Читать книгу Unterwegs ermordet in Münster, Ostfriesland und New York: Sammelband 4 Krimis - Alfred Bekker - Страница 15

4. Kapitel

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Tjade Winkels, ehemaliger Kriminalhauptkommissar der Polizeiinspektion Aurich, parkte seinen Wagen auf dem großen Parkplatz, der am frühen Morgen noch ziemlich leer war, stieg aus und machte sich auf den Weg zur Ubbo-Emmius-Klinik.

Das Krankenhaus hatte seinen Namen von einem evangelischen Theologen aus dem siebzehnten Jahrhundert, nach dem in seiner ostfriesischen Heimat diverse Einrichtungen benannt waren.

Winkels dachte einen Augenblick darüber nach, warum manche Leute noch nach Jahrhunderten im Gedächtnis blieben, während andere schon kurz nach ihrem Tod in ewige Vergessenheit gerieten. Er befürchtete, dass auch er eher zur zweiten Gruppe gehören würde.

Nun, zumindest sollte sein Leben nicht mit der Pensionierung zu Ende sein. Für die Tätigkeit eines Ermittlers brauchte man vor allem einen gesunden Verstand, und an dem fehlte es ihm nicht.

Er lächelte. Uwe Dröver würde ihm noch lange nicht das Wasser reichen können.

Beschwingten Schrittes marschierte er auf den Haupteingang zu. Harm hatte er bei Frau Schrader abgegeben. Sie passte ganz gern auf den Hund auf, wenn sie Zeit hatte. Und Harm war gern bei ihr, denn es gab immer Leckereien für ihn. Hunde waren leichter zufriedenzustellen als Menschen, dachte er.

Er durchquerte das Foyer der Klinik und blieb vor dem Anmeldetresen stehen. Zwei Frauen saßen dahinter, die jüngere in Schwesterntracht.

Sie unterbrach ihre Tätigkeit und wandte ihm ihre Aufmerksamkeit zu.

„Moin erstmal,Mein Herr.

„Moin.“

„Was kann ich für Sie tun?“

„Ich möchte gern zu Herrn Walter Köhler.“

Sie tippte den Namen ein, hob den Kopf und blickte ihn mit ernster Miene an. „Sind Sie ein Verwandter?“

Die ältere Dame sah ihn jetzt ebenfalls an. Mitleidig, wie es schien.

„Nein, aber sein bester Freund“, antwortete er. „Wir kennen uns schon sehr lange, doch ich habe erst jetzt gehört, dass er im Krankenhaus ist.“

Das klang ziemlich flau, ging es Winkels durch den Kopf, doch die junge Dame schien sich daran nicht zu stören.

„Sie müssen in die Kardiologie. Fragen Sie nach Oberschwester Bernhardine. Man wird Ihnen dort weiterhelfen.“

„Können Sie mir nicht einfach die Zimmernummer nennen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Bitte wenden Sie sich an die Schwester.“

Sie zeigte auf einen Durchgang. „Dort entlang, bitte.“

Winkels zuckte mit den Schultern und machte sich auf den vorgeschriebenen Weg. Nach der Glastür, die den Bereich der Kardiologie abtrennte, herrschte rege Betriebsamkeit auf dem Gang. Er blieb stehen und sah sich um.

Aus einem Zimmer wurde von einem Pfleger ein Bett gezogen, ein zweiter schob einen Ständer mit einem Tropf hinterher. Der Patient beschwerte sich lautstark. Die Verlegung schien ihm nicht zu gefallen. Ein Stück weiter standen zwei Ärzte mit Klemmbrettern in der Hand und jeweils einem Stethoskop um den Hals. Sie unterhielten sich leise.

Ein Reinigungswagen stand mitten im Gang, und von der hinteren Seite des Flurs rief jemand einen unverständlichen Namen. Ein kleiner Pulk von jungen Leuten in weißen Kitteln stand wartend vor einem der Zimmer. Wahrscheinlich Studenten, die zur Visite angetreten waren.

Auf der linken Seite war eine Tür halb geöffnet. Ein bunter Fleck auf einem Bett erregte seine Aufmerksamkeit. Er trat näher und sah sich um.

Er stand in einem Abstellraum mit Ersatzbetten sowie Matratzen und Kissen. An einer Wand waren Kartons aufgestapelt. Der bunte Fleck war jedoch etwas, das ganz sicher nicht hierher gehörte.

Ein Blumenstrauß, noch in der Folie. Wie achtlos hingeworfen. Was hatte das zu bedeuten? Hier gab es keinen Kranken, dem man die Blumen hätte mitbringen können.

Tjade Winkels schüttelte den Kopf und ging langsam weiter, bis er zu einer geöffneten Tür kam. Hier war das Schwesternzimmer, wie er einem Schild neben der Tür entnahm. Eine streng blickende ältere Schwester richtete gerade ihr Häubchen.

„Moin!“, sagte sie – und das klang in ihrem Fall fast wie: „Hände hoch und nicht bewegen!“

„Auch Moin“, gab Winkels zurück.

„Wer sind Sie?“ fragte sie in drohendem Ton.

„Winkels ist mein Name. Sind Sie Schwester Bernhardine? Ich muss dringend mit Herrn Walter Köhler reden.“

„Sind Sie verwandt mit ihm?“

Zum zweiten Mal die Frage! Das wollte doch sonst niemand bei einem Besuch im Krankenhaus wissen. Ein unheilvoller Verdacht drängte sich auf.

„Es geht um eine polizeiliche Ermittlung.“

Winkels hatte kein schlechtes Gewissen. Diese Aussage stimmte ja. Oder besser, sie würde bald stimmen.

„So früh schon? Sie sind aber schnell.“

Sein Gesicht musste ein einziges Fragezeichen sein. Sie starrte ihn daraufhin verständnislos an.

„Ich muss nur mit ihm reden“, fuhr er fort.

„Wieso hat man Sie hergeschickt, wenn Sie keine Ahnung haben?“ fragte sie mit vorwurfsvoller Stimme.

„Ich verstehe nicht.“

„Herr Köhler ist tot. Er ist heute Nacht beziehungsweise in den frühen Morgenstunden verstorben. Ich dachte, Sie sind deswegen hier. Ich habe die Polizei bereits verständigt. Sie sind doch mit dem Fall befasst, oder?“

„Nicht direkt“, drückte sich Winkels um eine korrekte Antwort.

Es schien der Schwester jedoch zu genügen, und er hatte nicht die Absicht, ihren Irrtum aufzuklären.

„Weshalb haben Sie die Polizei gerufen?“

„Es gab verdächtige Umstände. Der Patient, der im gleichen Zimmer liegt, hat behauptet, dass mitten in der Nacht jemand im Raum war, der neben Köhlers Bett herumhantierte. Es war dunkel, und er hat nur einen Schatten gesehen. Dann klappte die Tür, und der Schatten war verschwunden. Wir wissen nicht genau, was wir davon halten sollen. Die Patienten bilden sich schon mal was ein und sehen Gespenster.“

Der Blumenstrauß! schoss es durch seinen Kopf. Er ahnte, weshalb er ihn auf dem Bett in einem Abstellraum vorgefunden hatte.

„Sie haben das schon richtig gemacht, als sie die Polizei riefen. Kann ich das Zimmer sehen?“

„Gleich schräg gegenüber. Nummer zwei dreiunddreißig.“

„Danke!“

Er drehte sich noch einmal um. „Verschließen Sie bitte die Tür dort vorn zu dem Abstellraum. Niemand darf ihn betreten, bis die Polizei hier ist. Noch etwas: ich kann doch mit dem anderen Patienten reden, oder?“

„Der wurde gerade verlegt. In dem Zimmer befindet sich nur noch der Verstorbene. Sie können gerne rein. Was den anderen Patienten angeht, müssen Sie den zuständigen Arzt fragen.“

Winkels nickte und machte sich auf den Weg zu dem genannten Zimmer. Hier hatte man das Bett herausgeholt, wie er sich erinnerte.

Er drückte die Klinke auf und betrat das Krankenzimmer. Die Beleuchtung war gedämpft, da ein Rollo vor dem Fenster heruntergezogen war. Die Maschinen, an denen sonst verschiedene Lämpchen blinkten, waren abgeschaltet. Der Monitor, der normalerweise die Körperfunktionen anzeigte, war schwarz.

Auf dem einzigen Bett lag ein Körper unter einem Laken, das man auch über das Gesicht gezogen hatte.

Tjade Winkels berührte nichts. Er wollte sich nur ein Bild von einem möglichen Tatort machen. Er versuchte, sich den Patienten im zweiten Bett vorzustellen, wie er nachts einen Schatten gesehen haben wollte. Alles war dunkel, nur die Kontrolllämpchen der medizinischen Geräte würden einen ganz schwachen Lichtschimmer abgeben.

Ja, möglich wäre es.

Sein Blick fiel auf eine flache Schale aus Edelstahl, die auf dem Nachttisch lag. Zwei gebrauchte Pflaster lagen darin und eine relativ große Spritze ohne Kanüle.

Er ging auf die andere Seite des Bettes. Dort stand der Ständer mit dem Tropf. Aus der Flasche hing ein dünner Schlauch bis fast auf den Boden. Eine Flüssigkeit tropfte langsam heraus.

Walter Köhlers linker Unterarm war sichtbar und nicht vollständig von dem Laken verdeckt. Aus der Armbeuge ragte eine Kanüle. Die Pflaster, mit denen sie üblicherweise befestigt wurde, fehlten.

Er brauchte nicht lange, um sich vorzustellen, was hier geschehen war. Jemand hatte die Pflaster abgerissen, den Schlauch von der Kanüle entfernt und dann die Spritze benutzt, um irgendetwas zu injizieren, was zum Tod von Walter Köhler führte. Vorher hatte sich der Unbekannte in dem Abstellraum versteckt und hatte die mitgebrachten Blumen dort liegen lassen.

Tjade Winkels stand am Schauplatz eines Mordes!

Bevor er sich umwandte, bemerkte er auf der Ablage des Nachttisches einen Pappumschlag, wie er von einigen Banken für die Aufbewahrung der Kontoauszüge ausgegeben wurde. Er selbst besaß einen ganz ähnlichen. Auch in Zeitalter von Online-Banking zogen viele Menschen die klassischen Auszüge immer noch vor.

Er schlug den kleinen Ordner auf und blätterte durch die Auszüge. Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn, als ihm eine Merkwürdigkeit auffiel. Neben der laufenden Rentenzahlung gab es jeden Monat einen weiteren gleichbleibenden Zahlungseingang. Die Summe war höher als die der Rente, und sie wurde von einem Notariat in Aurich überwiesen.

Nun, ja, das musste nicht unbedingt eine Bedeutung haben. Es konnte sich um eine Erbschaft handeln, Mieteinnahmen oder Wertpapiererträgen. Dennoch merkte er sich den Namen des Notars. Er musste der Sache auf jeden Fall nachgehen. Es ging um Geld, und Geld war immer ein Schlüssel.

Schnell legte er die Mappe zurück, als draußen vom Gang Stimmen drangen. Schritte waren zu hören. Rasch verließ er den Raum, denn er konnte sich denken, wer da im Anmarsch war.

Tatsächlich, da war sein Nachfolger, neben ihm ein Arzt, der auf ihn einredete, dahinter zwei Leute von der Spurensicherung sowie einige uniformierte Polizisten.

Kriminalhauptkommissar Uwe Dröver blieb wieder wie vom Blitz getroffen stehen, als er seinen Vorgänger erblickte. Er rang sichtlich nach Worten.

„Tjade!“ rief er schließlich. „Das glaube ich jetzt nicht!“

„Erstmal Moin, Uwe!“

„Meinetwegen: Moin! Aber was machst du hier?“

„Ich wollte nur einen alten Freund besuchen.“

Er hatte es kaum ausgesprochen, als ihm bewusst wurde, wie unglaubwürdig diese Behauptung klang.

„Na, schön“, sagte er resigniert. „Ich habe etwas herumgestochert.“

Dröver kam näher, bis er direkt vor ihm stand.

„Tjade, du setzt dich jetzt irgendwohin, wo du nicht im Wege bist. Lass´ mich jetzt meine Arbeit tun, anschließend reden wir miteinander. Ich hoffe sehr, dass du einen guten Grund für deine Anwesenheit hast.“

Er winkte den Arzt heran, der mit ihm gekommen war. „Herr Doktor, haben Sie einen Raum, wo mein ehemaliger Kollege bleiben kann?“

Das ehemalige betonte er besonders.

„Am besten wäre das Schwesternzimmer“, entgegnete der Arzt. „Gleich hier vorn. Dort steht sogar eine Kaffeemaschine.“

„Perfekt!“ Dröver grinste und sah Winkels nach, wie er mit leicht hängenden Schultern in das Zimmer ging und sich auf einen der Stühle setzte. Schwester Bernhardine saß hinter dem Schreibtisch und blickte ihn finster an.

*


Tjade Winkels wartete fast eine Stunde, ehe Dröver wieder hereinkam.

„Und jetzt zu dir, Tjade“, sagte er fröhlich.

„Habt ihr...?“

„Ja, haben wir. Du warst ja schon vor uns in dem Zimmer. Ich denke, wir haben das gleiche gesehen, das du gesehen hast. Jemand hat dem armen Mann eine Spritze gegeben, die er nicht überlebt hat. Die Spuren sind eindeutig. Insofern brauchst du mir nicht erst zu empfehlen, an einen unnatürlichen Tod zu denken. Es war ein Mord, ganz klar!“

„Damit sind wir uns einig. Was ist mit dem Blumenstrauß?“

Dröver stutzte. „Welche Blumen?“

„Im Abstellraum liegen Blumen, die möglicherweise der Täter mitgebracht hat. Sie befinden sich noch in der Folie, und darauf sind vielleicht...“

„Abdrücke!“ ergänzte Dröver - und war so schnell wieder draußen, wie er hereingekommen war. Winkels hörte, wie er einem der Spurensicherer Anweisungen gab.

Winkels atmete erleichtert aus. Jetzt war der Fall im richtigen Fahrwasser, auch wenn der Kollege Dröver noch nicht alles wusste.

Er beschloss, dass es erst mal so bleiben sollte.

Diesmal war Dröver sehr bald wieder zurück. Er setzte sich auf einen Stuhl, den er gegenüber von Tjade platziert hatte.

Er sah zu Schwester Bernhardine hinüber. „Könnten Sie uns für einen Moment allein lassen?“

Sie funkelte ihn wütend an, gehorchte aber der Aufforderung.

Dröver wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

„Jetzt würde ich gern deine Geschichte hören.“

Tjade Winkel erzählte seinem Nachfolger, was er wusste und welche Schlüsse er daraus gezogen hatte. Ein paar Einzelheiten ließ er aus, zum Beispiel die entdeckten Kontoauszüge. Er wusste, dass er sie streng genommen nicht hätte ansehen dürfen.

„Diese Todesfälle hängen zusammen“, schloss er. „Und ich denke, dass es um Geld geht.“

Dröver schwieg einen Augenblick. „Du glaubst also, dass ein Mörder durch unsere schöne Stadt schleicht und Rentner umbringt? Ich verstehe den Zusammenhang nicht. Wilhelm Papendieck ist tatsächlich ermordet worden. Ich habe gestern die ersten Ergebnisse der Obduktion bekommen. Danach besteht kein Zweifel an Fremdverschulden. Die Leiter ist nicht allein umgefallen, und nach dem Sturz hat jemand nachgeholfen, das Ende zu beschleunigen. Ich hoffe, dass die Fußabdrücke uns weiterbringen.“

„Was ist mit Erna Bräker?“

„Wir müssen die Obduktion abwarten. Es gibt bisher nur einen Verdacht auf Fremdverschulden, jedoch keine eindeutigen Beweise, und es gibt auch keinen Zeugen, der irgendetwas beobachtet hätte. Wir haben das Personal befragt, keiner kann sich erinnern, eine fremde Person gesehen zu haben.“

„Kein Wunder, der Zugang wird nicht kontrolliert.“

Dröver nickte. „Ja, leider. Walter Köhlers Tod jedenfalls ist eindeutig ein Mordfall. Für den Hinweis auf die Blumen muss ich dir wohl danken. Doch bilde dir bloß nicht zu viel darauf ein.“

Winkels merkte, dass es seinem Nachfolger nicht leicht fiel, ein solches Lob auszusprechen.

Er wusste natürlich, dass einige der ehemaligen Kollegen die Augen verdrehten, wenn er wieder mal unangemeldet an seinem alten Arbeitsplatz erschien. Er ignorierte es inzwischen, denn der Wunsch, seine Ermittlungsarbeit fortzusetzen, war stärker als seine Bedenken.

Dröver stand auf und stellte den Stuhl wieder an seinen alten Platz. „Wir sollten den Raum nicht länger blockieren.“

Er überlegte einen Moment. „Wenn du mir versprichst, dich nicht einzumischen, kannst du zu dem Patienten mitkommen, der in Köhlers Zimmer war. Der Arzt hat mir gestattet, ihn kurz zu befragen. Nicht länger als zehn Minuten, hat er gesagt. Der Mann erholt sich von einer Operation.“

Tjade Winkels war so schnell hochgeschossen, dass er fast vor Dröver an der Tür war. „Versprochen!“

Sie brauchten nur zwei Türen weiter zu gehen. Hier hatte man den Patienten jetzt untergebracht. Er war allein in dem Raum, das zweite Bett war leer.

Eine Schwester war mit den medizinischen Gerätschaften neben dem Kranken beschäftigt. Sie nickte ihnen zu und verließ den Raum.

Der Mann im Bett sah ihnen neugierig entgegen.

„Sie wollten mir ein Beruhigungsmittel verpassen, doch ich habe abgelehnt. Ich war früher bei der Marine in Wilhelmshafen und habe ganz andere Sachen erlebt.“

Kriminalhauptkommissar Dröver zeigte seine Marke. „Dröver, Kripo Aurich. Moin erstmal.“

„Moin, Herr Dröver.“

„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich unser Gespräch aufzeichne? Wir schreiben es dann ab, und Sie können das Protokoll im Krankenhaus unterschreiben, so dass Sie nicht in die Dienststelle kommen müssen.“

„Nur zu.“

Dröver legte sein Smartphone auf den Nachttisch und schaltete es ein.

„Ich würde von Ihnen gern wissen, was genau Sie gesehen haben. Zunächst mal, wann war das?“

„Ich bin von einem Geräusch aufgewacht, das aus der Richtung des anderen Bettes kam. Ich weiß nicht genau, wie spät es war. Jedenfalls noch vor der Morgendämmerung. Ich habe mich nicht bewegt, sondern nur vorsichtig die Augen geöffnet. Dann sah ich den Schatten.“

Es folgte eine hochdramatisch erzählte Geschichte, die im Prinzip bestätigte, dass ihre bisherigen Vermutungen richtig waren, und die damit endete, dass der Schatten das Zimmer durch die Tür verließ. Fast lautlos, wie ein Geist. Nicht zu identifizieren. Was er genau getan hatte, war nicht zu erkennen gewesen.

„Von Walter Köhler habe ich nichts gehört, und dann muss ich wieder eingeschlafen sein. Ich bin erst wieder aufgewacht, als die Schwester nach meinem Nachbarn gesehen hat und einen erschrockenen Laut ausstieß.“

„Kontrolliert denn nachts niemand die Geräte?“ wunderte sich Dröver.

„Dazu gab es keine Notwendigkeit. Mit mir war alles nach der Operation in Ordnung, und der Herr Köhler sollte in zwei Tagen entlassen werden.“

Winkels konnte es jetzt doch nicht lassen, obwohl Dröver ihm einen warnenden Blick zuwarf.

„War es eher ein Mann oder eine Frau? Was glauben Sie?“

Der Kranke brauchte nicht lange zu überlegen. „Ein Mann, ganz sicher. Ich habe ihn einmal leise fluchen hören. Es war eindeutig eine männliche Stimme.“

Mehr war nicht herauszubekommen, und sie verabschiedeten sich. Als sie im Flur standen, konnte sich Winkels die nächste Bemerkung nicht verkneifen.

„Zwei Augen oder Ohren sehen und hören eben mehr als...“

Dröver grummelte etwas Unverständliches.

*


„Moin, Harm.“

„Wuff.“

„Wir müssen reden.“

„Wuff.“

„Ich brauche mal einen intelligenten Gesprächspartner.“

„Wuff.“

„Nicht so einen Döspaddel wie den Uwe.“

„Wuff.“

„Kriminalhauptkommissar Uwe Dröver. Wie der die Prüfungen schaffen konnte, ist mir bis heute unbegreiflich.“

„Wuff. Wuff.“

„Und wie der sich auch noch erfolgreich um meine Nachfolge bewerben konnte, verstehe ich auch nicht.“

„Wuff.“

„Vermutlich wegen der Quote für Schwerbehinderte: Doof und blind!“

„Wuff! Wuff! Wuff! Wuff!“

„Ja, ich weiß, dass ist völlig unsensibel und politisch unkorrekt, was ich da sage.“

„Wuff.“

„Und du hast Hunger.“

„Wuff! Wuff! Wuff!“

Tjade Winkels schüttete eine Handvoll Trockenfutter in den Fressnapf. Eine richtige Mahlzeit würde es erst am Abend geben. Harm saß neben dem Tisch wie festgewachsen und schien dem Geräusch des Futters zu lauschen, das in die Blechschüssel fiel.

„Nur Geduld“, murmelte Tjade. „Die brauche ich bei meinen Fällen auch. Du kannst dir nicht vorstellen, was gerade in unserer Stadt geschieht. Ein brutaler Mörder hat es auf Rentner abgesehen. Ich bin sicher, dass er einen Grund für seine Taten hat, aber noch tappe ich im Dunkeln. Vielleicht hast du eine Ahnung?“

„Wuff.“

Er stellte den Napf auf den Boden, und Harm widmete sich voller Konzentration dem Inhalt.

„Na, schön, ich frage dich später noch mal.“

Harm jaulte.

„Ja, wen soll ich denn sonst fragen?“

„Wuff.“

Winkels überlegte, was er als nächstes tun sollte. Den Notar aufsuchen? Nein, das war zu früh. Er brauchte mehr Informationen.

Dröver hatte ihm versprochen, die Ergebnisse der Obduktion von Walter Köhler mitzuteilen. Gleichzeitig hatte er aber verlangt, dass Winkels im Gegenzug seine Erkenntnisse an ihn weitergab.

Winkels beschloss, dass seine bisherigen Erkenntnisse noch nicht vollständig waren, so dass eine Weitergabe nicht in Frage kam.

Dann fiel ihm ein, dass Wilhelm Papendieck, das erste Opfer des Mörders, einen Sohn hatte, der mit seiner Familie nach Auskunft des Nachbarn in Wittmund lebte. Mit dem Sohn sollte er unbedingt reden.

Ein Anruf bei einem seiner alten Kollegen genügte, um die Adresse von Werner Papendieck herauszukriegen. Er hatte noch den ganzen Nachmittag Zeit, um nach Wittmund zu fahren. Die Strecke war nicht besonders lang, es handelte sich schließlich um die Nachbarstadt von Aurich. Sein Navi würde die Adresse problemlos finden.

So war es auch.

„Sie haben Ihr Ziel erreicht“, verkündete eine emotionslose weibliche Stimme einige Zeit später.

Tjade Winkels parkte am Straßenrand und sah sich um. Die gesuchte Adresse war ein Mehrfamilienhaus mit mehreren Eingängen im Stil der sechziger Jahre. Grauer Verputz, kleine Fenster und Balkone, die wie angeklebt aussahen.

Er stieg aus, verschloss den Wagen und schlenderte zur anderen Straßenseite. Der mittlere Eingang war der richtige. Er studierte die Klingelschilder. Da stand nur der Nachname: Papendieck. Nach der Anordnung der Klingeln zu schließen, wohnte die Familie im zweiten Stock.

Er drückte gegen die Haustür. Nicht verschlossen.

Im Hausflur roch es nach Putzmitteln. Die Wände waren in neuerer Zeit gestrichen worden. Alles machte einen recht gepflegten Eindruck. Im Haus war es still, bis auf leise Musik, die aus einer der Wohnungen im Erdgeschoss drang. Einen Fahrstuhl gab es nicht. Er stieg die Treppe empor.

Auf jeder Etage gab es zwei Parteien. Er drückte auf den Klingelknopf auf der linken Seite. Sekunden später hörte er leichte Schritte, und eine attraktive jüngere Frau riss die Tür mit einem Ruck auf.

Sie musterte ihn von oben bis unten, und ehe er sich vorstellen konnte:

„Moin. Aber wir kaufen nichts an der Tür.“

„Moin erstmal.“

„Das ändert aber nichts dran.“

„Also...“

„Tschüss!“

„Moment mal!“

„Was ist noch?“

„Ich bin Kriminalhauptkommissar Winkels“, sprach er gegen die sich schließende Tür. Sie wurde wieder aufgezogen.

„Kriminalpolizei?“

Glücklicherweise fragte die Frau nicht nach seinem Ausweis, denn den hatte er bei seinem Abschied abgeben müssen.

„Sie sind Frau Papendieck, nehme ich an?“

„Es ist wegen dem Alten, oder?“

„Sie meinen den verstorbenen Wilhelm Papendieck. Darf ich vielleicht hereinkommen? Die Nachbarn brauchen nicht zu wissen, worüber wir reden.“

Bei diesem Gedanken erschrak sie sichtlich, und die Tür öffnete sich zur Gänze.

„Na, dann kommen Sie! Aber mein Mann ist nicht da.“

„Wann erwarten Sie ihn denn?“

„Er müsste gleich kommen.“

„Und Ihre Kinder?“

„Die sind beim Sport.“

Die Frau führte ihn in ein mittelgroßes Wohnzimmer mit modernen Möbeln und einem gewaltigen Fernseher an der Wand. Die Polstermöbel waren mit Spitzendeckchen am Kopfteil und an den Armlehnen ausgestattet. Vorsichtig ließ er sich auf einem der angebotenen Sessel nieder.

„Können wir den Alten abholen lassen? Wo ist er eigentlich?“

„Der Tote befindet sich noch in der Rechtsmedizin in Emden. Man wird Sie informieren, wenn die Leiche freigegeben wird. Das kann aber noch ein paar Tage dauern, bis die Untersuchungen abgeschlossen sind.“

„Warum dauert das so lange?“ wunderte sie sich.

„Bei einem gewaltsamen Todesfall dauern die Untersuchungen leider etwas länger.“

Sie sah ihn verblüfft an. „Gewaltsamer Tod?“

„Hat Ihr Mann Ihnen nichts gesagt? Mein Kollege, Hauptkommissar Dröver, hat doch mit ihm gesprochen und ihn informiert, was nach Ansicht der Polizei geschehen ist.“

Frau Papendiecks Gesicht war ein einziges Fragezeichen. „Ich verstehe nicht...“

„Ihr Schwiegervater wurde ermordet, haben Sie das nicht gewusst?“

Sie schlug die Hände vor das Gesicht.

„Oh! Das...das... hat er nicht verdient.“

Sie wischte sich über die Augen. „Ich habe ihn zwar nicht besonders gemocht, aber ermordet? Wer war es? Wie ist es geschehen?“

„Die Ermittlungen haben gerade erst begonnen. Hat Ihr Mann Ihnen denn überhaupt nichts gesagt?“

Sie nickte. „Doch! Er hat mir gesagt, dass Wilhelm tot ist. Er war ja schon ziemlich alt. Insofern war ich nicht überrascht. Aber Mord?“

Von der Wohnungstür her hörte man Geräusche.

„Hallo, Liebling! Ich bin wieder da!“

„Mein Mann“, erklärte sie überflüssigerweise und sprang auf.

In der Tür erschien ein großer, breitschultriger Mann mit einem Schlüsselbund in der Hand. Kurz geschnittenes Haar, abstehende Ohren, kalte Augen über einem schmalen Mund. Er mochte auf die Vierzig zugehen.

„Schatz, warum hast du mir nichts von dem Mord erzählt?“

Werner Papendieck beachtete seine Frau nicht weiter und richtete seinen Blick auf Tjade Winkels.

„Wer sind Sie?“

„Mein erstmal“, sagte Winkels.

„Moin.“

„Polizei“, erklärte seine Frau. „Es gibt wohl noch Fragen.“

Papendieck warf die Schlüssel auf eine Anrichte. „Ich habe einem anderen Kommissar am Telefon alle Fragen beantwortet. Was gibt es denn noch?“

„Am Telefon? Nicht persönlich?“

„Ja.“

„Hm.“

Winkels wunderte sich, dass Dröver es nicht für nötig gehalten hatte, den Sohn des Ermordeten persönlich zu befragen. Dabei war es doch unter Kriminalbeamten eine Binsenwahrheit, dass bei einem Mordfall der Täter zunächst im näheren Umfeld zu vermuteten war.

Jetzt wandte Papendieck sich an seine Frau. „Ich wollte dich nicht beunruhigen. Irgendein Landstreicher hat den Alten umgebracht, und in Kürze können wir ihn beerdigen. Wir wissen beide, dass unsere Trauer sich in Grenzen hält.“

„Sie kamen nicht gut miteinander aus?“ fragte Winkels.

Papendieck lachte auf. „Kann man so sagen. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Er wurde mit zunehmendem Alter immer sonderbarer. Er hat mir nie verziehen, dass ich nicht die Frau geheiratet habe, die er für mich vorgesehen hatte. Irgendwann hatten wir uns nichts mehr zu sagen.“

„Sind Sie der einzige Erbe?“

In Papendiecks Gesicht trat ein wacher Ausdruck. „Was wollen Sie damit andeuten?“

„Nichts. Das ist nur eine Routinefrage.“

„Ich bin sein einziges Kind, wenn Sie es genau wissen wollen. Und was das Erbe angeht – da ist nichts zu holen. Das Haus ist eine alte Bruchbude und nicht viel wert. Ein Käufer müsste sehr viel Geld hineinstecken. Ich wüsste nicht, was er sonst noch besessen hätte.“

„Waren Sie seit dem Tod Ihres Vaters in Aurich?“

Papendieck schüttelte den Kopf. „Bisher nicht. Ich muss arbeiten. Wir wollen am Wochenende hinfahren und uns das Haus ansehen. Dann müssen wir vermutlich den Sperrmüll anrufen. Und ehe Sie fragen - als er umgebracht wurde, war ich hier in Wittmund. Ich habe dafür jede Menge Zeugen. Ihrem Kollegen habe ich das auch schon erklärt.“

Papendieck sah Winkels auffordernd an, und der ehemalige Hauptkommissar verstand, was damit gemeint war.

Er erhob sich. „Danke für die Auskünfte.“

Die Ehefrau begleitete ihn zur Tür.

„Mein Mann ist nicht immer so unfreundlich“, flüsterte sie.

„Kein Problem, ich danke Ihnen.“

Bevor sich Tjade Winkels wieder in sein Auto setzte, warf er noch einen langen Blick auf das Haus. In der zweiten Etage bewegte sich eine Gardine.

Wenn Papendiecks Sohn tatsächlich ein sicheres Alibi hatte, hätte er sich diesen Besuch sparen können.

Es wäre vielleicht doch besser, sich mit Uwe Dröver auszutauschen.

Unterwegs ermordet in Münster, Ostfriesland und New York: Sammelband 4 Krimis

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