Nebel schien noch dichter geworden zu sein.

Die Kälte war unmenschlich.

Er lief die Stufen hinab.

Ich habe es mir gedacht, schoss es ihm durch den Kopf. Sie kann Willard nicht kontrollieren!

Woran auch immer das liegen mochte. Ihr Geist steckte in dieser seltsamen Zwischenwelt hinter allem. Hinter fast allem. Sie schien nicht allein hier zu sein.

Ich muss Willard finden!, dachte Tom. Vielleicht konnte er ihm helfen.

Er lief in den Nebel hinein.

Niemand folgte ihm.

Dann erreichte er den Teich.

Das dunkle, spiegelglatte Wasser hob sich plötzlich. Es wölbte sich in einer wie zähflüssig wirkenden Beule empor. Ein schwarze Gestalt mit leuchtenden Augen watete durch das schwarze Wasser auf das Ufer zu.

Tom erschrak bis in die Knochen...

Dies war zweifellos jenes Monstrum, dem er bereits in der vergangenen Nacht begegnet war.

Mit einem schmatzenden Geräusch kam es an Land. Dann verharrte es. Tom sah die grell leuchtenden Augen in der Mitte des Kopfes. In diesen Augen war dasselbe grelle Leuchten zu finden, wie wenige Augenblicke zuvor in denen von Lady Mary.

Das Monstrum wartete.

Tom blieb stehen.

Hinter sich vernahm er jetzt Schritte auf den steinernen Stufen des Portals.

Er blickte sich halb um. Aus den Augenwinkeln heraus sah er drei menschliche, sehr bleich wirkende Gestalten die Stufen hinuntergehen. Es waren Lady Mary, ihr Butler und Dostan Radvanyi, der Pianist.

"Habe ich es dir nicht gesagt, Tom?" Ihre Stimme war wie ein eisiger Hauch.

Tom sah ihr entgegen, als sie sich ihm näherte.

"Es hat keinen Sinn", sagte sie.

"Das werden wir sehen!", erwiderte Tom düster. Und dann registrierte er, wie sie plötzlich zusammenzuckte. Ihr Blick war in den grauen Nebel gerichtet. Kaum etwas war darin noch von der Umgebung zu erkennen. Nur dunkle, schattenhafte Umrisse.

Und einer dieser Umrisse bewegte sich.

Ein Reiter.

Leise war aus der Ferne zu hören, wie die Hufen auf den Boden stampften. Das Pferd schnaubte.

"Willard!", rief Tom.

Aber er bekam keine Antwort.

Einen Augenaufschlag später war der Schatten des Reiters verschwunden.

Aber Lady Marys Augen waren noch immer schreckgeweitet.

"Wovor hast du Angst, Mary?", fragte Tom.

*


ICH HATTE KEINE AHNUNG, wie viel Zeit vergangen war oder wo ich mich befand. Die erste Empfindung, die ich hatte, war wieder diese unmenschliche Kälte.

Ich zitterte und öffnete vorsichtig die Augen. Ich lag auf einem feuchtkalten Untergrund. Als ich die Hände zusammenkrallte, fühlte ich Erde. Modrig riechender, schwerer Boden. Um mich herum war es neblig. Dicke Schwaden krochen über den Boden. Man konnte nicht weiter als zehn oder zwanzig Meter sehen.

Ich hob die Hände, beinahe ungläubig darüber, noch am Leben zu sein. Dann betastete ich vorsichtig das Gesicht, strich mir einige Strähnen aus den Augen.

In der Ferne hörte ich ein Geräusch, dass mich sofort aufschrecken ließ.

Pferdehufe, die auf dem schweren Boden herumtrampelten. Es klang wie ein dumpfes Klopfen in einem ganz charakteristischen Rhythmus.

Innerhalb einer Sekunde war ich auf den Beinen. Im ersten Moment war ich etwas benommen. Schwindelgefühl machte mir noch ein wenig zu schaffen. Aber innerhalb des nächsten Augenblicks war es wie weggeblasen.

Ich drehte mich nach allen Seiten herum.

Nur Nebel und eigenartige, schattenhafte Konturen von Dingen, die sich nur erahnen ließen. Bäume vielleicht?

Hecken, Sträucher?

Jedenfalls sah ich nirgends etwas, das auf Delancie Castle hinwies.

Kein Licht, kein Umriss... Gar nichts.

Andererseits konnte man bei dem Nebel ohnehin nicht viel sehen. Vielleicht täuschte mich der optische Eindruck und das Schloss war in Wahrheit ganz in der Nähe...

Wo bin ich?, dachte ich. War dies das Jenseits? Die Sphäre der toten Seelen? Oder handelte es sich nur um ein anders Zwischenreich, so wie das der Lady Mary Delancie? Ich hatte keine Zweifel daran, dass sie dafür verantwortlich war, dass ich mich an diesem unwirtlichen Ort befand. Ich erinnerte mich an die gewaltige mentale Krafteinwirkung, mit der sie mich angegriffen hatte.

Nichts hatte ich ihr entgegenzusetzen gehabt. Aber immerhin war ich noch am Leben.

Wirklich?

Ich mochte nicht weiter darüber nachdenken.

Ich dachte an Tom und daran, dass ich möglicherweise nun für immer von ihm getrennt war, sofern es Lady Mary geschafft hatte, mich aus ihrer Zwischenwelt hinauszuschleudern. Für einen Moment hatte ich wieder den geradezu chaotischen Mahlstrom vor Augen, in dessen Sog ich geraten war. Ein Strudel, dem meine Seele nicht hatte widerstehen können. Und nun war ich hier...

Ich hatte mich lange genug mit außersinnlichen Phänomenen beschäftigt, um mich über solche Erlebnisse nicht mehr allzu sehr zu wundern. Ich nahm es einfach als gegeben hin, dass es Dinge gab, die für unsere Begriffe heute noch unerklärlich sind.

Und dazu gehörte zweifellos auch all das, was mit Lady Mary, ihren Kräften und ihrer grauenhaften Zwischenwelt zu tun hatte.

Pferdegetrappel ließ mich erneut aufhorchen.

Ich stand da wie erstarrt.

Der dunkle Schatten eines Reiters kam jetzt direkt auf mich zu.

Der Puls schlug mir bis zum Hals.

Der Reiter kam im vollen Galopp heran. Die scharfen Hufe wirbelten Erde empor. Das Pferd dampfte in der Kälte. Immer deutlicher waren die Konturen zu sehen. Er trug einen Zylinder. Der Umhang wehte wie ein dunkler Schatten hinter ihm her.

Es musste Willard sein!

Unter dem Zylinder blickte mich ein Totenschädel aus leeren Augenhöhlen heraus an. Ich schluckte und stand wie erstarrt da. Der Reiter näherte sich etwas langsamer, nachdem er sein Tier gezügelt hatte.

Er wandte den Kopf, beugte sich etwas vor und tätschelte leicht den Hals des Pferdes. Sein grinsendes Totenschädel Gesicht lag dabei für einen Moment im Schatten. Als der Reiter sich im Sattel wieder aufrichtete, hatte er ein menschliches Gesicht.

Ich erkannte es sofort wieder.

Dieser Mann war Willard Delancie.

Seine Haut war so blass wie das seiner Schwester - und auch sonst war die Ähnlichkeit nicht zu übersehen.

Er sah mich an.

"Sie sind Willard Delancie, nicht wahr?", sprach ich ihn an. Sein Lächeln blieb verhalten.

"Das ist wahr."

"Ich habe Sie aus dem Fenster eines der Gästezimmer gesehen. Sie brachten einen Strick und riefen nach Lady Mary..."

Willard stieg von seinem Pferd herunter. Er war etwas größer als ich. Seine Augenbrauen zogen sich zu einer geschlängelten Linie zusammen. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, als ob eine geistige Kraft mich berührte. Aber diese Berührung unterschied sich deutlich von der Empfindung, die ich in Lady Marys Anwesenheit gehabt hatte.

"Sie gehören nicht hier her."

"Das hat Ihre Schwester mir deutlich zu machen versucht."

"Mit wem habe ich das Vergnügen?"

"Mein Name ist Patricia Vanhelsing. Sie hier zu sehen beruhigt mich irgendwie..."

"In wie fern?", fragte Willard.

"Weil ich annehme, dass ich mich immer noch in jener seltsamen Zwischenwelt befinde, deren Zentrum Delancie Castle darstellt."

"Da haben Sie allerdings recht. Obgleich - wie gesagt, Sie gehören nicht hier her. Mary und ich allerdings auch nicht. Sie müssten in die Sphäre der Lebenden zurückkehren."

"Nicht ohne Tom!"

"...und meine Schwester und ich hätten längst in die Sphäre der Toten eingehen müssen, um dort unseren Frieden zu finden."

"Warum ist das nicht geschehen?", fragte ich. Willard Delancie lachte heiser.

"Weil meine Schwester sich um das Glück ihres Lebens betrogen fühlte. Weil sie den unbändigen Willen hatte, auch über den Tod hinaus nach der Seele desjenigen zu suchen, den sie über alle Maßen geliebt hat. Ich habe damals nicht sehr viel von Lord Millroy gehalten. Vielleicht habe ich die Gefühle meiner Schwester unterschätzt."

"Sie hat dafür gemordet!"

"Ja, das hat Sie. Wer hat Sie so gut informiert? Der Mann, mit dem Sie diese Welt betraten?"

"Er ist eine Wiedergeburt Lord Millroys."

"Ich weiß."

"Sie sind gut informiert!"

"Es gibt hier keine Geheimnisse, Patricia - ich darf Sie doch so nennen? Und es gibt in dieser seltsamen Welt nur vier Personen, die wirklich existieren. Sie, Ihr Begleiter, meine Schwester und ich."

"Alles andere ist Illusion?"

"Nein, ganz so einfach ist es nicht. Es sind nicht einfach Trugbilder, sondern Dinge, die ein starker Geist geschaffen hat und die er jederzeit nach seinem Willen verändern kann."

"Ihre Schwester wurde durch Ihre starke Liebe daran gehindert, ins Totenreich einzugehen. Woran hat es bei Ihnen gelegen, Willard?"

"Vielleicht der Fluch meiner Tat... Ich überantwortete meine Schwester dem Henker. Ich muss zu meiner Schande gestehen, es nicht aus Gerechtigkeitsliebe, sondern aus Gründen des Eigennutzes getan zu haben. Nach Marys Tod hat mich der Gedanke an sie immer verfolgt. Nachts sah ich sie in meinen Träumen, sah den Strick um ihren Hals, ihr bleiches Gesicht... Nachdem ich selbst gestorben war, wurde meine Seele wie magisch von dieser Zwischenwelt angezogen. Ich kann keinen Frieden finden, solange sie ihn nicht findet! Und so vagabundiere ich durch diese nebelige Ödnis. Mary hasst mich, aber sie kann mich nicht völlig aus dieser Welt vertreiben - so wie sie es auch bei Ihnen wohl nicht vermochte. Vermutlich liegt das an den übersinnlichen Energien, die ich bei Ihnen erspüre..."

"Was ist mit mir geschehen? Ich hatte das Gefühl, mich aufzulösen und bin in einen Strudel aus Bildern und Licht hineingestürzt..."

"Mary hat Sie mit Hilfe ihrer Energien hier materialisieren lassen, an diesem äußersten Rand ihrer Welt..."

"Warum hat sie mich nicht endgültig vernichtet?"

"Weil das hier, in dieser Welt nicht möglich ist. Nichts geht verloren. Keine Energie, kein Körper, keine Seele... Was geschehen kann, ist eine Verwandlung. So wie sich ein toter Körper in Erde verwandelt, aus der neues Leben entsteht..."

"Sie scheinen ein Philosoph zu sein..."

"Erst, seitdem ich hier, an diesem öden Ort zwischen Leben und Tod bin..." Er lächelte matt. "Ich hatte Zeit genug..." Ich atmete tief durch.

"Ich brauche einen Verbündeten", erklärte ich.

"Sie dachten da nicht zufällig an mich?" Er lachte rau.

"Haben Sie die Hoffnung, Frieden zu finden, denn schon aufgegeben?"

Er zuckte die Achseln.

"Meine Kräfte reichen nicht aus, um meiner Schwester Paroli zu bieten. Ich kann sie nicht zwingen, ins Totenreich einzugehen. Und überzeugen werde ich sie auch kaum."

"Vielleicht sind wir gemeinsam stark genug!"

"Sie überschätzen Ihre mentalen Kräfte, Patricia!"

"Es käme auf einen Versuch an, finden Sie nicht? Es ist doch kein Risiko dabei. Waren Sie es nicht, der behauptet hat, dass Mary hier niemanden wirklich vernichten kann?"

"Für Sie bestünde trotz allem ein großes Risiko", erklärte Willard düster.

"Für mich? Weshalb?"

"Ich weiß nicht, was geschieht, wenn Mary Sie erneut entmaterialisieren lässt..."

"Dann werde ich hier wieder aufwachen und es erneut versuchen!"

"Sie sind hartnäckig und mutig", erwiderte Willard. "Der Mut einer Ahnungslosen..."

"Was soll das heißen?"

Er musterte mich. Sein Blick war kühl. "Es könnte sein, dass Sie sich auf eine Weise verwandeln, die verhindert, dass Sie in die Sphäre der Lebenden zurückkehren können..." Bei diesen Worten lief es mir kalt den Rücken hinunter.

"Ich werde das Risiko eingehen! Schließlich ist der Mann, den ich liebe, noch immer ein Gefangener auf Delancie Castle..."

"Ich weiß nicht, ob man es Mut oder als Wahnsinn bezeichnen soll, was Sie tun wollen."

"Bringen Sie mich zum Schloss oder sagen Sie mir wenigstens, wo es ist!"

"Was wollen Sie dort, Patricia? Meiner Schwester den Mann entreißen, dessentwegen ihr Geist so ruhelos geblieben ist?"

"Es muss einen Weg geben, Willard!"

"Glauben Sie, was Sie wollen!"

"Auch für Sie, Willard! Sehnen Sie sich etwa nicht nach Frieden? Wollen Sie ewig als ruheloser Geist über diese trostlose Ebene wandeln?"

Er sah mich nachdenklich an.

Dann machte er eine abrupte Bewegung. Er stieg in den Sattel seines Pferdes und reichte mir die Hand. "Kommen Sie!", forderte er mich auf. "Setzen Sie sich hinten zu mir auf das Pferd!"

*


"GLAUBST DU NICHT, ES könnte wieder die alte Leidenschaft erwachen, Tom?", fragte Mary mit ungewohnt sanfter Stimme. Sie sah Tom Hamilton mit einem Blick an, der ihre Gefühle nur zu deutlich offenbarte. Verlangen und Schmerz, Sehnsucht und Enttäuschung.

"Nachdem du den Menschen getötet hast, der mir am meisten bedeutete?"

"Ich habe Miss Vanhelsing nicht getötet", erklärte sie unwillig.

"Ach, nein?"

"Sie ist nur nicht mehr hier... Diesen Ort wird sie nicht mehr betreten." Mary trat etwas näher. "Dafür werde ich sorgen. Und du wirst sie vergessen..."

Sie befanden sich in einem der hohen, kostbar ausgestatteten Räume von Delancie Castle. Die großformatigen Gemälde an den Wänden verbreiteten eine düstere Stimmung. Von draußen kam auf Grund des dunstigen Wetters kaum Licht herein.

Eine Welt der Dämmerung, dachte Tom Hamilton. Der Butler trat herbei.

Sein Gesicht war so regungslos und starr wie immer. In der Rechten hielt er ein Tablett mit zwei Gläsern.

"Du möchtest sicher etwas zu trinken", sagte Mary. Sie nahm sich eines der langstieligen Gläser. "Der beste Portwein seit langem! Er kam frisch aus Gibraltar..." Tom schüttelte den Kopf.

"Das alles existiert nicht mehr, Mary!"

"Doch, Tom! Hier existiert es! Hier bist du Lord Millroy!

Und an diesem Ort können sich all deine Wünsche erfüllen." Bis auf einen! fügte Tom in Gedanken hinzu.

Patti...

Sie schien seine Gedanken zu erahnen, denn ihre Stirn umwölkte sich.

Das Geräusch eines galoppierenden Pferdes lenkte Mary dann ab. Sie wandte sich herum, verschüttete dabei beinahe den Inhalt ihres Glases und ging zum Fenster.

"Er verfolgt dich noch immer wie ein böser Fluch, nicht wahr! Ich spreche von deinem Bruder...", sagte Tom.

"Sei still!", fauchte Mary.

Die Anspannung war ihrem Gesicht deutlich anzusehen.

"Ich werde ihm entgegengehen", erklärte Tom. Mary wirbelte herum. "Du weißt, dass du diesen Ort nicht verlassen kannst!"

Tom war mit wenigen Schritten in Richtung Tür gegangen. Dort konnte er nicht weiter. Einige der totenbleichen Gäste standen dort und versperrten ihm den Weg - allen voran Dostan Radvanyi, der ungarische Pianist. Mit starren Gesichtern gingen sie auf ihn zu.

Ihre Körperhaltung machte klar, dass sie ihn nicht durchlassen würden.

Tom stieß Dostan Radvanyi grob zur Seite und wollte den Flur entlang bis zur Eingangshalle rennen.

Ein Kinnhaken streckte einen weiteren dieser blassen Gäste nieder, die nichts weiter als Marionetten in Mary Delancies Händen waren.

Aber dann waren es doch zu viele Hände, die nach Tom griffen. Die blassen, leichenhaften Gestalten stürzten sich auf ihn, wie durch ein geheimes Zeichen koordiniert. Sie hielten ihn an den Armen. Der Griff dieser blassgesichtigen, geisterhaften Gestalten war wie ein Schraubstock. Tom versuchte, sich mit aller Kraft loszureißen, aber es gelang ihm nicht.

Mary blickte nervös aus dem Fenster.

"Nein", flüsterte sie entsetzt...

*


DAS GRAUE GEMÄUER VON Delancie Castle lag vor uns. Die Nebelschwaden waren bis auf die Stufen des Portals hinaufgekrochen. Wie ein dunkles Loch lag der Teich vor uns. Der Pferd ging auf die Hinterhand und wieherte. Willard zügelte es.

Ich stieg vom Rücken des Tieres hinunter. Willard ebenfalls. Aber das Pferd blieb weiterhin unruhig. Willard sah mich an und sagte dann: "Vielleicht haben Sie tatsächlich recht, Patricia... Vielleicht ist dies der Augenblick, um die Karten in dieser trostlosen Welt neu zu mischen."

Ich spürte es hinter den Schläfen pochen. Meine Hand hob sich unwillkürlich und presste dagegen.

Das mussten Marys mentale Kräfte sein...

Willard nickte nur.

Er wusste Bescheid.

Ich versuchte mich so gut es ging abzuschirmen. Ich blickte mit wachsender Besorgnis auf den Teich. Noch bevor sich die dunkle Wasseroberfläche hob, ahnte ich, was geschehen würde. Es ging zu schnell, um zuvor auch nur einen einzigen Laut ausstoßen zu können. Das Monstrum erhob sich als dunkler Umriss aus der Tiefe des schwarzen Teichwassers. Zwei grell leuchtende Augen waren das einzig helle an ihm. Doch noch ehe der Oberkörper dieser grauenerregenden Gestalt zu sehen war, hob Willard die Arme. Grellrote Strahlen schossen aus seinen Fingerspitzen heraus. Sie trafen das Monstrum, das laut aufschrie. Ein heiserer, tierischer Schrei des Entsetzens. Das Wasser des Teiches, das zu jener zähflüssigen, undefinierbaren Substanz geworden war, aus der auch das Monstrum bestand, begann zu kochen. Dampf stieg auf, mischte sich mit dem grauen Nebel.

Sekunden nur währte diese übersinnliche Auseinandersetzung. Das Monstrum sank zurück in die Tiefe.

Blasen stiegen von dort herauf und zerplatzen an der nun aufgewühlten Oberfläche.

Nichts war von dem Ungeheuer geblieben.

Willard wandte sich an mich.

Sein Blick hatte in diesem Augenblick etwas Stechendes, Unangenehmes. Mir schauderte vor der ungeheuren übersinnlichen Energie, über die auch er zu verfügen schien. Er schien meine Gedanken zu erraten.

Vielleicht las er sie sogar. Ich mochte nicht näher darüber nachdenken.

"Auch Sie haben diese Kraft, Patricia. Jeder menschliche Geist besitzt sie - zumindest hier, in dieser Welt der ewigen Dämmerung. Dieselbe Kraft. Aber Sie können Sie nicht gezielt einsetzen...."

Ich wollte etwas erwidern.

Aber ein Kloß saß mir im Hals und schnürte mir die Kehle zu.

Willard fasste mit der Hand an meine Stirn.

Gleichzeitig spürte ich deutlich, wie sein Geist mein Inneres berührte.

"Geben Sie mir Ihre Kraft, Patricia! Sonst wird alles so bleiben. Ich werde Mary sonst nichts entgegenzusetzen haben. Die Auseinandersetzung, deren Zeuge Sie gerade geworden sind, hat mich viel Kraft gekostet..." Seine Stimme hatte einen beschwörenden, geradezu hypnotischen Klang.

Ich konnte nichts sagen.

Und ich brauchte es auch nicht.

Willard ließ mir ohnehin keine Wahl. Er erwartete keine Antwort. Ich fühlte, wie die Kraft meinen Körper verließ. Eisige Kälte begann mich zu erfüllen. Mir war schwindelig. Ich hatte das Gefühl, zu taumeln. Einen Augenblick lang sah ich wieder den reißenden Strudel der Bilder und Farben, in den ich gestürzt war, als Mary mich entmaterialisiert hatte. Aber diesmal riss dieser Strom mich nicht mit sich. Diesmal entging ich dem Schlund im letzten Moment, als Willard die Hand von meiner Stirn nahm. Er stützte mich. In seinen Augen leuchtete es grell. Eine fluoreszierende Aura umgab seinen Körper, so als würde die Energie, die jetzt in ihm war, von ihm auf geheimnisvolle Weise abstrahlen. Ich fühlte mich unendlich schwach.

"Kommen Sie!", sagte er und nahm mich bei der Hand. Wir gingen auf das Portal zu. Ständig drohten mir die Sinne zu schwinden. Blei schien in meinen Beinen zu sein und selbst jeder Gedanke fiel mir so unendlich schwer...

Eine niederdrückende Lethargie breitete sich in mir aus. Am Fuß der breiten Treppe, die hinauf zum Portal führte, sank ich nieder. Ich fühlte kaum den kalten Stein der Stufen.

"Ich kann nicht mehr", murmelte ich. Er nickte.

Zweifellos wusste er, was mit mir los war.

"Dann warten Sie hier!"

"Sie werden es schaffen, ja?"

"Ich weiß es nicht."

"Sie werden Tom..." Ich konnte nicht mehr. Der Tod, dachte ich. Ein Zustand vollständiger Auflösung... Ich hatte das Gefühl, diesem Zustand sehr, sehr nahe zu sein...

Undeutlich nahm ich das Geräusch der Schritte wahr, mit denen Willard die Treppe hinaufstieg.

Ich sank vollends auf die Steine.

Es war alles andere, als ein bequemes Ruhebett. Kein Ort, an dem man sich zur Ruhe legen wollte. Aber in diesem Augenblick war es mir gleichgültig.

"Tom", flüsterten meine Lippen kaum hörbar.

*


DIE ARME, DIE TOM GEHALTEN hatten, zerfielen vor seinen Augen zu Staub. Die Körper zerfielen innerhalb eines Sekundenbruchteils. Der Eiswind, der aus dem Nichts kam wirbelte die Staubkörner noch einmal auf, ehe sie sich buchstäblich in Nichts aufgelöst hatten.

Mary hielt sich am Fensterrahmen fest. Sie wankte. Ein leises Stöhnen entrang sich ihren Lippen. Ihre weiße Elfenbeinhaut war jetzt so faltig wie zerknittertes Pergament. Ihr Haar von einer Sekunde zur anderen ergraut, die Augen matt und farblos.

"Tom", flüsterte sie.

Irgend etwas hatte ihr innerhalb eines einzigen Augenaufschlags einen erheblichen Teil ihrer Kraft genommen. Schritte waren nun zu hören. Tom drehte sich herum.

"Willard!", entfuhr es ihm.

Die düstere Gestalt mit Umhang und Zylinder näherte sich. Das eigenartige fluoreszierende Leuchten, das diesen Mann umgab, ließ ihn wie ein Gespenst erscheinen. Das grelle, dämonische Leuchten in seinen Augen begann zu pulsieren. Willard musterte Tom kurz.

Dann wandte er sich an Mary, die sich bereits wieder etwas erholt zu haben schien.

Ihr Haar hatte wieder Farbe bekommen. Die Haut war glatter. Sie brauchte sich nicht mehr aufzustützen.

"Was soll das, Willard?", kreischte sie. "Du weißt, wie das endet! Du bist nicht stark genug, um..."

"Diesmal vielleicht doch" sagte Willard Delancie ruhig.

"Und du weißt es..."

"Nein!"

"Wir müssen endlich unseren Frieden finden, Mary. Endlich, nach all der Zeit, die wir schon in dieser grauen Ödnis verbringen! Du in diesen modrigen Mauern, ich da draußen, auf geheimnisvolle Weise an dich gekettet!" Willard deutete auf Tom. "Gehen Sie, Lord Millroy. Meine Schwester wird sie nicht daran hindern!"

"Nein!", schrie sie. "Schon damals hast du mir mein Glück nicht gegönnt, Willard!"

"Mary! Soll dieser Fluch denn nie von uns genommen werden! So komm doch zur Vernunft!"

Ein fauchender Laut kam über Marys Lippen. Sie verwandelte sich auf ähnliche Weise, wie Tom es bereits einmal bei ihr gesehen hatte. Ihr Mund wuchs zu grotesker Größe. Große, beulenartige Auswüchse wucherten aus ihrem Schädel heraus und binnen eines einzigen Momentes war aus ihr ein grauenerregendes Monstrum geworden. Ihre Augen leuchteten jetzt beinahe so grell wie die ihres Widersachers. Wie eine Katze stürzte sie sich auf ihn.

Blitze zuckten aus ihren Fingern heraus und trafen Willard, aus dessen Händen rötliche Strahlen herausschossen. Tom musste die Augen schützen.

Ein dumpfes Brummen ließ den Boden erzittern. Risse begannen sich in den Wänden dieses grauen Gemäuers zu bilden. Die Bilder wackelten und schließlich krachten die ersten von ihnen aus ihren Halterungen. Glas splitterte. Die Fenster barsten eines nach dem anderen.

Tom lief den Flur zur Empfangshalle entlang. Er stolperte ihn vielmehr. Nur einmal blickte er kurz zurück. Er nichts weiter als ein Licht, das so grell war, wie es im Zentrum der Sonne sein mochte. Ein Feuer wie im furchtbarsten Höllenschlund.

Und doch war es kalt.

Eiskalt.

Die Temperatur schien ins Bodenlose zu fallen. Tom hatte das Gefühl, in einen Kühlraum zu treten, als er die Eingangshalle erreichte. Überall hatten sich nun Risse durch die Wände gezogen. Sie sahen aus wie mäandernde Flüsse auf einer Landkarte. Steinbrocken krachten herab und zerplatzen am Boden. Tom erreichte die Tür, während hinter ihm das Chaos ausbrach. Ein Inferno des Grauens.

*


HÄNDE FASSTEN MICH bei den Schultern. Der Blick graugrüner Augen musterten mich. Augen, die mir so unendlich vertraut waren.

"Tom", flüsterte ich matt.

"Patti!"

Er beugte sich über mich. Das dumpfe Grollen im Hintergrund nahm ich kaum wahr. Aber es konnte nichts Gutes verheißen.

"Wir müssen hier weg!", sagte Tom.

Er versuchte mich auf die Beine zu stellen. "Was ist geschehen?", murmelte ich.

"Nicht jetzt! Jetzt komm!"

"Ich kann nicht!"

"Du musst!"

Ich versuchte, alles an Kraft in mir zu mobilisieren. Tom legte seinen Arm meine Taille und sich den meinen um seine Schulter.

Immer noch waren meine Beine wie aus Blei, aber wider erwarten konnte ich mich einigermaßen abstützen, während wir voran stolperten. Hinter mir war zu hören, wie Steine auseinander barsten, Träger einstürzten und Mauern zerbrachen.

Ich schaute kurz zurück.

Grelle Blitze erfüllten das verwinkelte Gebäude. Und eine leuchtende Aura umfing es.

Wir liefen weiter. Zwischendurch sank ich vor Erschöpfung zu Boden, aber Tom hob mich hoch. Immer weiter ging es durch den wabernden Nebel. Als ich mich das nächste Mal umsah, war von Delancie Castle nichts mehr zu sehen. Hinter uns war nur eine graue Nebelwand.

"Was geschieht nun?", flüsterte ich.

"Ich weiß es nicht", sagte Tom.

Wir wussten nicht, wohin wir liefen. Vielleicht drehten wir uns im Kreis, ohne es zu merken.

Schließlich waren wir so erschöpft, dass wir uns auf dem Boden niederließen. "Nur eine kurze Pause", sagte ich. Tom widersprach nicht.

Auch er war erschöpft. Ich lehnte mich gegen ihn. Die letzte Erinnerung, die ich dann hatte war das Schlagen seines Herzens. Ein regelmäßiger, beruhigender Rhythmus, der mich in den Schlaf völliger Erschöpfung sinken ließ.

*


ALS ICH ERWACHTE, LAGEN wir nebeneinander auf dem Boden. Es war das kalte Pflaster eines Bürgersteigs. Ich schreckte auf und war auf einmal hellwach. Ich fasste Tom bei der Schulter. Er rührte sich und blickte sich ebenso erstaunt um. Der Bürgersteig, auf dem wir lagen, gehörte zu einer Nebenstraße in einem der zahllosen, ineinanderwachsenden Londoner Vororte. Rechts und links befanden sich je eine Häuserzeile. Es war Nacht. Am Himmel funkelten die Sterne. Das nächste, was ich registrierte, war, dass es sehr warm war, verglichen mit jenem Ort, an dem wir uns gerade noch befunden hatten. In den dicken Tweed-Sachen, die wir trugen, würden wir innerhalb kürzester Zeit zu schwitzen beginnen. Dennoch empfand ich diese Wärme als angenehm. Sagte sie mir doch, dass hier Sommer war.

So wie in jenem London des zwanzigsten Jahrhunderts, das wir auf einer öden, ins Nichts führenden Straße verlassen hatten.

"Wir sind zurück, Patti", sagte Tom. Und dabei deutete er auf den Wagen, der in einiger Entfernung am Straßenrand abgestellt war. Es handelte sich um Toms Volvo. Tom erhob sich. Er half mir auf. Dann sah er mich an. Unsere Blicke verschmolzen miteinander. Er strich mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht und in seinen Augen spiegelte sich das Mondlicht.

"Ich glaube, wir haben es geschafft", sagte er.

"Ja", flüsterte ich.

Dann küssten wir uns. Seine Lippen waren warm und lebendig. So ganz anders all das, was uns in jenem grauen Zwischenreich begegnet war, dass irgendwo zwischen den Gefilden der Lebenden und jenen der Toten existierte.

Oder existiert hatte.

Mit Bestimmtheit konnte das niemand sagen.

Nichts erinnerte daran, dass es diese Zwischenwelt überhaupt gegeben hatte. Nichts, außer der Kleidung, die wir trugen.

"Ich hätte dich niemals aufgegeben und dort zurückgelassen", sagte ich.

"Oh, Patti..."

"Vielleicht bin ich von einem ganz ähnlichen Wahnsinn befallen wie Lady Mary Delancie... Wahnsinnig vor Liebe, Tom!"

Ich schlang meine Arme um seinen Hals und spürte seine starken Arme in meinem Rücken. Ich schmiegte mich an ihn und hielt ihn fest. Mit aller Kraft. So als wollte ich ihn niemals wieder loslassen.

"Ich liebe dich, Patti" flüsterte er mir ins Ohr, und ein wohliger Schauer fuhr mir den Rücken hinunter.

*


AN DIESEM ABEND GINGEN wir nicht mehr essen. Wir kehrten statt dessen zu Tante Lizzys Villa zurück. Tante Lizzy war keineswegs schlafen gegangen. "Patti!", entfuhr es ihr, als sie uns sah. "Wo seid ihr die vergangenen zwei Tage geblieben? Mein Gott, ich habe bereits Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt... Selbst Scotland Yard habe ich eingeschaltet!"

"Oh", entfuhr es mir.

"Und überhaupt, wie seltsam ihr ausseht..." Sie wandte sich an Tom. "Ich hoffe, Sie verzeihen mir diese Äußerung, Mr. Hamilton..."

"Natürlich", versicherte Tom mit einem Lächeln der Erleichterung auf den Lippen.

"Mr. Swann war auch sehr besorgt", sagte sie dann.

"Vermutlich war seine Reaktion eher ärgerlich", meinte Tom dann. "Ganz gleich, was er Ihnen vorgespielt haben mag, Mrs. Vanhelsing..."

Tante Lizzy sah mich forschend an.

"Was ist passiert?", fragte sie.

Ich seufzte und musste dann ein Gähnen unterdrücken.

"Um ganz ehrlich zu sein, ganz genau wissen wir das auch nicht, Tante Lizzy. Aber ich bin mir sicher, dass du uns vielleicht dabei helfen kannst, unsere Erlebnisse zu erklären!"

ENDE

Patricia Vanhelsing Sammelband 5 Romane: Sidney Gardner - Übersinnlich

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