Читать книгу Verschwunden und ermordet: 3 Top Krimis - Alfred Bekker - Страница 6

Schnäppchen mit Blutspuren HORST BIEBER

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Kriminalroman



IMPRESSUM

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author/ Titelbild: Nach Motiven von Pixabay mit Steve Mayer, 2016

© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de


Klappe

Chris(Tina) Dellbusch, die Jüngste im Tellheimer Referat 11 (Mord, Totschlag und Entführung) hat es mit der Leiche eines armen Schluckers namens Martin Brotesser zu tun, den seine Nachbarn den Trockenbrotesser nennen. Wer kann ein Interesse daran haben, so einen Mann zu erstechen? Tina ist lange damit beschäftigt, ein mögliches Motiv zu entdecken. Dann findet sie in einem

Bankschließfach einen vor einem Notar geschlossenen Vertrag, wonach

Brotesser ein Millionen-Grundstück im besten Viertel Tellheims kaufen will.

Hatte er so viel Geld aus einem Lottogewinn oder trat er nur als Strohmann und Platzhalter auf?

Tina muss eine Menge über Kommunalpolitik, Baurecht und Tellheimer

Geschichte lernen, bis sie einen blutigen Betrug durchschaut: Wie reißt man sich ein wertvolles Grundstück fast legal unter den Nagel, ohne einen eigenen Cent dafür zu bezahlen?



Personen

Martin Brotesser: Angestellter im Bezirksamt Tellheim-Weidenthal

Adolf Gruber: Angestellter im Tellheimer Liegenschaftsamt der DB

Leo Kusch: „Ökonom“ in der Bikini-Bar

Gerda Linke: Wirtin im Hölzer Hof

Helga Troll: Gerdas Schwester, Hausmeisterin in der Ludwigstraße 44

Susanne (Susi) Lauter: Früher Bedienung in der Bikini-Bar

Christine (Tine) Dellbusch: KK im Referat R – 11 der Tellheimer Kripo

Britta von Sandau: Staatsanwältin in Tellheim

Lorenz Koch (67): Redakteur i.R.

Annegret Stamper: Mitarbeiterin in der Tellheimer Kriminaltechnik

Josef Tönnissen: Verstorbener Hausbesitzer in Tellheim-Weidenthal

Dr. Walter Brünn (51): Kinderarzt

Miriam Tönnissen (33): Geschäftsfrau in Karlsruhe, Josefs Nichte

Anke Tönnissen (31): Lehrerin in Stuttgart, Josefs Nichte

Maria Gerber geborene Tönnissen (35): Ehefrau in Basel


Alle Namen und Taten, Personen und Ereignisse, Geschäfte und Organisationen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.


Erstes Kapitel

Britta von Sandau hielt sich entsetzt die Nase zu: „Stinkt das bei euch immer so?“

Doktor Rupp, der neben der Leiche kniete, hob den Kopf und lächelte mokant: „Da können wir Ihnen noch was ganz anderes bieten, Frau Staatsanwalt.“

Tine Dellbusch, die noch nie dienstlich mit der Staatsanwältin von Sandau zu tun gehabt hatte, schwieg lieber und konzentrierte sich auf die Leiche des vielleicht vierzigjährigen, etwas dicklichen Mannes mit gekräuselten hellbrünetten Haaren, die dringend nach einem

Friseur verlangten. Der Mann war nicht rasiert und machte auf Tine einen seltsam schmuddeligen Eindruck. Er lag auf der rechten Seite, mit dem Kopf zum Fenster, und war an zwei Stichen in die linke Körperseite verblutet, das Blut war zum Teil an seinem Körper heruntergelaufen, hatte das langärmelige hellgrauen Shirt verfärbt und eine fast runde Lache zwischen Körper und Couchtisch gebildet. Ein schmales Rinnsal hatte von dort noch die Kante eines Hosenbeines der abgewetzten Jeans erreicht. Das inzwischen fast eingetrocknete Blut hatte den hellen, abgetretenen Teppichboden dunkel gefärbt. Das Wohnzimmer war nicht groß und spärlich, dazu geschmacklos möbliert, keines der Stücke sah elegant oder neu oder teuer aus. Es gab auf den ersten Blick auch keine Spuren oder Anzeichen eines Kampfes oder Einbruchs. Die Stichwaffe war verschwunden. Britta von Sandau räusperte sich unfreundlich: „Danke, das hier reicht mir schon vollkommen.“

Dr. Rupp beugte sich wieder zu dem Toten hinunter und Tine Dellbusch fragte nüchtern: „Wie lange ist er tot?“

„Schätzungsweise drei Tage.“

„Also am vergangenen Sonntag gegen Abend erstochen?“

„Vermutlich, ja.“

„Zwei Stiche in die Seite, nicht wahr?“

„Ja. Der Täter war höchstwahrscheinlich Linkshänder und stand hinter seinem Opfer.“

„Der Täter? Eine Frau kommt nicht in Frage?“

„Eher nein. Es sei denn, sie ist ungewöhnlich kräftig.“

Den Namen des Toten kannten sie von der Hausmeisterin, die den ermordeten Mieter gefunden und die Polizei alarmiert hatte. Martin Brotesser, der in der Tellheimer Stadtverwaltung, im Bezirksamt Weidenthal arbeitete. Ledig, keine Kinder, keine feste Freundin. Viel mehr wusste die Hausmeisterin nicht von ihm, was Tine Dellbusch ihr nicht so recht glaubte. Der Fotograf hatte seine Knipserei beendet und begann, die Nummernschilder einzusammeln. Die Kollegen der Spurensicherung warteten schon ungeduldig darauf, dass sie anfangen konnten. Die Kommissarin Christine Dellbusch sah die Staatsanwältin an: „Also ab zur Gerichtsmedizin?“

„Aber ja.“

Christine Dellbusch, im mundfaulen Präsidium nur als Tine Dellbusch bekannt, zog sich die scheußlichen weißen Plastik-Fingerhandschuhe an und begann ihren Rundgang durch die kleine Dreizimmerwohnung und diktierte wie schon zuvor alles, was ihr auffiel, in ihr tragbares Aufnahmegerät. Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, eine fensterlose Abstellkammer mit einem abgeschrammten Schreibtisch, auf dem ein Computer stand. Alle Möbel sahen aus, als seien sie gebraucht gekauft. Kein Hinweis darauf, dass jemand versuch hatte, etwas Bestimmtes zu finden. Das Bett im Schlafzimmer war benutzt, ebenso die Dusche und die Toilette im Bad. Es roch muffig, eben ungelüftet. Die Hausmeisterin hatte behauptet, es gebe keine Verwandten Brotessers in der Nähe der Stadt, also packten sie auch den Inhalt der beiden Kleiderschrankhälften ein. Um alles weitere würden sich die Spurensicherung und ihr Leiter Seidel oder seine Vertreterin Annegret Stamper kümmern, mit der sich Tine mittlerweile duzte.

Wie mit ihr vereinbart, suchte Tine die Hausmeisterin Gerda Linke im Parterre auf. Die hatte bereits Kaffee gekocht und schien sich auf ein Schwätzchen zu freuen. Wann konnte man schon mal über einen Mord in seinem Haus erzählen? Tine vermutete, Gerda Linke würde, wenn später die Journalisten mit gefüllten Brieftasche anrückten, sich noch an viele, auch märchenhafte Details „erinnern“, die sie der Kriminalbeamtin Tine Dellbusch verschweigen wollte. Gerda war früher eine sehr propere Frau gewesen, Spuren des ehemaligen Reizes waren noch immer zu entdecken.

„Ja, der Brotesser. Schäbiger Mann, schäbig gekleidet, schäbige Wohnung. Die anderen Hausbewohner nannten ihn den Trockenbrotesser, weil er so aussah und sich aufführte, als könne er sich weder Butter noch Belag leisten.“

„Aber wenn er bei der Stadt arbeitete, kann er doch nicht so schlecht verdient haben.“

„Hat er wohl auch nicht. Aber er hat das Geld lieber für andere Dinge ausgegeben.“

„Zum Bespiel?“

„Zwei-, dreimal die Woche hat er sich mit Kumpeln zum Skat im Hölzer Hof an der Eichengabel getroffen. Dort hat er auch oft gegessen und ordentlich gebechert.“

„Woher wissen Sie das, Frau Linke?“

„Meine geschiedene Schwester Helga Troll hat den Hölzer Hof gepachtet.“

„Brotesser war, wie Sie mir oben gesagt haben, nicht verheiratet?“

„Nein.“

„Eine feste Freundin hatte er nicht?“

„Nein, ein- oder zweimal die Woche bekam er 'Besuch' von einer recht hübschen jüngeren Frau.“

„Wissen Sie, wer diese Frau ist oder wie sie heisst?“

„Nein. Er hat sie in meiner Gegenwart immer nur 'Susi' genannt, und wenn Sie mich fragen, ist sie ein Professionelle.“

Den Gefallen, sie zu fragen tat ihr Tine nicht, die stämmige Gerda sprach ohnehin unverblümt aus, was ihr gerade durch den Kopf ging. „Sollten Sie dieser Susi noch einmal begegnen, sagen Sie ihr doch bitte, Sie möchte sich im Polizeipräsidium am Krötengraben melden. Ich heiße Christine Dellbusch und arbeite im Referat R – 11.“

Gerda Linke versenkte die Karte mit der linken Hand in einer ihrer Kitteltaschen, als handele es sich um eine gewonnene Goldmedaille.

„Sie schauen doch nicht alle Tage nach den Mietern?“

„Nein, es sei denn, die habe sich in den Urlaub oder ins Krankenhaus abgemeldet und mich gebeten, mal nach den Blumen und der Post zu gucken.“

„Blumen habe ich oben nicht gesehen.“

„Nein. Mir war aufgefallen, dass Brotesser heute den dritten Tag seine Zeitung nicht aus dem Fach genommen hatte und sein Briefkasten überlief.“

„Wie lange hat Martin Brotesser hier in der Ludwigstraße 44 gewohnt?“

„Ich habe vor fünf Jahren hier angefangen, und da wohnte er schon mehrere Jahre im dritten Stock.“

„Und gearbeitet hat er im Bezirksamt Weidenthal in der Pohlstraße?“

„Ja.“

Das waren, soweit Tine sich erinnerte, vier oder fünf Minuten zu Fuß. Dazu brauchte Brotesser kein Auto. Seine Stammkneipe lag drei Gehminuten in der Gegenrichtung. Kein großer Radius eines anscheinend sehr bescheidenen Lebens. In die Tellheimer Innenstadt musste er den Bus nehmen, der in der Parallelstraße, der Ganghoferstraße, hielt.

Die Firma Holzbauer & Söhne hatte in der Eichengabel mehrere Jahrzehnte lang Möbel für Büros, Wohnungen und Geschäfte gebaut. Dann hatte ein Großbrand das wertvolle Holz- und Furnierlager vernichtet. Vater und Sohn Holzbauer hatten nicht mehr die Kraft aufgebracht, neu anzufangen, sie verkauften das wertvolle Grundstück und zogen in den Süden. Eine Brauerei sicherte sich an der Straßenfront Eichengabel eine vierstöckige Immobilie, die als mehr oder minder seriöse Kneipe unter dem Namen Hölzer Hof bis heute überlebt hatte. Das Hauptgeschäft stellte zur Zeit wohl das Mittagsmenü dar, Suppe, Salat und ein Haupt-Tellergericht für zusammen unter zehn Euro, die meisten Gäste arbeiteten in den Büros der Nachbarschaft. Der Hölzer Hof würde kein Geheimtip für Feinschmecker werden, aber was er bot, war nicht so schlecht, wie man annehmen sollte.

Als Tine eintrat, rief ihr eine ältere Frau entgegen: „Mittagessen erst ab 12 Uhr 30.“

„Ich möchte nicht essen, ich suche eine Frau Helga Troll.“

„Das bin ich, und sie sind sicher die Kommissarin Christine Dellbusch? Meine Schwester hat mich schon angerufen und Sie angekündigt.“

Genau das hatte Tine befürchtet. Aber gegen so etwas war kein Kraut gewachsen. Immerhin hatte Helga Troll dadurch Zeit gehabt, sich über den Verlust eines Stammgastes zu beruhigen, eines Stammgastes, den sie, wie sie ungefragt eingestand, nicht sehr geschätzt hatte, obwohl er und seine Skatkumpel ganz schöne Rechnungen gemacht und sich immer ruhig verhalten hatten.

„Nach eben diesen Skatkumpeln wollte ich mich bei Ihnen erkundigen.“

„Viel kann ich Ihnen nicht sagen. Der eine heisst Adolf Gruber und arbeitet bei der Immobilienverwaltung der Deutschen Bahn, die – wie Tine zu ihrem Erstaunen erfuhr – in Tellheim, in Weidenthal zumal beträchtliche Flächen und Immobilien besaß. „Wissen Sie, wo diese Immobilienverwaltung liegt?“

„Ja, gleich nebenan in Brökel in der Sybelstraße.“

„Zum Skat gehören drei. Brotesser, Gruber und ...“

„... und der Leo Kusch.“ Ihre Stimme verriet, dass sie diesen dritten Mann nun überhaupt nicht leiden mochte.

„Es wäre toll, wenn Sie wüssten, wo er wohnt oder arbeitet“, lockte Tine.

„Wo er wohnt, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hier ganz in der Nähe. Eine Gegenfrage: Wissen Sie, was ein Ökonom ist?“

„Ein Volks- oder Betriebswirt oder Finanzwissenschaftler. Oder im Milieu der Hausmeister und Mann für alles in einem etwas zwielichtigen Lokal.“

„Leo Kusch arbeitet, wenn man das überhaupt Arbeit nennen darf, in der Bikini-Bar in Brökel.“

Von dem Schuppen hatte Tine schon im Präsidium gehört. Bar war fast ein Euphemismus. Es handelte sich um einen Puff der gehobenen Preisklasse, in dem alle Bedienungen in knappen Bikinis herumliefen. Und zu jeder vollen Stunde einmal fielen alle Hüllen, dann boten die Damen auf der Bühne im Eva-Kostüm eine Tanz-Show. Tine hatte gestaunt – hundert Euro Eintritt und Getränkepreise, die einem Normalverdiener die Tränen in die Augen trieben. Aber weil nicht jeder hereingelassen wurde, Glücksspiel und Rauschgift und handgreiflicher Streit mit rauen Methoden unterbunden wurden, war die Bikini-Bar selten das Ziel von Polizei-Einsätzen. Eine Zeitlang hatte sich das Jugendamt intensiv für die Bedienungen und Tänzerinnen interessiert – die Truppe führte den merkwürdigen Namen „Hayler Elfen“ - aber keine Verstöße gegen Gesetze und Schutzbestimmungen feststellen können. Das Unternehmen zahlte sogar korrekte Steuern und Sozialabgaben für seine Angestellten.

Die Kommissarin hatte inzwischen ihr Batterie-Bandgerät aufgebaut, was Helga Troll nicht zu gefallen schien. Sie sagte aber nichts.

Tine musste bei ihrer nächsten Frage grinsen: „Was treibt einen Bikini-Mann in den Hölzer Hof?“

„Der Kerl muss, wie gesagt, hier in der Nähe wohnen und hat vielleicht Sehnsucht nach normal bekleideten Menschen und Biertrinkern“, erwiderte Helga Troll grimmig.

„Kusch – wie der Befehl an den Hund?“

„Ja, genau so. Leo Kusch.“

„Aber Kusch verhält sich hier ganz unauffällig?“

„Völlig, fast ein Mustergast. Aber sympathisch ist er mir trotzdem nicht.“

„Und dieser Adolf Gruber?“

„Das ist ein Großmaul. Dicke Lippe, spuckt große Töne und nichts dahinter und nichts auf der hohen Kante. Der geborene Hochstapler und Betrüger.“

„Die drei so unterschiedlichen Typen haben sich vertragen?“

„Zumindest beim Skat, ja.“

„Wann haben Sie Brotesser zu letzten Mal gesehen?“

Sie musste überlegen: „Am vorigen Freitag gegen 20 Uhr, da habe ich den Fernseher für die Tagesschau angestellt.“

„Können Sie sich einen Grund vorstellen, warum Gruber oder Kusch den Brotesser umgebracht haben könnten?“

Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein, ausgeschlossen. Der Gruber ist zu feige und der Kusch weiß zu genau, was einem dann blühen kann.“

„Er ist also vorbestraft?“

„Mehrfach.“

Tine erkundigte sich nicht, woher Helga Troll das wissen wollte. Und weil auf dem Bandgerät der Warnblinker für die Akkuspannung seine Arbeit aufgenommen hatte, verabschiedete sie sich und fuhr ins Präsidium. Dort legte sie zuerst die berühmte Akte an „... zum Nachteil von Martin Brotesser...“ und begann zu sinnieren.

Wer ermordete einen armen Kerl, den seine Nachbarn als Trockenbrotesser verspotteten? Na schön, mehrmals die Woche Skat, mäßiges Essen in einem Lokal, für das die Bezeichnung Restaurant die reinste Hochstapelei wäre. Dazu – wenn die neugierige Gerda richtig lag – ab und zu der 'Besuch' einer Nutte namens Susi – war das alles in seinem Leben? Weiter kam Tine nicht, weil sie von Annegret Stamper gestört wurde, der Vizechefin der Spurensicherung. „Schau mal, Tine, was wir unter einer Schublade in Brotessers Wohnzimmerschrank gefunden haben. Mit einem Stück Tesa festgeklebt.“

„Das ist ein Schließfachschlüssel ...“

„Richtig. Und zwar von der Leininger Volksbank.“

„Weisst du zufällig auch schon, in welcher Filiale?“

„Nein. Dafür soll uns die schöne Britta einen formellen richterlichen Beschluss besorgen.“

„Warum nennst du sie die schöne Britta?“

„Ihre Mutter Dörte war noch schöner, ebenfalls Staatsanwältin. Befreundet mit einem Hauptkommissar, mit dem sie in einem Haus wohnte. Die beiden haben zusammen gründlich aufgeräumt. Ein Chef des Landes-Verfassungsschutzes, zwei ranghohe Mitarbeiter des BND und des MAD mussten gehen. Und als Britta sich hier vorstellte, meinte der Leitende Hornvogel: 'Hoffentlich sind Sie nicht so rabiat wie Ihre Mutter. Schön genug sehen Sie ja aus'.“

„Ein liebenswürdiger Leitender.“

„Na ja, er wurde bald danach gegangen.“

Tine lächelte trübe. Es dauerte, bis man die Seilschaften und inoffiziellen Verbindungen und Beziehungen in einer Behörde durchschaute. Hornvogels letzter Nachfolger als Leitender Oberstaatsanwalt, Paul Hase, war in das Amt des Generalstaatsanwaltes versetzt worden. Seine langjährige Freundin Jule Springer fungierte jetzt als Erste Hauptkommissarin im Referat 11 – Mord, Totschlag und Freiheitsberaubung – und würde den Polizeidienst in wenigen Monaten verlassen, um nun doch ihren Hoppelhasen, „mein Langohr Paulchen“, zu heiraten: Es wird Zeit für mich und, wenn wir noch kleine Häschen haben wollen.“ Jules Vorgängerin im R – 11 hatte aus unbekannten Gründen vorzeitig den Dienst gekündigt, um zu ihrem Freund nach Berlin zu ziehen, dessen Frau sich von ihm getrennt hatte. Es war ein stetes Kommen und Gehen, das der jungen Kommissarin Christine (Tine) Dellbusch gar nicht gefiel. Und nun noch eine neue Staatsanwältin, die den Ruf als Tochter einer streitbaren Mutter zu verteidigen hatte.

Tine tippte noch bis 21 Uhr 30 die ersten Protokolle für die Akte Brotesser und fuhr dann zur Bikini-Bar. Der Mann am Eingang musterte sie grämlich: „Frauen haben keinen Zutritt.“

„Ach, wissen Sie, in gewisser Weise bin ich keine Frau.“ Sie hielt ihm ihren Dienstausweis unter die Nase: „Ich möchte Leo Kusch sprechen.“

„Jetzt?“

„Warum nicht?“

Der bullige Typ erinnerte sich wohl daran, dass er Anweisung hatte, Ärger mit der Polizei zu vermeiden, und zog den Kopf ein: „Moment, ich rufe ihn an.“

Leo Kusch sah ganz und gar nicht so aus, als würde er auf Kommando eines Frauchens kuschen, aber auch er riss sich zusammen und führte Tine Dellbusch über einen Nebeneingang, zu dem er Schlüssel besaß, in ein Büro, bot ihr einen Stuhl an und sagte dann spöttisch: „Sie kenne ich noch gar nicht. Bei der Sitte sind Sie nicht, wie?“

„Nein, bei Mord und Totschlag.“

„Ach nee. Und was habe ich mit Mord und Totschlag zu tun?“

„Mit dem jüngsten Opfer haben Sie oft Skat gespielt, im Hölzer Hof.“

„Ach nee. Und wer hat den Löffel abgegeben? Gruber? Oder der Trockenbrotesser?“

„Martin Brotesser.“

„Ich glaub's nicht! Wer bringt denn so ein harmloses und nutzloses Würstchen um?“

„Um das herauszufinden, bin ich hier.“

„Also, ich war's nicht- damit das gleich klar ist.“

„Wann haben Sie Brotesser zum letzten Mal gesehen?“

„Das war – Moment – am vergangenen Freitag. Im Hölzer Hof. Helga – die Wirtin – hatte gerade den Fernseher angemacht, da ist Martin aufgestanden und hat gemeint, es werde Zeit für ihn, er bekäme gleich noch lieben Besuch.“

„Besuch?“

„Das war so eine Umschreibung für das Callgirl, das regelmäßig zu ihm kam.“

„Callgirl?“

„Er hatte keine Freundin, aber gelegentlich männliche Bedürfnisse. Und mit Susi hatte er einen festen Preis und feste Termine ausgehandelt.“

„Susi?“

„Susanne Lauter.“

„Sie kennen sie?“

„Na klar doch. Susi hat mal hier gearbeitet. Sie war eine der Hayler Elfen.“

„Ich kenne Elfen aus dem Märchenbuch, aber Elfen aus Hayl bin ich noch nie begegnet.“ Hayl war ein größeres Dorf am Fuß des Vorgebirges.

Kusch musste sich zusammenreißen, um ruhig zu bleiben und zu einer längeren Erklärung anzusetzen.

Drei junge Mädchen aus Hayl, alle groß, schlank und blond, hatten zu ihrem eigenen Vergnügen eine Tanzgruppe gebildet und traten bei Volksfesten, Jahrmärkten und Jubiläums-Feiern auf. Und weil jedes Kind einen Namen haben muss, nannten sie sich nach ihrem Heimatdorf die Hayler Elfen. Das Trio hatte Erfolg, so dass sich andere Blondinen ihnen anschlossen, die schon nicht mehr aus Hayl stammten. An einem Wochenende bekam sie Otto Kulicz zu sehen und der hatte – wie so oft -sofort eine zündende Idee. Er suchte für seine neu eröffnete Bar nicht weit vom Bootshafen Tellheim eine ungewöhnliche Attraktion und schlug den Mädchen vor, dort als Bedienungen im Bikini zu arbeiten und jede Stunde einmal nackt ihre Tänze und Akrobatik vorzuführen. Die meisten Mädchen sprangen ab, aber es blieben genug übrig, eine zuerst winzige Tanztruppe Hayler Elfen zu bilden, der sich im Laufe der Jahre immer mal wieder Neuzugänge anschlossen.“

„Im Laufe der Jahre?“ unterbrach Tine. Kusch schaltete sofort. „Ja. Die Truppe besteht seit fast elf Jahren. Elfen, die zu alt oder zu dick oder zu steif werden, müssen gehen und manche tun dann das, was sie in der Bikini-Bar nach der letzten Vorstellung um ein Uhr nachts schon häufiger getan haben. Sie gehen mit ihren Freunden und Bekannten oder Kunden von der Bar auf eines der Zimmer – das kümmert die Geschäftsführung nicht, so lange das friedlich, ohne Skandal und ohne Gewalt abläuft. „Private Kunden“ außerhalb der Bar sind den Elfen erlaubt. Die Bikini-Bar verdient an dem Hurengeschäft nicht direkt.“

„Und so eine ausgemusterte Elfe ist diese Susi?“

„Ja.“

„Haben Sie ihre Adresse und ihre Handynummer?“

„Aber ja.“ Er schaute im Computer nach und kritzelte die Angaben dann auf einen Zettel.

„Danke. Wie haben Sie Brotesser und Gruber kennengelernt?“

„Im Hölzer Hof suchten zwei Männer einen dritten Kumpel für einen gepflegten Skat. Die Wirtin hat mich vorgeschlagen.“

„Wann haben sie Brotesser zum letzten Mal gesehen?“

„In der vergangenen Woche. Da haben wir zuletzt Skat geklopft.“

„Haben Sie Brotesser umgebracht“

„Blödsinn. Warum sollte ich?“

„Was ist mit Gruber?“

„Nennen Sie mir einen Grund, warum der das getan haben sollte.“

„Mit Gruber habe ich noch nicht gesprochen“, sagte Tine ehrlich.

„Brauchen Sie Anschrift, Arbeitsplatz und die Telefonnummern?“

„Bitte ja.“

Kusch half gerne aus und meinte dann etwas vorsichtig: „Ich würde an Ihrer Stelle nach dem Täter nicht nur unter uns Skatbrüdern suchen.“

„Ich habe heute erst angefangen.“ Es war klar, dass Kusch möglichst viele Verdächtige ins Spiel bringen wollte. Er hatte zwar anscheinend offen und rückhaltlos geantwortet, aber ein alter knastgeschulter Fuchs wusste, dass hauptsächlich viele Blindspuren des Spürhunds Ende sind.

Was er nicht wissen konnte, war, dass er in Tines Erinnerung eine schmerzhafte Stelle getroffen hatte. Christine Dellbusch stammte nicht aus Hayl, war aber in der benachbarten Stadt Guntersburg aufgewachsen und hatte die Hayler Elfen noch als Dreiergruppe bei einem Lantener Herbstfest etwas neidisch bewundert. Sie hätte damals auch gerne so ein besticktes Trachtenkleid besessen, aber der Preis überstieg das Familienbudget bei weitem.

Und sie hätte sich auch gerne an der Rampe verbeugt, um bewundert und beklatscht zu werden – ein Traum, den sie immer für sich behalten und von dem sie nur schwer und spät Abschied genommen hatte.

Sie hatte nie gehört, was aus den ersten drei Hayler Mädchen geworden war, und konnte sich nicht vorstellen, dass alle als Prostituierte und Nackttänzerinnen in einer Bikini-Bar gelandet waren. Doch Tine hatte inzwischen erlebt und gelernt, dass viele Lebenswege sehr krumm verliefen und an allen möglichen unerwarteten Endstationen wie in Sackgassen scheiterten.

Die Spätlese hatte, wie es ihrem Namen scheinbar entsprach, noch geöffnet. Das Weinlokal schloss selten vor Mitternacht, weil wichtige Stammkunden erst viertel vor zwölf aufbrachen. Denn dann waren sie eine Minute vor Mitternacht am Eingang des privaten Altersheimes Zukas, das Punkt 24 Uhr schloss. Die alten Herren waren geschätzte Kunden in der Spätlese, weil sie erfahrene Weintrinker waren, schöne Rechnungen machten und ausgesprochen leise und diszipliniert Karten oder Schach spielen. Die ganz in ihre Partie versunkenen Schachspieler scheuchte der Wirt Fido Lorch rechtzeitig mit dem Satz: „Zukas sperrt Sie aus“ auf die Straße. Tine Dellbusch hatte mit dem früheren Kripo-Kollegen Fido Lorch ein Verhältnis gehabt, das aber nur knapp einen Monat dauerte; doch sie waren nach ihrer einvernehmlichen Trennung Freunde geblieben und wenn Tine „ihren Moralischen“ hatte, schaute sie vor dem Schlafengehen gerne bei Fido auf ein Glas herein. Und der sagte auch prompt: „Du siehst müde aus. Kummer?“

„Es geht... Nein, dienstlich läuft alles glatt, aber ein Zeuge hat mich, was er nicht wissen konnte, an eine unschöne Phase meiner Schulzeit erinnert.“

„Ich habe einen spanischen Contado, inzwischen ausreichend gelagert.“

„Gerne.“

Der Wein war hervorragend, Fido verstand eine Menge von Weinen, und viele verkaufte er ungern, weil er sie lieber selben getrunken hätte.

„Großartig, Fido. Zum Dank eine weniger großartige Frage. Kennst du die Bikini-Bar?“

„Die in Brökel?“

„Ja.“

„Warum fragst du?“

„Ich habe einen Mordfall, und das Opfer hatte ein- oder zweimal die Woche Besuch von einer früheren Hayler Elfe bekommen. Das ist doch die große Attraktion in dem Schuppen, nicht wahr?“

„Na ja. Die Bedienungen laufen, wie schon der Name sagt, alle in sehr knappen Bikinis herum, da bleibt nicht viel verborgen. Jede volle Stunde fallen auch diese Stofffetzen und die ganze weiblich Mannschaft tanzt nackt auf der Bühne.“

„Hübsche Frauen?“

„An sich ja. Für meinen Geschmack etwas zu dünn, zu wenige Busen und zu wenig Po. Aber da denkt wohl jeder Mann anders.“

„Aber was passiert ...“

„Moment, Tine. Was die Mädchen nach der letzten Show treiben, bleibt ihnen überlassen. Kritisch wird es erst, wenn der Busen nicht mehr so stramm und der Po nicht mehr so knackig ist. Dann werden sie rigoros aussortiert und manche landen dann bei Hausbesuchen ... Schau mich nicht so strafend an: Ich bin da nur ein Mal gewesen, hundert Euro sind doch verdammt viel Eintritt für einen jungen Kripomenschen, und wenn du sie als Spesen absetzen willst, musst du verdammt viel erklären. Und keiner will dir glauben. Hast du einen bestimmten Verdacht?“

„Nein. Ich wollte nur morgen bei der Neuen nicht so dumm dastehen.“

„Die Neue?“

„Britta von Sandau. Ich habe zum ersten Mal dienstlich mit ihr zu tun. Jule hat eine Kiefervereiterung und feiert krank.“

„Toi,toi,toi. Und bevor dich eine quälende Frage auf dem Heimweg überfällt: Das Schicksal der Hayler Elfen kenne ich von Asta Krendel. Ich mochte sie gut leiden und sie mochte mich so einigermaßen leiden und hat mir seinerzeit gut zugeredet, den Dienst zu quittieren, als ich mit Olaf Heidiger in den Clinch geraten war. Der soll übrigens eine Zeitlang Stammkunde in der Bikini-Bar gewesen sein.“

Der Abschiedskuss war nicht aufregend, aber Tine ging doch getröstet nach Hause. Alle hatten ihr gesagt, auf den Ex-Kollegen Fido Lorch und seine Verschwiegenheit dürfe man sich verlassen. Und sie hatte sonst niemanden, bei dem sie während einer melancholischen Phase Trost suchen konnte.


Zweites Kapitel

Susi Lauter meldete sich am Handy und gähnte los: „Wer sind Sie?“

„Ich heiße Christine Dellbusch, Kripo Tellheim. Ich würde mich gerne mit Ihnen über Martin Brotesser unterhalten.“

„Nix dagegen. Geben Sie mir eine Chance, vorher zwei oder drei Stunden zu schlafen? Ich komme gerade von der Arbeit.“

„Natürlich. Ich komme dann zu Ihnen in den Reusensweg, einverstanden?“

Adolf Gruber war schon zum Dienst losgeradelt, wie seine Freundin am Telefon erklärte. Tine rief im Liegenschaftsamt der Bahn an und verabredete sich mit Adolf Gruber auf 17 Uhr in seinem Haus im Septimusweg 22. Pünktlich an ihrem Schreibtisch saß dafür die Staatsanwältin Britta von Sandau, der Tine ausführlich Bericht erstattete.

„Merkwürdig“, sagte die Sandau gedehnt. „Irgendein Motiv für den Mord in Sicht?“

„Bisher nicht. Allerdings hat die Spusi in Brotessers Wohnung versteckt einen Schließfachschlüssel gefunden. Wahrscheinlich bei einer Filiale der Leininger Volksbank. Wir brauchten bitte einen richterlichen Beschluss für die Öffnung des Faches und für Einsicht in Brotessers Konten.“

„Geht in Ordnung“, murmelte Staatsanwältin von Sandau. „Was ist mit Liebe, Hass, Eifersucht? Soll ich mir mal diese Hausmeisterin aus der Ludwigstraße vorknöpfen?“

„Geben Sie mir noch ein, zwei Tage Zeit? Noch zeigt sie sich ganz kooperativ.“

„Okay. Den dritten Skatmann haben Sie noch vor sich?“

„Heute nachmittag im Septimusweg.“

„Donnerwetter. Was sagten Sie? Angestellter bei der Liegenschaftsverwaltung der Bahn? Kein Wunder, dass die Fahrpreise so irre steigen, wenn sich ein kleiner Angestellter bei der Liegenschaftsverwaltung der Bahn den Septimusweg leisten kann.“

Tine schaute sie groß an, und die Sandau lachte gutmütig: „Sie kommen nicht aus Tellheim?“

„Nein, ich bin in Guntersburg groß geworden.“

„Ja dann ... Der Septimusweg liegt in Weidenthal und das ist so das feinste und teuerste Viertel von Tellheim, der Quadratmeter kostet ab 3000 Euro aufwärts.“

„Nein.“

„Ich kann mir Weidenthal nicht leisten und wenn ich mich nicht irre, verläuft der Septimusweg, das Weidenthaler Filetstück, direkt am Weidenbusch entlang. Deswegen sollten Sie die Augen offen halten, wo Sie eine Möglichkeit für Betrug und Schiebereien oder Erpressung sehen.“

Tine ging wie betäubt in ihr Büro zurück. Sie hatte mit viel Mühe eine bessere Einraumwohnung mit knapp vierzig Quadratmetern gefunden und zahlte 15 Euro kalt für den Quadratmeter, die Mieten stiegen in Tellheim geradezu verboten rasch. Und wenn gebaut wurde, dann Eigentumswohnungen zu Preisen, von denen Tine im Moment nicht einmal zu träumen wagte.

Der Reusenweg war eine schmale Sackgase, die direkt am Fuß des vor kurzem erhöhten Flussdeiches endete. Links und rechts standen je vier windschiefe Häuschen, bessere Hütten, die alle so aussahen, als würden sie beim nächsten Hochwasser wegschwimmen. Und die Hochwassermarken gingen fast so rasch in die Höhe wie die Mieten.

Susi Lauter wartete schon auf sie. „Kaffee ist gekocht. Von ausgeschlafen kann keine Rede sein. Wenn Sie mich wegen Martin Brotesser sprechen wollen, wissen Sie sicher, welchen Beruf ich ausübe.“

„Ja, Sie waren eine Hayler Elfe, sind dann – Entschuldigung – ausgemustert worden und machen heute Hausbesuche.“

„Ja, angeblich hüpften meine Brüste und mein Po wabbelt. Zum Glück gibt es noch Männer, denen das gefällt und die dafür anständig zahlen.“

„Zu denen gehörte Martin Brotesser?“

„Ja. Ein-, zweimal die Woche hat er mich bestellt.“

„Wann waren Sie zum letzten Mal bei ihm?“

„Am Sonntagnachmittag. Ich wäre sogar freiwillig länger geblieben, aber er hat mich regelrecht vor die Tür gesetzt. Er erwartete nämlich noch Besuch, und der sollte mir auf keinen Fall begegnen.“

„Wissen Sie, wer das war?“

„Der Weihnachtsmann.“

„Wie bitte?“

„Nach diesem Besuch würde er, Martin, der Trockenbrotesser, genug Geld haben, sich auch ein großes Haus mit Garten oder zumindest eine große Wohnung zu kaufen.“

„Haben Sie ihm das geglaubt?“

„Keine Silbe. Martin war ein Träumer und auch beim Träumen einer von der langsamen Truppe. Wissen Sie, warum manche Männer am Sonntag während des Gottesdienstes plötzlich laut auflachen?“

Tine schüttelte verblüfft den Kopf.

„Weil sie in der Sekunde den Witz kapieren, den einer am Freitagabend beim Bier erzählt hat.“

„Ein Langsamschalter also?“

„Eine Geistes- und Gehirnschnecke. Nicht dumm, er kapierte alles, was man ihm sagte oder erklärte, aber eben erst sehr viel später als die anderen. Aber das behielt er dann auch, er hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant.“

„Kennen Sie seine Skatbrüder aus dem Hölzer Hof?“

„Jein. Den Leo Kusch kenne ich natürlich aus der Bikini-Bar, aber diesem Adolf Gruber bin ich nie begegnet.“

„Können Sie sich einen Grund vorstellen, warum einer der beiden Brotesser getötet haben sollte?“

„Nein. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, warum einer dem armen Martin was getan haben soll. Gut, er konnte einen mit seiner Langsamkeit gelegentlich auf die Palme treiben, aber deswegen jemanden ermorden? Und ich habe einen festen Kunden verloren, der keine Offenbarung war, auch finanziell nicht, aber pflegeleicht und der pünktlich ohne Meckern zahlte. Was nicht bei allen Männern die Regel ist.“ Sie trank ihre Tasse aus und sah Tine fest an: „Ich kann mir überhaupt keinen Grund vorstellen, warum irgendwer Martin Brotesser ermorden sollte.“

„Aber beim letzten Mal hat er Ihnen gegenüber davon gesprochen, dass er bald auch ein Haus besitzen werde?“

„Ja.“

„Plante oder hoffte er auf ein großes Geschäft? Eine Erbschaft? Den Lotterie-Hauptgewinn?“

Susi antwortete nicht sofort und grübelte, während Tine sie intensiv musterte. Eine naive, oder gar elfenhafte Schönheit war Susi schon lange nicht mehr, aber sie hatte noch nicht den harten Ausdruck einer zynischen Hure angenommen, die heimlich jeden Menschen verachtete und vor allem ihre Kunden. Und die bösartigen Begriffe „aussortiert“ oder „ausgemustert“ verstand Tine angesichts der immer noch sehenswerten Figur Susis in dem schwarzen engen Turnanzug noch weniger. Dann schaute Susi hoch und begegnete Tines musterndem Blick. „Sie bringen mich da auf einen Gedanken“, sagte sie ernsthaft. „Martin hatte etwas Geld für sein Hausprojekt zusammengekratzt, das er mir stolz gezeigt und vorgezählt hat. Nämlich fünfundzwanzigtausend in bar. 'Martin' habe ich ihm gesagt, 'dafür kann man heute in Tellheim nicht einmal eine Garage oder Hundehütte kaufen, geschweige denn ein ganzes Haus.'- 'Weiß ich doch', hat er mir sofort geantwortet, 'das ist ja auch nur der Anfang, den Rest kriege ich noch'.“

Tine schnaufte: „Wir haben in Brotessers Wohnung kein Bargeld gefunden, sondern nur einen versteckten Schließfachschlüssel, mit Tesa unter einer Schublade festgeklebt. Noch wissen wir nicht, in welcher Bank er was in dem Fach aufgehoben hat.“

„Leininger Volksbank, die Filiale am Fassmarkt.“

„Die Filiale kennen wir auch noch nicht.“

„Das hat er mir gesagt.“

Nun ja, Brotesser war ein komischer Vogel gewesen, gut möglich, dass er ein Callgirl ins Vertrauen gezogen hatte. „Sie kennen doch Gerda Linke?“

„O ja. Die Neugier auf zwei Plattfüßen.“

„Halten Sie es für möglich, dass sie ...“

„Na ja. Aber sie ist ja nicht dumm. Sie hat mit ihrem Generalschlüssel eine Leiche gefunden, und sie weiß, dass man sie als erste verdächtigen wird, wenn was aus der Wohnung verschwunden ist.“

Das klang nur zum Teil logisch. Und wenn der Mörder das Bargeld mitgenommen hatte? Mit Gerda Linke würde Tine ohnehin noch mehr als einmal sprechen müssen.

„Dann hätte ich noch eine Frage: War Brotesser ehrlich?“ Und weil Susi sie verwundert anstarrte, setzte Tine hinzu: „Wissen sie, wir haben es bei der Polizei mit zwei Sorten Ehrlichkeit zu tun. Die einen sagen die Wahrheit, weil sie wissen oder fürchten, dass wir ihnen das Gegenteil schnell nachweisen können. Die anderen sind von sich aus ehrlich; das sind die selteneren.“

„Tja, wie soll ich ... Es gibt noch eine dritte Sorte: Die würden ganz gerne mal betrügen und lügen, aber die haben zu viele schlechte Erfahrungen gemacht, und trauen ihrer Intelligenz nicht so ganz.“

„Und dazu gehörte Brotesser?“

„Ich glaube nicht, dass er irgendwelche Hemmungen gehabt hätte, andere Menschen über's Ohr zu hauen, aber mit solchen Absichten ist er wohl zu oft auf die Schnauze gefallen, um es wieder zu versuchen. Gegen eine Notlüge hat er sicher nie etwas gehabt.“

„Sehr helle war er also nicht?“

„Nein, aber ihm hat viel geholfen, dass er ein tolles Gedächtnis besaß. Langsam zwar, aber zuverlässig.“

„Ein Sonntagslacher in der Kirche.“

„Ja, bestimmt.“

Tine rief für alle Fälle vorher bei Gerda Link an, die ihr aber einen Korb gab: „Tut mir leid, Frau Kommissarin, aber ich habe einen Termin für eine Knochendichtemessung, und den möchte ich nicht versäumen.“

„Kein Problem, ich melde mich wieder – und für heute toi, toi, toi.“

„Danke.“

In der Kantine setzte sich Tine neben Asta Krendel, die Leiterin des R – 13, im Haus immer noch kurz die Sitte genannt.

„Was kann ich für Sie tun?“ fragte Asta Krendel endlich, weil Tine immer noch schwieg.

„Mir ist in einem Fall eine Hayler Elfe begegnet, die aus dieser Tanztruppe in der Bikini-Bar rausgeflogen ist.“

„Und jetzt arbeitet sie sozusagen in meinem Bereich?“

„Ja. Sie macht 'Hausbesuche', und einer der so Beglückten ist ermordet worden.“

„Haben Sie die Elfe in Verdacht?“

„Nein.“

„Was möchten Sie hören?“

„Was ist das für ein Schuppen, diese Bikini-Bar?“

„Ein Puff für gehobene Ansprüche.“

„Rauschgift, Glücksspiel, Erpressung?“

„Nichts davon ist uns bekannt.“

„Und wem gehört der Schuppen?“

„Einer Leininger Unterhaltungs-KG.“

„Kommanditisten mit lokalem politischem Einfluss?“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Ich habe mit Fido Lorch einen fantastischen Rotwein getrunken.“

„Dann sind Sie die Nicht-Bomben-Christine?“

„Ja.“

„Erklären Sie mir, wie man zu so einem albernen Namens-Attribut kommt?“

„Gerne. Bei Lengede sind mal bei einem Grubenunglück mehrere Bergleute in einer Luftblase unter Tage eingeschlossen gewesen. Man hat dann einen Minischacht in diese Blase gebohrt und die Leute in einer Art Metallgitterröhre ans Tageslicht gezogen. Diese Metallröhre heisst die Dahlbuschbombe und die ganze Rettungsaktion das Wunder von Lengede. Ich heiße Dellbusch, aber viele fragen sofort – haben Sie was mit der Rettungsbombe von Lengede zu tun?“

„Aha. Jetzt verstehe ich. Fido hat sich mal etwas voreilig mit dieser KG angelegt und den Kürzeren gezogen. Sehen Sie ihn häufiger?“

„Ja.“

„Dann bestellen Sie ihm doch bitte beim nächsten Mal schöne Grüße von Asta.“

„Mach' ich.“

„Und wenn Sie sich unbedingt mit dieser Puff-KG anlegen wollen, kommen Sie lieber vorher zu mir.“

„Okay, danke.“

Bevor sie in den Weidenbusch fuhr, las Tine noch Dr. Rupps Bericht. Brotesser schien sich gegen seinen Mördern nicht gewehrt zu haben, außer den beiden Einstichen gab es keine weiteren Wunden oder Hinweise auf Gegenwehr. Auch an der geschätzten Todeszeit hatte sich nichts geändert. Sonntagabend. Kein Alkohol im Blut, kein Rauschgift, nur ein handelsübliches rezeptpflichtiges Mittel zur Blutverdünnung. Rupp hatte noch vermerkt, der gute Martin habe ziemlich wenig Brot gegessen, sondern die Kalorien lieber in flüssiger Form zu sich genommen; seine Leber hatte gerade angefangen, sich dagegen zu wehren. Die Waffe könnte ein sehr spitzes, stabiles Küchenmesser mit wenigstens 25 Zentimetern Klingenlänge gewesen sein, aber ein Messerblock, in dem so ein Messer wohl gesteckt hatte, war in Brotessers Küche nicht gefunden worden. Wenn, dann hatte der Mörder nicht nur die Mordwaffe, sondern den ganzen Block mitgenommen.

Das half ihr auch nicht viel weiter.

Tine war noch nie durch den Weidenbusch gelaufen, der sich als ein kleines, lichtes Wäldchen mit alten Buchen und Eichen herausstellte. Die größten Lücken hatten sich rund um umgestürzte Bäume gebildet, auf denen prachtvolle Pilze wucherten, die allerdings alle nicht essbar aussahen. Um diese Tageszeit herrschte reger Hundeverkehr, Blase und Darm wollten geleert werden. Die meisten Hundebesitzer schienen sich zu kennen und hielten kleine Schwätzchen, und wer keine Hundeleine in der Hand trug, schob einen Kinderwagen oder eine Kinderkarre. Bis auf das Kläffen aufgeregter Zwergpinscher und die Spielgeräusche auf einem gut besuchten Bolzplatz war es himmlisch ruhig, warm und schattig, nur sehr weit entfernt rollte ab und zu ein Zug. Zwischen zwei Hecken führte ein Pfad aus dem Wäldchen hoch auf den Septimusweg, dessen handtuchähnliche Grundstücke mit den Schmalseiten bis an den Waldrand reichten. An der Straße standen hohe Linden, bereit, die dazwischen parkenden Autos mit klebrigen Tröpfchen zu beglücken. Irgendwo brummte ein Rasenmäher. In den meisten Häuser links und rechts der Straße waren die Dachstühle ausgebaut. Zweigeschossige Bauten waren selten und sichtlich älter, wie das Haus Nummer 22. Als Tine auf die Haustür zuging, kam sie an einem total verwilderten, mit seltsam vertrocknetem und ihr unbekannten Unkraut mit blauen Blüten im hoch bewachsenen Teil des Grundstücks vorbei – die blauen Blüten waren alle schon vertrocknet – auf den letzten Metern kam ihr ein junger Mann Anfang zwanzig entgegen, der den Kopf wegdrehte, um sie nicht ansehen oder grüßen zu müssen. Tine schaute ihm verwundert nach. Direkt vor dem Haus parkten zwei Autos mit Tellheimer Kennzeichen. Garagen schien es nicht zu geben. Tine lächele schräg. Von der Haustür bis zum Septimusweg waren es wohl an die 30 Meter, und das war für viele heutige Autofahrer ein zu langer Fußmarsch. Aber vielleicht scheuten sie auch nur die Lindentröpfchen.

Adolf Gruber war groß, stämmig.eist und blond. Tine missfiel er auf den ersten Blick, zumal er auch eine Herablassung an den Tag legte, die wohl freundlich gemeint war, aber ganz anders wirkte. Sie setzten sich in der Essecke an einen schmalen Holztisch.

„Jaja, der arme Brotesser.“

„Sie haben davon gehört.“

„Sicher, Leo Kusch hat mich angerufen.“

„Herr Gruber, wann haben Sie Martin Brotesser das letzte Mal gesehen oder gesprochen?“

„Das war – Moment – Freitag voriger Woche, da haben Leo, Martin und ich im Hölzer Hof Skat gespielt.“

„Hat Brotesser bei der Gelegenheit zufällig gesagt, was er für das Wochenende plante?“

„Nein. Dass seine flotte Susi ziemlich regelmäßig am Sonntagnachmittag zu ihm kam, wussten wir. Aber sonst – nein, kein Wort.“

„Können Sie sich vorstellen, dass Susi Lauter ihn erstochen hat?“

„Nein, warum denn? Martin war ein Stammkunde und Susi ist, was sie gar nicht verheimlichte, mittlerweile auf solche Kunden angewiesen. Mag sein, dass er nicht ihr Lieblingskunde war, aber er hat nie angedeutet, dass es Spannungen mit seiner Susi gab.“

„Hatte Brotesser mit andern Menschen Ärger, Probleme, Spannungen? Gab es Drohungen, Warnungen? Können Sie sich irgendeinen Grund vorstellen, warum man ihn umgebracht hat.“

„Nein, das kann ich nicht. Martin war eher ängstlich und vorsichtig, ging jedem Streit aus dem Wege.“

„Mehrere Bekannte haben mir gesagt, dass er sehr langsam war.“

Gruber lachte. „Das dürfen Sie laut sagen ... Bis der sich mal entschieden hatte. Beim Reizen konnte er einem den letzten Nerv rauben, aber ihn deswegen umbringen?“

„Das heisst, er hatte keine Feinde?“

„Zumindest keine, die Leo oder ich kennen.“

„Herr Gruber, vielleicht können Sie mir bei einem anderen Widerspruch helfen. Brotesser schwamm ja nicht gerade in Geld ...“

„... Oh nein, wir haben ihm oft aushelfen müssen, sein Essen und Bier im Hölzer Hof zu zahlen ...“

„... trotzdem hat er mehreren Zeugen erzählt, er würde sich bald auch ein Haus kaufen.“

„Ein Haus? Dass ich nicht lachen, vielleicht einen Geräteschuppen, aber wo sollte er den aufstellen? Ein Haus? Ohne Geld? Vergessen Sie's!“

Tine musterte ihn schweigend. Etwas an Grubers Tonfall störte sie mächtig. Aber Gruber gab den Blick ungerührt zurück. Dann schluckte sie: „Wo haben Sie Brotesser eigentlich kennengelernt?“

„Ich arbeite im Tellheimer Liegenschaftsamt der Deutschen Bahn. Und Brotesser arbeitete im Grundbuchamt des Weidenthaler Bezirksamtes. Wir hatten häufiger dienstlich miteinander zu tun. Dann stellte sich heraus, dass auch er oft in den Hölzer Hof zum Essen ging. Helga Troll hat uns schließlich den dritten Mann für eine Skatrunde besorgt.“

„Leo Kusch.“

„Eben den.“

„Den die Wirtin nicht besonders leiden mag.“

„Stimmt.“

„Wissen Sie zufällig auch, wie Brotesser an Susi Lauter geraten ist?“

„Das war Leos Werk. Wir haben uns einmal beim Skat über Freundinnen unterhalten. Und da hat Martin geklagt, er hätte gar keine Gelegenheit, eine Frau kennenzulernen. Leo hat ihm eine Telefonnummer auf einen Bierdeckel gekritzelt. 'Ruf die mal an und frage sie, ob sie nicht zu dir kommen will. Sie heisst Susi, und ist sehr nett. Du musst nur vorher mit ihr den Preis aushandeln.' So hat es begonnen und daraus ist dann eine Dauereinrichtung geworden. Wahrscheinlich sogar mit Stammkundenrabatt.“ Gruber kicherte hämisch, was aber schlagartig endete, als Tine eine vorletzte Frage hatte: „Wo befindet sich dieses Liegenschaftsamt der Bahn?“

„In der Sybelstraße.“

„Und wo waren Sie am Sonntag, später Nachmittag, früher Abend – wir müssen das alle Bekannten Brotessers fragen.“

„Meine Bekannte und ich waren im Botanischen Garten bei einer Führung durch den Garten und die Gewächshäuser.“

„Wie lange hat das gedauert?“

„Wir waren kurz vor der Tagesschau wieder hier.“

„Hatte Brotesser Familie oder Verwandte in der Nähe von Tellheim?“

„Nein, nicht, dass ich wüsste.“

Als Tine ging, traf sie in der Diele auf eine etwa vierzigjährige Frau, die Adolf Gruber als seine Lebensgefährtin Corinna Meister vorstellte. Sie gab sich wenig Mühe, ihre massive Abneigung gegen Tine zu verbergen, was Tine erstaunte.

Sie fuhr ins Präsidium und fand auf ihrem Schreibtisch eine richterliche Verfügung zur Öffnung eines Schließfaches, der vorübergehenden Beschlagnahme des Inhalts und zum Einblick in Brotessers Giro-Konto. Britta von Sandau hatte hervorragend funktioniert.

Tine bedankte sich telefonisch, und die Staatsanwältin bot ihr an: „Soll ich mitgehen?“

„Nein, vielen Dank, das wird nicht nötig sein.“

„Wen wollen Sie mitnehmen?“

„Ich versuch's gleich mit Annegret Stamper aus der KTU.“

„Prima.“


Drittes Kapitel

Die Kollegin Stamper war sofort bereit, sich mit Tine um zehn Uhr vor der Filiale Fassmarkt der Leininger Volksbank zu treffen. Und dort ging es dann so schnell wie das Brezelbacken. Ein Angestellter wartete schon auf sie, las flüchtig die richterliche Anordnung durch und brachte Annegret Stamper und Christine Dellbusch in den Keller, öffnete ihnen das elektronische Schloss zum Schließfachkeller und verzog sich sofort wieder. „Ich warte oben auf Sie. 559 liegt in der obersten Reihe da rechts fast an der Wand.“

Annegret Stamper war zum Glück einige Zentimeter länger als Tine Dellbusch und konnte das Fach ohne Mühe aufschließen. Die flache Blechkiste enthielt nicht viel: einen DIN-4-Papierumschlag mit dem Aufdruck Rechtsanwalt und Notar Dr. Helmut Schlich, einen abgegriffenen Briefumschlag mit alten Fotos, ein Familien-Stammbuch und eine goldene Taschenuhr an einer recht schweren Kette. Auf dem Deckel war eingraviert „Für Ignaz Brotesser zum 50. Betriebsjubiläum von der Firma Arnold Uphusen, Mai 1911.“

„Wir nehmen alles mit“, entschied Tine und Annegret Stamper legte eine ausführliche Liste an, die sie als Quittung der Filiale überlassen würden. Auch der zweite Teil verlief unfeierlich schnell. Der Kontodrucker rödelte keine drei Minuten, dann waren alle Kontobewegungen Brotessers aus den letzten beiden Jahren dokumentiert. Tine bedankte sich und lud Annegret Stamper zu Kaffee und Kuchen ein. Im Café Lenski winkte ihnen eine Frau zu, sich an ihren Tisch zu setzen.

„Das ist ...“ begann Tine, doch Annegret unterbrach sie sofort: „... ich weiß, Lene Schelm, Jule Springers Vorgängerin.“

Marlene Schelm, für das ganze mundfaule Präsidium nur Lene Schelm, über Jahre Erste Hauptkommissarin im R – 11, hatte aus unbekannten Gründen vorzeitig den Polizeidienst verlassen und war zu ihrem Freund nach Berlin gezogen. Tine Dellbusch verdankte Lene die Versetzung aus dem R – 7 (Vermisste; der Leiter Kurt Grembowski trug zu Recht den Spitznamen Grem der Grobe) in das R – 11 (Mord, Totschlag und Freiheitsberaubung).

„Wie geht es Ihnen?“ fragte Tine höflich, und Lene sah sie groß an, „Wir haben uns schon mal geduzt, Tine.“

„Ja, ich weiß, aber ich habe mich nicht mehr getraut“, sagte Tine ehrlich und Lene lachte: „Lass uns dabei bleiben. Danke übrigens, mir geht es gut. „

„Bist du für immer nach Tellheim zurückgekommen?“

„Sieht so aus, ja.“

„Und warum das?“

Es wurde eine lange und etwas kuriose Geschichte, die zu erzählen mehrere Kännchen Kaffee benötigte. Ein Tellheimer Bundestagsabgeordneter hatte einige Wähler aus seinem Wahlkreis nach Berlin zu einer Besichtigungstour eingeladen. Lene war aus Jux in dem Rundfahrt-Bus mitgefahren und hatte dabei zwei ältere Damen kennengelernt, die sich – beide an die achtzig – mit einer ungewöhnlichen Geschäftsidee selbständig gemacht hatten. Beide beherrschten noch alte Handschriften und sogar frühere Stenografien und übertrugen nun für Enkel und Enkelinnen Briefe und Dokumente, die die jungen Leute nicht mehr lesen konnten, von verschollenen „Letzten Willen“ bis zu schmalzigen Liebesgedichten und Poesiealben. Das Geschäft lief so gut, dass sie Mitstreiterinnen gesucht hatten, die nun die Texte auf Band sprachen, während junge Damen, vorwiegend Studentinnen, diese Texte in den Computer tippten. Das Geschäft lief nur durch Mundpropaganda und einen Artikel in der Samstagsbeilage des Tageblatts so gut, dass sie nun eine Organisatorin einstellen oder als Partnerin suchen mussten.

„Und als mein Freund für sein Haus am Wannsee ein Angebot bekam, das man einfach nicht ausschlagen konnte, haben wir beschlossen zu verkaufen und nach Tellheim in meine alte Wohnung in der Colmarstraße zu ziehen, die ich zum Glück behalten hatte. Und so seht ihr vor euch eine der ältesten Jungunternehmerinnen, die es in dieser Stadt gibt. Hier ist meine Karte. Aufträge aus dem Krötengraben erhalten natürlich Rabatt. Und was treibt euch an den Fassmarkt?“

Tine berichtete ausführlich, als sei Lene noch Teil der Mannschaft. Annegret Stamper wunderte sich, so offen und vertrauensvoll hatte sie die junge Kommissarin aus dem R – 11 noch nicht erlebt.

Lene grummelte: „Die Bikini-Bar gibt es also immer noch?“

„Ja, kennst du sie?“

„Ich habe an ein paar ergebnislosen Versuchen teilgenommen, den Schuppen zu schließen. Aber die Burschen sind erstens sehr vorsichtig, zweitens clever und haben drittens von ziemlich weit oben Protektion. Der letzte Kollege, der sich daran die Zähne ausgebissen und deshalb hingeworfen hat, hieß Fido Lorch.“

Tine zuckte zusammen, was Lene nicht entging. „Du kennst ihn?“

„Ich trinke manchmal einen Wein mit ihm in der Spätlese.“ Mehr musste auch Lene nicht wissen. Die schaute gerade auf ihre Uhr und fuhr zusammen: „Ich muss unbedingt los. Grüßt Fido und Jule von mir.“

„Machen wir.“

Staatsanwältin Britta von Sandau wartete schon unruhig: „Hat es Ärger gegeben?“

„Ganz und gar nicht. Wir haben nur Lene Schelm getroffen und uns bei Kaffee und Kuchen im Café Lenski festgequatscht.“

„Aha. Dann lasst mal sehen.“

Die größte Überraschung steckte gleich im ersten Briefumschlag mit dem Aufdruck Rechtsanwalt und Notar Dr. Helmut Schlich. Es handelte sich um einen mehrseitigen Vertrag. Heute erschienen bei mir, ausgewiesen durch Personalausweis und Grundbuchauszüge Nr. xxx, Dr. Dr. Walter Brünn, wohnhaft Tellheim-Weidenthal, Septimusweg 22, hälftiger Eigentümer des Hauses und Flurstücks Septimusweg 22, und die drei Nichten des verstorbenen Miteigentümers am Haus und Grundstück Septimusweg 22, Johann Tönnissen, ausgewiesen durch Erbschein und Personalausweis, gemeinsam zur Hälfte Erben des Hauses und Flurstücks Septimusweg 22, Grundbuch Tellheim-Weidenthal Nr.xxx, fürderhin Eigentümer genannt, und ausgewiesen durch Personalausweis Martin Brotesser, wohnhaft Ludwigstraße 44, fürderhin Käufer genannt, um folgenden Vertrag abzuschließen. Der Käufer ersteht das Flurstück und die Immobilie Septimusweg 22 und zahlt den Eigentümern die Summe von 500 000 Euro. Der Kauf wird rechtskräftig, wenn die Summe minus der in bar erstatteten Anzahlung von Euro 25 000 bis zum 25. Mai, 18 Uhr auf dem unten angegebenen notariellen Anderkonto eingegangen ist. Für das Grundstück sind keine Grundlasten oder Hypotheken eingetragen. Eigentümer und Käufer haben sich auf „Gekauft und verkauft wie besichtigt“ geeinigt.“

„Ich glaub's nicht“, sagte Tine völlig verdutzt. „Der Martin Brotesser wurde von seinen Nachbarn der Trockenbrotesser genannt, wie und woher wollte der 500 000 Euro haben?“

Vorsichtshalber riefen sie Annegret Stamper dazu, die Tine und der Staatsanwältin die monatliche Gehaltsüberweisung von 1582 Euro zeigen konnte. Auf Brotessers Girokonto standen zur Zeit noch 793 Euro.

„Da stinkt doch was gewaltig zum Himmel“, knurrte die Sandau. „Tine, erkundigen Sie sich morgen bei dem Arzt und den drei Nichten, wie die Geschichte weitergegangen ist. Mit dem Schlich rede ich. Wir kennen uns aus dem Studium und dem Referendariat. Bitte von dem Vertrag und allen Schriftstücken aus dem Schließfach Kopien für mich.“ Wenn Britta von Sandau energisch und aktiv wurde, wackelten die Wände von Neubauten.

Tine hatte Glück. Sie erreichte noch am Nachmittag telefonisch alle vier früheren Eigentümer und erhielt viermal dieselbe Auskunft. Brotesser hatte nicht bis zum vereinbarten Termin gezahlt, der Verkauf war damit geplatzt.

Nach Ende seiner Sprechstunde unterhielt sich Tine länger telefonisch mit dem Kinderarzt Dr. Brünn.

„Aber Haus und Grundstück sind doch verkauft, Herr Dr. Brünn.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

„Weil ich gestern im Septimusweg 22 gewesen bin und dort mit einem Hauseigentümer Adolf Gruber geredet habe.“

„Ja, der ist wie das Teufelchen aus der Schachtel aufgetaucht, einen Tage, nachdem für Brotesser die Zahlungsfrist abgelaufen war. Hat mich schon gewundert“, setzte Brünn melancholisch hinzu. „Die haben sich praktisch die Türklinke bei Schlich in die Hand gegeben.“

„Mich weniger“, sagte Tine spitz. „Die beiden kannten sich gut, Skatbrüder aus einer Kneipe namens Hölzer Hof in der Eichengabel. Brotesser ist übrigens ermordet worden.“

„Das wird ja immer toller.“ Er schnaufte, und Tine fragte: „Herr Dr. Brünn, hätten Sie Zeit, morgen vormittag ins Präsidium zu kommen, wir haben noch ein Menge Fragen an Sie.“

„Muss das sein? Morgen ist erfahrungsgemäß Hauptkampftag in meiner Praxis. Darf ich Ihnen einen Gegenvorschlag machen? Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen und getrunken, und in der Nähe meiner Praxis gibt es ein kleines, sehr gutes Restaurant, in das ich Sie gerne einladen würde. Dort können wir uns ungestört unterhalten.“

Tine überlegte: „Warum nicht?“ Nur mit dem „Einladen“ musste sie vorsichtig sein. Dr. Brünn war unter Umständen ein wichtiger Belastungszeuge. „Die Einladung muss ich ablehnen, aber Hunger und Durst habe ich auch.“

„Prima: Die Blaue Gans in der Poltenstraße 16.“

„Bin schon unterwegs.“ Sie packte Block,

Kugelschreiber, Bandgerät und einen Satz frischer Akkus ein.

Die Blaue Gans war wirklich nicht groß, aber gemütlich. Vor allem roch es gut nach gutem Essen.

Dr. Walter Brünn wartete schon auf sie; er mochte zweite Hälfte fünfzig sein, groß, sportlich und grauhaarig. Tine ermahnte sich; ein interessanter Mann, der Eindruck auf sie machte. „Tine, er ist ein Zeuge, mehr nicht! Mehr darf er auch nicht werden.“ Sie kannte diese internen Streitereien zwischen Wunsch und Wissen schon.

Nach der Bestellung kam er rasch zur Sache. „Das ganze Geschäft hat mir von Anfang an nicht geschmeckt. Dieser Brotesser sah aus und benahm sich wie ein armer Schlucker. Woher wollte der eine solche Summe nehmen?“

„Könnten Sie mir bitte erst einmal schildern, wie Haus und Grundstück Septimusweg 22 aufgeteilt waren?

Das zweistöckige Haus war nach dem Krieg in schlechter Qualität aufgebaut worden. Im Parterre wohnte der Miteigentümer Tönnissen, ein alter Mann, der vor seinem Tod viele Jahre bettlägerig war und von einem Pflegedienst mehr schlecht als recht versorgt wurde. „Er hätte sich was Besseres leisten können, aber ich habe nie einen Menschen von solchem Geiz erlebt.“

„Und was ist mit diesen Nichten, die ihn beerbt haben?“

„Die haben sich beim kranken Onkel nicht blicken lassen. Weil Tönnissen mir leid tat, habe ich vor meinem Dienst und abends nach ihm geschaut,Glühbirnen ausgewechselt und Öl bestellt ... ja, ich hatte einen Wohnungsschlüssel. Aber es war klar ausgemacht, dass ich sofort meinen Anteil verkaufen würde, wenn Tönnissen in ein Heim ziehen oder sterben sollte. ... Nein, wir haben nie darüber gesprochen, wem welcher unbebaute Teil des Grundstücks gehörte. Sie waren einmal in Nummer 22?“

„Ja.“

„Dann ist Ihnen sicher aufgefallen, dass das Haus Nummer 22 sehr weit von der Straße entfernt liegt?“

„Ja. Und dass dieser vordere Teil mit einer seltsamen Pflanze ziemlich verwildert ist.“

„Richtig, und das war meine Schuld; ich habe und hatte keine Zeit, mich auch noch um Gartenarbeiten zu kümmern.“

„Sie hätten einen Gärtner beauftragen können.“

„Sicher, habe ich ja auch versucht, aber der Geizkragen unter mir dachte nicht daran, ein paar Euro zu opfern. Da habe ich es aufgegeben. Dieser Geiz lag irgendwie in den Familiengenen. Er war krankhaft geizig und die Nichten sind herzlos und habgierig.“

„Können Sie mir die Namen und Anschriften aufschreiben?“

„Kein Problem.“

„Und die Nichten hatten kein Interesse an dem Grundstück?“

„Die wollten nur verkaufen, so schnell wie möglich. Ich hatte den Eindruck, dass alle dringend Geld brauchten, so dringend, dass sie sich auf diese Abmachung mit Brotesser eingelassen haben. Und heilfroh waren, dass nach Brotessers Absage so schnell ein anderer Interessent auf der Matte stand.“

„Dieser Gruber?“

„Ja. Und der hatte von Anfang an noch was anderes im Sinn. Denn die erste Frage, die er stellte war, ob wir – Tönnissen und ich – schon mal daran gedacht hätten, das Grundstück zu teilen.“

„Hatten Sie?“

„Nein. Ich hatte schon ein Grundstück in Solgen gekauft und habe angefangen, dort zu bauen.“

„Nun kauft man ja ein Grundstück für viel Geld doch wohl nur, um dort zu bauen. Durfte man das denn auf einem geteilten Grundstück?“

Das war strittig, das Bauamt hatte abgelehnt. „Von meinen früheren Nachbarn habe ich gehört, dass darum vor Gericht gestritten worden ist, nachdem in erster Instanz das Verwaltungsgericht die Entscheidung des Bauamtes unterstützte.“

Er goss Wein nach und sinnierte lange vor sich hin, bis sich Tine räusperte.

„Ich will Ihnen mal sagen, was ich vermute, Frau Dellbusch. Diesem Gruber ist es von Anfang an darum gegangen, das Grundstück in die Hand zu bekommen, um es zu teilen. Wenn er den zur Straße gelegenen Teil verkaufte, bekam er genug Geld aufs' Konto, um die Nichten und mich zu bezahlen.“

„Das heisst doch im Klartext, er bekam kostenlos ein Haus und den Rest eines wertvollen Grundstücks in bester Lage.“

„So sehe ich das auch.“

„Hatte er denn das Moos für den Kauf? Ich meine, bevor er den vorderen Teil verscherbelt hatte.“

„Nein, das musste er sich von einem Bruder in Österreich leihen.“

„Das war aber ein riskantes Spiel. Sie wissen doch, vor Gericht und auf hoher See sind Sie allein in Gottes Hand.“

„Hatte das Bezirksamt denn die Teilung erlaubt?“

„Nein, Gruber zog vor das Verwaltungsgericht, unterlag und ging zum Oberverwaltungsgericht. Und das hat den schlechter bezahlten Kollegen im Verwaltungsgericht mal wieder gezeigt, was eine Harke ist.“

„So sehen Sie das?“

„Riskant; es sei denn, Sie können sicher sein, dass das Gericht in letzte Instanz zu ihren Gunsten entscheidet. Und das war in diesem Fall das Oberverwaltungsgericht Tellheim, das eine Revision oder Berufung beim Bundesverwaltungsgericht untersagt hat. Diese Anordnung kann man kippen, aber dass ist eine Lebensaufgabe für einen reichen Mann.“

Tine hatte aufmerksam zugehört, und sich viele Notizen gemacht. Eine gewagte Theorie, aber in sich schlüssig. Es sei denn ... „Zwei Einwände, Herr Dr. Brünn. Woher wollte Gruber wissen, welches Grundstück am Septimusweg sich für ein solches Manöver überhaupt eignete?“

„Hatte er nicht einen Skatbruder im Bauamt Weidenthal?“

„Wie passt dieser Brotesser überhaupt in das Manöver?“

Brünn lachte. „Wir reden ja nur über mögliche Versionen. Haben sie schon mal einen Grundstück gekauft?“

Tine schüttelte den Kopf. „Bei den Gehältern, die das Land seinen Beamten zahlt ...?“

„Okay. Aber ich. Auf dem Bauplatz in Solgen, den ich mir ausgesucht hatte, lastete noch ein kleine Hypothek von 20 000 Euro. Die wollte ich weghaben, um keine bösen Überraschungen mit den ach so seriösen Banken und Bankern zu erleben. Banken und Banker sind zu allem fähig, anders als in den Seifenopern des Fernsehens. Aber bis auf den Seiten des Grundbuches wirklich was eingetragen oder etwas gestrichen wird, vergehen bei uns unter Umständen Wochen. Bis dahin werden Vermerke in das Grundbuch gesteckt oder eingelegt. Brotesser kaufte im Auftrag von Skatfreund Gruber auf seinen Namen das Grundstück Septimusweg 22, was der Notar Schlich bestätigte. Brotesser sitzt ja an der Quelle, klammert sofort einen entsprechenden Vermerk an die Seite und verhindert so, dass ein anderer das Grundstück kauft.“

„Und wozu das Manöver?“

„Grubers Bruder musste wohl auch erst das Geld besorgen. Eine halbe Million hat man selten bar in der Schreibtischschublade liegen.“

„Richtig. Denn auf dem direkten Weg zu einem Girokonto lauert das Geldwäschegesetz.“

„Und als der Bruder Gruber das Geld zusammen hat, kann Brotesser voller Bedauern mitteilen, dass es ihm nicht gelungen ist, die Kaufsumme zum vereinbarten Termin zusammenzukriegen. Adolf Gruber kommt zum Zuge mit dem Geld, das ihm sein Bruder geliehen hat.“

Tine schnappte nach Luft: „Herr Dr. Brünn, wenn ich nicht wüsste, dass sie Arzt sind, würde ich sagen: 'Vorsicht, der Mann hat zuviel Fantasie und kriminelle Energie'.“

„Woher wollen Sie wissen, dass ich Kinderarzt bin? In Nordrhein-Westfalen hat eine Bundestagsabgeordneter über mehrere Jahrzehnte mit einem erschwindelten Abitur und einem vorgetäuschten Staatsexamen politische Karriere gemacht.“

„Bei unserem nächsten Treffen lasse ich mir Ihre Promotions- und Approbationsurkunde zeigen.“

„Muss das sein? Meine Noten gehören mir.“

Tine wusste, dass sie jetzt albern wurde und sich auf gefährliches Eis begab: „Davon lasse ich nur ab, wenn Sie noch eine zweite Flasche von diesem wundervollen Macon bestellen.“

Was er auch tat. Und die leerten sie, ohne über Grundstücke, Abstandsmaßverordnungen, Firsthöhen, Baulandpreise, Pfeifenstiel-Schnitte zu sprechen. Er war ein gebildeter, unterhaltsamer Mann, der offenkundig Interesse an der Ermittlerin gewann, so wie sie an dem fantasiebegabten Zeugen.

Nach zwei Flaschen Macon ließen beide ihre Autos auf dem Hof der Blauen Gans stehen und nahmen sich Taxis. Tine träumte unruhig. Ein grauhaariger, aber verteufelt gut aussehender Mann kümmerte sich um eine ganze Schar von kleinen Kindern und fragte schließlich Tine: „Und welche sind nun unsere?“


Viertes Kapitel

Sie hatte am nächsten Morgen keinen schweren Kopf, hatte nur zu wenig geschlafen und gähnte pausenlos, während sie einen ersten Bericht für die Staatsanwältin Britta von Sandau tippte: „Denkbar ist folgender Tatablauf und Tathintergrund.“ Tine hatte sich noch nicht für einen Täter entschieden. Entweder Adolf Gruber, den Brotesser erpressen wollte, um sich auch ein Haus kaufen zu können, oder Leo Kusch, der von Brotesser die ihm geliehenen 25 000 Euro sofort zurückhaben wollte. Mit dieser offenen Frage lieferte Tine ihr Machwerk bei Britta von Sandau ab, die eine Stunde später anrief: „Ich wusste gar nicht, dass Sie soviel Fantasie besitzen.“

Tine schluckte: „Ehrlich gesagt, ich auch nicht. Das meiste stammt von einem Kinderarzt, der mal im Septimusweg 22 gewohnt hat und mit dem ich gestern Abend essen war.“

„Wo?“

„In der Blauen Gans.“

„Dort gibt es einen fantastischen roten Macon.“

„Ich weiß. Wir haben zwei Flaschen getrunken.“

„Tine, bitte ehrlich, wo ist dieser Exzess geendet. In seinem oder in Ihrem Bett?“

„Jeder allein in seinem. Warum wollen Sie das wissen?“

„Weil ich nicht möchte, dass plötzlich ein Verteidiger aufsteht und Sie fragte: 'Stimmt es, dass Sie mit dem Belastungszeugen – Moment ...“ Es wurde hastig umgeblättert ... „Dr. Walter Brünn ein Verhältnis haben?“

Bitte achten Sie darauf, dass Sie bis zur Urteilsverkündung ehrlich verneinen können.“

Tine holte tief Luft: „Heisst das ...?“

„Ja, verrückt, aber logisch. Bleiben Sie dran. Gruber oder Kusch. Einer reicht. Die noch vorhandenen Lücken in der Beweisführung vor einer hieb- und stichfesten Anklage kennen Sie ja besser als ich.“

Tine wäre vor Begeisterung am liebsten an die Decke gehüpft. Grünes Licht in einem solchen Fall gleich beim ersten Anlauf – das hatte sie nicht erwartet. Das war mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte. Noch vor der Kantine sauste sie in die Pressestelle des Präsidiums. „Stämmchen, du musst mir helfen.“

Der Kollegen Harald Stamm musterte sie überrascht. „Tine, warum so aufgekratzt?“

„Die Sandau hat mir freie Hand in einem mehr als verwickelten Fall gelassen. Nun brauche ich einen erfahrenen Pressefritzen, dem ich a) vertrauen kann und der mir b) etwas Nachhilfe-Unterricht in Kommunalpolitik und Baurecht geben kann.“

„Da wird mir schon jemand einfallen, Tine.“

Einen großen Teil des Nachmittags verbrachte sie damit, die drei „herzlosen“ Nichten ans Telefon zu bekommen und mit ihnen Termine auszuhandeln, an denen sie im Tellheimer Präsidium ihre Aussagen machen sollten. Große Begeisterung löste sie bei keiner er drei Frauen aus, aber Tine spürte Rückenwind und blaffte zurück: „Einer der Kaufinteressenten für den Septimusweg 22 ist ermordet worden. Schon in Ihrem eigenen Interesse sollten Sie möglichst bald aussagen.“

Alle drei wollten, unabhängig voneinander, wissen: „Heisst das, wir müssen das Geld zurückzahlen?“ Dr. Brünn hatte mit seiner Einschätzung des Trios nicht falsch gelegen, und deswegen fauchte Tine dreimal gereizt: „Das weiß ich nicht, ich bin keine Juristin, das müssen Sie mit Ihrem Anwalt besprechen.“ Die Anwaltshonorare würden die Nichten wohl am meisten schmerzen.

Gegen fünf Uhr brachte der Pfortendienst einen kleinen grauhaarigen Mann zu ihr, der sich höflich als Lorenz Koch vorstellte und sagte: „Das Stämmchen wünscht, dass ich Ihnen etwas Nachhilfe in Kommunalgeschichte, -politik und -baurecht gebe.“

„Schön, dass Sie so schnell kommen konnten.“

„Ach. Wissen Sie, ich bin seit Jahren Rentner und habe oft mehr Zeit, als mir lieb ist. Ab und zu schreibe ich gegen Zeilenhonorar noch kleine Geschichten für das Tageblatt. Und wenn Sie mir versprechen, das ich die Story exklusiv bekommen, sind wir jetzt schon quitt.“

„Einverstanden. Es geht um einen Grundstücksverkauf im Septimusweg, der möglicherweise das Motiv für einen Mord gewesen ist. Außerdem wäre es schön, wenn Sie mir was über die Bikini-Bar erzählen könnten.“

„Über die Bar oder die nackten Elfen?“

„Über die abgehalfterten Elfen in erster Linie. Darf ich mein Tonband mitlaufen lassen?“

„Gerne. Ist doch bequemer als Steno, wie?“

„Stimmt.“

„Also, Tellheim und Weidenthal waren zwei getrennte, selbständige Nachbargemeinden.“ Tellheim wuchs, wegen der Industrie und dem Platzbedarf der Bahn, die hier eine Art Umschlagzentrum für den Bau eines Westwalls gegen Frankreich errichten sollte. In den dreißiger Jahren befahlen die Nazis die Vereinigung Weidenthals mit Tellheim im Rahmen einer Flurbereinigung und Flächentausches-Aktion bis an die Lantener Berge, was gegen den Willen der meisten Weidenthaler geschah. Ein kleiner Trost wurde geschaffen, Weidenthal behielt seine eigene Verwaltung. Danach gab es Fläche für Industrie und Wohnungs- und Bahnhofsbau. Und Platz für den Bau von Einzelhäusern. Einige Bauern wollten nicht auf die Enteignung nach Berliner Vorstellungen warten, sondern verdienten sich eine goldene Nase, indem sie ihre Grundstücke verkauften. Bauwillige gab es genug. Besonders beliebt und teuer waren natürlich die Areale direkt am Weidenbusch, einem ehemaligen Park, der zum Zehnthof der Grafen von Tellheim gehört hatte.“ Weil Koch eine kleine Pause machte, nickte Tine: „Ich weiß was ein Zehnthof ist oder war.“

„Sehr schön.“ Für diese Flächen gab es allerdings bis weit in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts keine Flächennutzungs- und folglich auch keine Bebauungspläne. Hier half der Paragraph 35 des alten Bundesbaugesetzes, Bauen im sogenannten Außenbereich, der noch nicht von den kommunalen Gremien überplant war.

„Schöner Ausdruck, wie?“ Die Grundstückskäufer einigten sich wohl sozusagen privat darauf, ihre Häuser gestaffelt so zu bauen, dass der eine dem andern nicht das Licht und die Sonne wegnahm. Da sie aber alle wegen der anteiligen Erschließungskosten die Straßenfronten klein halten wollten, entstanden langgestreckte schmale „Handtuch“-Grundstücke, mit Häusern mal nahe an der Straße, mal in der Mitte oder noch weiter hinten an dem Weidenbusch.

„Diese älteren Bauten genießen heute alle Bestandsschutz, wie man das nennt.“

Tine fand, dass Koch gut erklären konnte. Wenn er auch so kurz und präzise geschrieben hatte, musste er ein guter Journalist gewesen sein.

„Weidenthal ist heute immer noch begehrt?“

„Aber ja. Und in Weidenthal speziell der Septimusweg.“

„Kann man da überhaupt noch ein Grundstück erwerben?“

„Selten. Da haben nach dem letzten Krieg viele annähernd gleichaltrige Leute gebaut. Die sterben nun mit Ende siebzig, Anfang achtzig weg. Nur wenn die Erben verkaufen wollen, hat man eine reelle Chance. Aber die Preise explodieren.“

„Her Koch. Da stirbt nun ein Eigentümer, der seine Haus möglichst weit von der Straße entfernt gebaut hatte. Kann der sein Grundstück teilen, und den vorderen Teil als getrenntes, separates Grundstück verkaufen?“

„Eigentlich nein. Für Weidenthal sind jetzt überall Satzungen gültig, die eben das verhindern sollen. Aber gegen solche Satzungen kann man klagen. Und Sie kennen ja den Spruch 'Vor Gericht und auf hoher See ist man allein in Gottes Hand'.“

„Oh ja“, seufzte sie. „Das macht Polizeiarbeit manchmal so frustrierend.“

Tine hätte nie gedacht, dass sich ein so faltiges Gesicht noch gezielt in Falten legen könne. „Vergessen Sie nicht, dass die Zahl der Gutmenschen auf den Richterstühlen genau so zunimmt wie die Zahl der Rechtsanwälte, die alle Geld verdienen wollen. Gerechtigkeit hat mit dem Recht inzwischen weniger zu tun als mit dem Kontostand des Geschädigten. Und vergessen Sie nicht: Verwaltungen sind von Natur aus feige und kneifen lieber die – hm, Entschuldigung – die nicht vorhandenen Eier ein, als einen Prozess zu verlieren. Helmut Kohl hatte schon völlig Recht mit seinem klassischen Satz: Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“

Tine staunte, tief beeindruckt. Da sprach einer aus und schrieb vielleicht sogar, was sie oft heimlich dachte. Koch schmunzelte und ließ die zusätzlichen Falten wieder verschwinden. Sie beobachtete erheitert das Manöver und sagte dann entschlossen: „Und nun, bitte, wenn möglich, in paar Takte zur Bikini-Bar und den Hayler Elfen.“

„Fangen wir mit den Elfen an. Sie kennen deren Anfänge?“

„Ja – ich habe das Ursprungs-Trio noch auf einem Lantener Herbstfest gesehen und gehört.“

„Sehr schön. Die Truppe wuchs. Einige mussten ausscheiden aus Altersgründen oder wegen einer Berufsausbildung. Zu der Zeit war der echte Bikini, nicht der zweiteilige Badeanzug, noch ein Skandalobjekt und einem Mitarbeiter war aufgefallen. Dass alle Hayler Elfen sehr schlank waren, kleine Busen und schmalen Hüften besaßen, was, wie Leo Kusch völlig richtig voraussah, zum Schönheitsideal älterer und gesetzter wie untersetzter Herren werden würde.“

„Wer? Leo Kusch?“

„Ja, er ist jetzt der sogenannte Ökonom der Bar. Kennen Sie ihn zufällig?“

„Nicht zufällig, sondern dienstlich.“

„Na, dann. Mir ist nie ein Mensch begegnet, der so flüssig und hemmungslos lügen konnte. Leo war damals 'Personalberater' und ist heute der Ökonom der Bikini-Bar. Er kam genau zur richtigen Zeit, als die Elfentruppe sich in einer Art Krise befand – wie würde es weitergehen. Als Laien- und Amateurtruppe hatten sie keine Zukunft. Da war sein Angebot, Bedienung im Bikini und alle sechzig Minuten ein Revue-Showtanz. Die Bezahlung war gut, die Mädchen wurden zu nichts gezwungen, durften alle Trinkgelder behalten und was sie nach Ende des letzten Programmteils machten, war ihre Sache. Sie wurden zu nichts aufgefordert, geschweige denn angetrieben. Allerdings mussten sie bei der Einstellung als Bedienung unterschreiben, dass sie die Bar zu verlassen hatten, wenn ein Dreiergremium befand, sie sollten nicht mehr in der Tanztruppe auftreten.“

„Weil die körperlichen Voraussetzungen altersbedingt verschwunden waren oder gerade schwanden.“

„Richtig.“

„Ein brutales Geschäft.“

„Schon, aber das konnte allen von Anfang an klar sein.“

„Woher hatte Kusch das Geld, die Bar so weiterzuführen?“

„Das blieb sein Geheimnis. Meiner Meinung war er ein Strohmann für Stammgäste, die im Hintergrund bleiben wollten; und bis heute geblieben sind.“

„Stammkunden und Kommanditisten?

„Wahrscheinlich. Ein rücksichtsloses Geschäft, das aber jede Tänzerin kannte und für sich ausrechnen konnte.“ Koch stand auf. „Ich muss leider weiter, Frau Dellbusch. Sie heißen Dellbusch, nicht Dahlbusch?“

„Dellbusch. Warum fragen Sie?“

„Weil ich aus Gelsenkirchen-Rotthausen komme und und nicht weit vom Schacht Sieben gewohnt habe.“

„Nein, nicht verwandt und nicht verschwägert.“

Sobald sich die Tür hinter Koch geschlossen hatte, sauste Tine in die Kriminaltechnik und stolperte über Annegret Stamper, die auch nach Hause gehen wollte.

„Ihr müsst mir aus einer Klemme helfen. Gibt es wirklich keinen Hinweis auf Brotessers letzten Besucher am Sonntag, der ihn

vielleicht umgebracht hat?“

„Jetzt sofort?“

„Nein.“

„Dann kümmere ich mich morgen als erstes darum, versprochen.“


Fünftes Kapitel

Am nächsten Morgen fuhr Tine zum Bezirksamt Weidenthal und erkundigte sich nach Brotessers Aufgaben im Amt. Das war etwas verwirrend, weil zur Zeit Tellheim das elektronische Grundbuch einführte, so dass viele Aufgaben noch doppelt erledigt werden mussten, teils von Hand wie früher und teils schon am Computer. Brotesser hatten keinen Zugriff auf die realen Grundbücher und die Formulare und das Dienstsiegel gehabt, mit denen Veränderungen, neue Grundlasten oder Hypotheken-Löschungen angekündigt wurden. Aber solch bevorstehende Veränderungen konnte er in sein elektronisches Grundbuch eintragen, zum Beispiel den von einem Notar beglaubigten Kaufvertrag zwischen Martin Brotesser und drei erbenden Nichten und dem ärztlichen Miteigentümer des Septimuswegs 22. Als Tine berichtete, dass Brotesser Bekannten und Nachbarn erzählt hatte, er werde sich auch bald ein Haus kaufen, begann fast die gesamte versammelte Mannschaft laut zu lachen.

„Moment“, sagte ein ältere Frau, die den ehemaligen Kollegen in Schutz nahm: „Er spielte regelmäßig Lotto. Haben Sie schon nachgefragt, ob Martin sechs Richtige getippt oder sogar den Jackpot geknackt hatte?“ musste Tine zugeben, dass sie das bislang versäumt hatte.

Aber ohne einen solchen Geldsegen hätte es bei Martin nicht einmal zu einer Hundehütte gelangt. Darin waren sich alle einig. Und alle versicherten unisono, dass Martin keinen Zugang zu den Grundbüchern hatte, sondern bevorstehende Veränderungen nur in seinen Computer als Hinweis für die Grundbuchbenutzer eintragen konnte, der Computer musste allerdings laut Vorschrift befragt werden, bevor ein Auszug von einem Grundbuchblatt hergestellt und ausgegeben wurde.

Auch im Liegenschaftsamt der Bahn in der Sybelstraße gab man bereitwillig Auskunft. Natürlich hatte Gruber oft Kontakt mit dem Bauamt Tellheim. Die Bahn verfügte über viele, heute sehr wertvolle Grundstücke in Tellheim, aber noch mehr in Weidenthal. Gruber war kein helles Licht und kein Funktionsträger im Amt, und Tine löste wieder viel Heiterkeit, aber auch bedenkliches Kopfschütteln aus, als sie erzählte, dass Gruber sich ein Haus und ein Grundstück im Septimusweg gekauft habe. „Wie will der denn das bezahlen?“ erkundigte sich ein Kollege namens Linz sehr angelegentlich. Dass sich Brotesser und Gruber auch privatim kannten, war kein Geheimnis im Amt.

Zwei Männer, die es sich eigentlich gar nicht leisten konnten, träumten von Hauskäufen. Tine telefonierte mit Susi Lauter, die sich gerade in der Wohnung für einen Kunden „zur Arbeit“ umzog und im Moment überhaupt keine Zeit hatte, was Tine natürlich verstand. „In einer Stunde im Reusenweg?“

„Okay.“

Tine musste noch eine Viertelstunde im Auto warten – in der Zeit erreichte sie Annegret Stamper im Labor, die sich königlich über Tines Fragen zum Lottospielen amüsierte, aber prompt antwortete – bis ein Mann Hals über Kopf aus dem Häuschen stürmte. Tine verschluckte sich vor Überraschung, den Knaben kannte sie doch, das war Leo Kusch gewesen; der Ökonom der Bikini-Bar. Kunde einer Ex-Elfe, die er aus dem Kreis der Hayler Elfen gefeuert hatte? Da würde Susi ihr eine Menge erklären müssen. Doch das war dann fast gar nicht nötig.

Susi rief von drinnen ängstlich: „Wer ist da?“

„Christine Dellbusch, die Kommissarin. Wir sind verabredet.“

„Ja, richtig, Nicht erschrecken, ich sehe etwas derangiert aus.“

So konnte man es auch umschreiben. Susi war nackt, das Gesicht verquollen und blutverschmiert, Schürf- und Platzwunden an den Armen, auf dem Oberkörper. Sie hinkte und stöhnte bei jeder Bewegung. Jemand hatte sie fürchterlich verprügelt, und als Tine auf dem Weg ins Wohnzimmer über etwas Weiches stolperte, erkannte sie eine weiße Spitzen-Korsage, teils zerrissen, mit Blut und Dreckflecken verschmiert.

„Das war Leo Kusch, nicht wahr?“

„Woher ...“ Susi brach ab, aber sie hatte Tines Frage schon so gut wie beantwortet.

„Ich habe im Auto vor dem Haus gewartet und ihn gesehen, als er abhaute. Warum hat er Sie so zugerichtet? Was wollte er von Ihnen?“

„Ich ziehe mir nur eben was über, bin gleich wieder da.“

Tine lächelte versteckt. Natürlich wollte Susi auch einen Moment in Ruhe überlegen, wie ehrlich und wie ausführlich sie Auskunft geben sollte.

Kusch war kein Kunde, sie hatte nur in der Corsage auf einen Kunden gewartet und wahrscheinlich geöffnet, ohne sich vorher zu vergewissern, wer da vor der Haustür stand.

Susi hatte sich einen Morgenrock übergezogen und knotete sich noch den Stoffgürtel zu, als sie zu Tine zurückkam.

Als ob sie Tines Gedanken gelesen hätte, sagte sie unaufgefordert: „Meine Dummheit. Ich hätte nachschauen sollen, wer da klingelte. Leo hätte ich nie ins Haus gelassen.“

„Was wollte er denn von Ihnen?“

„Ganz genau wissen, wann ich am Sonntag zu Martin gekommen und von dort wieder weggegangen bin, und was der Martin mir an dem Nachmittag alles erzählt hatte.“

„Aha. Haben Sie Kusch auch erzählt, was Brotesser Ihnen über seine Hauskaufpläne berichtet hat?“

„Ja, habe ich“, erwiderte sie mürrisch.

„Auch, dass er Ihnen 25 000 in bar gezeigt hat?“

Susi nickte nur.

„Und wie hat Kusch darauf reagiert?“

„Unfreundlich. Brotesser sei eben doch etwas dumm. 25 000 und glauben, damit könne man in Tellheim ein Haus kaufen.“

„Worauf Sie Brotessers Bemerkung erzählt haben, das sei ja doch erst der Anfang, da käme noch einiges nach. Und er hätte verstanden und sich genau gemerkt, wie man das mache, mit wenig Geld ein Haus zu kaufen.“

Tine hatte sich den Fangschuss genau überlegt. „Wann an dem Nachmittag ist Ihnen eingefallen, dass Martin Brotesser regelmäßig Lotto spielte?“

Susi Lauter zuckte erschrocken zusammen, öffnete schon den Mund zum geharnischten Protest und sah dann hoch. Tine lächelte sanft. „Wann, Susi?“

„Als Martin nachher – Sie verstehen schon – ins Bad ging.“

„Und? Haben Sie die Quittung gefunden?“

„Ja.“

„Und wo?“

„In seiner Brieftasche.“

„Sie haben sie an sich genommen?“

„Ja. Martin hatte vergessen, seinen Namen auf die Rückseite der Quittung zu schreiben.“

„Da haben Sie Ihren Namen darauf geschrieben?“

„Ja“, seufzte Susi.

„Und? Wie viel hatte Martin Brotesser an dem Wochenende gewonnen? Sie haben sich doch erkundigt.“

„Ja.“

Also – wie viel?

„Knapp 1 800 Euro. Vier Richtige und Superzahl. Scheißsumme.“

Tine brauchte einen Moment, bis sie begriff: „Zu wenig Geld für ein Haus, aber zu viel, um es noch anonym in bar bei der Lotto-Annahmestelle abzuholen.“

„Sie sagen es.“ Tine strahlte ob ihrer frisch von Annegret Stamper erworbenen Kenntnisse. „Was hat Kusch dazu gesagt.“

Susi Lauter hätte beinahe zu weinen begonnen: „Ich Dussel hätte doch wissen müssen, dass dieser Arsch sofort zuschlagen würde. Zuerst habe ich geleugnet, dass ich Martin die Lotto-Quittung geklaut habe. Aber weil der Dummkopf so von seinem künftigen Eigenheim schwärmte, war ich fest davon überzeugt, er hätte wenigstens fünf Richtige mit Superzahl, wenn nicht sechs Richtige. Kusch begann zu toben und hat immer weiter zugeschlagen. Schließlich habe ich ihm die Quittung gegeben, er hat sie sich angesehen und natürlich meinen Namen auf der Rückseite gesehen. Damit war sie für ihn absolut wertlos. 'Du bist doch dümmer, als die Polizei erlaubt', hat er gebrüllt und mir einen Tritt in den Unterleib verpasst, dass ich dachte, ich müsste sterben, weil dadrin alle Organe gerissen sind.“ Jetzt begann sie wirklich zu weinen, und zwar aus einem Grund, bei dem sich Tine nur schwer ein jetzt überhaupt nicht angebrachtes Grinsen verkneifen konnte. „Mit Arbeiten ist in den nächsten Wochen nichts.“

„Soll ich Sie in ein Krankenhaus fahren?“

Susi schüttelte zuerst den Kopf, machte dann aber eine unvorsichtige Bewegung und jaulte vor Schmerzen laut auf: „Ja, bitte, das ist wohl besser.“

In der Schönhals-Klinik legte sie ihren Dienstausweis vor. „Eine wichtige Zeugin in einem Ermittlungsverfahren, überfallen und misshandelt von einem Verdächtigen.

Susi wurde aufgenommen, sie hatte ihren Krankenkassenausweis eingesteckt. Tine tröstete sie: „Den Kerl schnappen wir uns.“

„Aber nicht Sie alleine. Sie haben ja gesehen, wozu der fähig ist.“

„Nein, ich nehme genug Kollegen mit. Und sobald ich morgen Zeit habe. Komme ich vorbei und schaue nach Ihnen.“

Es wurde noch eine turbulente Aktion. Kusch tat harmlos und verstand beim besten Willen nicht, warum man ihn auf ein Revier schleppen wollte, nur weil er mit einer Nutte etwas Zoff wegen des Honorars gehabt hatte. Doch dann erkannte er Tine Dellbusch und wollte fliehen. Bei dem unvermeidlichen Gerangel verließen einige von Kuschs Zähnen ihren angestammten Platz, und als Kusch daraufhin seine Gegner als Bullenschweine, KZ-Wächter und Mutterficker titulierte, wurde es heftig.

Tine nutzte die Zeit, in den Computer zu schauen, und Kusch regte sich ab, als sie ihm sagte: „Hier geht es nicht um eine Prügelei, sondern um versuchten Raubmord, schwere Körperverletzung und Beleidigung. Zusammen mit dem, was Sie bereits auf dem Kerbholz haben, sollte es zu Sicherungsverwahrung reichen.“

Die Streifenwagen-Besatzungen klatschten Beifall.

Britta von Sandau war in der Oper gewesen und hatte keine Zeit gefunden, sich nach Tines Anruf umzuziehen. Sie konnte sich einen solchen Ausschnitt leisten und war klug genug, dem Obermeister, der bei ihrem Eintritt begeistert pfiff, eine Kusshand zuzuwerfen.

„Wen haben wir denn da?“ jubelte sie anschließend. „Wenn das nicht der schöne Leo ist. Meine Mutter hat sich schon gewünscht, Sie hinter Gitter zu bringen, das ist nun mir vergönnt, die Realität ist doch abwechslungsreicher als sogar Richard Wagner. Dann erzählen Sie mal, Tine.“

Die Kommissarin Dellbusch berichtete ganz sachlich von einem Lottospieler Martin Brotesser, der mit zwei Kumpeln ziemlich regelmäßig Skat in der Gastwirtschaft Hölzer Hof spielte.

Kusch lächelte verächtlich.

Dann erkannte einer der Skatbrüder eine Chance, sich ein wertvolles Grundstück und eine Immobilie, ohne einen Cent eigenes Geld dafür zu bezahlen, unter den Nagel zu reißen.“

„Wirklich? Habe ich das getan?“

„Nein, Sie nicht, sondern der dritte in der Runde, Adolf Gruber. Allerdings brauchte er Hilfe dazu. Zuerst einen Freund, der vortäuschte, er wolle das Grundstück kaufen, und zweitens

jemanden, der vorübergehend 25 000 Euro verleihen konnte, um bei einem Notar eine Anzahlung in bar, gerade unter dem Geldwäsche-Limit, leisten zu können. Dieser Helfer – Martin Brotesser – hatte beruflich die Möglichkeit, diesen Kaufvertrag sofort in das Computer-Vormerksystem des Bezirksamtes Weidenthal einzutragen, so dass das Grundstück Septimusweg 22 für jeden weiteren Kaufinteressenten gesperrt war, und Gruber Zeit hatte, sich von seinem Bruder die Kaufsumme vorschießen zu lassen.“

„Zufrieden, Herr Kusch?“ wandte sie sich an Leo, der zwar demonstrativ gähnte, aber schmale Augen bekommen hatte, als er antwortete:

„Meinetwegen. Die Story enthält nur einen Fehler, ich verleihe grundsätzlich kein Geld, auch an Skatbrüder nicht.“

„Aha, dann waren die 25 000 alles, was Gruber in der Eile zusammenkratzen konnte?“

„Das müssen Sie ihn schon selber fragen.“

„Werden wir!“ versprach Tine grimmig. Britta von Sandau hatte die kleine Unterbrechung genutzt, um nachzudenken, und Tine dann genau in der richtigen Sekunde zu Hilfe zu kommen. „Der Grundstücksschwindel ist eine Geschichte, Herr Kusch, und hat also nichts zu tun mit dem Mordversuch an Susanne Lauter.“

„Mordversuch? Machen Sie sich doch nicht lächerlich. Wer behauptet denn so was?“

„Ich!“ sagte Tine wütend, „ich habe vor dem Haus im Reusenweg gewartet und gesehen, wie Sie aus Susis Haus gestürzt sind. Unmittelbar danach bin ich reingegangen und habe Susi Lauter so vorgefunden, wie ich sie später im Krankenhaus abgeliefert habe.“

„Gewartet. Das kann jeder behaupten.“

„Dann schlage ich Ihnen oder Ihrem Verteidiger vor, er soll sich mit dem Netzwerkbetreiber in Verbindung setzen, von wann bis wann ich in welcher Funkzelle eingeloggt war, um mit einer Kollegin aus der Kriminaltechnik zu telefonieren.“

Jetzt schwieg Kusch.

„Sie wollten also Susi Lauter Brotessers Lottoquittung abnehmen. Wann und von wem hatten Sie denn erfahren, dass Brotesser was gewonnen hatte? Ich meine, in vielen Fällen hat man nicht einmal drei Zahlen richtig getippt.“

Die Staatsanwältin stand auf und ging nach draußen. „Bin gleich wieder da!“

„Von Gerda Linke.“

Tine brauchte ein paar Sekunden, bis der Groschen fiel. „Was haben Sie mit der Hausmeisterin in Brotessers Haus zu tun?“

Kusch grunzte verächtlich: „Manchmal ist es gut, einen Blick auf einen Menschen zu haben, mit dem man gerade ein größeres Geschäft am Laufen hat.“

„Ein krummes Geschäft.“

„Das wird sich vor Gericht herausstellen.“

„Möglich. Wo waren Sie eigentlich am Sonntag, später Nachmittag, früher Abend. Also zu der Zeit, als Brotesser ermordet wurde.“

„Ich habe gearbeitet!“

„Wo? Sagen Sie jetzt nicht, in der Bikini-Bar!“

„Wo denn sonst?“

„Am heiligen Sonntag?“

„Da und am Vorabend geschehen besonders viele unheilige Dinge, Frau Kommissarin.“

Die Tür wurde aufgerissen und die Staatsanwältin rollte wie ein großer Schaufellader herein. „Was habe ich da gehört? Unheilig? Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie, Leo Kusch. Susanne Lauter ist vor einer halben Stunde gestorben. Diesmal sind Sie dran. Abführen.“


Sechstes Kapitel

Die drei Schwestern hatten Tines dringliche Einladung zu einem kleinen Familientreffen benutzt. Anke, Miriam Tönnissen und Maria Gerber saßen schon auf der unbequemen Holzbank vor Tines Zimmer, als die vom Hafttermin zurückkam. Probleme hatte es nicht gegeben, Britta von Sandau hatte anstandslos ihren Haftbefehl für Leo Kusch bekommen. Tine bat als erste Maria Gerber herein, die heute noch nach Basel zurückfahren musste.

„Wie haben Sie eigentlich vom Tode Ihres Onkels erfahren?“

„Das Krankenhaus hat uns hat angerufen. Das war so vereinbart, als unser Onkel in die Klinik eingeliefert wurde. Er hatte eine Patientenverfügung dabei.“

„Kripo und Staatsanwaltschaft interessieren sich in erster Linie für den Hausverkauf Septimusweg 22.“

„Das war testamentarisch geregelt. Der Erlös aus dem Verkauf von Haus und Grundstück sollte geteilt werden, fünfzig Prozent für Dr. Brünn, fünfzig Prozent für uns drei Schwestern nach Abzug eines Legats von 20 000 Euro für Gerda Linke.“

„Wer ist Gerda Linke?“ fragte Tine verblüfft.

„Nach dem Tod seiner Frau hatte Onkel Jakob einige Jahre mit einer Gerda Linke zusammengelebt, bis er ihrer überdrüssig wurde und sie weggeschickt hat.“

„Wissen Sie zufällig, was diese Gerda Linke heute macht und wo sie wohnt?“

„Nein, das fragen Sie am besten Anke, die hat für so was ein Bombengedächtnis.“

„Kannten Sie den ersten Kaufinteressenten Martin Brotesser?“

„Nein. Und ich war auch ziemlich entsetzt, als ich ihn kennenlernte. Mir war schleierhaft, wie so ein Typ soviel Geld zusammenbringen wollte.“

Trotzdem haben Sie dem Kaufvertrag zugestimmt.“

„Ja. Ich hielt diesen Brotesser für einen aus Steuergründen vorgeschickten Strohmann, der ärmlich aussehen sollte, um den Preis zu drücken, was er auch versucht hat. Aber ohne Erfolg. Weil ich an den großen Mann im Hintergrund glaubte, war ich ziemlich erstaunt, als Brotesser dann das Handtuch warf.“

„Den Käufer Adolf Gruber kannten Sie auch nicht?“

„Nein, er gefiel mir auch nicht. Aber er hat nicht lange gehandelt und die vereinbarte Summe postwendend auf das notarielle Anderkonto überwiesen.“

„Wer von Ihnen brauchte denn damals so unbedingt Geld?“

Maria Gerber nieste diskret. „Ich merke schon, Sie haben bereits mit Dr. Brünn gesprochen.“

„Ja. Er hat uns erst den Trick erklärt, wie man durch Teilung eines Grundstücks sich das Areal und eine Immobilie aneignen kann, ohne selbst einen Pfennig respektive Cent zu zahlen.“

„Ah ja. Damit hat er uns auch lange belästigt. Hat er Ihnen auch die zwei Vorbedingungen erklärt?“

„Welche meinen Sie?“

„Er musste Brünn und uns bezahlen, wartete aber schon so lange, bevor er das zweite, durch Teilung entstandene Grundstück bebauen kann. Das Bauamt Weidenthal und zwei Nachbarn haben sich quergelegt. Die Teilung und Bebauung sind erst in zweiter Instanz vom Oberverwaltungsgericht genehmigt worden. Wenn man sich auf diesen riskanten Instanzenweg einlassen will, braucht man entweder viel Kredit bei seiner Bank oder einen besser situierten Bruder, der das Spiel mitmacht und lange auf sein dem Adolf geliehenes Geld warten kann.“

Tine hatte sich wieder fleißig Notizen gemacht – gelobt sei die Erfindung der Stenografie – und beschlossen, Lorenz Koch um einen längeren Spaziergang durch Weidenthal und den Septimusweg zu bitten. Mehr hatte Maria Gerber nicht zu erzählen, Onkel Josef war nicht gerade ihr Lieblingsonkel gewesen, aber andere Onkel hatten nicht so viel zu vererben.

Anke Tönnissen konnte weitere Tatsachen nicht beisteuern, antwortete aber wie aus der Pistole geschossen: „Gerda Linke ist heute Hausmeisterin in der Ludwigstraße 44.“

Bei der letzten Schwester, Miriam Tönnissen, hatte Tine schon Mühe, sich überhaupt noch Fragen auszudenken, und war heilfroh, als die dritte Schwester endlich ging.

Vor der Kantine schaute sie sich endlich an, was sie alles in Brotessers Schließfach gefunden hatten. Auf einem Foto in dem zerfledderten Briefumschlag lächelte sie eine hübsche Frau an, die ihre Bluse und den BH ausgezogen hatte. Auf der Rückseite stand mit Kugelschreiber: „Meinem treuen Martin auf immer Deine Gerda.“


Siebtes Kapitel

Tine schenkte sich die Kantine und sauste in die Ludwigstraße 44;

Gerda Linke fiel fast vom Stuhl: „Woher haben Sie das Foto?“

„Brotesser hatte es in seinem Schließfach aufgehoben. Leider können wir ihn nicht mehr fragen, wie er es erhalten hat. Und Leo Kusch redet mit uns nicht mehr gerne, er sitz nämlich in U-Haft.“

„U-Haft? Warum denn das?“

„Wir werfen ihm vor, Brotessers 'Besucherin' zu Tode geprügelt zu haben.“

„Diese Susi Lauter?“

„Ja. Kennen Sie sie?“

„Nur dem Namen nach, als ich in die Bikini-Bar kam, war sie schon fort.“

„Waren Sie auch mal eine Hayler Elfe?“

„Nein. Dazu hatte ich schon immer zuviel Oberweite. Nein, ich war Buchhalterin im Büro der Bar, bis alles auf Computer umgestellt wurde, ich in der Bar überflüssig geworden war und gehen musste. Leo hat mir dann geholfen und mir diese Stelle besorgt.“

„Wie konnte Leo Kusch Ihnen hier eine Stelle besorgen?“ erkundigte sich Tine erstaunt.

„Ihm gehört das Haus, wussten Sie das nicht?“

„Nein.“

„Ihm gehören auch die drei Häuser an der Eichengabel. Er ist Vermieter des Hölzer Hofes. Leo ist ein reicher Mann, der aber wie manche so geizig ist, dass sie lieber verhungern. Leo kann den Hals nicht voll kriegen.“ Das klang etwas merkwürdig, deshalb fragte Tine vorsichtig: „Wann haben Sie Leo Kusch eigentlich zum letzten Mal gesehen?“

Gerda rang mit sich, bis sie aufstöhnte: „Am Sonntagabend, als Martin Brotesser erstochen wurde.“

„Wann und wo, Frau Linke?“

So etwa um halb zwölf. Hier im Haus. Ich war unterwegs, um abzuschließen und die Fenster zu kontrollieren, weil Gewitter angesagt waren, da kam er aus Martins Wohnung.“

„Wie bitte, aus Brotessers Wohnung?“

„Ja. Er war ziemlich erschrocken, als er mich sah. 'Was machst du denn hier'? Wollte ich wissen.“

„Ich habe für einen Freund Geld abgeholt, das Martin ihm noch schuldete.“

„Viel Geld?“

„Fünfundzwanzig Riesen.“

„Na prachtvoll. Und wie hoch ist ein Botenlohn?“

„Zweieinhalb Riesen.“

„Donnerwetter, ein Fahrradkurien bekommt weniger.“

„Sicher, aber Martin wollte es zuerst gar nicht herausrücken. Leo musste erst etwas drohen.“

Dann war Leo Kusch nervös geworden, er wollte Gerda drei oder vier Scheine abgeben, wenn sie vergäße, dass sie ihn hier gesehen hatte.

„Das mussten wir ja nicht im Treppenhaus besprechen und sind deshalb in meine Wohnung gegangen. Kusch hatte zwei Plastiktüten in der Hand. In der einen war das Geld, und in der anderen so ein Holzblock mit verschiedenen Messern, wie man sie in der Küche gebrauchen kann.“

„Und weiter, Frau Linke.“

Leo wollte eigentlich nichts von dem Geld abgeben. Deshalb hat er angefangen, seine Hose aufzumachen und mich anzufassen. Ja, wir haben gebumst, das hatten wir früher in der Bikini-Bar gelegentlich auch schon getan. Aber hinterher fragt mich dieser Arsch. 'Nun sag' schon, ich bin doch besser als dein Trockenbrotesser, nicht wahr?' Ich hab' ihn rausgeschmissen, er hat die Plastiktüte mit dem Geld mitgenommen und so höhnisch gesagt: „Ich schenk' dir die andere Tüte. Geld kann ich dir leider nicht geben, das gehört nicht mir.' An einem der Messer war Blut. Ich bin anschließend in Martins Wohnung gegangen und habe ihn tot im Wohnzimmer gefunden.“

„Und drei Tage dort liegen lassen“, klagte Tine vorwurfsvoll.

„Doch nur wegen der Zeitungen, ich musste doch für die Bullen – Entschuldigung, für die Polizei einen Grund haben, warum ich in Martins Wohnung gegangen bin. Den Messerblock habe ich später weggeworfen.“

„Das heisst, Sie wollten Leo Kusch nicht verraten oder anzeigen?“

„Nein. Ich brauche diesen Job nach Martins Tod mehr denn je. Wir wollen wegziehen, sobald er sich seinen Traum erfüllt hat, ein eigenes Haus zu besitzen, wo er im Garten einen Baum pflanzen und einen Sohn großziehen konnte. Er wisse ja jetzt Bescheid, wie man so was mache.“

Tine sagte nichts. So wenig, wie man über Geschmack diskutieren konnte, wo wenig half es auch, sich über die Wunschträume fremder Menschen zu wundern oder zu erregen.

„Kommen Sie, Frau Linke, ich muss Sie mitnehmen. Und dann müssen Sie alles noch einmal der zuständigen Staatsanwältin erzählen. Ihnen ist doch klar, dass Leo Ihnen den Mord an Martin Brotesser anhängen wollte und Ihnen deswegen den Messerblock geschenkt hat?“

„Ja, ich hatte genug Zeit, zu überlegen. Armer Martin.“


Achte Kapitel

Britta von Sandau kam zu Tine ins Referat 11.

„Na, da haben Sie mir ja eine nette Überraschung geliefert. Damit nageln wir Leo. Für wen sollte er wohl das Geld holen?“

„Ich denke, für Gruber. Der wollte sich nicht die Hände schmutzig machen und so wenig Spuren wie möglich hinterlassen.“

„Ja, glaube ich auch. Ich habe auch eine kleine Überraschung für Sie. Ich habe mir vorgestern das Urteil und das Protokoll

der OVG-Verhandlung besorgt. Der Vorsitzende, ein Olaf Heidiger, hat sich ein paar Klöpse geleistet, dass ihm das BVG das Urteil nur so um die Ohren geschlagen hätte. Kein Wunder, dass Heidiger den Weg nach Leipzig blockieren wollte. Ich habe also bei ihm angerufen und etwas mit seiner Vorzimmerdame geplaudert. Der Chef stehe im Moment mächtig unter Stress. Er baue nämlich gerade ein Haus am Baaler See, und weil ein tüchtiger Vorzimmerdrachen immer alles weiß, wusste sie sogar zu sagen, dass er das Grundstück von der Liegenschaftsverwaltung der Deutschen Bahn erstanden habe. In dem Verein kennen wir beide doch jemanden, nicht wahr?“

„Ich schaue es mir sofort an, Frau Staatsanwalt.“

Lorenz Koch wartete schon an der Pforte auf Tine. Und auf der Fahrt nach Süden erklärte er ihr, wie der Baaler See entstanden war: Eine aufgegebene und voll gelaufene Kiesgrube, die im Dritten Reich vor der sogenannten Rheinischen Fruchtfolge bewahrt wurde. Erst Kies, dann Bauschutt-Deponie, danach Hausmülldeponie, danach Sondermüll-Deponie und wenn trotz der Gifte im Boden etwas auf der dünnen Grasnarbe wuchs, Bau-Erwartungsland. Das blieb der Kiesgrube Baal erspart und der Uferweg zähle heute zu den besseren Weidenthaler Adressen, nicht so teuer und begehrt wie der Septimusweg in Weidenbusch, aber auch hoch geschätzt.

„Warum wollen Sie das alles wissen?“ bohrte Koch hartnäckig.

„Weil ein Richter, der die Grundstücksteilung im Septimusweg erlaubt hat, hier selber baut.“

„Und Sie hoffen jetzt natürlich, den möge nun dasselbe Schicksal treffen, dass ein Nachbar ihm durch Grundstücksteilung und Neubauten Licht, Luft und Sonne wegnimmt.“

„Wäre doch schön, wie? Und der Mensch darf doch hoffen!“

„Stimmt- die Hoffnung stirbt zuletzt.“

„Und der Wunsch nach billigem Baugrund in bester Lage verbindet leicht zu einer Seilschaft. Wenn dann beide noch derselben Partei angehören, die im Moment nicht so recht salonfähig ist ...“

„Welche zum Beispiel?“

„NPD, Republikaner, AfD, früher einmal BHE oder Schill-Partei. Dann

nennt man das demokratisches Engagement, dafür gibt es am Lebensende ein Stück billiges buntes Blech und langweilige Reden.“

Koch stieß Tine mit dem Ellbogen an. „Wenn Sie immer so deutlich Partei ergreifen, werden Sie's in diesem System leider nicht weit bringen.“

„Muss ich ja auch nicht, Herr Koch.“


Ende

Verschwunden und ermordet: 3 Top Krimis

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