Читать книгу Fünf Mörder: 5 dicke Strand Krimis - Alfred Bekker - Страница 46
Kapitel 2
ОглавлениеHausputz war wohl nie ein Vergnügen, und ganz besonders galt das für das alljährliche Reinemachen eines Gutshofs mit seinen vielen Winkeln und Ecken. Insgesamt drei Gebäude gehörten zu Gut Drenkhaus in Süsterseel.
Ein Hauptgebäude, ein Heuerhaus, in dem früher Knechte und Mägde gewohnt hatten, und eine Stallung, die aber inzwischen zu einem Töpferatelier umgebaut worden war.
Drei Personen lebten hier. Kurt Drenkhaus war zweiundvierzig und ein gefragter Architekt. Er bewohnte mit seiner Frau Merle, fünfunddreißig, das Haupthaus, während Kurts neununddreißigjähriger Bruder Thomas Drenkhaus das ausgebaute Heuerhaus bewohnte.
Die beiden Brüder hatten das Gut Drenkhaus gemeinsam geerbt. Dass Thomas dabei das kleinere Gebäude bekommen hatte, entsprach ihrer Übereinkunft, denn der jüngere der beiden Drenkhaus-Brüder hatte nur ein sehr unregelmäßiges Einkommen. Er hatte sich als Sänger und Schauspieler versucht, war zeitweilig als Alleinunterhalter aufgetreten und hatte insgesamt drei Sprechrollen im Tatort und ein Halbjahres-Vertretungsengagement an den Städtischen Bühnen in Aachen vorzuweisen. Nach dem Beginn einer großen Karriere sah das bisher nicht aus - eigentlich noch nicht einmal nach einem finanziell gesicherten Auskommen. Jedenfalls wäre er nicht in der Lage gewesen, seinen Teil des Anwesens zu unterhalten. Dies hatte sein gut verdienender Bruder Kurt übernommen, der im Haupthaus auch sein Büro eingerichtet hatte.
An einer Seite des Wohnzimmers hing das an der Wand, was Merle immer als „archäologische Ausbeute“ des jährlichen Hausputzes bezeichnete. Dabei pflegten nämlich regelmäßig Dinge aufzutauchen, die seit Langem in Vergessenheit geraten waren. Manchmal seit Generationen. Wertvolles war mitunter auch dabei. Wobei sich der Wert sowohl auf einen tatsächlich in Cent und Euro messbaren Betrag wie auch auf einen ideellen oder sentimentalen Wert beziehen konnte. Ein altes Poesie-Album, das Hochzeitsfoto der Urgroßeltern oder ein Schulheft aus der ersten Klasse mit halb verblasster Tinte. Im günstigsten Fall konnte man vielleicht die Truhe mit Golddukaten finden, die ein Vorfahre gut versteckt hatte.
In diesem Fall war noch nicht ganz sicher, was für ein Schatz es war, der da aus dem Dunkel der Vergangenheit und dem Grauschleier einer dicken Staubschicht ins Licht der Gegenwart zurückgekehrt war.
Vielleicht war es tatsächlich ein Fund wie ein Lottogewinn!
Merle Drenkhaus blickte auf das Bild, das sie an die Wand gehängt hatte. Weniger, weil sie ernsthaft vorhatte, es dort dauerhaft hängen zu lassen, sondern eigentlich nur, um es besser betrachten zu können. Im warmen Schein der Augustsonne, so wie es zu Zeiten Albrecht Dürers gewirkt haben mochte, ging es ihr durch den Kopf.
„Gehst du heute Abend zu diesem Künstlertreffen?“, drang die Stimme ihres Schwagers Thomas Drenkhaus in ihre Überlegungen.
Dieser hatte in einem der hohen Ohrensessel Platz genommen, die er furchtbar antiquiert fand, in denen er aber trotzdem dauernd saß, wenn er sich im Haupthaus aufhielt.
„Ich weiß noch nicht“, murmelte Merle, während sie weiterhin das Bild anstarrte. Die Signatur ist eindeutig, dachte sie „AD“, Albrecht Dürer. Das Motiv zeigte ein ca. 20 mal 30 Zentimeter großes Bildnis eines mittelalterlichen Städtchens mit Zinnen und Burgmauern. Jeder, der im Selfkant zu Hause war, erkannte die Silhouette sofort. Das war Gangelt, das Herz des Selfkants. Wie lange mochte dieses Bild in Kellern und Speichern vor sich hingestaubt haben? Ein Wunder, dass es noch so gut erhalten war.
Merle trat noch einen Schritt zurück.
Die Perspektive ...
Der goldene Schnitt ...
Die Strichführung ...
Merle hatte während ihrer Zeit als Schülerin des Geilenkirchener Gymnasiums St. Ursula an einem Leistungskurs in Kunst teilgenommen und war darin auch im Abitur geprüft worden. Später hatte sie selbst Aquarelle gemalt und auch einige Semester Kunst studiert. Aber Kunsterzieherin hatte sie nicht werden wollen, und an der Düsseldorfer Akademie hatte man sie nicht angenommen. Irgend so ein eingebildeter, furchtbar von sich selbst und seinen eigenen Werken beeindruckter Kunstprofessor hatte den Daumen gesenkt und die Auffassung vertreten, dass ihre Arbeiten nicht genügend Potenzial verhießen.
Später war sie dann auf die Töpferei umgestiegen. Die Kurse, die sie gab, hätten sie zwar nicht ernähren können, aber sie gaben ihr immerhin Selbstbestätigung.
Jedenfalls meinte Merle Drenkhaus genug typische Merkmale des großen Malers der frühen Neuzeit in diesem Bild erkannt zu haben, um die Untersuchung durch einen Spezialisten zu veranlassen.
„Spreche ich zu leise oder was ist los?“, fragte Thomas.
„Was ist?“
„Wegen des Künstlertreffens. Ich hatte dich gefragt, ob du dahin gehst.“
„Ich weiß noch nicht ...“
„Du bist doch nur sauer, weil dieser Franz Serken dir gesagt hat, dass das da ...“, er deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf das Bild und hängte gleichzeitig lässig ein Bein über den Armlauf der Sessellehne, „kein echter Dürer ist!“ Er kicherte. „Ich meine, das ist ja auch nicht so schwer nachzumachen - „AD“. Könnte auch Adolf Drenkhaus heißen.“
Adolf Drenkhaus war der Großvater der Brüder und etliche Jahrzehnte lang Herr auf Gut Drenkhaus gewesen. Er war natürlich zu einer Zeit so genannt worden, in der dieser Vorname noch nicht durch einen Namensvetter dermaßen belastet war, dass er seitdem praktisch außer Gebrauch gekommen war.
Der große AD, so hatte man ihn in der Familie früher genannt, wie Merle aus den Erzählungen sowohl ihres Mannes als auch ihres Schwagers wusste.
„Ich bin nicht sauer auf Franz Serken“, sagte Merle nun. Ein Ruck war durch ihren gesamten Körper gegangen, und sie war jetzt anscheinend mit ihren Gedanken wieder mehr im Hier und Jetzt. „Jeder kann ja seine Meinung vertreten und es ist bekannt: Zwei Experten - drei Meinungen.“
„Komm, gib’s zu, ein bisschen sauer bist du schon!“
„Ich habe nur keine richtige Lust mehr, Serkens Ansichten über Dürer anzuhören ... Dürer und der Selfkant ... Der kann mich mal!“
„Und wenn er recht hat?“
„Wird sich ja herausstellen!“
Thomas lachte. „Du hast im Geiste wohl schon die Millionen gezählt, die dieser alte Schinken wert sein könnte, wenn es tatsächlich ein echter Dürer ist!“
Merle drehte sich zu ihrem Schwager um, der sie mit einem herausfordernden Blitzen in den Augen ansah. „Nur kein Neid!“, sagte sie.
Thomas Drenkhaus stand von seinem Platz auf und trat sehr nahe an seine Schwägerin heran. So nahe, dass sie sein After Shave riechen konnte. Sie schlang die Arme um seine Taille. Thomas strich ihr über das Haar. Ihre Blicke verschmolzen für einen Moment, dann küssten sie sich voller Leidenschaft.
Merle löste sich mit Mühe von ihm, als das Telefon klingelte. Sie rang nach Atem. Ihr Kopf war rot angelaufen. Hatte sie gerade noch angespannt gewirkt, so hatte sich nun dieser Zug bei ihr völlig verflüchtigt. Es klingelte noch mal. Sie ging zum Apparat und nahm ab. Dann sagte sie erst ihren Namen und hinterher dreimal kurz hintereinander: „Ja.“
Schließlich beendete sie das Gespräch.
„Wer war’s?“, fragte Thomas.
„Niemand Wichtiges“, meinte sie, trat zu ihm und schlang erneut die Arme um seinen muskulösen Hals.
„Fertig und weg damit!“, murmelte George vor sich hin und betätigte die Eingabetaste seines Laptops. Sein erster, vorläufiger Bericht ging jetzt an die Redaktionen. „Und kürzt mir nicht zu viel heraus.“
Aber seine Befürchtung war in diesem Fall unbegründet.
Schließlich kam es nun wirklich nicht alle Tage vor, dass ein Zeigefinger aus einem Betonpfeiler herausragte und dann auch noch auf ein Graffito zu deuten schien, das an den großen Maler Albrecht Dürer erinnerte.
George trank seinen Kaffee aus, packte seinen Laptop in die Tasche und hängte sich die Kamera um.
Gemächlich schlenderte er aus der Hoteltür und ließ seinen Blick über die im gotischen Stil erbaute Gangelter Nikolauskirche mit ihren eleganten Strebenbögen schweifen. Direkt gegenüber lag im Sonnenlicht der alte Burgturm. Welch ein herrlicher Ausblick, fuhr es ihm durch den Kopf. So etwas Schönes liegt direkt vor unserer Haustür und man vergisst bei all der Hetze, es zu genießen.
Er blieb einen Augenblick stehen, um das mittelalterliche Ensemble zu betrachten.
Warum nicht mal in die Kirche gehen? Er hatte sie schon länger nicht besucht. Über den Friedhof gelangte er zum Hauptportal, wo er der lebensgroßen Steinfigur des heiligen Nikolaus zulächelte. Als er die Kirchentüre öffnete, hörte er Kinderstimmen, die aufgeregt Fragen stellten. Dazwischen konnte er eine bekannte Stimme heraushören, nämlich die der Gästeführerin Dorothee Fernholz. Sie schaute kurz auf, lächelte ihm zu und fuhr dann in ihren Ausführungen fort: „Vor genau 100 Jahren war der bekannte Maler Caspar Maintz aus Welldorf bei Jülich damit beschäftigt, die Kirche mit Malereien auszustatten. Die Reste könnt ihr da oben noch sehen.“ Alle Kinder schauten gespannt auf die großen Wandgemälde im Kirchenschiff. „Nicht nur in der Gangelter Kirche, sondern auch in der Langbroicher Pfarrkirche St. Marien hat Caspar Maintz viele Gemälde geschaffen, darunter eine vortreffliche Kopie des letzten Abendmahles nach Leonardo da Vinci.“ Damit führte sie ihre aufgeregten kleinen Zuhörer an George vorbei nach draußen, um ihnen die zwei versteckt liegenden Sturmgässchen zu zeigen.
George schlenderte durch die Kirche, genoss die eingetretene Stille und betrachtete interessiert die zahlreichen kulturhistorischen Sehenswürdigkeiten.
Wenig später saß er in seinem Wagen und fuhr noch einmal hinaus zum Tatort, wobei er sich ins Gedächtnis rief, dass man von einem Tatort eigentlich noch gar nicht reden konnte. Vielleicht von einem Unfallort oder dem Ort eines bizarren Selbstmordes?
Er wollte also noch einmal hinausfahren, um zu sehen, was sich am Brückenpfeiler getan hatte.
Im günstigsten Fall war man kurz davor, die Leiche zu bergen, und George kam gerade noch rechtzeitig für einen guten Schnappschuss.
„Die Leiche im Beton“, mit dieser Schlagzeile konnte er sogar in der Bild-Zeitung unterkommen.
Die wenigen Kilometer bis zum Fundort der Leiche hatte George rasch hinter sich gebracht.
Als er den Wagen in der Nähe des derzeitigen Endes der neuen Bundesstraße B 56 n abstellte und sich dann dem Brückenpfeiler näherte, hörte er schon von Weitem das Geräusch eines Stemmhammers. Wahrscheinlich versuchten ein paar Betonbauer gerade, den Pfeiler so vorsichtig wie möglich aufzumeißeln, um dann den Toten unbeschadet bergen zu können.
George konnte sich nicht so recht vorstellen, dass das schnell über die Bühne gehen würde.
In der Nähe der Brücke hielten sich etwa fünfzig Schaulustige auf, die sich hier versammelt hatten und den Arbeitern sehr geduldig zusahen. Vater und Sohn Termeulen waren auch immer noch da.
Im Vorbeigehen hörte George ein paar Spekulationen darüber, wer der Unglückliche sein könnte und wie derjenige dort wohl zu Tode gekommen sei.
Als George die Absperrungen dank seines Presseausweises passiert hatte und in die unmittelbare Nähe des Pfeilers kam, sah er gleich, dass die Bergung des Toten noch so gut wie überhaupt keine Fortschritte gemacht hatte.
Kommissar Krichel und sein Kollege aus Aachen standen zusammen, und Clausen hielt etwas in die Höhe, sodass er es im Licht besser sehen konnte.
Der Reporter sah gleich, dass es ein Ring war.
„Na, gibt es etwas Neues?“, fragte er interessiert.
Kommissar Krichel nickte.
„Wir haben etwas mehr von der Hand freilegen können. Das hier ist der Ehering des Toten.“
„Was steht drin?“, horchte George ihn aus.
Clausen kniff die Augen zusammen, um die Inschrift besser entziffern zu können.
„Ein Datum und ein Name. Es hat sich bestätigt, dass der Tote ein Mann ist. Und wir wissen jetzt, an welchem Tag er eine gewisse Merle geheiratet hat.“
„Wenn das Opfer hier aus der Gegend kommt, müsste man doch über die Stadtverwaltung erfahren können, ob es an dem betreffenden Tag eine Merle gab, die geheiratet hat“, meinte Krichel.
Clausen machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es ist jetzt 16.00 Uhr und auch noch Freitag. Da genießen doch alle schon ihr Wochenende.“
„Ich wüsste da eine schnellere Möglichkeit“, fiel George ein.
Clausen sah den Reporter erstaunt an.
„Ach ja?“
„Die meisten Leute geben eine Anzeige in der Zeitung und in den regionalen Anzeigenblättern auf, wenn sie heiraten. Also müsste es doch herauszufinden sein, ob mit dem fraglichen Datum eine Hochzeitsanzeige gedruckt wurde, auf der eine gewisse Merle ihre Vermählung mit einem uns bisher unbekannten Partner bekannt gibt.“
Clausen und Krichel wechselten einen kurzen Blick. Dann wandte Clausen das Gesicht in Georges Richtung und drängte: „Ja, und worauf warten Sie dann?“
George ging ein paar Schritte zur Seite und nahm sein Handy ans Ohr, um mit der Redaktion in Geilenkirchen zu telefonieren. Dort wurde, wie er wusste, jetzt noch gearbeitet. Er hatte Dieter, den Anzeigenvertreter, persönlich am Hörer. In knappen Worten erklärte er, wonach er suchte.
Dieter Ohler, war siebenundfünfzig Jahre alt und hatte immer einen lustigen Spruch oder Witz auf den Lippen. Und das natürlich in Öcher Platt.
„Hat das was mit dem Toten im Beton zu tun?“, fragte Dieter.
„Woher weißt du das denn?“
„Na, dein Bericht hat in der Redaktion eingeschlagen wie eine Granate. So was gibt’s ja auch wirklich nicht alle Tage. Normalerweise lese ich nicht immer alles, was lokal in unserem Blatt steht. Aber ein Toter im Beton. Meine Güte, das hört sich ja richtig nach Mafia und Schwerverbrechern an.“
George verdrehte genervt die Augen. „Dieter, ich wäre dir wirklich sehr dankbar, wenn du mir und der Polizei jetzt weiterhelfen könntest.“
„Mir und der Polizei hast du gesagt. Die Reihenfolge ist schon sehr bezeichnend, George, das musst du zugeben.“
„Komm, leg jetzt nicht jedes Wort von mir genauer aus als der Pastor die Bibel, sondern sieh mal zu, ob du nicht herauskriegen kannst, ob hier in der Gegend an dem besagten Tag eine gewisse Merle geheiratet hat!“
„Kirchlich oder standesamtlich?“
„Ist egal. Das Datum im Ring könnte sich ja auf beides beziehen.“
„Und wahrscheinlich hätte sich der Betreffende zwei Daten in den Ring gravieren lassen, wenn beide Anlässe an unterschie0dlichen Tagen stattgefunden hätten.“
„Du sagst es.“
„Dauert ein paar Minuten, George - und ich hab was gut bei dir. Was, weiß ich noch nicht.“
„In Ordnung, ich rufe dich gleich wieder an“, entgegnete der Reporter nach einer kurzen Pause und beendete das Gespräch.
Er ging zurück zu den beiden Kripo-Kommissaren.
„Ein paar Minuten noch, dann wissen wir vielleicht, wer das Opfer im Beton ist.“
„Na großartig!“, knurrte Clausen, dessen schlechte Laune sich George eigentlich nicht so recht erklären konnte. Am liebsten hätte der Reporter erwidert, dass die Anzeigenabteilung der hiesigen Regionalzeitung auf jeden Fall schneller sein würde als das zuständige Ordnungsamt, und außerdem noch eine viel größere Region umfasste.
Aber er verzichtete darauf, um die Stimmung nicht noch angespannter werden zu lassen.
Deswegen erkundigte er sich auch gar nicht erst danach, wie sich Clausen das weitere Vorgehen beim Bergen der Leiche vorstellte. Dann hätte der wohl zugeben müssen, angesichts der mageren Fortschritte, die man inzwischen gemacht hatte, in Wahrheit ziemlich ratlos zu sein. Und das hätte Clausen erst mit Sicherheit sauer und die anschließende Kooperation mit ihm nur noch schwieriger gemacht.
Es dauerte nicht lange, bis Georges Handy erneut klingelte.
„Ja?“, fragte der Reporter.
„Ich habe zu deinem angegebenen Datum eine Vermählungsanzeige in der Zeitung gefunden. Und als Sahnehäubchen präsentiere ich dir die Namen der zukünftigen Brautleute“, bestätigte Dieter ihm mit einem spannenden Unterton.
„Ich bin dafür extra ins Anzeigenarchiv der Zeitung gerannt, und du weißt, das liegt im Keller unseres riesigen Gebäudes.“
„Nun red schon“, drängte George.
Ohler las mit salbungsvoller Stimme vor: „Es geben ihre Vermählung in der Süsterseeler St. Hubertus-Kirche bekannt“, er machte eine kurze Pause, „Kurt und Merle Drenkhaus, geborene Wolter.“
„Danke.“
George teilte den Polizisten natürlich sofort mit, was er erfahren hatte.
„Dann ist der Tote mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Kurt Drenkhaus“, schloss der Reporter. „Ich kenne die Familie. Kurt Drenkhaus ist ein bekannter Architekt und hat zusammen mit seinem Bruder vor einigen Jahren das Anwesen Gut Drenkhaus geerbt, wo er sich sein Architekturbüro eingerichtet hat. Er hat sich auch im Bauausschuss engagiert und Entwürfe für die Neugestaltung der Saeffelener Schule gemacht.
„Dann sollten wir die Angehörigen aufsuchen“, sagte Clausen.
„Ist das nicht ein bisschen früh?“, meinte Krichel. „Schließlich steht die Identität des Toten ja noch nicht fest und bevor wir seiner Frau auf diese Weise einen Schrecken einjagen ...“
„Sie haben recht, aber vielleicht kommen wir durch die Angehörigen sogar schneller dazu, den Toten zu identifizieren.“ Clausen hob den Ehering noch einmal ins Licht. „Dieser Ring zum Beispiel - ich wette, die Ehefrau wird ihn wiedererkennen. Also, meine Frau würde das jedenfalls.“
„Ich wäre gerne bei dem Gespräch dabei“, bat George.
Clausen sah ihn ungläubig an.
„Hören Sie, ich bin Ihnen ja sehr dankbar dafür, dass Sie Ihren Zeitungskollegen aus der Anzeigenabteilung bemüht haben, die Sache mit dem Hochzeitsdatum herauszufinden, aber vielleicht verwechseln Sie die ganze Sache jetzt doch mit einem Presse-Event!“
„Ich habe nicht vor, darüber zu berichten“, sagte George. „Eigentlich möchte ich nur dafür sorgen, dass die Angehörigen diese Nachricht schonend erfahren.“
„Und das trauen Sie mir wohl nicht zu, was?“
Darauf antwortete George nicht.
Kevin Clausen schwieg einen Moment. Dann nickte er.
„Ach, kommen Sie mit. Ansonsten würden Sie früher oder später doch bei den Leuten auftauchen und sie mit Fragen belästigen. Da bin ich lieber dabei.“
Da George den Weg zum Gut Drenkhaus kannte, fuhr er voraus. Clausen folgte ihm mit seinem Dienstfahrzeug. Nach Süsterseel war es nur ein Katzensprung, aber Kevin Clausen kam aus Aachen und kannte sich hier im Selfkant nicht sonderlich gut aus. Der Reporter bog von der Suestrastraße in den Zuweg des Gutes Drenkhaus ein und stellte den Wagen wenig später auf dem gepflasterten Hof ab. Er stieg aus. Einen Moment überlegte er, die Kamera im Wagen zu lassen. Ganz gleich, was jetzt auch geschehen mochte, es war nicht anzunehmen, dass irgendetwas dabei war, was er für die Leser seiner Zeitung in eine Fotodatei bannen konnte.
Einem inneren Instinkt folgend, ließ er die Kamera einfach um den Hals hängen. War er schon so weit, sich ohne dieses Gerät nackt zu fühlen? Vielleicht war es die vage Furcht, irgendwann doch den richtigen Moment zu verpassen und im entscheidenden Augenblick ohne Kamera dazustehen.
Die Urangst jedes Reporters.
George war froh, dass es nicht zu seiner täglichen Berufsroutine gehörte, schlechte Nachrichten zu überbringen. Und er konnte sich eigentlich auch nicht vorstellen, dass jemand, der bei der Polizei oder als Arzt so etwas öfter tun musste, sich daran wirklich gewöhnen konnte.
George lies den Blick schweifen und erblickte einen großen gepflegten Gutshof mit vielen fachmännisch renovierten Anbauten und Stallungen.
Clausen zog seine Hose hoch. Das Holster mit der Dienstpistole drückte den Gürtel wohl immer wieder nach unten.
„Schön hier!“, meinte er, nachdem er sich kurz umgesehen hatte. „Aber Landwirtschaft wird hier wohl nicht mehr betrieben, oder?“
„Nein, schon lange nicht mehr“, antwortete George. „Kurt Drenkhaus ist - ich meine war - ein ziemlich erfolgreicher Architekt. Ich habe mehrfach über ihn berichtet. Als er zusammen mit seinem Bruder das Gut übernahm, war das Gebäude sehr marode, aber Kurt Drenkhaus hat alles so umgebaut, dass es höchsten Ansprüchen genügt.“ George deutete zu den Nebengebäuden. „Dort im Heuerhaus wohnt sein Bruder Thomas. Über den habe ich auch mal einen Artikel geschrieben. Es ging um Schauspieler aus der Region. Und im Stall dort ist das Töpferatelier. Merle Drenkhaus gibt auch Kurse und engagiert sich bei den Treffen der heimischen Künstler.“
„Na, wie auch immer. Dann wollen wir das Unvermeidliche mal hinter uns bringen“, meinte Clausen, der auf George den Eindruck machte, als würde ihn das, was er ihm über die Bewohner des Gutes Drenkhaus gesagt hatte, gar nicht weiter interessieren.
Sie gingen zur Eingangstür des Haupthauses. Clausen klingelte.
Es war eine andere Tür als bei Georges letztem Besuch auf Gut Drenkhaus, der mindestens schon zwei Jahre zurücklag. Sie war mit kunstvollen Verzierungen und gusseisernen Beschlägen versehen, die sehr gut zum Stil des Hauses passten.
Clausen klingelte ein zweites Mal.
Es reagierte niemand.
George erinnerte sich daran, dass es ganz früher auf dem Gut einen großen Hund gegeben hatte, der ziemlich unerzogen gewesen war. Ein Wolfsspitz, vor dem man sich höllisch in Acht nehmen musste und den Kurt Drenkhaus von seinem Vater übernommen hatte. Aber kurz nachdem Merle dann auf das Gut gezogen war, schaffte sie den Hund ab, weil sie gegen Hundehaare allergisch war, wenn George sich richtig erinnerte.
„Wohl niemand zu Hause“, meinte Clausen. „Ich sehe auch keinen Wagen.“
„Ein Teil des Stalls fungiert als Garage“, meinte George. „Das kann man also nicht unbedingt sehen. Außerdem brennt überall Licht.“
„Eins zu Null für Sie, Schmitz.“
Clausen versuchte es ein drittes Mal.
Währenddessen ging George ein Stück an der Hauswand entlang und schaute durch ein Fenster.
Von dort hatte man einen Blick in die Diele.
Eine Frau, Anfang bis Mitte dreißig, gelocktes Haar, sehr attraktiv, eilte barfuß durch den Raum. Sie trug nur eine enge Jeans und einen BH. Während sie durch den Raum eilte, streifte sie sich ein Sweatshirt über. Es war Merle Drenkhaus.
Sie hatte gerade das Sweatshirt übergezogen, als sich ihr Blick kurz in Georges Richtung wandte.
Der Reporter kehrte zurück zur Haustür. „Es ist jemand zu Hause“, sagte er, und wie zur Bestätigung seiner Worte ging jetzt die Tür auf.
„Hallo, Herr Schmitz“, begrüßte ihn die Hausbesitzerin. Sie wirkte etwas außer Atem. Ihr Gesicht war leicht gerötet. Sie strich sich in aller Eile das Haar zurecht und fasste es mit einem Gummi zusammen, sodass ihre Lockenpracht in einem Pferdeschwanz gebändigt wurde.
George deutete auf Clausen und begann zu sprechen, ehe der nicht gerade für seine sensible Ader bekannte Clausen damit anfangen konnte und ein kommunikatives Desaster anrichtete.
Wenn der Tote im Beton tatsächlich Kurt Drenkhaus war, dann war das allein schon schwer genug für seine Frau zu ertragen. Da konnte man ihr die Sache wenigstens schonend beibringen, fand George. „Dies hier ist Kommissar Clausen von der Kripo Aachen. Können wir kurz hereinkommen?“
„Ist etwas passiert?“, fragte sie erschrocken und ließ ihren Blick jetzt zwischen George und Clausen hin- und herwandern.
„Nun ...“
„Kommen Sie bitte!“
Sie bat die beiden Männer herein und wies mit einladender Geste auf zwei klobige Ohrensessel, die vor dem Kamin standen. Sie selbst blieb stehen und rang nervös mit ihren Händen.
Clausen setzte sich als Erster. George schaute sich zunächst im Zimmer um.
Das Bild an der Wand fiel ihm direkt auf. Und auch die Silhouette der dargestellten Ortschaft erkannte er: Gangelt!
Oder besser gesagt: Gangelt, wenn man es auf seinen mittelalterlichen Kern reduzierte und sich alles wegdachte, was irgendwie den Errungenschaften moderner Zeiten entsprang.
George kannte sich gut genug mit der Geschichte dieses Landstrichs aus. Es gab eine Reihe zeitgenössischer Darstellungen, die den Ort so darstellten, wie er vor fünfhundert oder sechshundert Jahren gewesen war. Die wesentlichen Elemente waren in all der Zeit dieselben geblieben. Vor allem der Gangelter Kirchturm, den schon Mercator als Bezugspunkt für die Vermessungen benutzte, die er im sechzehnten Jahrhundert im Auftrag der Grafen von Jülich-Berg im Selfkant vornahm.
Merle tapste unruhig auf ihren nackten Füßen über den Steinboden.
„Einen Moment, ich ziehe mir mal eben was an meine Füße“, sagte sie.
„Klar, so viel Zeit muss sein“, sagte Clausen.
„Kann ich Ihnen etwas anbieten?“, fragte Merle, bevor sie ging. „Nein, danke“, kam es wie aus einem Mund von den beiden Männern. Immerhin, darin sind wir uns offensichtlich einig, ging es George durch den Kopf.
Die junge Frau eilte hinaus. Die Tür fiel dabei nicht richtig ins Schloss. Dahinter waren zwei murmelnde Stimmen zu hören. Eine war weiblich und auf jeden Fall die von Merle Drenkhaus. Die zweite war deutlich tiefer. Eine Männerstimme.
„Nein, ich weiß es nicht“, war der einziger Satz, den George deutlich verstehen konnte.
George sah wieder auf das Bild an der Wand. Es hing etwas schief und anhand der nicht ganz passenden Staubränder auf der Tapete war erkennbar, dass dort noch vor Kurzem ein größeres Bild gehangen hatte.
Das Signum „AD“ fesselte den Blick des Reporters. Ein echter Dürer? Hier auf Gut Drenkhaus? Der Rahmen wirkte nicht gerade so, als ob das Bild in den letzten Jahrzehnten gut gepflegt worden war. Bei näherer Betrachtung fiel dem Reporter ein Zahlenquadrat ins Auge, das der Maler in das Fenster des Kirchturms eingefügt hatte. Was sollte denn das bedeuten?
Kurz entschlossen hob George einfach seine Kamera und ließ es ein paar Mal hintereinander klicken.
Der Grund dafür war ganz eigennützig. Er wollte sich das Bild in Ruhe ansehen können - aber ihm war natürlich klar, dass er jetzt und hier keine Gelegenheit dazu haben würde.
Schließlich ging es bei diesem Besuch um ein Thema, das ernster nicht hätte sein können - den Tod eines nahen Angehörigen. Und da wäre jede Frage nach der Herkunft oder der Echtheit eines solchen Bildes völlig unangebracht gewesen.
Nachdem er sich gesetzt hatte, kehrte Merle Drenkhaus schließlich zurück.
Sie hatte Turnschuhe angezogen.
Merle setzte sich auf den Diwan, der mit den beiden Ohrensesseln zusammen eine Gruppe bildete, und rieb ihre Hände gegeneinander, so als wäre ihr kalt. Aber es herrschte eine laue Nachtluft.
„Weshalb sind Sie hier?“, fragte sie dann.
Ihre Stimme hatte einen etwas belegten Klang.
„Nun, ich weiß nicht, wie ich da beginnen soll“, sagte Clausen, der Merles Blick auswich und sich offensichtlich nicht wohl in seiner Haut fühlte.
„Geht es um meinen Mann?“
„Ja.“
„Sagen Sie nicht, dass ihm etwas zugestoßen ist!“
„Wo ist er jetzt?“
„Auf einer Baustoff-Messe in München. Morgen will er zurückkommen.“
„Frau Drenkhaus, kennen Sie diesen Ring?“
Kommissar Kevin Clausen reichte ihr den Ehering, der dem Toten im Beton abgenommen worden war. Inzwischen war das wertvolle Beweisstück in eine transparente Plastikfolie eingetütet worden.
Mit zitternder Hand nahm Merle den Ring an sich. Sie betrachtete ihn von allen Seiten und hielt ihn schließlich so ins Licht, dass sie die Inschrift lesen konnte. Ihr ohnehin schon gerötetes Gesicht veränderte nochmals seine Farbe in einen dunkleren Rotton. Dann schloss sie die Augen. Für einen Moment bedeckte sie nun ihre Augen mit der Hand und schüttelte den Kopf. „Das darf nicht wahr sein! Woher haben Sie den? Hatte mein Mann etwa einen Unfall? Was ist los? Nun reden Sie doch schon!“
„Tja, ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, Frau Drenkhaus“, begann Clausen, während George kurz überlegte, vielleicht einzugreifen und die Gesprächsinitiative an sich zu reißen.
Aber in diesem Moment öffnete sich ein wenig die Tür, hinter der Merle Drenkhaus zuvor verschwunden war.
Ein Mann lehnte dort.
Er trug Jeans und T-Shirt, aber keine Schuhe, nur Socken.
George erkannte Thomas Drenkhaus erst auf den zweiten Blick wieder. Bei ihrem letzten Treffen hatte Thomas kurzgeschorenes Haar gehabt, weil er in einer Nebenrolle im Fernsehen einen Skinhead gespielt hatte. Jetzt waren seine Haare so lang, dass sie ihm bis in die Augen hingen. Mit einer beiläufigen Handbewegung fegte er die Haarsträhnen aus der Stirn.
„Das ist mein Schwager Thomas“, stellte ihn Frau Drenkhaus kurz vor und wandte sich mit fragendem Gesichtsausdruck wieder zu Clausen.
Der räusperte sich verlegen und begann dann zu berichten: „In einem Brückenpfeiler an der neuen B 56 n wurde eine Leiche gefunden, von der nur noch ein Finger aus dem erstarrten Beton ragt, und von diesem Finger haben wir den Ring, den ich Ihnen da gegeben habe.“
„Oh mein Gott!“, stieß Merle hervor. Sie schüttelte stumm den Kopf, und dann verbarg sie ihr Gesicht unter den Händen, während die Tüte mit dem Ring zu Boden glitt. Sie schluchzte auf. „Sagen Sie, dass das nicht wahr ist!“, rief sie. „Das muss ein übler Traum oder eine Verwechslung sein! Das ist unmöglich!“
Clausen saß reglos in seinem Ohrensessel.
„Frau Drenkhaus, ein Mann wird derzeit aus dem Beton geborgen“, schaltete sich George nun ein. „Aber wenn Sie den Ring wiedererkennen, dürfte kaum noch ein Zweifel daran bestehen, dass der Tote ihr Mann ist.“
„Ich habe in den Lokalnachrichten von dem Toten im Beton gehört“, sagte sie mit zittriger Stimme. Sie wandte sich an Thomas, der einen Schritt auf sie zugegangen war und dann offenbar doch davor zurückschreckte, seine Schwägerin in den Arm zu nehmen und ihr Trost zu spenden.
„Frau Drenkhaus, ich weiß nicht, ob Sie in der Lage sind, ein paar Fragen zu beantworten, aber ...“ Clausen wurde unterbrochen.
„Was ist mit Kurt geschehen?“, fragte Merle. „Wie kommt er ...“, sie stockte und musste schlucken, „in den Beton? Meine Güte, das ist so furchtbar!“
„Das versuchen wir herauszufinden“, sagte Clausen. „Und dazu brauchen wir Ihre Hilfe.“
„Ich tue, was ich kann, um dazu beizutragen“, sagte sie.
Sie wirkte jetzt sehr gefasst.
Der abrupte Wechsel in ihrer Stimmung ließ George aufmerken.
„Frau Drenkhaus, wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen?“, fragte Clausen.
„Vor vier Tagen, bevor er nach München gefahren ist.“
„Und Sie hatten zwischendurch keinen Kontakt?“, wunderte sich der Kommissar von der Kripo Aachen.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und warf einen kurzen Blick zu Thomas, so als müsste sie sich erst bei ihm vergewissern, ehe sie antwortete: „Wir hatten nur über SMS regelmäßig Kontakt. Mein Mann mag es nicht, wenn ich während einer Messe dauernd anrufe.“
„Wann kam die letzte SMS?“, fragte Clausen.
„Die kam heute Morgen, kurz nach dem Frühstück.“
„Können Sie mir Ihr Handy geben?“
„Natürlich.“
Sie stand auf, ging durch die Tür in den Nachbarraum und kam mit ihrem Handy zurück. Sie drückte eine Kurzwahltaste, hielt das Gerät ans Ohr und runzelte angespannt die Stirn. „Meldet sich nicht“, murmelte sie. „The number you have dialed is not available - das Gerät muss abgeschaltet sein.“
„Geben Sie es mir“, forderte Clausen und streckte die Hand aus.
„Bitte.“
Merle reichte Clausen das Handy.
George reckte etwas den Hals, um die SMS auch lesen zu können.
Dort stand:
hallo schatz.
das frühstück im hotel war bescheiden.
fahre jetzt zur messe.
ruf nicht an, habe den ganzen tag appointments.
tschüss.
kurt.
Alles SMS-typisch in Kleinbuchstaben. Die Uhrzeit war oben rechts eingeblendet: 8.12 Uhr.
Er schreibt „appointment“ anstatt einfach „Termine“, ging es George durch den Kopf. Das taten doch nur Leute, die demonstrieren wollten, dass sie zur Globalisierungselite gehörten und überall auf der Welt zu Hause waren.
Ein Top-Architekt wie Kurt Drenkhaus gehörte ganz sicher zu dieser Gruppe.
„Es ist unmöglich, dass Ihr Mann diese SMS selbst abgeschickt hat“, sagte Clausen, „denn da war er zweifellos schon ... im Beton.“ Er murmelte die letzten beiden Worte nur. Aber dass er nur murmelte, machte die Sache auch nicht besser.
Clausen sah Merle an, hob die Augenbrauen und fragte: „Kann ich mir die anderen SMS auch mal ansehen?“
„Selbstverständlich.“
Clausen klickte sie kurz durch. George schaffte es nicht jedes Mal mitzulesen, was vor allem daran lag, dass der Kommissar das Gerät jetzt geringfügig anders hielt und sich damit der Blickwinkel geändert hatte.
„Kann ich Ihr Handy mitnehmen?“
„Nun, ich ...“
Wieder sah Merle Rat suchend zu Thomas hinüber, der genauso ratlos wirkte.
George war das jetzt schon zum zweiten Mal aufgefallen. Haben die beiden etwas miteinander, schoss George ein Gedanke durch den Kopf. Vielleicht war das ja die Erklärung dafür, dass Merle halbnackt aus einem Zimmer gekommen war, in dem sich auch ihr Schwager Thomas Drenkhaus aufgehalten haben musste.
George nahm sich vor, sie danach zu fragen, aber das konnte noch warten. Wenn Merle und Thomas tatsächlich ein Verhältnis miteinander hatten, war das natürlich ein mögliches Mordmotiv. George wollte jedoch nicht mit der Tür ins Haus fallen. Zuerst musste einmal feststehen, dass Kurt Drenkhaus überhaupt ermordet worden war.
„Eigentlich brauche ich mein Handy“, sagte Merle zögernd.
„Sie bekommen es in ein oder zwei Tagen zurück. Wir wollen nur die SMS-Texte analysieren und sehen, ob wir noch das eine oder andere herausbekommen können“, erläuterte Clausen. „Ich meine, Ihnen ist es doch auch wichtig, dass der Tod Ihres Mannes möglichst rasch aufgeklärt wird.“
„Sicher.“
„Und falls es sich wirklich um ein Gewaltverbrechen handeln sollte, hilft jeder Zeitverlust nur dem Täter.“
„Ja, das ist mir natürlich auch klar.“ Ein weiterer hilfloser Blick in Thomas’ Richtung folgte.
Dieser zuckte nur leicht mit den Schultern.
„Okay“, willigte Merle schließlich ein. „Behalten Sie das Handy, so lange Sie es brauchen. Ich werde mir schon so helfen können.“
„Frau Drenkhaus, hatte Ihr Mann irgendwelche Feinde?“, fragte Clausen.
„Nicht mehr als andere Leute auch, die im Geschäftsleben stehen und gelegentlich mal zu anderen in Konkurrenz treten“, entgegnete sie.
„Und haben Sie vielleicht eine Ahnung, was Ihr Mann bei den Brückenpfeilern gesucht haben könnte?“
„Nein. Wie gesagt, er hat mir doch dauernd SMS aus München geschickt. Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass er ...“ Sie sprach nicht weiter.
„Der Täter könnte ihm das Handy abgenommen haben, um Sie weiterhin in dem Glauben zu lassen, dass Ihr Mann noch lebt.“
„Ja, aber das würde bedeuten, dass er genau wusste, wie wir miteinander kommunizieren. Die Ausdrucksweise und die kleinen Eigenheiten – das ist alles typisch Kurt.“
„Immerhin weiß ja auch ich schon, dass er oft von einem „appointment“ anstatt einem „Termin“ sprach“, bestätigte jetzt George.
Merle Drenkhaus atmete tief durch und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie sah den Reporter überrascht an. Hatte sie von dieser Seite vielleicht keine Hilfe erwartet?
„Ja, das stimmt“, sagte sie. „Appointment, meeting, cash-flow – Kurt hatte wohl das Gefühl, zwanzig Jahre jünger zu sein, wenn er diese Ausdrücke benutzte, und er fand es cool.“
In diesem Augenblick klingelte Clausens Mobiltelefon.
Der Kommissar aus Aachen ging an den Apparat.
„In Ordnung, bin gleich da“, sagte er. „Nein, ich bin hier bald fertig.“ Dann beendete er das Gespräch. Die anderen im Raum sahen ihn erwartungsvoll an. „Das waren die Kollegen. Es geht offenbar an der Brücke jetzt etwas vorwärts. Aber ich denke, wir haben fürs Erste ja auch alles besprochen, Frau Drenkhaus.“
„Ja“, murmelte Merle fast tonlos.
„Ich brauche den Ehering allerdings zurück. Das ist ein Beweisgegenstand, und wir müssen ihn erst ins Labor geben.“
„Ich verstehe“, nickte sie.
„Tja dann“, sagte Clausen, nachdem er den Ring in Empfang genommen hatte und aufgestanden war.
Er wirkte ziemlich verlegen.
„Ich geh dann mal“, sagte er und verschwand durch die Tür.
George hatte es nicht ganz so eilig.
„Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, Frau Drenkhaus ...“
„Das können Sie“, sagte Merle.
„So?“
„Schreiben Sie keinen Artikel über mich. Und lassen Sie den Namen meines Mannes heraus.“
„Wie stellen Sie sich das vor?“
„Zumindest so lange, bis eindeutig feststeht, ob er nun der Tote ist. Ich meine, wir haben bis jetzt nur einen Ring und irgendwie klammere ich mich an den Gedanken, dass sich alles als ein Irrtum herausstellen könnte ...“
George gab ihr noch seine Karte – und händigte ihrem Schwager ebenfalls eine aus. „Falls Sie meine aktuelle Handynummer nicht haben“, meinte er und fragte sich, warum Clausen das nicht auch getan hatte. Vielleicht rechnete der Kommissar von der Kripo Aachen gar nicht damit, dass einer der beiden etwas Wesentliches zur Lösung des Falles beitragen konnte. Oder er hatte es schlicht vergessen.
Als George ins Freie trat, hatte Clausen schon den Motor gestartet und den Wagen gewendet.
Er fuhr mit aufheulendem Motor los, stoppte aber wieder. Die Seitenscheibe glitt hinab. „Es scheint jetzt am Brückenpfeiler vorwärtszugehen“, sagte er. „Ich nehme an, ich treffe Sie dort.“
„Ja.“
Damit fuhr er davon.
Sein Fahrstil glich nicht gerade dem, was man eine besonnene Fahrweise hätte nennen können.
Aber Clausen war ja auch nicht bei der Verkehrspolizei.
George zögerte. Er blickte zum Haus zurück. Nein, mit Merle Drenkhaus werde ich ein anderes Mal sprechen müssen, entschied er.
„Besonders toll war das nicht!“, sagte Merle an Thomas Drenkhaus gerichtet.
Ihr Schwager aß einen Apfel, kaute aber eher lustlos auf dem Stück herum, das er abgebissen hatte, und spuckte es schließlich in den Kamin.
Merle wandte den Blick ab.
Im Kaminfeuer zischte es kurz.
Thomas warf den Rest des Apfels hinterher. Ihm war der Appetit gründlich vergangen.
„Was hätte ich denn machen sollen?“, fragte er anschließend. „Na, kannst du mir das sagen?“ Er atmete tief durch. „Ich weiß, es war nicht gut, dass man uns so gesehen hat. Aber hätte ich so tun sollen, als wäre ich gar nicht im Haus? Außerdem konnte ich doch nicht wissen ...“ Er sprach nicht weiter und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Alles Mist! So hätte das nicht laufen sollen!“, meinte er und deutete anschließend auf das Bild. „Und das da hätte auch nicht unbedingt dort hängen müssen, Merle!“
Sie winkte ab.
„Und was machen wir jetzt?“
„Einen kühlen Kopf bewahren“, sagte Merle. „Jedenfalls werde ich das tun. Und dasselbe erwarte ich von dir. Hast du mich verstanden?“
Thomas’ Gesicht wurde zu einer starren Maske.
„War ja wohl nicht misszuverstehen“, murmelte er.
George bekam einen Anruf auf seinem Handy. Es war die Redaktion der Selfkant-Zeitung.
Einige Fragen zu seinem Artikel waren noch zu klären, und außerdem wollte der Chefredakteur wissen, wann mit neuen Erkenntnissen zu rechnen sei.
„Steht die Identität des Toten schon fest?“, war natürlich die alles entscheidende Frage.
„Ich werde mich später noch mal melden“, wendete George ein Gespräch darüber ab. „Vielleicht habe ich dann schon etwas Neues.“
Als er zur Brücke am Ende der neuen Fahrbahn zurückkehrte, war der Ort des Geschehens in helles Flutlicht getaucht. Man war dort tatsächlich schon ein Stück weiter. Teile aus dem Pfeiler waren herausgestemmt worden. Der Brückenpfeiler würde wohl noch mal gegossen werden müssen - es waren Stahlträger aufgestellt worden, um zu verhindern, dass womöglich die ganze Brücke einstürzte.
George hörte einen der Arbeiter darüber reden, wer denn wohl die Kosten für die ganze Aktion zu tragen hätte.
Der Gerichtsmediziner Dr. Belden war schon seit Längerem vor Ort und blickte immer wieder auf die Uhr. Er schien sehr ungeduldig zu sein. Vielleicht wartete auch noch anderswo Arbeit auf ihn.
George sah bei der Bergung der Leiche zu. Er war durch die vielen Autounfälle schon einiges gewohnt, aber dieses Mal ging es ihm richtig an die Nieren. Durch den Pressluft-Stemmhammer war der Körper offensichtlich stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Einige Körperteile mussten einzeln in die Zinkwanne gelegt werden. Das Gesicht war noch mit Betonresten bedeckt. Ein furchtbarer Anblick! Einer der Beleuchtungshelfer der Feuerwehr begann zu würgen und lief eiligst ins Feld.
Dr. Belden sah sich den Toten an mit bedenklicher Miene an. „Es ist sehr schwer, überhaupt etwas zu sagen“, erklärte er dann.
Die Kommissare Krichel und Clausen standen erwartungsvoll daneben und warteten eigentlich darauf, dass der Gerichtsmediziner ihnen irgendetwas an die Hand gab, was sie in ihren Ermittlungen einen Schritt weiterbrachte.
„Der Tote hat eine Verletzung in der Brust. Sie stammt nicht von dem Presslufthammer, es könnte eine Stichverletzung durch ein Messer sein, aber das kann ich hier und jetzt noch nicht sagen.“
„Also definitiv ein Tötungsdelikt“, stellte Clausen nüchtern fest.
„Es besteht noch die vage Möglichkeit, dass der Tote in die Verschalung gefallen ist – oder gestoßen wurde – und dann in ein offenes Ende dieser Metallgitter gefallen ist, wie man sie in Beton hineinlegt ... Vielleicht war da etwas am Boden. Genaueres kann ich erst nach der Obduktion sagen.“
Der Gerichtsmediziner fand die Papiere des Toten in dessen Kleidung. Danach handelte es sich offensichtlich um Kurt Drenkhaus.
Clausen nahm den Reporter schließlich zur Seite und meinte: „Wer der Tote war, lässt sich ohnehin nicht verschweigen und wird sich binnen Stunden innerhalb des ganzen Selfkants herumsprechen. Wir haben also keinen fahndungstaktischen Vorteil, wenn wir irgendetwas zurückhalten.“
„Das heißt, ich habe freie Hand, alles zu bringen?“, vergewisserte sich Schmitz.
„Ja.“
Der Reporter dachte an Merle Drenkhaus, die ihn bedrängt hatte, den Namen nicht zu veröffentlichen, solange noch eine geringe Hoffnung bestanden hatte, dass der Tote jemand anders sein konnte. Aber dieser letzte Rest an Hoffnung war nun endgültig begraben. Und davon abgesehen, war Merles eigene Rolle in dem Fall mehr als undurchsichtig.
„Ich würde Sie gerne um Folgendes bitten, Herr Schmitz“, fuhr Clausen dann fort.
„Sie suchen Zeugen, die sagen können, wann Kurt Drenkhaus hier an der Brücke gesehen wurde?“, kombinierte der Reporter pfeilschnell. Er hatte schon länger geahnt, dass der Kommissar nur deswegen nett zu ihm war, weil er etwas von ihm wollte.
„Ja. Was immer hier auch geschehen ist, es muss Montag vor sieben Uhr passiert sein, denn dann kamen die ersten Arbeiter auf die Baustelle. Zumindest nach Plan, wir werden natürlich noch eingehend überprüfen, ob sie wirklich schon da waren.“
„Ich kann eine entsprechende Meldung veranlassen“, sagte George.
„Nur erwähnen Sie bitte nichts von einem Messer. Wenn sich das bewahrheiten sollte, ist das Täterwissen, das wir vielleicht zur Überführung des Mörders brauchen.“
„Das hätte ich ohnehin nicht gebracht, weil es noch nicht pressefest bewiesen ist“, erwiderte George.
Clausen verzog das Gesicht. „Sie hängen wohl einer Art Journalisten-Ehrenkodex an, was?“
„Unsere Glaubwürdigkeit ist im Handumdrehen verspielt, wenn man nicht aufpasst“, gab George zurück.