Читать книгу Operation Mörderischer Auftrag: 7 Action Thriller in einem Band - Alfred Bekker - Страница 7

von Alfred Bekker

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New York 1998

Der gepanzerte Transporter hielt an der rotgestreiften Barriere. Es sah ganz nach einer Vollsperrung aus. Das konnte heiter werden...

"Verdammt, warum hat uns niemand etwas davon gesagt?", knurrte einer der Wachmänner. Er saß auf dem Beifahrersitz. "Was soll das hier?"

"Vielleicht ein Unfall, Billy", meinte der Mann am Steuer.

"Ich frage trotzdem mal in der Zentrale nach."

Links von ihnen hielt ein Chevy, rechts ein Mercedes. Hinter ihnen war ein Lieferwagen. Der gepanzerte Transporter war eingekeilt.

Billy griff zum Funkgerät.

Aber noch ehe er auch nur einen Ton gesagt hatte, sprangen links und rechts bis auf die Zähne bewaffnete Vermummte aus dem Wagen. Nicht mehr als einen schmalen Streifen in Augenhöhe ließen die dunklen Sturmhauben frei. Sie trugen Maschinenpistolen, Pump Guns und Sturmgewehre. Dazu kugelsichere Westen. Fast konnte man von der Ausrüstung her an ein Sondereinsatzkommando des New York Police Departments denken.

Aber dies waren keine Polizisten.

Billy schrie es fast in das Funkgerät hinein.

"Überfall! Etwa zwei Meilen nach dem Ausgang des Lincoln Tunnels Richtung Union City... Zwölf bis fünfzehn schwerbewaffnete Täter."

"Verhalten Sie sich ruhig und gehen Sie kein Risiko ein", kam es aus dem Lautsprecher des Funkgeräts heraus.

"Verstanden", murmelte Billy.

"Versuchen Sie, die Täter hinzuhalten. Wir tun was wir können."

"Ein wunderbarer Trost", erwiderte Billy gallig.

"Wo ist unsere Eskorte?"

"Keine Ahnung. Nicht da, wenn man sie braucht..."

Einer der Gangster fuchtelte mit dem kurzen Lauf seiner Uzi-Maschinenpistole herum. Er signalisierte den beiden Wachmännern auszusteigen.

"Wir bleiben hier ganz ruhig sitzen", erklärte Billy. "Die können uns mit ihren Waffen nichts anhaben..."

Der Transporter hatte ein so stabiles Panzerglas, dass selbst ganze Salven von Maschinengewehrfeuerstößen für die Insassen ungefährlich bleiben würden.

Und auf die Panzerung der Karosserie war Verlass.

Die Türen waren von innen verschlossen.

Einer der Kerle riss jetzt von außen daran. Aber er hatte keine Chance.

Billy grinste. "Denen geht es jetzt wie dem berühmten Affen, der versucht, an das weiche Innere einer Kokosnuss heranzukommen!"

Die Wachmänner würden einfach abwarten, bis die ganze Maschinerie von Polizei und FBI sich in Bewegung gesetzt hatte. Das Gebiet würde weiträumig abgeriegelt. Die Gangster hatten keine Chance. Jede Sekunde bedeutete für sie, dass ihre Chancen erheblich sanken.

Die beiden Wachmänner griffen zu den automatischen Pistolen, die sie in den Gürtelholstern stecken hatten.

"Sie können nichts machen", meinte der Mann am Steuer zufrieden.

Aber dann öffneten sich seine Augen weit vor Entsetzen.

Einer der Gangster hatte sich mit einer Bazooka in Stellung gebracht. Deren Geschosse durchschlugen mühelos die Stahlplatten von Panzerfahrzeugen.

Die beiden Wachleute wurden bleich.

Sie erkannten, dass ihr Verzögerungsspiel jetzt vorbei war. Endgültig. Sie ließen die Waffen sinken und hoben die Hände. Aber offenbar nicht schnell genug.

Die Bazooka wurde abgefeuert. Das Geschoss durchschlug das Panzerglas. Die Fahrerkabine des Transporters verwandelte sich in ein Inferno. Flammen schossen empor. Der Knall der Detonation war ohrenbetäubend und übertönte die Todesschreie der Insassen.

Diese hatten keine Chance.

Wenn sie nicht durch die Explosion förmlich zerrissen worden waren, versengten sie die Flammen.

In die Reihen der Gangster kam Bewegung.

Mit zwei Feuerlöschern wurden die Flammen eingedämmt.

Grauweißer Schaum erstickte das Feuer innerhalb von fünfzehn, zwanzig Sekunden.

Einer der Maskierten half einem Komplizen dabei von vorn, durch die zerstörte Frontscheibe hindurch in die Fahrerkabine zu steigen. Es roch nach verbrannten Leichen und geschmolzenem Plastik.

"Der Schlüssel!", rief der Kerl.

Er warf ihn hinaus, einem Komplizen direkt in die Hand.

Dieser rannte zur Rückfront des Transporters.

Die Tür wurde geöffnet.

Und dann lag endlich das vor ihnen, was sie haben wollten.

Es war eine Kiste aus Stahl, gut gesichert durch mehrere Halterungen. Mit zwei winzigen Plastiksprengstoffladungen wurden sie zersprengt.

Die Kiste war schwer.

Zwei Männer trugen sie hinaus und luden sie in den Kofferraum des Chevys.

Zehn Sekunden später brausten die Vermummten in ihren Wagen davon. Reifen drehten durch und quietschten. Sie fuhren wie die Teufel, denn sie wussten nur zu gut, dass jetzt jeder Cop im Umkreis von fünfhundert Meilen hinter ihnen her sein würde.

Aber ihre Beute war es wert.

Glaubten sie.

*


Der Staat New Jersey gehört zum Zuständigkeitsbereich des FBI-Districts New York. Aber das war längst nicht der einzige Grund dafür, dass das unser Fall war.

Als ich zusammen mit meinem Freund und Kollegen Milo Tucker am Ort des Geschehens eintraf, herrschte dort das blanke Chaos. Die State Police des Staates New Jersey hatte alles weiträumig abgeriegelt. Der McKeeway nach Union City war gesperrt.

Ich ließ die Seitenscheibe meines Sportwagens hinuntergleiten, als man uns an der ersten Straßensperre anhielt.

Ein uniformierter und schwerbewaffneter State Police-Beamter grüßte knapp.

Ich hielt ihm meinen Dienstausweis hinaus.

"Special Agent Jesse Trevellian vom FBI-District New York", murmelte ich dazu.

Mein Gegenüber nickte nur und winkte mich durch.

Ich stellte den Sportwagen irgendwo ab. Wir stiegen aus.

Der überfallene Transporter sah furchtbar aus.

Spurensicherer machten sich bereits überall zu schaffen.

Unser FBI-Distrikt hatte auch eine gute Handvoll Erkennungsdienst-Spezialisten herübergeschickt, um die hiesigen Kräfte zu unterstützen.

Außerdem war da noch ein ziemlich gestresst wirkender Captain der Polizei von Union City, in deren Zuständigkeitsbereich diese Tat bereits lag.

Der Captain hieß Craig, war grauhaarig und etwas untersetzt. Seine Schultern waren breit und gaben ihm ein sehr stämmiges Aussehen.

Er sah sich meinen Ausweis interessiert an.

"Ihnen nach dem, was hier passiert ist, noch einen guten Tag zu wünschen, würde mir unpassend erscheinen, Agent Trevellian", brummte Craig zwischen den Zähnen hindurch. "Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was wir bislang haben."

Wir umrundeten den Transporter.

Ein unangenehmer Geruch stieg uns in die Nase.

Bei dem Blick in die Fahrerkabine wurde mir fast schlecht.

Ich habe dem Kampf gegen das Verbrechen mein Leben gewidmet. Und mein Job als G-man bringt es nun einmal mit sich, immer wieder auch dem Tod in vielfältiger Gestalt zu begegnen. Und doch gibt es immer wieder Dinge, die man in den Schlaf mitnimmt. Bilder wie das der beiden schrecklich zugerichteten Wachmänner in diesem Transporter zum Beispiel.

Ich bin hart im Nehmen.

Aber nicht abgestumpft.

"Die Gangster waren sehr gut organisiert", erklärte Craig mit tonloser Stimme. "Sie haben eine Bazooka oder so etwas verwendet. Die beiden armen Kerle hatten nicht den Hauch einer Chance."

Craig ballte die Hände zu Fäusten.

Irgendein Kollege meldete sich über Funk bei ihm. Er zog das Gerät aus der Manteltasche und meldete sich.

Offenbar gab es noch immer keine Spur von den Tätern. Und das obwohl eine Großfahndung eingeleitet worden war. Das konnte eigentlich nur heißen, dass sie eine sehr gute Organisation im Hintergrund hatten, die ihnen beim Untertauchen half.

Ich erwartete, dass wir bald irgendwo auf ein paar Wagen stießen, die sie benutzt und dann irgendwo abgestellt hatten.

Wenn wir Glück hatten, ergaben sich dann ein paar Hinweise.

Wenn wir Glück hatten. Aber die Chancen standen nicht allzu gut, wenn man die Kaltblütigkeit bedachte, mit der sie gehandelt hatten.

Jedes Detail schien genau überlegt und organisiert gewesen zu sein.

Während Craig damit fortfuhr, uns den Tatort zu erläutern, wurde mir das immer klarer.

"Sehen Sie das weißgraue Pulver, Agent Trevellian?"

"Ja. Stammt wohl von einem Feuerlöscher. Sie haben den Brand gelöscht. Warum haben sie das gemacht?"

"Um den Schlüssel an sich zu bringen. Das Schloss der Hintertür verfügt über einen besonderen Schutzmechanismus gegen Sprengungen. Bei Hitzeeinwirkung schmilzt da irgend etwas zusammen und man kann die Tür dann nur noch mühsam aufschweißen. Deswegen haben die auch nicht einfach ihre Bazooka auf die Rückfront gehalten oder versucht, die Tür aufzusprengen. Nein, sie mussten an den Schlüssel..."

"Sie meinen, dass sie diese Details wussten?", mischte sich jetzt Agent Milo Tucker ein.

Craig zuckte die Achseln.

"Haben Sie eine bessere Erklärung? Das mit der Bazooka hatte übrigens auch noch einen anderen Vorteil für diese Killer. Sehen Sie den schwarzen, eingeschmolzenen Klumpen da oben?"

"Ich sehe ihn."

"Das war mal die Videoüberwachungsanlage."

Selbst, wenn die Täter maskiert gewesen waren, ließen sich aus solchen Aufnahmen oft wertvolle Rückschlüsse ziehen.

Auch, wenn von den Gesichtern nichts zu sehen war. In Kalifornien war von den dortigen FBI-Kollegen vor kurzem ein maskierter Bankräuber auf Grund des unverwechselbaren Waschmusters seiner Jeans überführt worden.

Aber wir konnten in diesem Fall auf derartige Hilfe nicht hoffen.

Ich wandte mich von dem schrecklichen Anblick der ausgebrannten Fahrerkabine ab und deutete auf die rotgestreiften Barrieren, die mitten auf die Straße gestellt worden waren.

"Sieht nicht gerade nach einer Baustelle aus, an der viel gearbeitet worden ist", stellte ich fest.

Craig nickte.

"Sie haben vollkommen recht, Agent Trevellian. Das haben die Gangster inszeniert, um den Transport anzuhalten."

"Das bedeutet, dass sie auch über den Zeitplan genau Bescheid wussten, der für den Transporter galt."

"Das ist auch mein Gedanke."

"Ich möchte mir den Wagen gerne von innen ansehen", meinte Milo.

Craig nickte.

"Nichts dagegen."

Er führte uns zur hinteren Tür. Der Schlüssel steckte noch.

Er war verkohlt. Schon daran konnte man sehen, dass er aus der Fahrerkabine geholt worden war.

Craig kramte einen Latexhandschuh aus der Manteltasche, bevor er die Tür öffnete.

Er stieg hinein und deutete mit der ausgestreckten Hand auf eine Stelle am Boden. Zerborstene Halterungen zeugten davon, dass man hier wenig zimperlich vorgegangen war.

"Hier war die Kiste mit den Druckplatten", erklärte der Police Captain. "Mehr als nur eine Lizenz zum Gelddrucken! Wer diese Dinger hat, kann Originalbanknoten der Vereinigten Staaten von Amerika herstellen, soviel er will." Craig deutete mit gestrecktem Zeigefinger im Laderaum des Transporters umher. "Die Halterungen wurden gesprengt... Der Transport wurde übrigens von einer Zivileskorte begleitet, die dem eigentlichen Transport unauffällig folgen sollte. Aber die wurde durch einen - vermutlich provozierten Auffahrunfall aufgehalten..."

Milo sah mich an.

Sein Gesicht war ernst.

"Da muss ein ganz großer Hai dahinterstecken", war er überzeugt. Ich konnte ihm nur zustimmen.

*


26 Federel Plaza ist die Adresse des FBI-Distrikthauptquartiers. Wir saßen im Büro von Special Agent in Charge Jonathan D. McKee, unserem Chef.

Außer Milo Tucker und mir waren noch ein halbes Dutzend weiterer Agenten anwesend. Darunter Ronald Figueira, ein Falschgeldspezialist aus dem Innendienst und Max Carter aus unserer Fahndungsabteilung.

Carter erläuterte uns gerade, wie der Stand der Großfahndung war, die man in vier Bundesstaaten ausgelöst hatte. Leider war das Ergebnis bis jetzt gleich null, wenn man es auf den Punkt brachte.

"Der Wagen war von Queens aus unterwegs. Ausgangspunkt war das Gelände von McGordon Inc., einem kleinen McKee-Tech-Unternehmen, das unter anderem solche hochwertigen Druckplatten in seiner Produktpalette hat. Zielpunkt war eine Druckerei in Newark, die im Auftrag der US-Zentralbank arbeitet."

"Wir werden sehr intensiv nachforschen müssen, in wie weit es in der Druckerei oder bei McGordon Inc. schwache Stellen gibt", meinte Mr. McKee.

"Es muss sie geben", war Carter überzeugt. "Dazu waren die Täter einfach zu gut informiert."

"Was ist mit den Wachleuten?", fragte ich.

"Soweit wir wissen, sind das zuverlässige Sicherheitsbeamte, die über jeden Zweifel erhaben scheinen", erwiderte Carter. "Sowohl diejenigen, die das Pech hatten mit im Transporter zu sitzen als auch die Leute von der Eskorte scheinen über jeden Zweifel erhaben..."

"Auch das werden wir genau überprüfen müssen", kündigte Mr. McKee an. Er sah sich um, blickte von einem G-man zum anderen. "Dieser Fall hat absolute Priorität. Denn, wenn der FBI nicht sehr schnell und sehr gut ist, werden uns die Täter durch die Lappen gehen. Und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann irgendwo eine Geldfabrik zu arbeiten beginnt, die Dollarnoten herstellt, die von niemandem mehr von echten Scheinen zu unterscheiden sind!"

Wir waren uns alle über den Ernst der Lage im Klaren.

"Ich werde mal die Reihe unserer Informanten abklappern", meinte Agent Clive Caravaggio. Der flachsblonde Italo-Amerikaner kratzte sich am Hinterkopf. "Wäre doch gelacht, wenn nicht der eine oder andere in Little Italy etwas von diesem Coup gehört hätte!"

"Sie tippen auf die Mafia?", fragte Mr. McKee.

Caravaggio zuckte die Achseln.

"Es war doch hier immer von einer schlagkräftigen Organisation die Rede! Die Mafia mag etwas in die Jahre gekommen sein, aber was die Organisation angeht, ist sie anderen Syndikaten immer noch meilenweit voraus!"

"Falschgeld ist eigentlich nicht gerade das traditionelle Betätigungsfeld der Mafia", gab Mr. McKee zu bedenken.

Caravaggio beugte sich etwas vor. "Ihr Betätigungsfeld liegt immer da, wo es großen Gewinn gibt..."

"Und wenig Risiko", gab ich zu bedenken. "Wenn wirklich die Mafia dahinterstecken würden, hätten wir vermutlich im Vorfeld irgend etwas gehört. Hinweise, Gerüchte... irgendetwas."

Mr. McKee sah mich nachdenklich an, dann wandte er sich an Caravaggio. "Versuchen Sie es, Clive! Immerhin ist die Mafia eine der wenigen in Frage kommenden Organisationen, die so etwas überhaupt auf die Beine stellen könnte! Außerdem müssen wir natürlich die bekannten Adressen in der Falschgeldszene abklappern..."

Jetzt meldete sich Agent Orry Medina zu Wort, ein G-man indianischer Herkunft, der durch seine ausgesucht edle Garderobe auffiel. "Wenn wir jeden unter die Lupe nehmen, der in dieser Hinsicht mal auffällig geworden ist und zur Zeit frei herumläuft, brauchen wir viel zu lange, um den Tätern noch gefährlich werden zu können!"

"Keine wahlloses Überprüfen", korrigierte Falschgeldspezialist Figueira. "Ich habe nach bestimmten Kriterien eine Vorauswahl getroffen... Es könnte gut sein, dass die Druckplatten in der Szene irgendwann angeboten werden und dann müssen wir zur Stelle sein. Schließlich sind die Dinger nicht geraubt worden, um sie in einem Safe versauern zu lassen."

Ich hoffte nur, das Figueira damit recht hatte.

Ein bisschen Zweckoptimismus war sicher auch dabei. Denn, wenn sich wirklich jemand dazu entschloss, die Platten einfach für ein paar Jahre wegzuschließen, sah es für uns unter Umständen nicht gut aus.

Aber vielleicht hatten wir ja Glück, und einer der Täter lief in das weitgespannte Netz, das der FBI im Verbund mit den Staatspolizeien von New York und New Jersey gezogen hatte. Straßenkontrollen an den Highways und Bundesstraßen gehörten dazu ebenso wie eine Überwachung der Flughäfen.

Ein Netz, das uns Fahndungsspezialist Max Carter im Anschluss eingehend erläuterte.

Uns rauchten die Köpfe, als schließlich Mandy, die Sekretärin unseres Chefs, für eine angenehme Unterbrechung sorgte. Sie brachte uns ein Tablett mit dampfenden Pappbechern herein. Mandys Kaffee war im gesamten FBI-Hauptquartier eine Legende.

*


Milo und ich fuhren nach Queens. Das Gelände von McGordon Inc. lag an einer Sackgasse, bei der sich niemand die Mühe gemacht hatte, ihr einen Namen zu geben. Strenggenommen war es überhaupt keine öffentliche Straße, sondern ein Privatweg, der der Firma gehörte.

Wir mussten mehrere Schlagbäume passieren. Jedesmal wurden unsere FBI-Ausweise einer intensiven Prüfung unterzogen.

"Als würden die den Schatz von Fort Knox bewachen", scherzte Milo.

Der eigentliche Komplex war mit einem hohen Zaun abgesperrt. Düster dreinblickende Uniformierte patrouillierten auf und ab. Mannscharfe deutsche Schäferhunde wurden an kurzen Leinen geführt. Es beruhigte mich zu sehen, dass sie Maulkörbe trugen.

Wir stellten den Sportwagen auf einen Mitarbeiterparkplatz und stiegen aus.

Eine wasserstoffblonde Schönheit erwartete uns mit geschäftsmäßigem Lächeln.

Sie reichte mir die zierliche Hand mit rotlackierten Nägeln - passend zu ihrem engsitzenden Kostüm.

"Mein Name ist Janet Larono. Ich bin die Pressesprecherin von McGordon Inc. und verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit."

"Jesse Trevellian, FBI", sagte ich. "Dies ist mein Kollege Milo Tucker..."

"Ja, Sie wurden bereits erwartet..."

"Allerdings weiß ich nicht, ob Sie der richtige Gesprächspartner für uns sind", wandte Milo ein. "Nichts gegen Ihre Arbeit, aber es geht hier nicht darum, etwas an die Öffentlichkeit zu verkaufen."

Janet Larono hob die Augenbrauen. Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie beleidigt war.

"Ich kann Ihnen versichern, dass ich durchaus in der Lage bin, Ihnen zu helfen. Ich bin instruiert worden, Sie überall dort hinzuführen, wo Sie hinwollen..."

"Das ist gut", sagte ich. "Uns interessiert vor allem der organisatorische Ablauf bei der Vorbereitung des Transports. Seit wann standen Zeitpunkt und Fahrtroute fest?"

"Das werden wir klären können, Mr. Trevellian", erwiderte sie.

"Nennen Sie mich ruhig, Jesse."

Vielleicht war das Lächeln, das ich dieser Schönheit geschenkt hatte, etwas zu nett. Jedenfalls war ihre Erwiderung kühl wie ein Gefrierschrank.

"Ich will Ihnen gleich sagen, dass Ihr Charme an dieser Stelle verschwendet ist, Mr. Trevellian."

"Ach,ja?"

"Ich halte Beruf und Privatleben strikt auseinander."

"Ich wollte nur freundlich sein!"

"Dann ist es ja gut."

"Hören Sie, Janet..."

"Nennen Sie mich lieber Miss Larono."

"...könnte es sein, dass jemand anderes in Ihrem Unternehmen diese Trennung nicht so genau nimmt?"

"Was meinen Sie damit?"

"Die Täter waren sehr gut informiert. Sie wussten Details, die eigentlich nur jemand wissen konnte, der an der Quelle sitzt!"

Sie zeige mir ihre wunderschönen Zähne, als sie erwiderte: "Was glauben Sie, worüber sich hier jeder Gedanken macht, Mr. Trevellian?"

*


Officer Cameron von der New Jersey State Police schob sich die Mütze ein Stück in den Nacken. Er schwitzte erbärmlich unter seiner kugelsicheren Weste. Die Maschinenpistole vom Typ Heckler und Koch hing ihm an einem breiten Riemen über der Schulter.

"Die Kerle sind doch längst über alle Berge", war sein Kollege, Officer Brent überzeugt, der eigentlich seinen verdienten Urlaub hatte nehmen wollen und von seinem Vorgesetzten in letzter Sekunde zurückgepfiffen worden war.

Ein weißer Golf fuhr langsam an die Straßensperre heran, die die Interstate in Richtung Pennsylvania blockierte.

Ein gutes Dutzend State Police-Beamte waren schwer bewaffnet in Stellung gegangen und kontrollierten jeden Fahrer. So gründlich wie möglich durchsuchten sie die Wagen nach Waffen oder anderen Gegenständen, die vielleicht mit dem Überfall auf den Druckplatten-Transport in Verbindung stehen konnten.

Die Gangster waren ja in alle Richtungen davongebraust.

Bei irgendeinem von ihnen war die Beute.

Der Golffahrer trug eine dunkle Sonnenbrille. Er wirkte ziemlich mürrisch.

Als er ziemlich hektisch unter seine Jacke griff, um seine Papiere herauszuholen, wurden gleich mehrere Maschinenpistolen durchgeladen. Das Geratsche ließ den Mann erstarren.

Ganz langsam zog er dann seinen Führerschein heraus.

"Sie müssen schon entschuldigen", meinte Officer Cameron dann, nachdem er die Papiere überprüft und den Kofferraum durchsucht hatte. "Die Kerle, auf die wir scharf sind, haben eine Bazooka..."

"Schon gut", sagte der Mann. "Ich habe von der Sache im Radio gehört!"

Cameron winkte ihn durch.

Dann kam ein Mercedes.

Zwei Männer saßen darin.

Baseballmützen und Sonnenbrillen mit Spiegelgläsern ließen von ihren Gesichtern so gut wie nichts übrig, woran man sie identifizieren konnte.

Die beiden wirkten nervös. Ein heftiger Wortwechsel ging zwischen ihnen hin und her. Cameron konnte davon keine Silbe verstehen. Er sah nur die Gesten.

Der Wagen kam heran.

Cameron klopfte an die Scheibe der Beifahrertür. Langsam glitt sie hinunter.

"Führerschein und Zulassung bitte. Und setzen Sie Sonnenbrille und Mütze ab..."

Der Fahrer suchte in seinen Taschen, während Officer Brent von außen die Tür öffnete. Die Maschinenpistole hatte der State Police-Mann im Anschlag.

"Hier ist der Führerschein", sagte der Fahrer schließlich und reichte ihn Brent.

"Sie sind Jay Wilbur?" fragte Brent.

"Ja." Er setzt seine Brille und die Baseballmütze ab. "Gibt bessere Fotos von mir, denke ich!"

"Was ist mit der Zulassung?", fragte Brent.

"Ich weiß nicht, ich dachte, ich hätte sie in den Führerschein gelegt... Vielleicht im Handschuhfach..."

Der Beifahrer beugte sich vor, um das Handschuhfach zu öffnen. Aber Cameron hielt ihn davon ab. "Zurück! Steigen Sie aus, das machen wir!"

Brent wandte sich an den Fahrer: "Sie auch, Mr. Wilbur! Ziehen Sie den Schlüssel ab und geben Sie ihn mir!"

Die beiden stiegen aus.

Wilbur gab Brent den Schlüsselbund.

"Welcher ist für den Kofferraum?"

"Der mit dem schwarzen Rand!"

Brent warf ihm einem Kollegen zu, der nach hinten ging, um die Klappe zu öffnen.

"Das Gesicht zum Wagen, die Hände auf das Dach", sagte Brent. Wilbur gehorchte. Der Beifahrer stand ihm auf der anderen Seite gegenüber, ein Officer hinter ihm. Cameron öffnete derweil das Handschuhfach.

Dort war nichts, außer einem Funktelefon.

Jetzt meldete sich der Officer zu Wort, der den Kofferraum geöffnet hatte.

"Seht euch das an!", rief er, nachdem er etwas darin herumgekramt hatte. "Eine Bazooka!"

*


Sekundenbruchteile war Officer Brent abgelenkt. Der Schlag kam mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit. Ein mörderischer Handkantenschlag in die Halsgegend - geführt, als wäre die Hand eine messerscharfe Klinge. Jay Wilbur hatte seine volle Kraft in diesen Schlag gesetzt. Ein hässliches, knackendes Geräusch wurde von dem Ächzen übertönt, das aus Wilburs Mund kam.

Während Officer Brent mit starren Augen und unnatürlich abgewinkeltem Kopf zu Boden sackte, riss Wilbur dem Toten die MPi aus den Händen. Eine Sekunde später feuerte er wild drauflos.

Zwei State Police Beamte zuckten unter den Feuerstößen zusammen, die aus der MPi herauskrachten. Die Projektile rissen die Einsatzjacken auf, fraßen sich in die kugelsicheren Westen. Ihre Wucht war dennoch immens. Einer der Officers taumelte zurück und riss dabei seine eigene Waffe hoch. Rot züngelte das Mündungsfeuer aus dem kalten Lauf.

Aber der Schuss ging dicht über Wilbur hinüber.

Den etwas weiter rechts stehenden Officer erwischte es am Kopf.

Wilbur duckte sich, während der Feuerstoß einer Polizeiwaffe in seine Richtung ging. Die Kugeln ließen die Scheiben zerspringen und stanzten Löcher in das Blech.

Wilbur hechtete in den Wagen und zog die Tür hinter sich zu. Seinen Beifahrer hatten die Cops. Jedenfalls sah Wilbur nichts von ihm. Und die Officers, die auf der Beifahrerseite des Mercedes gestanden hatten, hatten sich ganz offensichtlich in Sicherheit gebracht.

Wilbur lud die MPi durch.

Keiner würde ihn kriegen!

Keiner!

Erst jetzt bemerkte er das Blut an der Schulter. Er fluchte lautlos.

Das Puls ging ihm bis zum Hals.

"Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!", dröhnte von draußen ein Megafon. "Sie haben keine Chance!"

Wilbur verzog das Gesicht zu einer wölfischen Grimasse.

Er dachte gar nicht daran, aufzugeben.

Wilburs griff ging an die Verkleidung unterhalb des Lenkrades. Er riss sie einfach heraus. Mit geübten Bewegungen zog er die entscheidenden Kabel heraus. Er schloss den Wagen kurz. Der Motor sprang an und übertönte das Megafon, das ihn noch einmal zum Aufgeben aufforderte.

Wilbur drückte den Schalthebel des Automatikgetriebes in die Position D.

Dann trat er mit dem Fuß das Gaspedal voll durch.

Der Mercedes schoss vorwärts.

Wilbur musste blind fahren.

Den Straßenverlauf schätzte er grob aus der Erinnerung.

Mit einer Hand lenkte er, während die andere die MPi umklammert hielt.

Wie ein Geisterwagen schoss der Mercedes auf die Barriere zu. Die State Police Officers sprangen zur Seite, während die rotgestreifte Sperre durch die Luft geschleudert wurde.

Wilbur tauchte hoch, hielt mit einer Hand die Maschinenpistole empor und ließ die Waffe losknattern.

Die Projektile pfiffen durch die zersprungene Scheibe.

Der Mercedes jagte indessen in seiner Höllenfahrt vorwärts.

Aber nur noch wenige Sekunden lang.

Ein Ruck ging durch den Wagen.

Ein Knall!

Wilbur verlor die Kontrolle über den Wagen. Ein schleifendes Geräusch ertönte. Der Geruch von verbranntem Gummi erfüllte die Luft.

Wilbur hatte eine Wegfahrsperre überfahren.

Spitze Metalldornen hatten sich in die Reifen gebohrt. Der Wagen rutschte schräg über die Straße und krachte dann gegen einen der Einsatzwagen der State Police.

Wilbur schlug mit dem Kopf hart auf.

Etwas benommen erhob er sich.

Einer der State Police-Männer war bereits mit der Waffe im Anschlag an den Mercedes herangestürmt.

"Fallenlassen!", brüllte dieser.

Wilbur ließ die MPi nicht fallen. Er riss die Waffe hoch und ließ seinem Gegenüber keine Wahl. Die Kugel traf Wilbur im Oberkörper. Er selbst hatte fast gleichzeitig gefeuert.

Das Projektil war oben an der Dachkante durch das Blech gefetzt. Etwa eine Handbreit am Kopf des State Police-Beamten vorbei.

*


Janet Larono hatte uns in die Personalabteilung geführt. Wir gingen zusammen mit Personalchef Duane Jennings die Daten jener Mitarbeiter durch, die in den sicherheitsrelevanten Bereichen beschäftigt waren. Insbesondere interessierte uns natürlich, in wie weit sie Zugang zu den Einsatzplänen hatten, die für die Transporte existierten.

"Wir gehen da auf Nummer sicher", erläuterte uns Duane Jennings, ein ergrauter Mitvierziger, der ziemlich ratlos wirkte. "Einzelheiten werden immer erst festgelegt, kurz bevor es losgeht. Selbst die begleitenden Sicherheitsleute wissen nicht, wann es losgeht oder was sie transportieren."

"Solche Transporte scheinen häufiger vorzukommen", meinte ich.

"Wir sind eines der wenigen Unternehmen in unserer Branche, das diesen Standard aufweist. Das der Dollar immer noch eine relativ leicht zu fälschende Währung ist, liegt nicht an uns, sondern an der Regierung, die einfach kein Geld für wirklich innovative Neuerungen hat." Jennings redete sich geradezu in Rage. "Aus Sicherheitsgründen wäre ein Austauschen sämtlicher Dollar-Noten längst überfällig. Aber wer will das bezahlen."

"Allerdings."

"Wir bieten unsere Technologie übrigens weltweit an. Einige südamerikanische und asiatische Länder lassen ihr Geld mit unseren Verfahren drucken und wir warten auch die Druckanlagen. Wir hatten sogar schon Anfragen aus den ehemaligen GUS-Staaten, von denen ja jetzt jeder sein eigenes Geld produziert. Naja, Sie können sich denken, dass wir da eben ab und zu kostbare Teile hin- und hertransportieren müssen."

"Ist das kein immenses Risiko?"

"Es sind ja nicht jedesmal komplette Druckplatten. Manchmal auch elektronische Bauteile, mit denen höchstens die Konkurrenz etwas anfangen könnte. Aber bis jetzt haben wir nie Probleme gehabt, Mr. Trevellian."

"Doch diesmal hat jemand genau Bescheid gewusst und entsprechend zugeschlagen", gab ich zu bedenken. "Und wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann hätte es den Gangstern auch wenig gebracht, einfach nur irgendeinen ihrer Transporte zu überfallen, weil das transportierte Gut dann zumindest für sie - wertlos gewesen wäre."

"Das ist richtig." Duane Jennings nickte nachdenklich.

"Haben Sie irgendeine plausible Erklärung dafür?"

"Nein."

In diesem Moment ertönte ein Summton. Jennings schaltete die Gegensprechanlage seines Büro ein.

"Ich habe doch gesagt: Keine Störung!", fauchte er.

"Mr. Jennings, es gibt Schwierigkeiten", säuselte eine Sekretärinnenstimme, der man die Verwirrung deutlich anhörte.

"Hier ist Mr. Reilly von der EDV... Es scheint da ein Problem zu geben..."

*


Reilly war noch einen ganzen Kopf größer als ich, blassgesichtig und trug eine ziemlich dicke Brille.

"Es scheint so, als hätte jemand an unserer EDV herummanipuliert", erläuterte er. "Jedenfalls ist eine E-Mail abgeschickt worden, kurz nachdem der Einsatzplan für den Transport eingegeben wurde."

"Können Sie nicht ermitteln, wer von den Mitarbeitern zu der Zeit im System war?", fragte ich.

"Sicher, das ist möglich."

"Gut. Sie werden verstehen, wenn wir die befragen würden. Ich schlage vor, Sie rühren das System jetzt nicht mehr an."

"Aber..."

Reilly schien davon nicht begeistert zu sein.

"Der FBI verfügt über Computerspezialisten. Lassen Sie unsere Leute da heran. Dann haben wir vielleicht eine Chance, zu rekonstruieren, was passiert ist!"

In diesem Moment klingelte das Handy in Milo Tuckers Jackentasche. Er holte das Gerät heraus, nahm es ans Ohr und sagte ein paarmal "Ja."

"Und?", fragte ich, nachdem das Gespräch beendet war.

"Die New Jersey State Police hat zwei Kerle gefasst, die eine Bazooka im Kofferraum hatten. Einer der beiden starb bei einem Feuergefecht, aber der zweite Mann lebt."

Immerhin, dachte ich. Das sah endlich nach einem Anfang in diesem Fall aus.

*


Die meisten Leute wohnen in Queens, um in Manhattan zu arbeiten. Bei Nathan Reilly war es umgekehrt und damit gehörte er zu einer Minderheit. Der Top-Job, den er bei McGordon Inc. innehatte, sorgte dafür, dass er sich eine Wohnung am Central Park West leisten konnte. Nicht gerade ein Penthouse, aber die Aussicht war auch aus dem 9.Stock traumhaft genug.

Es war später als gewöhnlich.

New York war bereits zu einem Lichtermeer in der Dunkelheit geworden.

Reilly passierte den Security-Mann am Eingang dieses Mietshauses. Nur die wirklich guten Adressen leisteten sich diesen Luxus noch. Zumeist wurden die Sicherheitsdienste durch elektronische Überwachungsanlagen verdrängt.

"Guten Abend, Mr. Reilly!"

"Hallo, Jordan! Wie geht's?"

"Ich beneide Sie, Sir. Sie haben schon Feierabend, mein Dienst beginnt erst."

Reillys Lächeln war matt. Die Erlebnisse des heutigen Tages waren nicht spurlos an ihm vorbeigegangen.

Er nahm den Aufzug.

Wenig später stand er dann vor seiner Wohnungstür.

Sie war nicht abgeschlossen.

Reilly runzelte die Stirn. Er öffnete die Tür und trat ein.

Die Wohnung war sehr großzügig - zumal für einen Single.

Und für New Yorker Verhältnisse ohnehin, wo jeder bewohnbare Quadratmeter einer Wertanlage gleichkam.

Reilly durchquerte das Wohnzimmer. Seine Aktentasche legte er auf einen der weichen, etwas klobigen Sessel.

Die Tür zum Schlafzimmer stand einen Spalt breit offen.

Dahinter war es dunkel.

Reilly lockerte sich die Krawatte und schob sich die dicke Brille wieder den Nasenrücken hinauf.

Dann ging Reilly zur Schlafzimmertür. Er gab ihr einen Stoß, so dass sie sich vollkommen öffnete.

"Hallo, Darling!"

Die rauchige, tiefe Frauenstimme wirkte elektrisierend auf Reilly.

Er machte einen Schritt nach vorn.

Auf dem breiten Bett räkelte sich im Halbdunkel eine aufregende Schönheit. Die langen Stiefel reichten ihr bis zur Hälfte der Oberschenkel. Der schwarze Lederfummel den sie trug, ließ die Körpermitte frei. Die wenigen Fetzen, mit denen sie bekleidet war, schmiegten sich geradezu perfekt an ihre aufregende Formen.

Ihr Blick hatte etwas Herausforderndes.

Eine Strähne ihrer blauschwarzen Mähne befand sich zwischen ihren großen, sinnlich wirkenden Lippen.

"So magst du mich doch am liebsten, oder Darling?", hauchte die Leder-Lady.

"Ja...", murmelte Nathan Reilly kaum hörbar. Er musste schlucken. Der ganze verdammte Tag bei McGordon Inc. war für ein paar Augenblicke vergessen. Mein Gott, dachte er.

Die Leder-Lady zog einen Schmollmund.

"Ich musste lange auf dich warten, Darling."

"Ich weiß, Baby... Ich weiß..."

"War irgend etwas Besonderes?"

"Es gab Probleme in der Firma!"

"Was denn für Probleme?"

"Unwichtig, Baby!"

"Komm schon, öffne dein Herz, Darling."

Reilly kam näher. Ein Schritt noch trennte ihn von dem breiten Bett und dieser Traumlady. Reilly registrierte, dass ihre Brüste das knappe Lederteil um ihren Oberkörper beinahe zu sprengen drohten.

Und dann blieb der Computerfachmann von McGordon Inc. abrupt stehen.

Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte die Leder-Lady etwas metallisch Aufblinkendes in der Hand.

Eine Pistole.

Der kalte Lauf war so blank, dass man sich darin spiegeln konnte. Und die Mündung war direkt auf Reillys Körper gerichtet.

Ein teuflisches Lachen ging über die dunkelrot geschminkten Lippen der Leder-Lady.

"Setz dich, mein Guter," säuselte sie.

"Ja..."

Reilly gehorchte wortlos.

Die Leder-Lady lachte schrill.

"Na, los, mach schon!" forderte sie ihn dann auf.

Reilly langte in seine Hemdtasche. Er holte ein Päckchen Zigaretten heraus und nahm sich eine heraus. Seine Finger zitterten leicht. Er steckte sie sich in den Mund. In den Augen der Leder-Lady blitzte es.

"Na, endlich, Darling," hauchte sie.

Und drückte ab.

*


Die Leder-Lady atmete tief durch. Ihre Brüste hoben und senkten sich dabei. Sie richtete sich vollends auf und lächelte zufrieden, als die Flamme aus dem Revolverlauf schlug.

Reilly beugte sich etwas nieder, so dass die Zigarette an die Flamme kam.

Dann nahm er einen tiefen Zug.

"Die eigenen vier Wände - einer der wenigen Orte an denen man in New York diesem Laster noch frönen darf", meinte er.

"Du solltest es dir trotzdem abgewöhnen", erwiderte die Leder-Lady.

"Ja, ja..."

"Ist auch schlecht für die Liebe, Darling."

"Wenn mich nichts anderes umbringt, bin ich zufrieden, Baby."

"Tja, wer kann das schon garantieren", murmelte die Leder-Lady mehr zu sich selbst als zu ihrem Darling.

Sie erhob sich und stand auf.

Reilly verschluckte sich fast, als er die schwindelerregende Silhouette ihrer Figur sah.

Ihr Blick war auf die silberfarbene Pistole gerichtet.

"Ein hübsches Feuerzeug, was du da hast", meinte sie und richtete den Lauf erneut auf Reilly. Sie drückte ab, ließ das Feuer herausschießen und warf dem Computerspezialisten dann das Spielzeug zu. Reilly fing es mit Mühe auf.

Dann lehnte er sich zurück.

Die Leder-Lady begann, an ihren Sachen herumzunesteln.

"Was machst du da?", fragte Reilly.

"Na, wonach sieht's denn aus, Darling?"

Ein Teil nach dem anderen glitt zu Boden, bis sie schließlich nur noch die hohen Stiefel trug. Nichts sonst.

Ihr aufregender Körper schimmerte im Gegenlicht. Reilly sah ihr fasziniert zu.

Dann beugte sie sich über ihn. Ihre aufregenden Brüste wippten dabei auf und nieder.

Sie packte ihn an der Krawatte.

"Darling, du erzählst mir jetzt, was in der Firma war..."

"Später, Baby! Später..."

"Nein, jetzt! Solange das nicht 'raus ist, kannst du dich sowieso nicht richtig entspannen, Nathan!"

Reilly atmete tief durch.

Ihre Augen funkelten ihn an.

"Na, los!", forderte sie.

Sie saß jetzt rittlings auf seiner Körpermitte.

"Du hast sicher von dem Überfall gehört... Auf den Transport, der Druckplatten zur Produktion von Dollarnoten in eine Druckerei nach Newark bringen sollte..."

"Die kamen aus eurem Laden?", fragte die Leder-Lady.

"Ja." Reilly hatte Schweißperlen auf der Stirn. Er starrte erst einen Augenblick auf ihre Brüste, dann in ihr Gesicht.

"Mein Gott, der FBI war bei uns. Wir sind nacheinander verhört worden. Die Gangster wussten genauestens Bescheid... Und dann stellte sich noch heraus, dass jemand an unserer EDV

herummanipuliert hat."

"Ach! Jemand von euch?"

Reilly schüttelte den Kopf. "Jemand von außen... Aber eigentlich ist das unmöglich..."

"Wieso? Hacker sind doch auch in die Zentralcomputer des Pentagon gelangt!"

"Trotzdem... Mit Hilfe der FBI-Spezialisten konnten wir in etwa rekonstruieren, was passiert ist. Die haben unsere Passwörter benutzt!"

"Hat der FBI denn schon irgendeine Spur?"

"Die werden jetzt nacheinander jeden durchleuchten, der Zugang zum Sicherheitsbereich hatte! Und dann ist da noch..."

Er hielt plötzlich inne.

Sein Blick wurde nachdenklich. Er schien durch ihren Körper hindurchzublicken.

"Was?", fragte sie.

Ihre Stimme klirrte jetzt wie Eiswürfel in einem Glas Scotch.

"Nichts", murmelte er.

Sie stieg von ihm herunter.

"Was ist los?", fragte Reilly.

Sie antworte ihm nicht.

Er sah, wie sie nackt auf diesen bis zu den Oberschenkeln reichenden Stiefeln durch das Halbdunkel ging.

Reilly richtete sich auf.

Er sah gerade noch, wie die Leder-Lady nach ihrer Handtasche griff, die sie auf einem Stuhl abgelegt hatte. Sie öffnete die Tasche. Etwas Dunkles, Längliches kam zum Vorschein.

Eine Pistole mit Schalldämpfer.

Reilly öffnete den Mund. Seine Augen waren schreckgeweitet.

Er brachte keinen Ton heraus.

Die Leder-Lady streckte den Arm aus und zielte. Ein kurzes 'Plop!' ertönte. Rot züngelte für einen Sekundenbruchteil das Mündungsfeuer aus dem Schalldämpfer.

Mitten auf Reillys Stirn bildete sich ein roter Punkt, der rasch größer wurde. Reilly wurde nach hinten gerissen.

Ein zweiter Schuss traf ihn im Oberkörper und verursachte ein letztes Zucken.

Reillys tote Augen blicken fragend gegen die Decke.

Die Leder-Lady trat noch einmal etwas näher an ihn heran, um sich davon zu überzeugen, dass er auch wirklich nicht mehr lebte.

"Tut mir leid, Darling", murmelte sie dann. "Aber dich am Leben zu lassen hätte einfach ein zu großes Risiko bedeutet."

*


Es war schon dunkel, als Milo und ich mit meinem Sportwagen durch die Straßen von Manhattan jagten. Das Blaulicht hatte Milo auf das Dach gesetzt.

Wir mussten schnell sein.

Verdammt schnell.

Stundenlang hatten wir in den Büroräumen von McGordon Inc. die Mitarbeiter befragt, während unsere Computerspezialisten sich um die Manipulationen in der EDV gekümmert hatten.

Inzwischen stand fest, dass jemand von außen in das System eingedrungen war. Ein Hacker. Er hatte das Computersystem von McGordon Inc. dahingehend manipuliert, dass sämtliche Daten über Transporte, für die irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen getroffen wurden, sofort per E-Mail verschickt wurden. So waren die Gangster über jede Änderung - auch in letzter Minute - sofort informiert. Das Programm, dass bei McGordon Inc. benutzt wurde, erstellte normalerweise selbsttätig eine Protokoll-Datei, in der sämtliche Vorgänge verzeichnet waren. Der Hacker hatte dafür gesorgt, dass dieses Protokoll nur in verstümmelter Form vorlag. Unsere Spezialisten hatten es geschafft, die gelöschten Daten zurückzugewinnen. In dem Fall war das nicht so problematisch, weil die entsprechende Datei noch nicht neu überschrieben worden war. Aber unsere Leute hatten auch schon aus halb eingeschmolzenen Notebooks hin und wieder noch Daten retten können.

Das wichtigste hatten wir jedenfalls.

Nämlich jenen Telefonanschluss, über den die Daten empfangen worden waren.

Der Anschluss gehörte zum Blackwood-Hotel in der Lower East Side. Ein Etablissement der gehobene Ansprüche.

"Kaum zu glauben", meinte Milo. "Da sitzen diese Kerle seelenruhig in einem Hotelzimmer, schließen ihre Notebook ans Telefonnetz an und spionieren ohne irgendein Risiko die bestgehütesten Geheimnisse von McGordon Inc. aus!"

"Ja, Spione sind auch nicht mehr das, was sie mal waren", murmelte ich.

Vor uns wichen die Wagen nach rechts und links aus.

Die Leute hinter denen wir her waren, hatten keinen Grund, ihren Horchposten aufrecht zu erhalten.

Sie hatten bekommen, was sie wollten.

Die Lizenz zum Gelddrucken.

Wenn wir Pech hatten, dann waren sie längst über alle Berge.

Die Reifen des Sportwagen quietschten, als ich um eine Ecke bog. Ich hoffte, dass die Kollegen schneller waren, als wir.

Immerhin kamen wir von Queens her, während die anderen alarmierten G-men von der Zentrale an der Federal Plaza in Manhattan aus einen viel kürzeren Weg hatten.

Allerdings musste das im dichten New Yorker Abendverkehr nicht unbedingt sehr viel bedeuten.

"Ich glaube nach wie vor, dass einer aus der Firma denen geholfen hat", war Milo überzeugt.

"Ach, und wieso? Dafür konnten wir keine Anhaltspunkte finden! Hacker können doch heute mehr der weniger überall eindringen, wenn sie gut genug sind!"

"Eben! Wenn sie gut genug sind - das ist der Punkt! Die Hacker-Szene ist relativ abgeschlossen, aber ich vermute, dass die Leute, mit denen wir es zu tun haben aus einer ganz anderen Ecke kommen. Die Benutzung der Bazooka spricht doch Bände!"

"Milo, wenn du das entsprechende Kleingeld hast, dann bekommst du jeden Hacker herum, für dich zu arbeiten!"

"Solche Leute sind eitel. Wenn ich so ein Projekt aufziehen würde, wäre mir das zu risikoreich jemanden von außen hereinzunehmen."

Ich war ziemlich erstaunt über Milos Worte.

"Da kann der FBI ja froh sein, dass du niemals so ein Ding aufziehen würdest. Sonst sähen wir wohl ziemlich alt aus!"

"Im Ernst, Jesse. Die Gangster wussten die Passwörter, sonst wären sie nicht ins System gekommen. Normalerweise kommen Hacker an diese Passwörter, indem sie probieren. Bei der Auswahl dieser Wörter werden nämlich immer wieder dieselben Fehler gemacht. Man nimmt das Geburtsdatum, den Vornamen der Ehefrau und so weiter. Aber ich habe mir die Liste der verwendeten Passwörter zeigen lassen. Solche Fehler hat man bei McGordon Inc. nicht gemacht."

"Vielleicht sind wir ja gleich schlauer, wenn wir dieses Hotelzimmer besichtigen."

"Ich hoffe nur, dass wir dort überhaupt noch irgend etwas finden, Jesse."

*


Als wir das Blackwood-Hotel erreichten, waren unsere Kollegen Medina und Caravaggio schon da, dazu noch ein gutes Dutzend weiterer G-men.

Caravaggio lockerte den Sitz seiner Dienstpistole.

"Alle Ausgänge sind von unseren Leuten besetzt, Jesse." Er deutete in die Höhe. "Wenn sie noch da oben sind, dann kriegen wir sie."

"Okay", murmelte ich.

Wir betraten die Eingangshalle.

Zwei unserer Agenten hatten sich am Portal postiert.

Wir alle waren über kleine, zierliche Walkie Talkies miteinander verbinden.

In der Eingangshalle war verhältnismäßig viel Betrieb. Für diejenigen, hinter denen wir her waren, bedeutete das einen Vorteil. Schließlich waren wir es, die Rücksicht nehmen mussten und nicht einfach ein Blutbad riskieren konnten.

Das Zimmer, zu dem der Anschluss gehörte, lag im dritten Stock. Clive Caravaggio hatte mit dem Hotelmanager gesprochen. Schließlich wollten wir nicht, dass uns einer der Hoteldetektive in die Quere kam.

Also musste die andere Seite informiert sein.

Es war die Nummer 321, eine richtige Suite.

Die Schlüssel waren in der Rezeption nicht abgegeben worden. Vielleicht bedeutete das, dass jemand dort war.

Wir nahmen den Aufzug.

Dann ging es einen langen Flur entlang.

Vor der Zimmernummer 321 hing ein Schild BITTE NICHT STÖREN. Aber diesen Gefallen konnten wir ihnen nicht tun. Wie auf ein geheimes Zeichen hin griffen wir nach unseren Dienstwaffen, automatischen Pistolen vom Typ P 226 der Firma Sig Sauer. Eine Patrone im Lauf, 15 weitere im Magazin.

Medina nickte mir zu.

Ich nahm einen Schritt Anlauf. Mit einem wuchtigen Tritt ließ ich die Tür aus dem Schloss springen.

"FBI! Hände hoch!", brüllte ich mit der Waffe im Anschlag.

Vor mir lag ein recht weiträumiges Wohnzimmer. Eine Glastür führte zum Balkon. Eine Schiebetür trennte den Wohnraum von einem weiteren Raum - vermutlich dem Schlafzimmer.

Zwei Männer saßen an dem niedrigen Tisch, auf dem sich tatsächlich ein Notebook befand. Offene Taschen und Koffer lagen auf dem Sofa. Offenbar hatten wir hier jemandem beim Packen gestört.

Einer der beiden Männer war dunkelhaarig, der andere so strohblond, dass man seine Zweifel haben konnte, ob die Farbe echt war.

Der Blonde schnellte herum.

Hinter der Stuhllehne hatte ich die Uzi-Maschinenpistole nicht sofort sehen können.

Erst im letzten Moment sah ich das Mündungsfeuer aus dem kurzen Lauf der MPi herausschießen.

Ich duckte mich, sprang zur Seite und drückte gleichzeitig zweimal meine P226 ab.

Dann presste ich mich gegen die Wand, während das Dauerfeuer der Uzi den Türrahmen zersplittern ließ.

"Geben Sie auf! Hier ist der FBI! Das Gebäude ist umstellt! Sie haben keine Chance zu entkommen!", rief Medina, als der Kugelhagel nachgelassen hatte.

Hektische Schritte waren zu hören.

Jetzt tauchte Milo aus der Deckung heraus.

Die P226 hielt er mit beiden Händen umklammert.

Er war bereit abzudrücken, wenn ihm die Gangster keine Wahl ließen.

Doch er ließ schon in der nächsten Sekunde die Pistole sinken. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, der ungläubiges Staunen signalisierte.

"Die sind weg", murmelte er.

Caravaggio gab es gleich per Funk an die Kollegen. Ich nahm ihm das Funkgerät kurz aus der Hand lieferte eine kappe Beschreibung der beiden.

Milo pirschte sich bis zu der Sitzgruppe heran.

Orry folgte. Er arbeitete sich zur Tür des Nebenzimmers voran, die einen Spalt offenstand. Mit einem Tritt öffnete er sie vollends und stürmte mit der Waffe im Anschlag hinein.

Caravaggio und ich betraten als letzte die Suite.

Mit ziemlich ratlosem Gesicht kehrte Orry aus dem Nebenzimmer zurück.

"Hier ist niemand", erklärte er. "Und auch im Bad nicht."

Ich ließ den Blick schweifen. Die Fenster und die Glastür zum Balkon waren geschlossen. Und mir erschien es auch unwahrscheinlich, dass sie jemand geöffnet hatte, zumal die gläserne Hebetür, die zum Balkon führte, nur von innen zu verschließen war.

"Das gibt's doch nicht!", schimpfte Milo.

G-men sind im allgemein logisch denkende und nüchtern analysierende Leute. Für Zauberei oder dergleichen ist in unserem Weltbild kein Platz. Es gibt für alles eine Erklärung.

Orry setzte sich in einen der Sessel und warf einen Blick auf den Schirm des Notebooks. Ein Modem war auch zu finden, mit dessen Hilfe man das Notebook ans Telefonnetz anschließen konnte. Aber sämtliche Geräte waren jetzt nicht eingeschaltet.

"Hallo, hier Agent Caravaggio", meldete sich der flachsblonde Italo-Amerikaner per Funk bei den Kollegen. "Die Kerle sind nicht mehr hier. Ist bei euch jemand aufgetaucht, auf den die Beschreibung passt?"

Die Antwort war durchweg nein.

"Jemand muss den Ausgang der Tiefgarage überwachen", meinte ich.

Caravaggio sah mich mit leichtem Vorwurf an.

"Für wen hältst du uns, Jesse?"

"So war es nicht gemeint."

"Still", zischte Milo Tucker.

Ein summendes und manchmal etwas schepperndes Geräusch drang an unser Ohr. Wir lauschten angestrengt.

Dann machte ich zwei Schritte nach vorn und zog einen Wandteppich zur Seite.

Die Schiebetür dahinter sah auf den ersten Blick aus, als würde sie zu einem Wandschrank gehören. Ich öffnete sie. Dahinter war ein Loch in der Wand.

"Ein Lastenaufzug", stellte ich fest. Offenbar ließen sich die gutbetuchten Mieter dieser Suite auf diesem Weg das Essen servieren.

Ich blickte den Schacht hinunter.

Die beiden Männer hatten sich wohl in die Kiste gequetscht, die an Stahlbändern auf und abtransportiert wurde. Für die beiden Männer war es abwärts gegangen.

"Wo sind sie?", fragte Orry.

"Vermutlich in der Küche", meinte ich.

Ich drückte auf den Knopf, der den Aufzug heraufholte.

Ächzend kam das Ding herauf.

Ich sah Milo an. "Wird ein bisschen eng werden, Alter! Aber ich denke, das ist der kürzeste Weg!"

*


Der Mann mit der weißen Koch-Haube stöhnte erschrocken auf und wich zwei Schritte zurück.

Mit der P226 im Anschlag sprang ich aus dem Lastenaufzug heraus, in dem ich in kniender, geduckter Haltung hatte kauern müssen.

Milo folgte mir.

Ich zog meinen Ausweis.

"FBI!", rief ich und ließ dabei den Blick durch die Großküche des Blackwood-Hotels schweifen. Überall dampfte es. Auf großen Essenswagen wurden Mahlzeiten transportiert.

Lastenaufzüge für die Suiten wurden mit erlesenen Spezialitäten bestückt.

Insgesamt gab es vier Ausgänge.

"Hier sind gerade zwei Männer mit dem Lastenaufzug angekommen?"

"Ja, ja! Diese Verrückten! Die haben mich einfach über den Haufen gerannt!"

"Wohin sind sie?"

Der Mann deutete auf einen der Ausgänge.

"Die waren bewaffnet", flüsterte er dann noch.

Aber da waren Milo und ich längst auf dem Weg. Wir rannten quer durch die Großküche. Das kam einer Art Hindernislauf gleich. Mit einem Satz schwang ich mich über eine Spüle.

Augenblicke später hatten wir die Tür erreicht.

Mit der Waffe im Anschlag gab ich ihr einen Tritt. Sie flog zur Seite.

Dahinter war ein langer kahler Flur. Vermutlich waren dort Vorratsräume untergebracht.

Ich spurtete los.

Milo folgte mir. Am Ende des Gangs befand sich ein Treppenhaus, das wohl als Notausgang im Brandfall zu dienen hatte.

Ein Hinweisschild verriet, dass man auf dem Weg nach unten in die Tiefgarage gelangen konnte.

Milo holte das Walkie Talkie aus der Jackentasche.

"Hier Tucker. Die Gesuchten befinden vermutlich in der Tiefgarage!"

Mein Blick ging kurz nach oben. Die Kerle hinter denen wir her waren, waren keineswegs auf den Kopf gefallen. Sie mussten ahnen, dass eine panische Flucht sie nur in die Arme unserer Kollegen treiben würde.

Oder sie setzten darauf, dass wir geblufft hatten und das Blackwood keineswegs umstellt war.

Eine Geräusch ließ mich herumfahren.

Auf dem kahlen Flur war eine Tür aufgegangen.

Ich sah das Gesicht des Blonden. Mein Waffenarm mit der P226 ging blitzartig hoch, während ich in den Lauf der Uzi blickte, die mein Gegenüber auf mich richtete. Der Dunkelhaarige kam ebenfalls aus der Tür. Er packte seine Uzi mit beiden Händen und riss sie hoch.

Ich konnte nicht abdrücken.

Der Blonde hatte einen Mann in weißer Küchenkleidung im Würgegriff und hielt ihn wie einen Schutzschild vor sich.

Der Blonde feuerte.

Milo und ich warfen uns zur Seite und pressten uns dann rechts und links des Flureingangs gegen die Steinwand. Die MPi-Garbe knatterte an uns vorbei. Die Projektile fetzten irgendwo hinter uns den Putz von der Wand.

Dann war plötzlich Stille.

"Lassen Sie uns gehen! Legen Sie Ihre Waffen auf den Boden! Andernfalls stirbt dieser lausige Koch hier!", rief eine heisere Stimme aus dem Flur. "Ich zähle bis drei, verdammt nochmal!" Der Kerl war nahe an einem Zustand, den man nur als Panik bezeichnen konnte.

Milo sprach in sein Funkgerät.

"Hier Tucker! Die Kerle sind im Flur zwischen Küche und Treppenhaus. Sie haben eine Geisel..."

In der nächsten Sekunde konnte man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. Einer der Gangster ließ seine Maschinenpistole nochmal loskrachen.

"Halt's Maul dahinten!", krächzte er.

"Wir müssen versuchen, sie hinzuhalten", meinte ich.

"Eins!", hörte ich die heisere Stimme. Ich glaubte, dass sie dem Blonden gehörte, der den armen Kochgehilfen immer noch als lebenden Schutzschild vor sich hielt.

"Zwei!"

Ich hörte ein ratschendes Geräusch.

Das Magazin einer MPi wurde ausgewechselt und die Waffe dann durchgeladen.

"Nein!", schrie die Geisel. "Bitte nicht!"

"Wir gehen auf Ihre Forderungen ein!", rief ich. "Aber lassen Sie den Mann frei!"

"Eure Waffen, G-men!"

Ich ließ meine P226 so zu Boden fallen, dass der Kerl es sehen musste. Ich selbst hielt mich aber immer noch in Deckung.

Die Uzi krachte wieder los. Ein Feuerstoß von mindestens zwanzig Kugel ließ meine Pistole am Boden tanzen. Die Projektile zerfetzten den Griff, ließen ihn splittern und kratzen in den glatten Fußboden.

"Ich warte nicht länger!", krächzte der Kerl.

Ich hoffte nur, dass Orry, Caravaggio und den anderen Kollegen in der Zwischenzeit etwas einfiel.

Milo ließ seine Waffe ebenfalls zu Boden segeln. Sie rutschte ein Stück.

"Jetzt ihr! Wenn ihr Bastarde nicht herauskommt, hat der arme Kerl hier keinen Kopf mehr! Habt ihr verstanden! Wollt ihr das? Verdammt, ihr Arschlöcher, ich habe ich euch was gefragt!"

Unser Gegner war unberechenbar.

Wie ein in die Enge getriebenes Raubtier.

"Sie bekommen alles, was Sie wollen", versprach ich, obwohl ich nicht wusste, ob ich das halten konnte. Aber erst einmal mussten die beiden Gangster beruhigt werden. So außerhalb jeder Selbstkontrolle, wie sie im Moment waren, lief das ganze auf eine blutige Katastrophe hinaus. "Wir können über alles reden. Aber..."

"Halt's Maul und zeig dich G-men! Sonst ist meine Geisel gleich so lebendig wie die Rinderhälften in der verdammten Kühlkammer hier!"

Wir kamen aus unserer Deckung hervor.

Wehrlos.

"Kickt eure Waffen zu uns hinüber!", brüllte der Blonde.

Wir gehorchten. Unsere am Boden liegenden Pistolen rutschten über den glatten Boden wie Eishockey-Pucks.

Auf dem Gesicht des Dunkelhaarigen stand ein gemeines Grinsen.

Die beiden kamen auf uns zu.

Der Kochgehilfe war totenbleich.

"Leg sie um", knurrte der Blonde. "Alle beide."

*


Mein Blick war auf den kurzen, dunklen Lauf der Uzi gerichtet, die der Dunkelhaarige in den Händen hielt. Der Zeigefinger seiner Rechten wurde weiß am Knöchel, als er den Druck auf den Abzug etwas verstärkte.

"Worauf wartest du, blas sie um, die Cops!", kreischte der Blonde. "Sie haben unsere Gesichter gesehen!"

"Halt's Maul!", knurrte der Dunkelhaarige. Mir fiel die kleine Narbe auf, die er knapp unterhalb des linken Auges hatte.

"Heh, Milo, was ist los bei euch?", meldete sich Agent Medinas leicht verzerrte Stimme durch Milos Walkie Talkie.

Der Dunkelhaarige zeigte seine Zähne wie ein Raubtier.

"Umlegen können wir sie später!", brummte er. Er hob die Uzi etwas an. Sie zeigte auf Milos Oberkörper. "Eure Leute stehen unten am Ausgang der Tiefgarage, oder?"

"Ja", sagte Milo.

"Dann sagt eurer Meute, dass sie dort verschwinden soll! Sonst ist die Geisel tot! Und ihr auch!"

Milo nahm das Walkie Talkie. "Orry! Es gibt ein Problem. Zieht alle Leute von der Tiefgarage zurück."

"Haben die euch in der Gewalt?", fragte Medina.

Der Dunkelhaarige machte einen Schritt nach vorn. Brutal rammte er die Uzi in Milos Bauch und riss ihm das Funkgerät aus der Hand. Milo taumelte ächzend nach hinten.

Der Dunkelhaarige richtete einhändig die Uzi auf ihn.

"Wenn du fällst, fällst du für immer, G-man!"

Milo unterdrückte einen Fluch.

Der Dunkelhaarige nahm das Funkgerät.

"Hört ihr mich? Es gibt hier ein Blutbad, wenn ihr uns den Weg nicht freigebt! Kapiert?"

"Wir ziehen unsere Leute zurück", sagte Medina.

"Keine Tricks!"

"Keine Tricks", versprach Medina.

In den Augen des Dunkelhaarigen blitzte es triumphierend.

Er schwenkte die MPi. "Vorwärts!", forderte er uns auf.

Es ging die Treppe hinunter. Mit erhobenen Händen gingen wir vor den MPi-Läufen her. Milo hatte den gemeinen Schlag inzwischen einigermaßen weggesteckt.

Ich wechselte einen kurzen Blick mit ihm.

Es war uns beiden klar, dass wir auf unsere Chance warten mussten. Jetzt irgend etwas zu versuchen war sinnlos.

Eine feuersichere Stahltür führte in die Tiefgarage.

Der Dunkelhaarige öffnete sie. Der Lauf seiner Uzi bohrte sich dabei schmerzhaft in meine Rippen. "Los", knurrte er.

Es war kühl in der Tiefgarage.

Mein Blick glitt schnell über die langen Reihen der luxuriösen Pkw, die die Hotelgäste hier unten abgestellt hatten. Eine Überwachungskamera bewegte sich selbsttätig.

Der Dunkelhaarige hatte das auch bemerkt.

Er riss die Maschinenpistole hoch und feuerte. Die Kamera wurde durch den Bleihagel regelrecht zerfetzt.

Dann ließ der Gangster misstrauisch den Blick kreisen.

Nichts zu sehen.

Aber genau das musste ihm verdächtig erscheinen. Schließlich war hier normalerweise ständig Betrieb. Irgendwer brauchte zu jeder Tages- und Nachtzeit seinen Wagen, ließ ihn sich entweder von einem Hotelangestellten holen oder ging selbst hier hinunter. Aber jetzt war hier buchstäblich niemand.

"Das ist 'ne verdammte Falle!", kreischte der Blonde, der kurz davor stand, die Kontrolle zu verlieren. Er setzte der Geisel die Uzi an die Schläfe.

"Sei still!", knurrte der Dunkelhaarige. Er nahm das Funkgerät und brüllte dann: "Was hat das zu bedeuten? Warum ist hier kein normaler Betrieb?"

Orry antwortete.

"Wir haben die Tiefgarage schon vorher räumen lassen!"

"Ihr wisst was passiert, wenn..."

"Wissen wir! Machen Sie sich keine Sorgen. Was haben Sie jetzt vor?"

"Wir gehen zum Wagen. Und dann werden Sie uns fahren lassen. Eine Geisel nehmen wir mit, damit ihr G-men nicht auf dumme Gedanken kommt!"

"Wo werden sie die Geisel freilassen?"

"Das müssen Sie uns überlassen!"

Wir durchquerten die Tiefgarage. Die Gangster beobachteten misstrauisch die dicken Betonpfeiler, so als erwarteten sie, dass jederzeit unsere Leute dahinter hervorspringen konnten.

Dann erreichten wir eine dunkle Limousine.

Ein langgezogener, viertüriger Chevy.

Der Blonde schloss die Tür auf und schob die Geisel auf den Rücksitz.

"Nehmen Sie mich statt dieses Mannes mit", sagte ich. "Lassen Sie ihn frei! Ich garantiere Ihnen, dass man Sie durchlässt!"

Der Dunkelhaarige grinste.

"Keine Chance, Mister!"

Die beiden stiegen in den Chevy.

Dann brauste der Wagen los. Die Seitenscheibe der Hintertür glitt hinunter, während der Chevy mit quietschenden Reifen einen Haken schlug.

"Vorsicht, Milo!"

Wir hechteten zu Boden, ehe der Blonde in unsere Richtung ballerte. Die Kugel durchstanzten das Blech der parkenden Wagen.

Der Chevy hatte indessen die Ausfahrt erreicht.

"Ich hoffe, unsere Leute bleiben dran", meinte Milo, nachdem er sich wieder erhob.

*


Ich hatte mir die Autonummer des Chevys gemerkt. Eine Blitzabfrage in der Zentrale ergab, dass er auf einen gewissen Walid Kerim zugelassen war. Kerim war ein alter Bekannter. Er hatte mehrere Verurteilungen hinter sich, unter anderem wegen der Verbreitung von Falschgeld und schwerer Körperverletzung.

"Bingo", meinte Milo dazu, als wir oben in der Hotelsuite standen, von der aus die beiden operiert hatten.

"Die müssen sich sehr sicher gefühlt haben", war ich überzeugt. "Sonst wären sie nicht mit ihrem eigenen Wagen hier her gekommen..."

Kerim hatte auch das Zimmer angemietet, wie sich herausstellte. Allerdings unter falschem Namen.

Kerim war Amerikaner arabischer Abstammung. Seine Eltern kamen aus dem Libanon.

Vermutlich war er der Dunkelhaarige mit der Narbe unter dem Auge. Letzte Sicherheit würden wir erst haben, wenn wir sein Bild auf unserem Computerschirm vor uns sahen.

"Ihr habt verdammtes Glück gehabt", meinte Agent Medina.

Ich zuckte die Achseln.

"Ich hoffe, dieser Kochgehilfe hat es auch." In den Händen hielt ich noch die Einzelteile meiner zertrümmerten P226, die ich inzwischen aufgesammelt hatte. Ich würde mir eine neue Dienstwaffe besorgen müssen.

Im nächsten Moment klingelte Medinas Handy.

Er machte ein ziemlich deprimiertes Gesicht, als er den Apparat wieder sinken ließ.

"Das war Agent LaRocca! Unsere Leute haben den Wagen verloren..."

Ich fluchte innerlich.

Es war ein scheußliches Gefühl, nichts tun zu können.

"Die werden uns schon ins Netz laufen, Jesse," war Medina recht zuversichtlich.

Milo und ich fuhren zurück zum Hauptquartier in der Federal Plaza. Es war um diese Zeit kaum noch jemand da und auch wir hätten eigentlich längst Feierabend gehabt.

Mr. McKee hörte sich unseren Bericht an.

"Niemand macht Ihnen beiden einen Vorwurf", meinte er.

"Ich weiß", sagte ich. "Dieser Blonde war nahe davor durchzudrehen. Wir konnten kein Risiko eingehen."

"Ich hoffe nur, dass er inzwischen nicht durchgedreht hat", ergänzte Milo.

Mr. McKee war trotz allem zuversichtlich - zumindest, was die Chance anging, die beiden zu kriegen.

"Von Walid Kerim werden die Fahndungsfotos schon gedruckt. Der kann sich ab jetzt nirgends mehr sehen lassen. Und zwei unserer Agenten warten ständig vor seiner Wohnung."

"Er wird kaum so dumm sein, dorthin zurückzukehren," meinte ich.

"Weiß man nie, Jesse."

"Was ist eigentlich mit dem Kerl, den man in New Jersey festgenommen hat?"

"Wird noch verhört. Aber die Bazooka ist aller Wahrscheinlichkeit nach bei dem Überfall benutzt worden. Was das angeht, wissen wir morgen mehr."

In diesem Moment betrat Max Carter das Büro. In seinem Gefolge kam Ronald Figueira, unser Falschgeldspezialist herein. Figueira hatte bereits ein Dossier über Walid Kerim unter dem Arm. Er legte es Mr. McKee auf den Tisch.

"Kerim könnte ein vielversprechender Ansatzpunkt sein", meinte Figueira. "Allerdings halte ich ihn für ein zu kleines Licht, als das der Überfall auf den Transporter allein auf seinem eigenen Mist gewachsen sein kann."

"Immerhin hatte er doch eine äußerst wichtige Aufgabe bei der Sache", gab ich zu bedenken. "Auch, wenn er wohl kaum an dem Überfall selbst beteiligt gewesen sein kann."

"Kerim hat gewisse Kenntnisse, was Computer angeht", sagte Figueira. "Aber ich glaube nicht, dass die ausgereicht hätten, um so ein Ding durchzuziehen."

"Das heißt, der zweite Mann muss der Spezialist sein", schloss ich.

"Du sagst es, Jesse."

*


Von dem Blonden konnte nach den Angaben von Milo und mir zwar ein Phantombild gemacht werden, das ihn ziemlich gut traf. Aber in unseren Datenbanken war nichts über einen Mann verzeichnet, der dieses Aussehen hatte. Selbst die Fingerabdrücke, die unsere Leute von dem Notebook im Hotel Blackwood genommen hatten, brachten uns nicht weiter.

Max Carter, unser Fahndungsspezialist, mit dem zusammen Milo und ich fast bis Mitternacht vor dem Bildschirm saßen, packte beinahe die Verzweiflung.

"Der Kerl scheint noch nie verhaftet worden zu sein", meinte Milo.

"Ein Neuling. Vielleicht war er deshalb so nervös", meinte Carter.

Die Fingerabdrücke vom Notebook gehörten zwei verschiedenen Personen. Die eine war Kerim. Die zweite musste nach menschlichem Ermessen der Blonde sein. Aber über AIDS, das zentrale System zur Erfassung von Fingerprints, das die Abdrücke von Kriminellen, Bewerbern für den öffentliche Dienst oder Army-Angehörigen speicherte, erfuhren wir nichts über den Blonden.

"Wir kommen heute nicht weiter", meinte Carter. "Was möglich war, haben wir gemacht..." Er gähnte bereits.

Vermutlich hatte Carter sogar recht, auch wenn keinem von uns der Gedanke gefiel. Aber im Kampf gegen das Verbrechen braucht man oft eine langen Atem.

Es ist ein Langstreckenrennen, kein Sprint.

Ein Anruf kam.

Es war Agent Fred LaRocca.

"Hallo Jesse. Wir haben die Geisel. Und auch den Fluchtwagen. Steht hier an der Bowery."

"Geht es dem Mann wenigstens gut?", fragte ich.

"Er hat eine Gehirnerschütterung. Die Kerle haben ihn niedergeschlagen und im Wagen zurückgelassen, bevor sie zu Fuß ihre Flucht fortgesetzt haben. Ein Psychologe der City Police kümmert sich um ihn."

Ich nickte. "Danke, Fred."

*


Am nächsten Morgen holte ich Milo wie üblich an der bekannten Ecke ab.

Wir waren auf dem Weg zur Federal Plaza, als uns die Zentrale anrief. Milo nahm das Gespräch entgegen.

"Ein gewisser Nathan Reilly ist in seiner Wohnung erschossen aufgefunden worden", berichtete er dann.

"Reilly? Von McGordon Inc.?"

"Genau der, Jesse."

"Das kann kein Zufall sein."

"Allerdings."

"Wo geht es hin?"

"Ich nehme an, du weißt, wo der Central Park West ist."

Ich setzte das Blaulicht auf den Sportwagen und trat auf das Gaspedal. Bis zu Reillys Adresse war es nur ein Katzensprung.

Als wir den Central Park West erreichten, war es keine Schwierigkeit, das richtige Haus zu finden. Die Blinklichter der City Police-Einsatzwagen wiesen uns den Weg.

Ich parkte den Sportwagen in einer der wenigen Lücken, die noch geblieben waren. Wir stiegen aus.

Die Posten der City Police ließen uns passieren.

Wir gelangten ins Haus. Der Sicherheitsdienstler, der am Eingang seinen Posten in einer Art Glaskäfig hatte, wurde gerade von Polizisten befragt.

Ein Aufzug brachte uns in den 9. Stock.

Als wir Reillys Wohnung betraten, war dort noch nicht viel los. Die Spurensicherer vom SRD, dem Scientific Research Department, ließen noch auf sich warten.

Kein Wunder. Der SRD hatte seinen Sitz in der Bronx. Er war der zentrale Erkennungsdienst aller New Yorker Polizeieinheiten, und auch wir vom FBI nahmen seine Hilfe häufig in Anspruch.

Im Wohnzimmer saß eine junge Frau, mit langem, sehr seidigen brünettem Haar. Sie sah in sich gekehrt aus. Das Make-up war etwas verwischt. Sie hatte geweint und schien uns gar nicht zu bemerken.

Aus dem Nebenzimmer trat ein breitschultriger Sergeant der City Police heraus.

"Trevellian, FBI", stellte ich mich kurz und knapp vor. Ich deutete auf Milo. "Das ist Agent Tucker."

"Ich bin Sergeant Willis. Kommen Sie bitte."

Wir folgen ihm ins Schlafzimmer. Der Tote lag ausgestreckt auf dem Bett. Starr und mit gebrochenen Augen blickte Nathan Reilly durch seine dicken Brillengläser an die Decke.

"Sie sind ziemlich früh", meinte Sergeant Willis. "Eigentlich hatten wir die Homicide Squad unseres Reviers erwartet..."

"Die kommt sicher noch", meinte ich.

"Was habt ihr G-men denn mit dem Fall zu tun?"

"Wir vermuten, dass dieser Mord mit dem Überfall auf den Transporter zu tun hat, bei dem die Dollar-Druckplatten erbeutet wurden", erläuterte Milo.

"Ich habe davon gehört", sagte der Sergeant.

Ich deutete auf den Toten.

"Zwei präzise Schüsse."

"Ja, sieht nach einem Profi aus. Jedenfalls hat hier niemand etwas gehört. Wenn der Gerichtsmediziner kommt, wissen wir vielleicht genaueres über die Todesursache."

Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen. Die Einrichtung war von moderner Sachlichkeit. Fast konnte man sie unpersönlich nennen.

Milo deutete indessen auf die Pistole, die neben dem Toten auf dem Bett lag.

"Die Tatwaffe?"

"Wissen wir nicht. Am besten, wir lassen sie liegen, bis die Spurensicherer da sind..."

Ich fragte in gedämpftem Tonfall. "Wer ist die Frau, da draußen?"

"Miss Carol Reilly."

"Miss?", vergewisserte ich mich.

Sergeant Willis nickte. "Sie ist die Schwester des Toten - nicht seine Ehefrau."

"Hat Miss Reilly ihn gefunden?"

"Ja."

"Ich werde mich mal ein bisschen um sie kümmern..."

*


"Mein Name ist Jesse Trevellian, ich bin Special Agent des FBI", sagte ich, als ich mich ihr gegenübersetzt hatte. Von meinem Dienstausweis nahm sie überhaupt keine Notiz. Sie sah mich nicht an. Tränen glitzerten in ihren Augen.

"Sie haben einen Schlüssel für diese Wohnung?", fragte ich dann.

Ein Ruck ging durch ihren zierlich wirkenden Körper. So als hätte ich sie jetzt aus ihrer inneren Welt herausgerissen.

"Ja, ich habe einen Schlüssel. Wissen Sie, ich studiere in Albany, aber wenn ich in New York bin, dann kann ich jederzeit bei meinem Bruder übernachten. Manchmal war ich wochenlang hier..." Sie seufzte. "Ich spreche immer noch in der Gegenwart von ihm. So als wäre er noch da...", fiel ihr dann auf. "Wissen Sie, ich kann einfach noch nicht begreifen, was geschehen ist."

"Das verstehe ich."

"Bestimmt fragen Sie mich jetzt danach, ob er irgendwelche Feinde hatte."

"Und?", fragte ich. "Hatte Ihr Bruder Feinde?"

"Nein, nicht, dass ich wüsste. Er war ein sehr sanfter, eher schüchterner Mensch, der Auseinandersetzungen lieber aus dem Weg ging. Das einzige, was ihn wirklich interessierte waren Computer. Er war auf dem Gebiet ein Top-Mann!"

"Bei McGordon Inc. hat er es ja auch schön weit gebracht."

Sie sah mich erstaunt an. "Sie wissen, wo Nathan gearbeitet hat?"

"Ja."

"Aber..."

"Miss Reilly, wir vermuten, dass der Tod Ihres Bruders mit dem Überfall auf einen McGordon-Transporter zu tun hat..."

"Sie meinen, das mit den Druckplatten? Meine Güte, das Fernsehen und die Zeitungen sind voll davon."

"Genau das nehme ich", bestätigte ich.

"Ich wusste nicht, dass diese Sache mit der Firma meines Bruders zusammenhängt."

"Die Gangster wussten genau, wann was transportiert werden würde. Sie waren über alle firmeninternen Einzelheiten informiert. Und Ihr Bruder hat herausgefunden, dass ganz offensichtlich Fremde Zugang zur Firmen-EDV hatten."

"...und jetzt ist er tot", vollendete Carol Reilly.

"Verstehen Sie jetzt meinen Gedankengang?"

"Deshalb kümmert sich das FBI um die Sache - und nicht die normale Mordkommission. Ich habe mich schon gewundert, als Sie mir gerade Ihren Ausweis zeigten. Aber irgendwie war ich einen Moment lang etwas weggetreten..." Sie zuckte die Achseln. "Es hat eine Weile gedauert, bis bei mir der Groschen gefallen ist."

"Haben Sie in letzter Zeit irgendeine Veränderung an Ihrem Bruder und seinen Lebensverhältnissen festgestellt? Irgend etwas, das Ihnen aufgefallen ist.."

"Sie glauben, dass Nathan mit diesen Gangstern unter einer Decke steckte?"

Empörung klang in ihrem Tonfall mit. Ich bemerkte deutlich die Reserviertheit, die sie plötzlich erfüllte.

Ich schüttelte den Kopf.

"Nein, das muss nicht unbedingt sein."

"Aber Sie schließen es nicht aus."

"Nun..."

"Ich halte das für völlig ausgeschlossen, Mr. Trevellian! Das hätte Nathan niemals getan! Dafür kenne ich meinen Bruder gut genug..."

"Miss Reilly..."

"Ich glaube das einfach nicht!"

"Noch wissen wir nichts Bestimmtes, Miss Reilly. Aber sehr wahrscheinlich hat jemand die Passwörter verraten und Ihr Bruder war einer der wenigen in Frage kommenden Personen.

Miss Reilly, womöglich wurde er dazu gezwungen und mit irgend etwas unter Druck gesetzt..."

"Am Ende werden Sie noch behaupten, dass er sich die Pistole selbst an die Stirn gesetzt hat!"

"Nein, das behauptet niemand, Miss Reilly." Eine Pause entstand. Sie strich sich mit einer fahrigen Geste das Haar zurück. Einen gewissen Schock über das, was geschehen war, musste man ihr zugutehalten. Aber andererseits wuchs die Chance des Killers von Augenblick zu Augenblick, der ungenutzt verstrich. Also konnte ich nicht lockerlassen. Beim besten Willen nicht.

"Ich denke, Sie wollen, dass die Mörder Ihres Bruders gefasst werden", sagte ich.

"Natürlich will ich das."

"Dann haben wir dasselbe Ziel, Miss Reilly. Auch wenn es Ihnen jetzt schwerfällt, denken Sie nochmal über das, was ich Ihnen gesagt habe, nach."

Sie atmete tief durch.

Ihr Blick war jetzt wieder so in sich gekehrt wie zu Anfang. Dann öffnete sie halb den Mund, ohne das ein Laut über ihre Lippen kam.

"Nun?", fragte ich.

"Sie sprachen von Veränderungen in der letzten Zeit..."

"Ja."

"Es gab da eine. Deswegen hatten Nathan und ich uns auch etwas zerstritten. Eigentlich hatte ich nämlich vorgehabt, die kompletten Semesterferien hier in New York zu verbringen, aber... Naja, ich bin im Streit abgereist und wollte mich jetzt eigentlich mit ihm aussprechen."

"Worum ging es bei dem Streit?"

"Wissen Sie, Nathan ist unverheiratet gewesen und hatte eigentlich auch kaum Freunde oder Bekanntschaften. Außerdem ging er kaum raus, wenn Sie wissen, was ich meine."

"Ich denke schon", erwiderte ich.

"Keine Diskotheken, kein Ausgehen... Stattdessen surfte er lieber nächtelang im Internet. Computer waren sein ein und alles. Ein Verrückter, wenn Sie so wollen. Aber dann war da plötzlich diese Frau... Carla Raines. Sie hat ihn völlig unter Kontrolle gehabt. Typ: Leder-Vamp. Sie erinnerte mich vom Outfit her stark an die Art Frauen, die an der Bowery auf und ab gehen und gegenüber den Cops behaupten, dass Spazierengehen ja in New York noch nicht verboten ist - im Gegensatz zur Prostitution."

"Seit wann kannte er diese Carla Raines?"

"Seit ein paar Wochen."

"Wie hat er diese Frau kennengelernt?", hakte ich nach.

"Hat er mir nicht gesagt, aber ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass sie ihn angesprochen hat - nicht umgekehrt."

"Und was missfiel Ihnen an dieser Beziehung?"

"Ich glaube, dass diese Carla nicht ehrlich zu ihm war. Sie spielte mit ihm und er war so verblendet, dass er das gar nicht bemerkte... Ich sagte ihm, dass ich der Meinung bin, dass sie ihn nur ausnutzen wollte. Naja, das Ergebnis war ein ziemlich unerfreulicher Streit."

*


Jeder Quadratzentimeter der Wohnung wurde genauestens abgesucht, jeder Fingerabdruck genommen, jede Faserspur gesichert. Aber eines fanden wir nicht. Die Adresse von Carla Raines. Nathan Reilly schien sie sich nirgends aufgeschrieben zu haben.

Allerdings meinte seine Schwester, Reilly hätte immer ein kleines Notizbuch bei sich gehabt, wo er alles Wichtige hineingeschrieben hätte. Angefangen von Passwörtern für Computerprogramme bis hin zu wichtigen Adressen. Ein solches Buch fand sich allerdings nicht in der Wohnung.

Die Todeszeit ließ sich in etwa ermitteln.

Reilly war schon am vergangenen Abend ermordet worden.

Etwas später befragten wir den Security-Mann, der zu jener Zeit Dienst gehabt hatte.

Wir fragten ihn auch nach Carla Raines.

"Ich erinnere mich an die Frau. Dunkle Brille, dunkle Haare. Sie hatte hier freien Zutritt..."

"Wieso das?", fragte ich.

"Weil Mr. Reilly das so bestimmt hat. Soweit ich weiß, hatte sie einen Wohnungsschlüssel. In der letzten Zeit war sie fast jeden Tag hier, kam immer so am frühen Abend oder späten Nachmittag. Immer etwa eine Stunde, bevor Mr. Reilly nach Hause kam."

"Und gestern Abend?"

"Dasselbe. Allerdings ist mir aufgefallen, dass sie nicht nur gekommen, sondern am selben Abend auch wieder gegangen ist. Das war sonst nie der Fall. Ein Taxi hat sie abgeholt..."

"Es wäre gut, wenn Sie mit uns ins Hauptquartier kommen würden."

"Aber wieso? Ich habe doch alles gesagt!"

"Ja, sicher", gestand ich zu. "Aber wir müssen mit Ihrer Hilfe ein Phantombild erstellen. Sie kennen Miss Reilly?"

"Ja, sicher! Mr. Reillys Schwester."

"Sie wird uns dabei ebenfalls behilflich sein."

Der Security-Mann runzelte die Stirn. "Stimmte mit dieser Frau etwas nicht? Glauben Sie, diese Leder-Lady hat Mister Reilly auf dem Gewissen?"

"Das wissen wir nicht", erklärte ich sachlich. "Auf jeden Fall ist sie eine wichtige Zeugin."

*


"Wenn Sie mich fragen: Das kling doch sehr einleuchtend", meinte Mr. McKee später, als wir in seinem Büro saßen. "Diese Carla wurde von den Drahtziehern des Überfalls auf Reilly angesetzt, um ihm die Passwörter abzuluchsen. Langsam setzt sich das ganze Puzzle Stück für Stück zusammen..."

"Zu dumm, dass wir noch nicht die wirklich wichtigen Teile haben", meinte Milo.

Von Walid Kerim und seinem unbekannten blonden Komplizen gab es bislang keine Spur. Sie schienen wie vom Erdboden verschluckt zu sein.

"Was ist eigentlich mit dem Kerl, der in dem Wagen saß, in die Bazooka gefunden wurde?", erkundigte ich mich.

Mr. McKee machte eine wegwerfende Handbewegung.

"Die Kollegen in New Jersey haben ihn laufenlassen."

"Was?"

"Er war nur ein Anhalter, Jesse. Er hatte mit der Sache nichts zu tun. Nur der Fahrer steckte mit drin. Und der ist bei der Schießerei, die er vom Zaun gebrochen hat, gestorben. Aber zu dem Toten kann Max etwas mehr sagen."

Agent Max Carter blätterte in seinem Dossier herum, das vorwiegend aus Compterausdrucken bestand. "Der Tote besaß einen Führerschein, der auf den Namen Jay Wilbur lautete.

Eine schlechte Fälschung. Sein wirklicher Name war Kevin Fernandez. Ein Mann für's Grobe, wurde wegen mehrerer Raubüberfälle bereits steckbrieflich gesucht. Das war ganz bestimmt keiner der Köpfe dieses Überfalls. Dazu war die Sache einfach zu gut geplant."

"Aber Fernandez hat früher mal für Guy Carini als Leibwächter gearbeitet", gab Ron Figueira, unser Falschgeldspezialist zu bedenken.

"Wer ist Carini?", fragte ich.

"Ein Buchmacher aus East Harlem", erläuterte Figeira. "Allerdings betreibt er noch diverse Nebengeschäfte, von denen die meisten illegal sein dürften. Insbesondere besteht der Verdacht, dass er seine Finger in der Falschgeldszene hat. Wettbüros sind doch ein idealer Ort, um Blüten reinzuwaschen."

"Der Spur sollten wir nachgehen", meinte Mr. McKee. "Insbesondere wäre interessant, ob es auch eine Verbindung von Walid Kerim zu diesem Buchmacher gibt!"

"Checke ich ab", versprach Max Carter von der Fahndungsabteilung.

Mr. McKee wandte sich nun an Medina und Caravaggio.

"Was ist mit unseren Informanten?", fragte der Chef des FBI-Districts New York im Rang eines Special Agent in Charge dann.

"Nichts." Clive Caravaggio hob hilflos die Hände. "Niemand weiß was, jeder wundert sich über die Dreistigkeit der Täter. Und zum Verkauf angeboten wurden die Platten vermutlich auch noch nicht, sonst hätte das längst die Runde gemacht."

"Das hoffst du", warf Orry ein.

Clive verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.

"Ich bin eben immer ein Optimist."

*


Fast anderthalb Stunden verbrachten wir damit, zu telefonieren. Dann hatten wir den Taxifahrer ermittelt, der Carla Raines abgeholt hatte.

Wir trafen uns mit ihm am Times Square.

"Klar, erkenne ich die Lady wieder", meinte er nachdem wir ihm das Phantombild gezeigt hatten. "Kommt nicht so häufig vor, dass ich Gäste mit so kurzem Rock habe! Gott sei Dank! Sonst würde ich wohl öfter einen Unfall bauen."

"Wohin ging die Fahrt?", fragte Milo.

Der Taxifahrer gab uns eine Adresse in der Lower East Side.

"Ich nehme an, dass sie dort wohnt."

"Woraus schließen Sie das?", hakte ich nach.

"Na, was hätte sie dort sonst wohl suchen sollen? Das ist ein großer Wohnkomplex mit Apartments. Keine Luxusbuden, eher was für die Mittelklasse."

Wir machten uns auf den Weg.

Carla Raines' Wohnung lag im zehnten Stock. Vom Verwalter ließen wir uns den Schlüssel geben. Als wir ihm Carlas Phantombild zeigten, zuckte er nur die Schultern.

"Wissen Sie, hier kennt eigentlich niemand den anderen", meinte er. "Die Bewohner der Apartments wechseln häufig. Es sind vor allem Leute, die vorübergehend in New York zu tun haben oder übergangsweise hier wohnen..."

Eine ideale Adresse für jemanden wie Carla, dachte ich. Für jemanden, der nicht auffallen will!

Wir betraten die Wohnung.

Die Möblierung war sparsam und preiswert. Die Regale waren leer. Die Schränke ebenfalls.

"Ich fürchte, wir kommen zu spät", kommentierte Milo das Bild, das sich uns bot. "Miss Raines scheint es vorgezogen zu haben, hier auszuziehen."

"Trotzdem sollten wir den Erkennungsdienst das Apartment unter die Lupe nehmen lassen", meinte ich.

"Ein Strohhalm, Jesse. Mehr nicht."

"Und wenn schon."

Ich ging ins Bad. Auch das war penibel gereinigt worden.

Gerade so, als wollte es die Leder-Lady dem Erkennungsdienst besonders schwer machen.

*


Das MEGAMOON war in der Nacht ein laserlichtdurchfluteter Nobel-Schuppen. Eine In-Disco der Superlative, in der an nichts gespart worden war.

Jetzt, mitten am Tag, gingen hier die Lieferanten ein und aus.

Putzkolonnen wienerten den Boden spiegelblank.

Walid Kerim hatte den Kragen seiner Lederjacke hochgeschlagen.

"Wir stecken ganz schön im Dreck, was?", meinte indessen der Blonde.

"Keine Panik", sagte Kerim.

"Du hättest mich die beiden G-men doch abknallen lassen sollen..."

"...was du ja um ein Haar auch noch gemacht hättest, du Narr", knurrte Kerim. "Weißt du, was auf Polizistenmord steht? Im Staat New York ist dir dann die Giftspritze ziemlich sicher."

Am Eingang des MEGAMOON stand ein breitschultriger Glatzkopf, der irgendwann mal mit einem Messer frisiert worden sein musste. Jedenfalls zog sich eine ziemlich hässliche Narbe quer über die Rundung seines kahlen Schädels.

"Halt, was wollt Ihr?", knurrte er, als Kerim und der Blonde versuchten, durch die Tür zu gehen. "Der Betrieb beginnt erst heute Abend. Aber ob ich euch dann reinlasse, weiß ich noch nicht. Wir sprechen eigentlich ein anderes Publikum an."

"Wir werden erwartet", sagte Kerim.

"Ach, was."

"Wir sind mit Mr. Carini hier verabredet, also jetzt lassen Sie uns rein!"

Das Gesicht des Glatzkopfs blieb unbewegt.

"Einen Moment", sagte er dann. "Ihr wartet hier!"

Er ging ins Innere des MEGAMOON und kehrte nach zwei Minuten zurück. Mit einer ruckartigen Kopfbewegung bedeutete er den beiden, ihm zu folgen.

Sie durchquerten die Nobeldisco, gingen vorbei an der Bar.

Der Kahlkopf führte sie durch eine Seitentür. Ein halbdunkler, schmaler Flur folgte, bis sie an eine weitere Tür gelangten.

Der Kahlkopf klopfte an.

"Herein", kam es heiser von drinnen.

Der Kahlkopf öffnete die Tür.

Kerim und der Blonde traten ein. Der Kahlkopf blieb hinter ihnen und schloss die Tür.

Ein Mann mit schwarzem, pomadegetränktem Haar saß hinter dem großen Schreibtisch. Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt und eine dicke Havanna im Mund stecken. Rechts und links standen zwei baumlange Bodyguards mit kantigen Gesichtern.

"Mr. Carini", entfuhr es Kerim. In seinem Tonfall schwang fast so etwas wie Ehrfurcht mit.

Carini blies Kerim den Rauch seiner Havanna entgegen.

"Ihr seid in Schwierigkeiten", stellte Carini fest.

"Wir können unser Gesicht nirgendwo sehen lassen", erläuterte Kerim. "Vor meiner Wohnung stehen Zivilfahnder vermutlich vom FBI - die nur darauf warten, dass ich dort wieder auftauche. Wir können nirgends hin..."

"Ja, dumm gelaufen, Kerim", sagte Carini kalt.

Kerim streckte die Hand aus und deutete mit dem Zeigefinger auf Carini.

"Sie müssen uns helfen, Mr. Carini."

"Ihr habt doch genug an der Sache verdient, oder etwa nicht? Ich habe euch euren Anteil auf ein Schweizer Nummernkonto überweisen lassen! Ganz so, wie ihr das wolltet."

"Da können wir im Moment nicht dran. Was glauben Sie, was passiert, wenn wir eine Kreditkarte benutzen oder in eine Bank spazieren, um uns etwas überweisen zu lassen."

Carini zuckte die Achseln. "Ein gewisses Risiko, das gebe ich zu", meinte er. "Aber so stadtbekannt seid ihr nun auch nicht!"

Der Blonde wurde dunkelrot.

"Jetzt hören Sie mir mal gut zu", knurrte er. "Von Leuten wie uns lassen Sie sich die Kastanien aus dem Feuer holen, die Sie dann für viel Geld verscherbeln - und zum Dank lassen Sie uns dann im Regen stehen. Haben Sie sich mal überlegt, was passiert, wenn der FBI uns in die Finger kriegt? Man wird uns ein Angebot machen, denn die können sich ausrechnen, dass wir mit den Druckplatten nichts anfangen können..."

Der Blonde machte einen Schritt nach vorne. Eine hektische Bewegung folgte. Seine Hände wurden zu stahlharten Fäusten.

Die Knöchel wurden weiß, so sehr presste er sie zusammen.

Dann erstarrte er mitten in der Bewegung.

Die beiden Leibwächter von Mr. Carini hatten blitzschnell Automatik-Pistolen unter ihren Jacketts hervorgerissen und durchgeladen.

"Schön ruhig", sagte Mr. Carini. Er nahm die Füße vom Tisch und beugte sich etwas vor. Dann nahm er die Havanna aus dem Mund. "Jetzt hört mir mal gut zu, ihr Zwei. Ich mag es nicht, wenn ich unter Druck gesetzt werde! Kapiert? Ich mochte schon die Art und Weise nicht, in der ihr am Telefon gekommen seid! Und wenn das gerade eine Drohung sein sollte..." Er zerdrückte die Havanna im Aschenbecher, obwohl sie nicht einmal zur Hälfte aufgeraucht war. Ihm war offenbar gründlich der Appetit darauf vergangen. "Vor allem mag ich es nicht, hier im MEGAMOON gesehen zu werden... Es muss ja nicht jeder wissen, dass der Laden zu zwei Dritteln mir gehört. Das gibt nur Ärger mit der Konkurrenz..."

"Ach, Sie hätten sich also lieber mit uns in einem ihrer Wettbüros getroffen, was Carini", versetzte der Blonde voller Ironie. Kerim stieß ihn an.

Carinis Gesucht wurde dunkelrot.

"Es ist ja wohl nicht gerade die feine Art, wenn mich jemand mitten in der Nacht aus dem Bett klingelt und mir sagt: 'Wenn Sie nicht wollen, dass wir auspacken, treffen wir uns morgen Mittag im MEGAMOON!'"

"Mr. Carini, wir brauchen Hilfe", sagte Kerim dann relativ ruhig.

Carini lächelte wie ein Hai.

"Okay, das sehe ich ein. Dann legt als erstes eure Waffen hier auf den Tisch."

Der Blonde wirkte etwas irritiert.

Carini zischte: "Die sind heiß, Mann! Geht das nicht in deinen Schädel, Jespers?"

Der Blonde erhob sich.

Kerim holte indessen seine Uzi unter der Jacke hervor und legte sie auf den Tisch. Der blonde Jespers folgte einem Beispiel.

"Ich werde dafür sorgen, dass diese Dinger am Grund des Hudsons verrosten. Das Notebook, mit dem ihr in die EDV von McGordon Inc. eingedrungen seid, ist in den Händen des FBI?"

"Ja", gab Jespers kleinlaut zu.

"Bedeutet das ein Problem, Jespers?"

"Was weiß ich."

"Na, Kerim hat Sie mir doch als große Computerkapazität vorgestellt! Also spielen Sie nicht den Ahnungslosen. Wenn es Ärger geben könnte, weiß ich das lieber im Voraus."

"Es gibt keine Spur, die zu Ihnen hinführt, Mr. Carini", erklärte Jespers. "Das ist es doch, was Sie meinen."

"Ja, genau." Carini öffnete die Schublade des Schreibtisches. Zwei Bündel mit Geldscheinen warf er lässig auf den Tisch.

"Ihr wolltet etwas Handgeld. Hier, bedient euch."

"Das reicht nie im Leben", rief Jespers. "Wir brauchen Papiere und..."

"Es ist für alles gesorgt", erklärte Carini. "Dies ist lediglich ein Taschengeld, um die erste Zeit zu überbrücken. Ich sorge für alles andere. Ihr bekommt Papiere und werdet außer Landes gebracht. Irgendwelche Einwände?"

Kerim atmete tief durch.

"Nein."

"Na, fein!"

"Wann geht es los?"

"Jetzt gleich. Im Hinterhof steht ein Wagen bereit, der euch an einen Ort bringt, an dem euch niemand finden wird..."

*


Wir befanden uns noch in Carla Raines Apartment, als der Anruf von der Zentrale kam. Max Carter von der Fahndungsabteilung meldete sich.

Er hatte inzwischen abgecheckt, ob es einen Zusammenhang zwischen Walid Kerim und Guy Carini gab.

Es gab ihn.

Carini hatte vor drei Jahren eine Kaution für Kerim bezahlt.

"Fernandez, der Kerl mit der Bazooka, war mal Carinis Leibwächter. Und jetzt Kerim! Das kann kein Zufall sein", war Milo überzeugt.

Ich fragte mich, welche Rolle Carla Raines in der ganzen Sache eigentlich spielte. Aber was die geheimnisvolle Leder-Lady anging, kamen wir im Moment nicht weiter. Dafür hatte sie gesorgt. Und zwar auf eine Weise, die für meinen Geschmack deutlich über das hinausging, was man einem gewöhnlichen Callgirl zutrauen konnte, das irgendein Fädenzieher im Hintergrund auf den armen Nathan Reilly angesetzt hatte, um ihm die Passwörter abzuluchsen.

*


Das Wettbüro lag an der 111.Straße in East Harlem, einem Stadtteil in dem Puertoricaner und Einwanderer aus der Karibik dominierten. Als wir nach Guy Carini fragten, wurden wir in ein Hinterzimmer geführt.

Ein dicklicher, kleiner Mann mit dunklem Teint saß uns gegenüber und kraulte einen Rottweiler.

Er sah sich eingehend unsere Dienstausweise an, dann deutete er auf die protzigen Ledersessel. "Bitte setzen Sie sich, Gentlemen. Möchten Sie etwas zu trinken?"

"Nein danke", erwiderte ich.

"Es tut mir leid für Sie, aber Mr. Carini ist zur Zeit nicht im Haus."

"Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?"

"George Al-Malik", erwiderte unser Gegenüber. "Ich bin Mr. Carinis Partner."

"Was hat Mr. Carini denn dazu bewogen, einen Partner mit ins Geschäft zu nehmen?", fragte ich.

Al-Maliks Lächeln war kalt und geschäftsmäßig.

"Er brauchte Geld."

"Will er expandieren?"

"Darf ich Ihren Ausweis nochmal sehen? Ich möchte mich vergewissern, ob da statt FBI nicht vielleicht der Stempel der Finanzbehörde zu sehen war? Die Praktiken ehrbarer Geschäftsleute dürften Sie kaum interessieren, Mister...?"

"Trevellian", sagte ich. Ich holte drei Bilder aus der Jackettinnentasche. Eins zeigte Walid Kerim, das andere Kevin Fernandez. Außerdem noch ein Phantombild des unbekannten Blonden. "Kennen Sie einen dieser Männer?"

"Tut mir leid, aber meine Augen."

"Sie haben überhaupt nicht richtig hingesehen, Mr. Al-Malik."

"Was ist mit diesen Leuten?"

"Wir wissen, dass sie auf die eine oder andere Weise mit dem Überfall auf den Transport der Dollar-Druckplatten zu tun haben, der im Moment Schlagzeilen macht."

"Ja,ja, ich habe davon gehört."

"Seit wann kennen Sie Carini?"

"Ich wüsste nicht, was Sie das angeht, Mr. Trevellian. Und da Sie offenbar nichts von mir wollen und sich Ihre Fragen nicht auf die gemeinsamen Geschäfte beziehen, die Mr. Carini und ich betreiben, betrachte ich unser Gespräch als beendet."

Ich deutete auf die Bilder.

"Zwei dieser Männer haben etwas mit Carini zu tun. Und es würde mich nicht wundern, wenn wir bei dem dritten auch noch eine Spur finden, die in diese Richtung weist. Vermutlich nur eine Frage der Zeit. Und wenn Sie nicht in diesen Strudel mit hineingerissen werden wollen, sollten Sie uns jetzt sagen, was Sie wissen."

In dieser Sekunde sprang die Tür auf.

Ein Mann mit zurückgekämmten, pomadedurchtränktem Haar trat ein. Im Gefolge hatte er zwei riesenhafte Leibwächter, die demonstrativ die Jacketts zur Seite schlugen, so dass man die Griffe ihrer Pistolen aus den Gürtel-Halftern herausragen sehen konnte.

"Gut, dass Sie da sind, Mr. Carini", sagte Al-Malik. Der Rottweiler zu seinen Füßen knurrte indessen. "Jetzt können Sie sich mit den beiden G-men hier herumschlagen und sich Löcher in den Bauch fragen lassen!" Al-Malik kraulte den Rottweiler. "Ganz ruhig", brummte er. Er sah mich an und grinste breit.

"Ich hoffe, er gehorcht Ihnen", sagte ich.

"Sein Name ist Kaatil", sagte Al-Malik. "Das ist arabisch und bedeutet 'Mörder'. Und er gehorcht mir aufs Wort, Mr. Trevellian. Da können Sie ganz unbesorgt sein."

Ich hob die Augenbrauen.

"Wie ich sehe, sind Sie ein Mann von ganz erlesenem Geschmack, Mr. Al-Malik."

"Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag, Mr. Trevellian. Und im übrigen hoffe ich, dass wir so bald nichts mehr miteinander zu tun bekommen."

Ich lächelte dünn und erwiderte: "Kann ich leider nicht versprechen."

"Gehen wir nach drüben, in mein Büro, Gentlemen", schlug Carini vor. "Und dann sagen Sie mir, was Sie zu sagen haben. Ich hoffe nur, dass das nicht allzu viel Zeit in Anspruch nimmt. Ich bin nämlich ein vielbeschäftigter Geschäftsmann und kein Staatsbediensteter mit Pensionsberechtigung!"

*


"Wohin fahren wir?", fragte Walid Kerim.

Der Fahrer der dunkle Limousine, die im Hinterhof des MEGAMOON auf sie gewartet hatte, trug eine Spiegelbrille und war stumm wie ein Fisch.

Der blonde Jespers saß hinten auf dem Rücksitz. Er drehte sich immer wieder nervös um. Kerim hatte hingegen auf dem Beifahrersitz platzgenommen.

"Kennt ihr euch so schlecht in New York aus?", sagte jetzt der Fahrer. Er lachte heiser. "Darf doch nicht wahr sein... Die Williamsburg Bridge führt nach Brooklyn..."

"Du kannst ja reden, Mann", knurrte Kerim.

"Aber du kannst nicht die Schnauze halten, was?"

"Hör zu, ich will wissen, wie es weitergeht."

"Erstmal machen wir Bilder von euch. Für die neuen Pässe. Mr. Carini hat einen Mann an der Hand, der hauptberuflich Maskenbildner am Broadway ist und der wird eure Visagen so verändern, dass ihr sie selbst nicht wiedererkennt. Und dann geht's so schnell wie möglich ab ins Ausland."

"Wohin?"

"Werdet ihr früh genug erfahren."

Die Limousine jagte die Williamsburg Bridge entlang, die in den Broadway mündete. Allerdings den Broadway von Brooklyn, der mit der gleichnamigen Theatermeile in Manhattan nichts zu tun hatte. Eine breiter Freeway, der sich wie eine gerade Linie durch die Stadtlandschaft zog.

"Ich habe das Gefühl, dass uns jemand folgt", meinte Jespers. "Schon eine ganze Weile..."

"Meinst du den champagnerfarbenen Mercedes?", fragte der Kerl mit der Spiegelbrille.

"Ja."

"Keine Sorge, Mann! Das sind unsere Leute. Die passen ein bisschen auf uns auf."

Die dunkle Limousine nahm eine Abfahrt. Der Mercedes folgte ihr. Dann ging es in immer kleinere Nebenstraßen, bis sie schließlich ein Gelände erreichten, das wie eine verkommene Industriebrache aussah. Ein halbes Dutzend Fabrikhallen standen nebeneinander. Zwei davon waren bereits zur Hälfte abgerissen. Hier war nichts los.

Die Limousine hielt an.

"Aussteigen, Amigos", sagte der Mann mit der Spiegelbrille. "Mein Job ist erledigt! Viel Glück!"

Kerim öffnete die Tür und stieg aus.

Jespers folgte seinem Beispiel.

Der Mann mit der Spiegelbrille trat auf das Gaspedal. Mit quietschenden Reifen brauste die Limousine davon und verschwand hinter der nächsten Ecke.

Aber der Mercedes blieb.

Er kam etwas heran.

Vier Männer saßen darin.

Auch sie hatte alle Spiegelbrillen auf. Die Haare waren dunkel, ihr Teint ebenfalls.

Sie stiegen aus.

Sie trugen dunkle Anzüge, wie zu einer Beerdigung.

Kerim hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Verdammt, dachte er. Was wird hier mit uns gespielt?

Dann ertönte ein dröhnendes Geräusch. Es wirkte geradezu ohrenbetäubend und schien aus einer der Hallen zu kommen.

"Mein Gott, was ist das?", rief Jespers.

"Verlier jetzt nicht wieder gleich die Fassung, Harry!", raunte Kerim dem Blonden zu.

Die Vierer-Gruppe der Spiegelbrillen-Träger kam auf sie zu.

"Kommen Sie mit uns", sagte einer von ihnen. Als er grinste, schimmerte ein Goldzahn hervor.

"Was ist da drinnen los?", wollte Jespers wissen.

Annähernd gleichzeitig rissen die vier ihre Waffen unter den Jacketts hervor. Automatische Pistolen vom Kaliber 45.

Kerim wusste nur zu gut, was deren Projektile für Löcher in menschliche Körper rissen.

"Schluss mit dem Gequatsche", knurrte der Kerl mit dem Goldzahn. "Vorwärts!"

*


Kerim und Jespers wurden in eine der Hallen hineingeführt.

Ein großer Betonmischwagen stand dort. Der Mischer war in Betrieb und drehte sich immer wieder. Daher kam der dröhnende Lärm.

Ein Mann stand daneben und bediente die Maschine.

Er war genauso gekleidet wie die vier Gorillas, die Kerim und Jespers hereingeführt hatten. Sein tausend Dollar-Anzug war entschieden zu fein, um damit auf den Bau zu gehen.

"Was soll das?", rief Kerim.

Der Mann mit dem Goldzahn lachte.

"Stellt euch da vorne vor die Grube!", befahl er.

Kerim sah die Grube.

Vielleicht hatte man dort früher Sattelschlepper gewartet oder etwas ähnliches.

"Wir werden dafür sorgen, dass euch keiner findet", sagte der Mann mit dem Goldzahn.

"Diese Hallen werden doch abgerissen", rief Kerim verzweifelt durch den Lärm hindurch, den der Betonmischer verursachte.

Der Mann mit dem Goldzahn grinste.

"Natürlich", gab er zu. "Aber erst, wenn der neue Eigentümer wieder flüssig ist und das kann ein paar Monate dauern. Außerdem - die Betonsockel sollen bestehen bleiben. Kein Mensch wird die aus der Erde reißen. Ihr werdet also im Fundament eines nagelneuen Bauwerks liegen - was immer das dann auch für eine Hütte sein mag." Er hob die Waffe. "Seit so freundlich und steigt die Leiter hinab. Wir wollen keine Verunreinigungen außerhalb der Grube hinterlassen, okay?"

In dieser Sekunde verlor der blonde Jespers die Kontrolle.

Er stürzte sich mit bloßen Händen auf den Mann mit dem Goldzahn.

Der drückte ab.

Der Schuss traf Jespers im Oberkörper und stoppte ihn.

Das Gesicht war wutverzerrt. Eine zweite Kugel gab ihm einen Ruck nach hinten. Mit einem heiseren Schrei auf den Lippen taumelte er in die Grube. Auf dem Betonboden blieben rote Flecken zurück.

Kerim hatte sich indessen geduckt. Aber schon blitzten die Mündungsfeuer an den dunklen Pistolenläufen der Automatiks auf. Die Schüsse konnte man auf Grund des Lärms, den der Betonmischer verursachte, kaum hören.

Die Projektile zerfetzten Kerims Lederjacke. Ein Stück des Futters flog in Form kleiner weißer Wattebällchen durch die Luft und segelte langsam herab. Ein Ruck ging durch Kerims Körper, ehe auch er in die Grube stürzte.

Der Mann mit dem Goldzahn atmete tief durch.

Er deutete mit dem Lauf seiner Waffe auf die Blutflecken und wandte sich dann an seine Leute. "Die Putzfrau werdet ihr spielen, kapiert?"

Er machte dem Mann am Betonmischer ein Zeichen.

Dann trat er an den Rand der Grube heran.

Das zufriedene Lächeln, das sich gerade erst auf seinem Gesicht breitgemacht hatte, gefror, als er hinabblickte.

Direkt in den Lauf einer Pistole hinein! Noch ehe er seine eigene Waffe abdrücken konnte, blitzte es da unten grellrot auf. Die Kugel trat durch das rechte Glas seiner Spiegelbrille. Einen Sekundenbruchteil später sackte er in sich zusammen und rutschte in die Grube.

*


Walid Kerim drückte sich an die nasskalte Betonwand, während neben ihm der Körper seines Gegners schwer zu Boden fiel. In seltsam verrenkter Haltung blieb er liegen.

Kerim beugte sich vor, um dem Toten die Waffe abzunehmen.

Die kleinkalibrige Pistole, die er aus einem kleinen Futteral herausgezogen hatte, das sich in seinem Stiefelschaft befand, reichte kaum aus, um sich diese Killer auf Dauer vom Leib zu halten.

Kerim drückte sich in eine Ecke der Grube, in jeder Hand eine Waffe. Sobald sich von oben irgend etwas zeigte, würde er losfeuern.

Seine Lederjacke hing ihm in Fetzen vom Oberkörper.

Aber die kugelsichere Weste, die er darunter trug, hatte das meiste von dem, was auf ihn abgefeuert worden war, abgehalten. Lediglich ein Streifschuss hatte ihn an der Schulter erwischt. Aber das war halb so schlimm.

Sein Komplize Jespers hatte es immer abgelehnt, mit schusssicherer Weste herumzulaufen. "Es sieht einfach entsetzlich aus", hatte er gemeint. Wer schön sein will, muss früher sterben, dachte Kerim jetzt. Er hatte zweimal geradezu unwahrscheinliches Glück gehabt. Zuerst, als die Killer nicht auf seinen Kopf, sondern auf seinen Körper hielten und dann zum zweiten Mal, als er beim Sturz in die Grube auf den toten Jespers gefallen war.

Andernfalls hätte Kerim sich vermutlich alle Knochen gebrochen.

Und jetzt wartete er.

Es war ein Pokerspiel.

Wer sich zeigte, bekam eine Kugel in den Kopf. Das war die einzige Regel.

Kerim umklammerte beide Waffen mit festem Griff. Die Knöchel an seinen Händen traten dabei weiß hervor.

Im nächsten Moment erzitterte der Boden zu seinen Füßen.

Es dröhnte gewaltig. Der Betonmischer, ging es ihm durch den Kopf. Er näherte sich... Und langsam dämmerte Kerim, dass die Killer wohl nichts anderes vorhatten, als ihn lebendig zu begraben!

Der Mischer kam heran.

Wie ein riesiges Ungetüm tauchte er oben am Grubenrand auf.

Die in der Mischung enthaltenen Steine klackerten an der metallenen Außenwand. Die breiten Doppelreifen fuhren bis an die Kante. Kerim presste sich an der Wand entlang, bis zu der Leiter, an der er und Jespers eigentlich hätten heruntersteigen sollen. Ein Schwall von Beton rutschte in die Grube. Die Mischung war ziemlich flüssig. Der Boden war innerhalb von wenigen Augenblicken bedeckt. Es war nur eine Frage von Augenblicken, wann die beiden Leichen endgültig begraben sein würden.

Kerim zog die Füße aus dem weichen Beton und stieg die erste Stufe der Leiter hinauf. Er fragte sich, wie hoch die Grube wohl abgefüllt sein würde, wenn der Mischer seine gesamte Ladung abgelassen hatte. Aber selbst wenn er nur bis zu den Knien im Beton stand, konnte er dort nicht bleiben.

Sonst stand er innerhalb kurzer Zeit buchstäblich wie angewurzelt da. Beton konnte verflucht schnell trocknen...

Kerim sah einen seiner Gegner über den Grubenrand auftauchen. Er zögerte keine Sekunde und feuerte.

Kerim war ein guter Schütze.

Auf der Stirn seines Gegners bildete sich ein roter Punkt, der rasch größer wurde. Der Killer knallte zu Boden.

Kerim spürte den Beton an seinen Füßen. Er stieg noch eine weitere Stufe hinauf. Die Kleinkaliberwaffe steckte er hinter seinen Hosenbund, um sich mit einer Hand festhalten zu können. Immer höher kam der Beton. Ein graues Leichentuch für Jespers und den Mann mit dem Goldzahn, dessen Hand gerade noch an der Oberfläche schwamm.

Jetzt setzte Kerim alles auf eine Karte.

Er kletterte die Leiter hinauf, hechtete dann sofort zu Boden und rollte sich herum, während einige Schüsse über ihn hinwegpeitschten. Kerim riss die Waffe hoch, die er dem Mann mit dem Goldzahn abgenommen hatte. Er feuerte. Ein heiserer Schrei mischte sich mit dem Getöse des Betonmischers. Kerim hatte einen seiner Gegner erwischt. Der Mann klappte zusammen wie ein Taschenmesser und blieb reglos liegen. Die anderen duckten sich und feuerten auf ihn.

Kerim sprang auf und hatte einen Sekundenbruchteil später hinter dem Betonmischer Deckung gefunden. Er spurtete los, riss die Beifahrertür des Mischers auf und feuerte sofort.

Ohne zu zielen, ohne zu schauen, ob überhaupt jemand hinter dem Steuerrad saß.

Der Fahrer sackte zu Boden.

Kerim duckte sich als ein Schuss die Frontscheibe zertrümmerte und feuerte sofort zurück. Dann durchsuchte er den Gürtel des Fahrers nach dessen Waffe. Er zog sie aus dem Gürtelholster, öffnete die Tür und schob den Toten hinaus.

Der leblose Körper kam mit einem dumpfen Geräusch auf dem harten Betonboden auf.

Kerim rutschte hinter das Steuerrad. Er löste die Handbremse und ließ den Motor aufheulen. Ein Geschoss zischte dicht an ihm vorbei. Kerim fuhr los. Er blieb in geduckter Haltung und feuerte blindlings durch die zerstörte Frontscheibe hindurch. Hier und da sah er seine Gegner in Deckung springen.

Kerim gab Vollgas.

Er fuhr einfach geradeaus, auf das große Tor zu.

Ein furchtbares, metallisches Geräusch ertönte bei der Kollision. Die Halterungen des Tores brachen aus dem Mauerwerk heraus. Dann hatte Kerim es geschafft. Er war draußen. Schüsse peitschten. Die Hinterreifen des Betonmischers zerplatzen. Kerim riss die Tür auf, sprang hinaus. Einer seiner Gegner tauchte beim Tor auf. Kerim feuerte, traf aber nicht.

Der Killer ging in Deckung, während Kerim auf den Mercedes zuspurtete. Dabei feuerte er unablässig in Richtung des Tors, bis die Waffe leergeschossen war. Dann warf er sie weg. Er erreichte den Mercedes, hechtete hinter den Kotflügel und holte die Waffe hervor, die er dem Fahrer des Mischers abgenommen hatte. Geduckt gelangte er zur Fahrertür des Mercedes, öffnete sie und sprang hinein. Dann startete er. Die Killer hatte den Schlüssel steckenlassen. Wer hätte ihnen auch den Wagen stehlen sollen? Sicher nicht der Mann, dem sie hier ein kaltes Grab bereiten wollten.

Kerim ließ den Mercedes mit quietschenden Reifen losjagen.

Er schlug einen Haken, riss das Lenkrad herum und hörte im Hintergrund noch ein paar Schüsse, eher er hinter der nächsten Halle verschwunden war.

*


"Hören Sie zu, Mr. Trevellian, das wird Konsequenzen für Sie haben", ereiferte sich Guy Carini. "Sie belästigen mich hier und beschuldigen mich auf eine Weise, die wirklich..."

"Niemand hat Sie beschuldigt, Mr. Carini", stellte ich klar. "Aber Sie werden doch verstehen, dass wir hellhörig werden, wenn sich herausstellt, dass zwei Männer, die unzweifelhaft an dem Überfall auf den Druckplatten-Transport beteiligt waren, Verbindungen zu Ihnen haben."

"Sie können mir nichts vorwerfen", rief Carini. "Meinetwegen können Sie gerne meine Läden nach diesen Druckplatten durchsuchen. Sie werden Sie nicht finden."

"Das glauben wir sofort", warf Milo ein.

Carini verzog das Gesicht. Wir hatten uns mit ihm in ein weiträumiges Büro zurückgezogen. An der Wand hingen großformatige Bilder von Künstlern, die gerade Furore machten. Carinis Geschäfte schienen nicht schlecht zu gehen.

"Bis wann war Kevin Fernandez bei Ihnen als Leibwächter beschäftigt?", fragte Milo.

"Was weiß ich?", fauchte Carini. "Das muss vor zwei, drei Jahren gewesen sein."

"Und Sie haben ihn seitdem nicht mehr gesehen?"

"Man läuft sich halt in einem Dorf wie New York City immer wieder über den Weg, G-man. Sie wissen doch, wie das ist."

Milo warf mir einen verzweifelten Blick zu. Was Carini anging, drehten wir uns immer wieder im Kreis. Und wir wussten genau, das wir gegen ihn nichts in der Hand hatten. Kein Richter in den USA hätte uns einen Durchsuchungsbefehl ausgestellt, von einem Haftbefehl ganz zu schweigen.

"Hören Sie, ich habe ein paar Fehltritte hinter mir. Aber ich bin seit langem sauber. Sie können mir nichts nachweisen. Nicht das geringste." Carini hob die Hände. "Ich bin ein ehrbarer Geschäftsmann mit großem Einfluss. Ein Einfluss, der bis in höchste Stellen reicht."

"Wir haben Ihre Drohung gut verstanden", sagte Milo. "Aber so leicht lassen wir uns nicht einschüchtern."

"Das war keine Drohung."

"Ach, nein? Hörte sich in meinen Ohren ganz so an."

"Es war nur eine Beschreibung der Tatsachen. Und wenn Sie klug sind, Mr. Tucker, dann ziehen Sie und Ihr Kollege die Konsequenzen daraus... Man begegnet sich immer zweimal, G-man! Denken Sie daran!"

"Ich denkew an nichts anderes, Mr. Carini."

"Das freut mich zu hören."

"Sie haben vor einiger Zeit für Walid Kerim eine Kaution gestellt. Warum?", fragte ich dann sachlich.

Carini seufzte.

"Mein Gott, helfen Sie mir ein bisschen auf die Sprünge. Meinen Sie, ich habe solche Sachen noch jahrelang im Kopf?"

"Es war vor drei Jahren. Kerim war wegen schwerer Körperverletzung angeklagt."

"Ich glaube, das war einfach nur ein Gefallen, den ich jemandem getan habe."

"Wie kamen Sie dazu, Kerim einen Gefallen zu tun?"

"Nicht Kerim", behauptete Carini. "Den kannte ich gar nicht."

"Sondern?"

"Es ging um eine Frau..." Carini sah mich an und zögerte.

Dann kratzte er sich am Hinterkopf. "Ich lernte sie in einer Bar kennen. Leila Kerim. Walid ist ihr Bruder. Und als der in Schwierigkeiten geriet, habe ich ihm aus der Patsche geholfen. Leila hat mich darum gebeten. Ich konnte ihr damals einfach nichts abschlagen..."

"Haben Sie noch Kontakt zu dieser Leila?", fragte ich.

"Nein. Sie war eines Tages einfach verschwunden." Er zuckte die Achseln. "Wie auch immer, Mr. Trevellian, ich denke n Ihre Frage ist damit hinreichend geklärt!"

*


"Bringen Sie mich zum Hotel Plaza Athenee in der 64. Straße Ost, Hausnummer 37", sagte Carla Raines.

"In Ordnung, Ma'am", antwortete der Taxifahrer. "Darf ich Ihr Gepäck nehmen."

"Nein, das nehme ich lieber selbst."

"Wie Sie wollen."

Er zuckte die Schultern. Sie stiegen ein.

Als Leder-Lady hatte sie die öffentlichen Toiletten betreten. Und in einem gänzlich anderen Outfit war sie eine Viertelstunde später zurückgekehrt und hatte nach dem Taxi gerufen. Sie trug jetzt ein konservativ geschnittenes Kostüm, mit dem sie sich in jeder Bank hätte bewerben können.

Das Haar trug sie streng nach hinten frisiert. Das Make-up war dezent.

Der Taxifahrer summte ein Lied mit, das gerade im Radio lief.

Carla saß auf dem Rücksitz.

Sie hatte nur einen kleinen Handkoffer bei sich und eine Handtasche aus dunklem Leder. Das einzige Teil, was von ihrem vorhergehenden Outfit geblieben war.

Sie nahm die Handtasche und öffnete sie, während sich das Taxi durch den dichten New Yorker Verkehr den Broadway hinaufquälte.

Sie holte einen Pass aus der Tasche heraus, schlug ihn auf.

Ihr eigenes Foto blickte sie an. Carla Raines, amerikanische Staatsbürgerin. So stand es dort.

Sie lächelte.

Und dabei ließ sie langsam das Seitenfenster etwas hinabgleiten.

Carla Raines ist tot, dachte sie. Sie existiert nicht mehr.

Sie warf den Pass hinaus. Er segelte zu Boden. Ein Lieferwagen zermalmte ihn unter seinen Vorderreifen.

Aus der Tasche holte sie dann mit einem in sich gekehrten Lächeln einen zweiten Pass heraus.

Ein Schmunzeln flog über ihre Lippen, als sie den Namen sah, der dort eingetragen war.

Rebecca Smith.

Biederer ging es wohl kaum, dachte sie. Aus dem männermordenden Leder-Vamp war im Handumdrehen eine junge All-American Business-Frau geworden, wie man sie in den Banken- und Geschäftsvierteln des Big Apple zu hunderten antreffen konnte.

Das Foto, das in dem Pass enthalten war, passte zu ihrer jetzigen Erscheinung nahezu perfekt.

Ihr Schmunzeln veränderte sich, gefror zu einem eisigen Zug, der Entschlossenheit ausdrückte.

Ein paar Tage noch, ging es ihr durch den Kopf. In ein paar Tagen war alles vorbei... Jetzt darf kein Fehler mehr passieren, Der Erfolg liegt in greifbarer Nähe...

Die Frau, die sich jetzt Rebecca Smith nannte, legte den Pass zurück in die Handtasche.

Neben den dunklen, schlanken Lauf der Automatik-Pistole.

*


Milo und ich fuhren nach Yonkers. Unsere Kollegen hatten dort Angehörige von Walid Kerim ausfindig gemacht und es war ja schließlich möglich, dass er Kontakt zu ihnen aufnahm.

Ein Onkel, Michael Habbash, lebte dort und betrieb ein Fischrestaurant. Dort arbeitete auch Kerims Mutter. Nachdem ihr Mann bei einem Verkehrsunfall uns Leben gekommen war, hatte sie wieder geheiratet, so dass sie jetzt nicht mehr den Namen Kerim trug. Sie hieß jetzt Allison. Als wir sie in ihrem Vorstadt-Bungalow aufsuchten, war sie allein.

"Kommen Sie herein", sagte Mrs. Allison, nachdem sie sich unsere Ausweise eingehend angesehen hatte.

Sie führte uns ins Wohnzimmer.

Auf einer Kommode bemerkte ich ein Bild von Walid. Es schien schon etwas älter zu sein. Er hatte die Haare länger und sah im ganzem jünger aus. Aber er war unzweifelhaft jener Mann, dem wir im Hotel Blackwood begegnet waren.

"Mrs. Allison, wir suchen Ihren Sohn Walid", sagte ich ohne Umschweife.

"Ich weiß", sagte sie. "Ich sehe schließlich fern und lese Zeitung. Sein Bild war ja oft genug zu sehen..." Dann sah sie mich direkt an. Ihr Blick hatte etwas Schmerzvolles. Mrs. Allisons Haar musste irgendwann mal blauschwarz gewesen sein. Jetzt war es von silbrigen Strähnen durchwirkt. "Sie erwarten doch sicher nicht im Ernst, dass eine Mutter ihren Sohn verrät, oder? Also können Sie sich dieses Gespräch sparen..."

"Mrs. Allison..."

"Sehen Sie sich meinetwegen im Haus um, wenn Sie mir nicht glauben wollen. Walid ist nicht hier."

"Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?"

"Wir haben nicht mehr viel Kontakt", sagte sie. "Leider. Ich habe immer versucht, ihn zu beschützen. Ich habe versucht, ihn zu einem Menschen zu erziehen, der seinen Platz in diesem Land findet... Ich war wohl nicht sonderlich erfolgreich, Mr. Trevellian. Es tut weh, sich das eingestehen zu müssen. Es ist nicht das erste Mal, dass er Schwierigkeiten mit dem Gesetz hat... Und es wird auch nicht das letzte Mal sein."

"Er hat zusammen mit einem Komplizen wild um sich geschossen, eine Geisel genommen und diese brutal misshandelt. Außerdem war er zweifellos in der Vorbereitung eines Überfalls beteiligt, bei dem zwei Wachleute auf brutale Weise ums Leben kamen... Mrs. Allison, die Leute, für die ihr Sohn arbeitet sind eiskalt. Für die ist ein Menschenleben nichts wert. Soweit ich weiß, hat Walid bisher noch niemanden getötet. Wenn er sich jetzt den Behörden stellt und über seine Hintermänner Auskunft gibt..."

Sie unterbrach mich.

"Bemühen Sie sich nicht, Mr. Trevellian..."

"Sie sollten ihm das ausrichten, wenn Sie ihn sehen", erklärte ich ruhig.

Sie antwortete mir nicht. Ihre Arme hatte sie verschränkt.

Schließlich, nach einer längeren Pause, brachte sie dann heraus: "Ich habe schon lange keinen Einfluss mehr auf meinen Sohn. Tut mir leid, aber das ist die Wahrheit. Er jagt dem Geld hinterher wie die Motte dem Licht. Ich fürchte, Sie werden es ihm selbst sagen müssen, sobald Sie ihn finden..."

"Wann war er das letzte Mal hier?", fragte ich noch einmal.

"Vor zwei Wochen. Er war sehr guter Laune. 'Alles wird anders', hat er mir gesagt. Aber solche Anwandlungen hatte er öfter. Er kam mehr oder minder regelmäßig vorbei. Vorzugsweise dann, wenn mein Mann nicht da war. Die beiden haben sich nur gestritten. Walid hat mir des öfteren Geld zugesteckt."

"Vor zwei Wochen auch?"

"Ja."

Sie ging an eine Schublade, zog sie ein Stück heraus und holte zwei Bündel mit Geldscheinen. Sie warf sie auf den Wohnzimmertisch.

"Zwanzigtausend Dollar. Einfach so. Ich wollte sie nicht, aber Walid bestand darauf, dass ich sie nehme. Nehmen Sie sie ruhig mit, ich will dieses Geld nicht. Ich weiß nicht, wie viel Blut daran klebt."

"Hat er Ihnen irgend etwas darüber gesagt, woher das Geld kam?"

"Geschäfte, Mama, Geschäfte! Ich glaubte ihm kein Wort."

"Hatte er eine Freundin?", mischte sich jetzt Milo ein. "Irgendjemanden, der ihm nahestand?"

"Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. Einmal war er mit einer Frau hier. Vielleicht vor drei, vier Monaten."

"Erinnern Sie sich an den Namen?"

"Er nannte sie Leila. Ein arabischer Name. Er bedeutet Nacht..."

"Sie haben eine Tochter, die Leila heißt", stellte ich fest.

Mrs. Allison sah mich irritiert an. Ihre dunklen Augenbrauen bildeten jetzt eine Schlangenlinie. Sie schüttelte energisch den Kopf.

"Was für eine Tochter? Ich habe keine Tochter. Ich weiß nicht, wer Ihnen das erzählt hat, aber Walid ist das einzige Kind, das ich geboren habe - auch wenn ich mir gewünscht hätte, es wären mehr gewesen!"

Milo runzelte die Stirn. "Walid hat keine Schwester?", vergewisserte er sich.

Mrs. Allison schüttelte den Kopf. "Was soll diese Fragerei eigentlich?"

Milo und ich wechselten einen kurzen Blick.

Dann klärte ich sie auf. "Ein Mann namens Guy Carini behauptet, Walids Schwester gekannt zu haben..."

"Sie existiert nicht", beharrte Mrs. Allison.

"Dieser Leila zu gefallen hat Carini für Walid vor drei Jahren eine Kaution bezahlt", fuhr ich fort.

"Davon weiß ich nichts."

"Können Sie uns diese Leila beschreiben, mit der Ihr Sohn mal hier bei Ihnen war?"

Sie zuckte die Achseln. Dann wirkte sie plötzlich sehr nachdenklich. Sie zuckte die Achseln.

"Was soll ich sagen? Eine sehr hübsche Frau. Dunkelhaarig. Von den Augen konnte ich nichts sehen, sie hatte sie dauernd unter einer Sonnenbrille verborgen. Sie schien ein Faible für Lederklamotten zu haben. Wie ein Flittchen lief sie herum. Mit hohen Stiefeln und kurzem Rock..."

*


"Die Beschreibung dieser geheimnisvollen Leila könnte auch auf Carla Raines passen", stellte ich fest, als wir auf dem Rückweg von Yonkers nach Manhattan waren.

"Eine ziemlich vage Vermutung, Jesse. Findest du nicht?"

Milo blieb skeptisch. "Wenn du mich fragst, dann hat uns diese Fahrt nach Yonkers kein Stück weitergebracht..."

"Abwarten, Milo."

"Diese Leder-Lady lässt deine Fantasie nicht los, was?"

Ich zuckte die Achseln.

"Ich glaube einfach nicht, dass da jemand nur ein gewöhnliches Call-Girl angeheuert hat, um Reilly die Passwörter herauszukitzeln. Die Art, wie Sie ihn umgebracht hat..."

"Vermutlich umgebracht", korrigierte mich Milo. "Nicht ganz so so voreilig."

"Okay, wie du willst. Aber sieh dir nur an, wie sie in ihrem Apartment jegliche Spur verwischte, die uns irgendwie hätte weiterbringen können. Das sieht für mich sehr profimäßig aus."

"Du setzt allerdings voraus, dass sie wirklich selbst Reilly umgebracht hat und die Wohnung von ihr eigenhändig aufgeräumt wurde."

"Und? Was vermutest du, wer sie ist oder für wen sie arbeitet?"

"Guy Carini behauptet, sie in den letzten Jahren nicht gesehen zu haben..."

"Vorausgesetzt sie ist mit dieser Leila identisch, die sich als Kerims Schwester ausgegeben hat."

"Ja, das stimmt."

"Zu viele Wenns, Jesse. Da ist noch eine Menge, was wir nicht wissen."

"Immerhin sind wir uns doch wohl darüber einig, das dieser Carini eine zentrale Figur bei der Sache zu haben scheint."

"Das mag sein", gestand Milo mir zu. "Aber nach meinem Gefühl, muss da jemand dahinterstecken, der noch ein paar Nummern größer ist als Carini."

*


Im Hauptquartier versuchten wir per Computer etwas mehr über Carini und sein Umfeld herauszufinden. Insbesondere sein Geschäftspartner George Al-Malik interessierte uns. Al-Malik war Sohn christlich-libanesischer Einwanderer. Er betrieb eine Import/Export-Firma und war stiller Teilhaber an verschiedenen anderen Firmen.

Al-Malik war vor einigen Jahren mal wegen angeblichem Steuerbetrug in die Schlagzeilen geraten. Ansonsten hatte er eine weiße Weste.

"Diese Spur führt ins Nichts", war Milo überzeugt.

Das Telefon klingelte.

Ich nahm ab. Myrna aus der Telefonzentrale des FBI meldete sich.

"Hier ist ein Mann, der angeblich Angaben zu der Bazooka machen kann, die bei dem Überfall auf den McGordon-Transporter benutzt wurde", sagte sie.

"Stellen Sie durch, Myrna", erwiderte ich. "Ich möchte außerdem wissen, woher der Anruf kommt."

"Okay, Jesse."

Es knackte in der Leitung. Ich aktivierte indessen ein Aufnahmegerät, um das Gespräch mitzuschneiden.

"Hier Special Agent Jesse Trevellian. Bitte melden Sie sich", sagte ich dann, nachdem nur ein paar unbestimmte Hintergrundgeräusche zu hören waren und etwas, das mit einiger Phantasie wie das Atmen eines Menschen klang.

"Sie interessieren sich für eine Bazooka...", wisperte eine verzerrte Stimme.

"Wer sind Sie?", fragte ich.

"Das tut im Moment noch nichts zur Sache, Mr. Trevellian."

"Dann sagen Sie, was Sie wissen..."

"Nein, so einfach geht das nicht."

"Und wie haben Sie sich das gedacht, Mister?"

"Kommen Sie in Gallaghers Bar in der Seventh Avenue."

"Wann?"

"Jetzt. Und tanzen Sie nicht mit einem Riesenaufgebot an."

"Wie erkenne ich Sie?"

"Gar nicht. Ich erkenne Sie. Fragen Sie den Mixer, ob jemand eine Nachricht für Sie hinterlassen hat!"

Es machte klick.

Die Verbindung war unterbrochen.

"Wir müssen uns beeilen", meinte Milo, während er den Sitz seiner P226 überprüfte. Ich sprach noch kurz mit der Telefonzentrale. Das Gespräch war zu kurz gewesen, um es zurückverfolgen zu können.

*


In Gallaghers Bar war nicht viel Betrieb. Ich ließ den Blick durch den halbdunklen Raum schweifen und fragte mich, wer von den Anwesenden unser Mann war.

"Nun komm schon, sag deinen Spruch auf", raunte Milo mir zu.

Ich wandte mich an den Mixer, der gerade dabei war, eine seiner farbenprächtigen und sehr kunstvoll aussehenden Eigenkreationen fertigzustellen. Bei den schwungvollen Bewegungen, die er dabei mit den Flaschen anstellte, fragte man sich, wie es möglich war, dass überhaupt noch ein Tropfen des Inhalts in den Gläsern landete.

"Hat jemand eine Nachricht für mich hinterlassen?", fragte ich, laut genug, damit es die dezente Musik übertönte.

Der Mixer sah mich irritiert an.

"Wie bitte? Wir sind doch keine Nachrichtenbörse, Mann! Hier kann man was trinken."

"Es war ja nur eine Frage", erwiderte ich.

Milo und ich bestellten uns jeder einen Drink. Wir saßen an der Theke und warteten ab. Aber nichts geschah.

"Ich glaube fast, da wollte uns jemand auf den Arm nehmen", meinte Milo.

"Möglich", erwiderte ich.

"Wäre ja nicht das erste Mal, dass sich irgend so ein Wichtigtuer an einen spektakulären Fall dranhängt!"

Als wir die Drinks geleert hatten, beschlossen wir, zu gehen. Wir hatten bereits die Tür erreicht, da sprach uns jemand von hinten an. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich einen eher kleingewachsenen, hageren Mann in den mittleren Jahren, der ziemlich nervös wirkte.

"Mr. Trevellian? Nicht umdrehen. Gehen wir hinaus auf die Straße..."

Gemeinsam gingen wir ins Freie.

"Sie haben uns angerufen", stellte ich fest. Ich sah ihn an. "Jetzt packen Sie bitte aus!"

"Kommen Sie!"

Er blickte sich dauernd um, so als befürchtete er, beobachtet zu werden. Wir folgten ihm in eine enge Nebenstraße, die völlig zugeparkt war.

Dann blieb er plötzlich stehen.

"Wenn ich Ihnen den Namen eines Mannes liefere, der nicht nur eine Bazooka gekauft hat, sondern auch eine ganze Ladung weiterer Handfeuerwaffen. Waffen, die bei dem Überfall auf den Druckplatten-Transporter gebraucht wurden. Was würden Sie dann unternehmen?"

"Wie soll ich Ihre Frage verstehen?", fragte ich.

"Ich brauche zweierlei Garantien: Erstens, dass dieser Mann sofort verhaftet wird und zweitens, dass er nicht erfährt, von wem die Information stammt."

"Wir sind Special Agents des FBI - aber keine Richter oder Staatsanwälte", gab ich zu bedenken.

"Das weiß ich auch."

"Also, wir tun, was wir können. Wenn Gefahr für Ihr Leben besteht, können Sie in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden..."

"Und dann unter neuer Identität irgendwo neu anfangen?" Er schüttelte den Kopf. "Sie träumen, Trevellian. Das kommt nicht in Frage..."

"Wer sind Sie?", fragte ich. "Wir können Sie auch zur Feststellung Ihrer Personalien mit in die Ferderal Plaza nehmen."

"Sie glauben doch nicht, dass ich dann auch nur eine einzigen Ton sagen würde."

"Und Sie glauben doch nicht, dass wir uns hier mit vagen Andeutungen abspeisen lassen", mischte sich Milo ein.

Der Hagere atmete tief durch.

"Ich bin Frank Gettis. Mir gehört das MEGAMOON. Sie werden davon gehört haben. Eine der angesagtesten Discotheken zur Zeit..."

"Man hört so allerhand", wich ich aus.

"Vor einiger Zeit tauchte ein Mann namens Carini auf. Sie werden ihn kennen. Er zwang mich, ihm Anteile am MEGAMOON zu überlassen. Er ist jetzt stiller Teilhaber und bestimmt, wo es langgeht. Ich bin kaum mehr als ein Strohmann im eigenen Laden, Mr. Trevellian. Eine scheußliche Situation. Leute wie Guy Carini sind nicht besonders zimperlich, was die Wahl ihrer Mittel angeht, wenn Sie wissen, was ich meine."

"Ich denke schon. Und jetzt wollen Sie es ihm heimzahlen...", stellte ich kühl fest.

"Sagen wir es so, ich hätte nichts dagegen, wenn Guy Carini für einige Jahre von der Bildfläche verschwände und sich um andere Dinge kümmern müsste, als ein Discotheken-Imperium aufzubauen..."

Milo fragte: "Und was ist das nun für Material, das Sie uns anzubieten hätten?"

"Ein Videoband."

"Was zeigt es?"

"Guy Carini hat sich in einem Nebenraum des MEGAMOON mit einem Mann getroffen, den ich nicht kenne. Es wird für den FBI keine Schwierigkeit sein, dessen Identität zu ermitteln, wie ich annehme..."

"Und Sie haben dieses Treffen heimlich gefilmt?"

"Ja, ich habe eine entsprechende Anlage installiert. Carini hat das MEGAMOON ab und zu für solche Treffen missbraucht."

"Und Sie haben darauf gewartet, Munition zu finden, mit der Sie ihn dann irgendwann abschießen könnten!"

"Hart formuliert, Mr. Trevellian."

"Aber es trifft doch zu."

"Ich würde das als eine Art Selbstverteidigung sehen, Sir."

"Was wurde bei dem Treffen besprochen?"

"Carini orderte ein ganzes Waffenarsenal. Handfeuerwaffen, MPis, und auch eine Bazooka. Als ob er eine kleine Armee ausrüsten wollte. Natürlich alles Waffen, die nicht registriert sind, keine Nummern mehr haben und so weiter..."

"Geben Sie uns das Band. Dann sehen wir weiter."

Gettis lachte heiser.

"Wenn das so einfach wäre, hätte ich es Ihnen anonym zugesandt. Ich sagte doch, ich brauche Sicherheiten... Carini wird sofort Bescheid wissen, aus welcher Ecke diese Beweise kommen, wenn sie gegen ihn verwandt werden. Und dann lässt er mich über die Klinge springen."

Ich zuckte die Achseln.

"Der Besitz von Waffen ist im Staat New York leider nicht verboten. Und selbst wenn er in dem einen oder anderen Fall gegen Vorschriften verstoßen haben sollte, reicht das in keinem Fall, um Carini ans Leder zu kommen."

"Aber..."

"Vor Gericht wird das folgendermaßen aussehen: Da kauft Carini sich ein Waffenarsenal zusammen und ein ähnliches Arsenal wird wenig später bei einem Verbrechen verwendet. Das ist lediglich ein Indiz, aber kein Beweis. Es sei denn, man könnte konkret nachweisen, dass die Waffen, über die Carini mit diesem Händler gesprochen hat, auch tatsächlich zum Einsatz kamen. Aber das ist völlig ausgeschlossen. Vielleicht bekommen wir auf Grund eines solchen Bandes einen Durchsuchungsbefehl. Aber da Carini kein Dummkopf ist, wird er - sofern er wirklich der Drahtzieher des Überfalls ist die gestohlenen Druckplatten kaum bei sich zu Hause deponiert haben. Noch viel weniger ein Arsenal von Waffen, mit dem ein Verbrechen verübt wurde."

"Sie können also nichts tun", stellte Gettis fest.

"Das habe ich nicht gesagt", korrigierte ich ihn.

"Es gibt da noch ein zweites Band..."

"Ach!"

"Es zeigt ein Treffen zwischen Carini und einem Mann, dessen Bild im Moment immer mal wieder als Fahndungsfoto in den Nachrichtensendungen zu sehen ist... Walid Kerim! Es ist darauf zu sehen, dass Carini Kerim Hilfe bei der Flucht zusagt. Er gesteht praktisch ein, bei der Organisation des Überfalls die Fäden gezogen zu haben."

"Mir scheint, bevor wir bei Carini eine Haussuchung veranstalten, führen wir erst einmal eine bei Ihnen durch", stellte Milo fest.

Gettis lächelte dünn.

"Sie würden keinen Erfolg haben. Die Bänder befinden sich an einem sicheren Ort."

"Davon bin ich überzeugt", erwiderte ich. "Und jetzt hören Sie mir gut zu, Mr. Gettis! Sie übergeben uns die Bänder und wir werden sie prüfen. Ich garantiere Ihnen, dass nichts davon an die Öffentlichkeit gelangen wird, was Sie in Schwierigkeiten bringen könnte. Ein bisschen Vertrauen werden Sie uns schon entgegenbringen müssen..."

"Leicht gesagt", meinte Gettis. "Es ist mein Hals, den ich riskiere."

"Sie haben Kenntnis von einer Straftat, Mr. Gettis. Sie hätten diese Bänder uns schon längst übergeben müssen..."

"Kommen Sie mir nicht so", fuhr er mich an. "Vielleicht vergessen wir die ganze Sache schleunigst wieder."

Ich zuckte die Achseln. "Ich könnte natürlich Mr. Carini auf die Angelegenheit ansprechen..."

Gettis wurde bleich.

"So etwas nennt man Erpressung", knurrte er.

"Nennen Sie es, wie Sie wollen."

Wir hatten das Ende der Seitenstraße erreicht.

"Sie hören von mir", sagte Gettis. Er drehte sich nicht um, sondern lief geradewegs in Richtung der U-Bahnstation, die sich ganz in der Nähe befand.

"Warten Sie nicht zu lange, Mr. Gettis", rief ich ihm hinterher.

"Du warst ziemlich hart zu ihm, Jesse", hörte ich Milo neben mir.

"Ich mag es nicht, wenn jemand uns für seine privaten Zwecke einspannen will", erwiderte ich. "Es gibt zwei Möglichkeiten, Milo: Entweder, er hat in Wahrheit gar nichts zu bieten oder in diesen Video-Bändern schlummert so viel Sprengstoff, dass Carini hochgeht. Im zweiten Fall ist die Gefahr für Gettis viel größer, so lange er noch im Besitz des belastenden Materials ist..."

"Auch wieder wahr."

*


Die Frau, die sich jetzt Rebecca Smith nannte, saß in der Badewanne ihrer Suite im Plaza Athenee, als ihr Handy klingelte.

Rebecca stand auf.

Das Wasser perlte von ihrem kurvenreichen Körper. Sie stieg aus der Wanne, griff nach einem großen Badetuch und wickelte es sich um.

Das Handy befand sich auf einer Ablage.

Sie trocknete sich die Hände gründlich ab, bevor sie das Gerät an sich nahm.

"Ja?", sagte sie. Ihr Gesicht bekam einen angespannten Zug.

"Leila", kam es ihr aus dem Apparat entgegen. "Leila, hier ist Walid Kerim."

"Walid, wie geht es dir?"

"Ich stecke bis zum Hals im Dreck. Ich brauche deine Hilfe, Leila..."

"Was soll ich tun?"

"Ich brauche neue Papiere. Und ich muss das Land verlassen und zwar möglichst schnell... Ein Schönheitschirurg wäre auch nicht schlecht. Bald erkennt mich doch jedes Kind auf der Straße, wenn mein Bild noch sehr viel öfter zu sehen ist."

Er atmete heftig.

"Ganz ruhig, Walid", sagte sie. "Ganz ruhig. Du kommst da wieder raus."

"Du kümmerst dich drum?"

"Natürlich tue ich das."

"Leila, wo bist du denn jetzt?"

"Da, wo ich jetzt bin, kannst du unmöglich hinkommen, Walid."

"So war das auch nicht gemeint."

"Walid, ich kümmere mich um alles. Wo kann ich dich treffen?"

"Ich bin in einer Absteige, die sich Fulton Hotel nennt. Liegt am West Broadway Ecke Prince Street. Ist zwar nicht gerade das, was man unter einer luxuriösen Bleibe verstehen könne, aber dafür werden hier wenig Fragen gestellt."

"Bleib dort. Ich bin bald bei dir. "

"Du brauchst Fotos für die Papiere..."

"Ich werde eine Kamera mitbringen, Walid. Das ist kein Problem."

"Gut..." Walid atmete tief durch. "Leila, nimm dich vor Carini in Acht!"

"Weshalb?"

"Er hat mich reingelegt. Seine Leute hatten den Befehl, mich umzubringen. Und vermutlich sind sie immer noch hinter mir her. "

"Aber warum?"

"Damit ich schweige."

Leila alias Rebecca Smith nickte langsam. "Mach dir keine Sorgen, Walid. Ich mach das schon."

*


Walid Kerim saß auf dem ausgeleierten Bett und kratzte sich den getrockneten Beton von den Schuhen. Seine Sachen sahen aus, als hätte er damit ein ganze Woche auf einer Baustelle gearbeitet. Die Schuhe konnte er vergessen. Er wurde sich so bald wie möglich neue besorgen müssen.

Das Fulton war früher mal eine gute Adresse. Aber das war lange her. Jetzt blätterte hier in den Fluren der Putz von den Wänden. Hier und da kroch der Schimmel hinauf und es zog durch Fenster.

Walid sah auf die Uhr.

Die Zeit kroch dahin.

Langsam musste Leila hier auftauchen. Walid gab es auf, an den verdreckten Schuhen zu kratzen. Er erhob sich, nahm die Pistole vom Nachttisch und überprüfte zum zehntenmal die Ladung. Er ging zum Fenster, zog ein Stück den Vorhang zur Seite. Dämmerung legte ich über den Big Apple, die Stadt die niemals schlief.

Dann klopfte es an der Tür.

Walid umklammerte die Pistole mit beiden Händen.

Sechs Schuss waren noch in der Waffe.

Das war alles.

Er verfluchte sich dafür, die Uzi-Maschinenpistole abgegeben zu haben. Aber das ließ sich nicht rückgängig machen.

Es klopfte ein zweites Mal, als Walid nicht reagierte.

"Mr. Jackson?"

Billy Jackson - unter diesem Namen hatte er sich ins Gästebuch des Fulton eingetragen.

"Was gibt es?", fragte Walid.

Er erkannte die Stimme des Portiers wieder. Aber die Tatsache, dass er sich zwei Stockwerke hinaufbemühte, war allein schon verdächtig. So etwas wie einen Zimmerservice gab es hier nämlich nicht.

"Unten in der Eingangshalle wartet eine junge Dame auf Sie, Mr. Jackson."

Leila, dachte er. Aber in ihm schrillten sämtliche Alarmglocken. Er blieb vorsichtig. Er wusste genau, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing. Der FBI, die gesamten Polizeikräfte der Stadt und Carinis Leute - das war eindeutig zuviel.

"Warum schicken Sie sie nicht herauf?", fragte Walid.

"So ein Hotel sind wir nicht", stellte der Portier klar.

Walid presste sich neben der Tür gegen die Wand.

Wer lauerte da draußen vor der Tür? Die Cops? Oder doch Carinis Leute? Letzteres hielt er für ausgeschlossen. Wie hätten die herausfinden sollen, wo er sich befand?

Bei den Cops war das etwas anderes. Irgendwer konnte ihn wiedererkannt und verpfiffen haben.

Walid hatte sich das schwarze Haar mit einer Tönung grau gefärbt, die er in einem Supermarkt gekauft hatte.

Er sah jetzt mindestens zwanzig Jahre älter aus, als er war.

Aber die charakteristischen Gesichtszüge blieben.

Er hatte immer noch ziemlich viel Ähnlichkeit mit den Fahndungsfotos.

Sechs Kugeln, dachte Walid. Den Rest hatte er bei der Schießerei in der Lagerhalle in Brooklyn verschossen.

Ich werde verdammt sparsam sein müssen, ging es ihm durch den Kopf. Ganz gleich, wer es nun auf ihn abgesehen hatte...

"Mr. Jackson, hören Sie mich nicht?", rief der Portier.

Du Ratte! Wahrscheinlich haben sie dir ein paar Dollars gegeben, ging es Walid grimmig durch den Kopf.

Sein Zimmer hatte keine Feuerleiter.

Also saß er in der Falle.

Und seine Gegner schienen das zu wissen.

Sie waren sehr geduldig und ließen den Portier noch einmal nach Walid fragen.

"Mr. Jackson?"

Walid dachte nicht im Traum daran, zu antworten.

Im nächsten Moment wurde mit einem ohrenbetäubenden Krachen die Tür eingetreten.

Die Scharniere brachen aus dem morschen Türrahmen heraus.

Die Tür selbst legte sich mit einem ohrenbetäubenden Knall platt auf den Boden.

Dann ertönte ein Geräusch, das an ein heftiges Niesen erinnerte. Fünfmal kurz hintereinander machte es plop. Die Projektile zerrissen die dünne Bettdecke, fetzten durch das Kissen und ließen die Lehne des einzigen Stuhls im Raum splittern.

Ein Alptraum, der Sekunden dauerte.

Dann war Stille.

Ein Mann mit einer automatischen Pistole, auf die ein langgezogener Schalldämpfer aufgeschraubt war, stürzte in den Raum. Er ließ den Blick schweifen, wirbelte herum.

Walid feuerte.

Die Kugel fuhr dem Killer in die linke Schläfe. Der Mann taumelte seitwärts, knallte gegen den Stuhl und riss ihn mit sich. Ausgestreckt blieb der Killer liegen, während der abgelaufene PVC-Boden sich rot färbte.

Dann tauchte Walid aus seiner Deckung hervor, warf sich seitwärts und feuerte blindlings durch die Tür.

Zwei Schüsse gab er kurz hintereinander ab.

Die Gestalt eines hochgewachsenen Manns sackte in sich zusammen. In der Hand trug dieser ebenfalls eine Waffe mit Schalldämpfer. Einen Schuss hatte der Kerl daraus noch abgeben können, ehe es ihn erst im Oberkörper, dann in der Bauchgegend erwischt hatte.

Dicht sirrte das Projektil an Walids Kopf vorbei. Es zertrümmerte irgendwo hinter ihm eine Fensterscheibe.

Klirrend ging sie zu Bruch und regnete in Form von hundert Scherben auf die Straße.

Mit der Waffe in der Rechten kam Walid durch die Tür.

Etwas abseits, in einer Türnische, kauerte der Portier. Er zitterte.

"Ich konnte nichts dafür", stotterte er. "Die haben mich gezwungen."

"Ja, ja."

"Wirklich! Die haben mich gezwungen!", zeterte der Portier.

"Du wiederholst dich!"

Das sind keine Polizisten, wurde Walid klar. Das waren Carinis Leute.

Aber wie hatten die wissen können, dass er hier untergekrochen war?

Es blieb nur eine einzige vernünftige Erklärung, und die gefiel Walid nicht.

Leila!

Sie musste ihn verraten haben!

*


"Wie viele sind es?", fragte Walid an den zitternden Portier gewandt.

"Ich.... Ich weiß nicht."

Walid richtete die Waffe auf ihn. "Entweder, dir fällt das ganz schnell ein, oder du hast keinen Kopf mehr", zischte er.

"Unten ist noch einer in der Empfangshalle", gab der Portier Auskunft.

"Was ist mit der Frau, von der Sie gerade gesprochen haben?"

"Keine Ahnung. Die haben mir aufgeschrieben, was ich zu sagen hätte und ich habe meinen Spruch aufgesagt. Das war alles. Von einer Frau habe ich nichts gesehen..."

"Bleiben Sie da stehen und rühren Sie sich nicht!"

Walid beugte sich nieder und nahm dem erschossenen Killer, der lang hingestreckt im Flur lag, die Schalldämpferpistole ab. Außerdem hatte der Kerl noch ein volles Magazin in der Jackentasche. Das nahm Walid auch an sich. Danach zog er ihm die Jacke aus. Seine eigene war seit der Schießerei in der Fabrikhalle ziemlich zerfetzt. Und wenn er in aller Öffentlichkeit mit der kugelsicheren Weste herumlief, die er darunter trug, war das entschieden zu auffällig.

Die Schuhgröße stimmte leider bei beiden Erschossenen nicht. Walid hatte große Füße. Also musste er seine betongrauen Treter weitertragen.

Der Portier machte eine plötzliche Bewegung.

Walid riss die Waffe hoch.

Der Portier erstarrte.

"Versuch das ja nicht", zischte Walid. "Ich bin ein guter Schütze und wenn es sein muss, schieße ich dir die Augen einzeln aus!"

"Schon gut."

"Du gehst jetzt vor mir her."

Sie gingen zum Aufzug. Einen Augenblick später fuhren sie abwärts ins Erdgeschoss.

Die Schiebetür öffnete sich. Die Eingangshalle lag vor ihnen. Walid ließ den Blick schweifen. In einem der ziemlich heruntergekommenen Sessel saß ein Mann.

Doch ehe er dazu kam, sich aufzurichten und herumzudrehen, hatte Walid bereits geschossen. Die Kugel drang durch die Rückenlehne hindurch in den Körper des Mannes ein. Eine zweite folgte und traf den Kopf an der Seite. In Höhe der Schläfe entstand eine grausige Wunde. Der Mann sackte in sich zusammen. Die Automatik, die er in der Rechten getragen hatte, fiel ihm aus der Hand.

Der Portier war bleich geworden.

Walid versetzte ihm kurzerhand mit dem Knauf seiner Pistole einen Schlag, so dass er bewusstlos zu Boden sackte. Walid wollte verhindern, dass der Portier mit irgendwem telefonierte.

Aber vielleicht hatte das auch jemand anderes getan.

Jemand, der die Schüsse gehört hatte, denn zumindest die, die Walid zunächst auf die Killer abgegeben hatte, waren ja nicht abgedämpft gewesen.

Eine Polizeisirene war zu hören.

Walid ging hinaus ins Freie. Die Waffe verbarg er unter der Jacke. Die Straße war um diese Zeit noch ziemlich belebt.

Polizeiwagen bogen um die Ecke. Beamte stiegen aus. Irgendwer hatte Schüsse gehört, wusste aber nicht genau wo. So etwas kam in New York nicht gerade selten vor.

Walid ging mit schnellen Schritten die Straße entlang. Er drehte sich zwischendurch immer wieder um. Den Kragen der Jacke schlug er hoch, so dass die untere Hälfte seines Gesichts verdeckt war.

Nur jetzt nicht in irgendeine Routinekontrolle hingeraten, ging es ihm durch den Kopf.

Seine grauen Haare würden ihn dann auch nicht vor einer Identifizierung schützen.

Walid bemerkte eine dunkle Limousine, die ziemlich langsam die Straße entlangfuhr. Ein Wagen mit Überlänge und getönten Scheiben.

Der Instinkt sagte Walid, dass er in Gefahr war. Er konnte es beinahe körperlich spüren. Drei Killer hatte er erledigt, aber nach den Ereignissen in Brooklyn waren seine Gegner gewarnt. Carini wusste, dass er es bei ihm mit einem harten Brocken zu tun hatte, den man nicht so einfach umlegen konnte. Also würde er dafür sorgen, dass die Sache diesmal glattging.

Irgendwo am Straßenrand hatten die Carini-Leute darauf gewartet, dass ihre Komplizen erfolgreich aus dem Fulton-Hotel herausspazierten.

Aber das war nicht geschehen.

Stattdessen war er - Walid Kerim - mit heiler Haut herausgekommen.

Es ist noch nicht zu Ende, ging es ihm durch den Kopf, während seine Rechte unter die Jacke griff und die Pistole umklammerte. Er war bereit, sie jederzeit herauszureißen und wild um sich zu feuern. Munition hatte er jetzt ja wieder genug. Genug zumindest, um noch einige dieser Mörder mit ins Grab zu nehmen, die ihm nach dem Leben trachteten.

Vor den den Augen der Cops werden sie nichts unternehmen, ging es Walid durch den Kopf.

So dreist konnte nicht einmal Carinis Meute sein.

Walid beschleunigte. Er rempelte einen Rentner an, der seinen Hund spazierenführte und sich lautstark beschwerte.

Dann kam die Abzweigung in eine Nebenstraße.

Eine vernachlässigte, finstere Ecke. Selbst am Tag keinem Passanten zu empfehlen. Vor sich hinrostende Autowracks blockierten die Bürgersteige. Umgestoßene Mülltonnen verströmten einen erbärmlichen Geruch. In einem der Hauseingänge saß ein hohlwangiger Junkie im Delirium.

Dreihundert Meter, dachte Walid. Dann kommt die Subway. Und dort hatte er eine reelle Chance in der Masse unterzutauchen.

Er setzte zu einem kleinen Spurt an.

Die dunkle Limousine folgte ihm in die Nebenstraße.

Ein paar abgewetzte Reifen lagen mitten auf der Fahrbahn, daneben eine umgestürzte Mülltonne, deren Inhalt der Wind verstreute. Die Limousine hielt an. Die Scheibe senkte sich.

Das dunkle Rohr eines Schalldämpfers schob sich hervor.

Grell blitzte das Mündungsfeuer auf. Walid duckte sich und feuerte zurück.

Seine Kugel kratzte am Lack der Limousine, prallte aber ohne große Wirkung ab.

Vermutlich gepanzert, ging es Walid durch den Kopf.

In geduckter Haltung lief er weiter.

Dann sah er, da er es niemals bis zur Subway schaffen würde.

Von der anderen Seite pirschten sich ein paar dunkel gekleidete Bewaffnete heran. Das Niesen ihrer Schalldämpferwaffen fiel überhaupt nicht auf. Der Straßenlärm verschluckte es.

Nur ein paar hundert Meter entfernt standen Einsatzwagen der Polizei und suchten noch nach dem Ursprung von Schussgeräuschen. Vielleicht hatten sie sogar schon die toten Killer im Fulton Hotel gefunden.

Und ganz in der Nähe tobte lautlos eine verbissene Schlacht.

Ein unbarmherziger Kampf auf Leben und Tod...

Walid taumelte in einen Hauseingang, als eines der Projektile ihn an der Seite erwischte. Die Jacke wurde aufgerissen, das Futter schneite in Form von Wattebällchen heraus. Die kugelsichere Weste hatte das Projektil aufgenommen.

Walid verschanzte sich im Hauseingang. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe er die Welle des Schmerzes spürte, die ihn erfasste. Er blickte an sich herab.

Das Hosenbein hatte sich in Höhe des Oberschenkels rot verfärbt.

Walid fluchte stumm vor sich hin.

Auch das noch...

Jetzt saß er wirklich in der Falle. Er hörte Schritte. Die Killer kamen näher.

Mit der einen Hand umfasste Walid Kerim den Griff seiner Pistole, mit der anderen versuchte er, die Tür zu öffnen.

Abgeschlossen. Er setzte den Schalldämpfer auf das Schloss.

Ein Schuss und das Schloss sprang auf.

Dann schleppte er sich ins Treppenhaus, während die Tür hinter sich mit einem Klappen schloss. Der Puls schlug ihm bis zum Hals. Weit würde er so nicht kommen, das wusste er.

Dazu war er Profi genug. Er schleppte sich bis zum Aufzug und keuchte.

Die Haustür öffnete sich. Im Halbdunkel sah Walid eine Gestalt als dunklen Umriss auftauchen.

Walid legte kurz an und feuerte.

Die Gestalt sackte getroffen zu Boden, ohne noch einen Laut von sich zu geben.

Der Aufzug funktionierte. Mit einem Ächzen öffnete sich die Schiebetür. Er wankte hinein, drückte auf den Knopf für das oberste Geschoss.

Er brauchte etwas Aufschub und die Zeit, die er durch die Schnelligkeit des Aufzugs gewann, würde ihm etwas Luft verschaffen. Einen zweiten Aufzug gab es nicht und bis seine Gegner die Treppen hinter sich gebracht hatten, würde einige Zeit vergehen...

Wertvolle Zeit.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht rutschte Walid an der Wand zu Boden und hinterließ einen Blutfleck.

Alles war schiefgegangen.

Sein dickes Nummernkonto in der Schweiz...

Es war keinen Cent mehr wert.

Er schleppte sich aus der Aufzugskabine heraus.

Und dann nahm er die erstbeste Wohnungstür. Die Klingel war defekt, also klopfte er. Ein Mann im Unterhemd öffnete. Er war Mitte fünfzig und hatte eine Tätowierung am Oberarm.

Seine wässrig blauen Augen wurden starr, als er in den Lauf von Walids Pistole blickte.

"Was...?"

"Keinen Laut!", zischte Walid.

Der Mann ging rückwärts in seine Wohnung herein. Walid folgte ihm, schloss die Tür hinter sich.

"Wo ist das Telefon?", zischte Walid.

*


Milo und ich waren auf dem Weg nach Hause. Die Lichter von unzähligen Autos erhellten die Dämmerung, während wir die Seventh Avenue hinauffuhren.

"Meinst du, dieser Gettis legt uns tatsächlich Videobänder auf den Tisch?", meinte Milo irgendwann in die Stille hinein.

"Wäre fast zu schön, um wahr zu sein. Aber wenn er das nicht tut, werden wir seinem Nobelladen einen Besuch abstatten. Und das wird dann ziemlich ärgerlich für ihn."

"Also für mich steht eins fest", meinte Milo. "Dieser Kerl will in erster Linie Carini eins auswischen, aber dabei im Hintergrund bleiben. Ich glaube nicht, dass er ein mutiger Zeuge wäre. Er wirkte auf mich wie ein Maulheld, der viel ankündigt und nachher nichts davon hält."

"Plausibel klang für mich trotzdem, was er gesagt hat."

"Das schon, Jesse..."

"Mal angenommen, wir haben die Bänder auf dem Tisch, dann werden wir trotzdem sehr vorsichtig vorgehen müssen", meinte ich. "Wir können erst losschlagen, wenn wirklich alles hieb-und stichfest ist. Außerdem kann ich mir nach wie vor nicht gut vorstellen, dass Carini wirklich nur auf eigene Rechnung tätig war. Da müssen noch andere beteiligt sein..."

"Und du meinst, diese Vögel fliegen davon, wenn wir uns zu früh bewegen."

"Die Gefahr besteht."

Milo atmete tief durch. "Was mich nach wie vor sehr wundert, ist die Tatsache, dass Clives Ermittlungen bislang überhaupt kein Ergebnis erbracht haben. Keiner unserer Informanten in der Unterwelt hat irgend etwas mitgekriegt. Die großen Familien und ihre Paten scheinen völlig desinteressiert zu sein und nirgends gibt es wenigstens Gerüchte darüber, dass jemand Druckplatten verkaufen möchte..."

Milos Handy meldete sich mit seinem charakteristischen Klingelzeichen.

"Hier Agent Tucker, was gibt's?", fragte er.

Man brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass jemand aus der Telefonzentrale des FBI am anderen Ende der Leitung war. Und dass dieser Anruf etwas anderes bedeutete, als dass sich unser Überstundenkontingent noch um einiges erhöhte, konnte ich mir eigentlich auch nicht vorstellen.

Mein Sportwagen kam an einer Ampel zum Stehen.

"Das war die Zentrale", sagte Milo.

"Ich hätte drauf wetten sollen."

"Walid Kerim hat sich gemeldet."

"Ach!"

"Wenn wir auf seine Aussage noch wertlegen würden, sollten wir uns beeilen. Er ist im Moment ziemlich in der Bedrouille. Angeblich sind Carinis Männer hinter ihm her..."

"Er muss ja wirklich ziemlich verzweifelt sein, wenn ihm nichts besseres mehr einfällt, als sich an den FBI zu wenden."

"Das kannst laut sagen, Alter!"

"Wohin geht es?"

"Wir sind ganz in der Nähe. Kennst du die Prince Street?"

"Was für eine Frage, Milo!"

"Verstärkung ist auch unterwegs."

Ich ließ das Fenster an meiner Seite herunter und setzte das Blaulicht auf das Dach meines Sportwagens.

*


Als wir am Ort des Geschehens eintrafen, waren bereits ein paar Männer der City Police da.

Die kümmerten sich um einen verletzten Kollegen, der offenbar angeschossen worden war. Einer der Officers hatte ihm provisorisch die Wunde verbunden, um die Blutung an der Schulter zu stillen. Ziemlich am Anfang der düsteren Seitenstraße stellte ich den Sportwagen ab. Wir stiegen aus.

"Trevellian, FBI", wies ich mich mit dem Dienstausweis in der Rechten gegenüber einem Officer aus, der uns entgegenkam.

Der Officer deutete auf ein fünfgeschossiges Haus, das seine beste Zeit wohl hinter sich hatte. Das war selbst in der fortgeschrittenen Dämmerung, die alles in ein trübes Zwielicht tauchte, deutlich zu sehen.

Vor dem Eingang lag ein Toter.

"Dort haben sie sich verschanzt", sagte der Officer.

"Wer?"

"Wissen wir nicht. Wir waren in der Nähe, weil es im Fulton Hotel eine wüste Schießerei gegeben hat. Nach Auskunft des Portiers hatten es ein paar Killer auf einen Gast abgesehen, der dann geflohen ist. Offenbar haben draußen noch ein paar Gorillas auf ihn gewartet und dann hier eine Art Treibjagd veranstaltet. Als wir hier auftauchten, kam uns eine dunkle Limousine entgegen und brauste davon. Die haben sofort geschossen..." Der Officer deutete auf seinen verletzten Kollegen. "Krankenwagen ist unterwegs, Fahndung nach dem Fahrzeug läuft. Die Nummer war jedenfalls falsch, das haben wir schon überprüft."

"Der Mann, der sich dort im Haus befindet heißt Walid Kerim. Er wird in Zusammenhang mit dem Überfall auf den Druckplattentransport gesucht", klärte ich ihn auf.

"Oh", machte der Officer.

Er hatte natürlich davon gehört.

Ich griff in die Innentasche und holte ein Fahndungsfoto von Kerim heraus. "Hier, so sieht er aus. Er hat uns zwar um Hilfe gerufen, aber es könnte ja sein, dass er es sich noch mal überlegt und keinen Wert auf unsere Bekanntschaft legt. Er darf auf keinen Fall entkommen!"

"Wir tun, was wir können!"

Milo fragte: "Was schätzen Sie, wie viele von den Verfolgern sind noch im Haus?"

"Da bin ich überfragt, Sir. Mindestens einen habe ich dort verschwinden sehen."

Ich griff an den Gürtel und überprüfte die Ladung meiner Sig Sauer P226.

Milo tat dasselbe.

"Wollen Sie nicht besser auf Verstärkung warten?", fragte mich der Officer.

"Bis die hier ist, ist unser Mann vielleicht schon tot."

Wenn tatsächlich Carini diese Leute geschickt hatte, dann zweifellos deswegen, um zu verhindern, dass Kerim den Mund aufmachte. Es wurde überall nach ihm gefahndet und da war es nur eine Frage der Zeit gewesen, wann er den Behörden ins Netz ging.

Und dann konnte es natürlich für die Drahtzieher im Hintergrund brenzlig werden.

Milo und ich bewegten uns auf den Eingang des Hauses zu, in dem Kerim sich verschanzt hatte. In geduckter Haltung bewegten wir uns vorwärts, suchten zwischenzeitlich Deckung hinter den am Straßenrand abgestellten Autowracks.

Dann hatten wir den Eingang erreicht.

Der Tote, der dort seltsam verrenkt lag, starrte uns mit seinen gebrochenen Augen an.

"Ich schätze, dass er sich ganz oben befindet", meinte Milo. "Kerim war in der Klemme. Wenn ich an seine Stelle gewesen wäre, hätte ich zugesehen, ganz nach oben zu kommen."

"Kann sein", erwiderte ich.

Mit einem Tritt öffnete ich die Tür.

Innen war kaum etwas zu sehen. Es war ziemlich dunkel. Ich suchte den Lichtknopf, fand ihn auch schließlich.

Defekt.

Milo nahm den Aufzug, ich die Treppe. Wer von uns wirklich das bessere Los gezogen hatte, würde sich erst noch erweisen, denn viel Vertrauen hatte ich in den Aufzug nicht. Er schien mir - wie alles hier - in einem bejammernswerten Zustand zu sein.

Ich holte den Handy heraus und rief in der Zentrale an.

Agent Max Carter, unseren Fahndungsspezialisten bekam ich an den Apparat.

"Max, hat sich Kerim nochmal gemeldet?"

"Nein, Jesse!"

"Sollte er das nochmal tun, dann leite den Anruf doch bitte auf meinen Apparat."

"Kein Problem..."

"Wie viele Anschlüsse gibt es in dem Haus?"

"Jesse, wir rufen sie gerade der Reihe nach an", erriet Carter meinen Gedanken. "Sollte er sich melden, wissen wir in ein paar Minuten Bescheid. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass etwas dabei herauskommt... Wer weiß, ob er euch nicht nur dazu 'missbrauchen will', seine Verfolger auf Abstand zu halten..."

"Der Verdacht ist mir auch schon gekommen."

"Noch was, Jesse."

"Raus damit..."

"Irgend etwas stimmte mit ihm nicht. Ich hab mir die Aufzeichnung des Gesprächs mindestens ein Dutzendmal angehört. Er keuchte so..."

"Meinst du, er hat 'was abgekriegt?"

"Ja, kann sein, dass er verletzt ist..."

*


Ich brachte den ersten Absatz hinter mich, die P226 immer im Anschlag.

Nirgends war etwas zu sehen.

Mit großen Schritten überwand ich das nächste Treppenstück.

Dann lag der Flur des ersten Stocks vor mir. Hier funktionierte das Licht. Die Wohnungen waren ohne Türen. Ich durchquerte den Flur ein Stückweit. Die Wohnungen standen leer. An manchen Stellen sah ich stählerne Stützstempel, die die Decke vor dem Einsturz bewahrten.

Hier gab es mit Sicherheit keinen Telefonanschluss.

Also war Kerim auch nicht hier.

Ich ging zurück ins Halbdunkel des Treppenhauses.

Undeutlich nahm ich von oben eine Bewegung war. Mein Instinkt ließ mich zur Seite gleiten. Im selben Moment blitzte es einige Stockwerke über mir grell auf. Das Mündungsfeuer einer Schusswaffe. Es machte plop. Zweimal kurz hintereinander. Die Projektile zischten dicht an mir vorbei.

Ich feuerte zurück. Der Knall hallte mehrfach im Treppenhaus wieder. Ich hörte Schritte. Mein Gegner lief weiter hinauf.

"Stehenbleiben! FBI!", rief ich. "Das Haus ist umstellt, Sie haben keine Chance!"

Das schien mein Gegenüber nicht weiter zu kümmern.

Ich spurtete mit weit ausholenden Schritten die Treppe hinauf.

Ein paar ungezielte Schüsse wurden von oben in meine Richtung abgegeben. Aber keine dieser Kugeln traf.

Einen Augenblick später hörte ich Milos Stimme.

"Hände hoch und Waffe fallen lassen!"

Ich spurtete weiter. Auf dem Treppenabsatz vor dem 5. Stock sah ich den Killer. Draußen war die Straßenbeleuchtung eingeschaltet worden. Ein Teil ihres Lichts fiel durch die Glasbausteine, die in die Wand eingelassen waren. So konnte ich sein kantiges Gesicht sehen. Er hatte dunkles, leicht gelocktes Haar.

Milo hatte ihn von hinten überrascht.

Noch schien der Kerl sich nicht entscheiden zu können, ob er die Waffe mit dem langgezogenen Schalldämpfer endlich fallenlassen sollte.

"Sie sind ein toter Mann, wenn Sie das versuchen, was Ihnen gerade im Kopf herumspukt", stellte Milo klar.

Ganz langsam ließ er die Waffe dann niedersinken. Sie fiel auf den Boden. Er hob die Hände. Milo kettete ihn mit Handschellen an einen Heizkörper.

"Sie sind verhaftet", sagte ich. "Sie haben das Recht zu schweigen, aber falls Sie auf dieses Recht verzichten, kann alles, was Sie von nun an sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden..."

Ich war überzeugt davon, dass dieser Mann unseren Spruch auswendig kannte. Vermutlich musste er ihn sich nicht das erste Mal anhören.

"Wo ist Kerim?", fragte Milo.

Der Mann gab keine Antwort. Sein Gesicht wirkte wie eine Maske. Wir durchsuchten ihn gründlich. Er hatte keine Papiere bei sich, die über seine Identität Auskunft geben konnten. Dafür fanden wir noch einen Kleinkaliber in der Jacke und Messer in einem kleinen Futteral, das er am Handgelenk trug.

Ich atmete tief durch. Carter hatte sich nicht wieder gemeldet. Das hieß, es blieb uns nichts anderes übrig, als dass wir uns eine Wohnung nach der anderen vornahmen.

"Es sind drei Wohnungen in diesem Geschoss. Mit welcher fangen wir an?"

"Mit der letzten", bestimmte Milo.

"Wieso das?"

"Weil ich annehme, dass Kerim nicht viel Zeit hatte. Außerdem scheint er mir verletzt zu sein. Im Aufzug waren Blutflecken. Und auf dem Weg vom Lift zur Tür der dritten Wohnung ebenfalls."

Carter hatte etwas Ähnliches angedeutet.

Wir gingen durch den Flur.

Die Wohnung, die Milo meinte, gehörte einem gewissen Lloyd McAndrews. Jedenfalls stand dieser Name an der Tür. Das Schild war schon etwas älter. Das erste L von Lloyd war kaum noch zu lesen. Die Klingel war defekt.

Ich klopfte an.

"Mr. Kerim?", rief ich.

Keine Antwort.

"Scheint, als hätte sein Drang, mit dem FBI reden zu wollen, etwas nachgelassen", stellte Milo kühl fest.

Ich versuchte es noch einmal.

"Walid Kerim! Hier spricht der FBI, wir wissen, dass Sie dort drin sind! Öffnen Sie die Tür und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus..."

Kein Laut.

"Vielleicht denkt er, dass das eine Falle von Carinis Leuten ist", meinte Milo.

"Woher sollten die wissen, dass er mit dem FBI reden will?"

Ich nahm das Handy heraus. Sekunden später hatte ich unseren Kollegen Max Carter am Apparat.

"Max, habt ihr die Wohnung von Lloyd McAndrews angerufen?"

"Haben wir. Da meldet sich niemand."

"Versucht es nochmal. Wir sind uns ziemlich sicher, das Kerim dort ist. Er soll mit erhobenen Händen hinauskommen."

"Wir werden es versuchen, Jesse..."

Augenblicke verstrichen. Wir hörten, wie im Inneren der Wohnung ein Telefon schrillte. Eine Bewegung war zu vernehmen. Ein Geräusch, das sich wie ein Rutschen oder schleppende Schritte anhörte. Der Hörer wurde nicht abgenommen. Das Klingeln hörte schließlich auf.

"Es hilft nichts, wir müssen da hinein", meinte ich.

Und mein Instinkt sagte mir, dass Walid Kerim uns auf irgendeine Weise reinzulegen versuchte...

*


Mit einem wuchtigen Tritt sprengte ich die Tür auf. Sie flog zur Seite. Mit beiden Händen hielt ich die P226 im Anschlag.

Blitzschnell nahm ich die Situation wahr.

Ich sah einen Mann im Unterhemd, dessen Augen vor Entsetzen geweitet waren. Um seinen Hals hatte sich ein Arm gelegt...

Kerim war hinter ihm, hielt ihn wie einen lebenden Schutzschild vor sich.

Neben der Schulter des Mannes im Unterhemd ragte etwas Dunkles hervor.

Der Schalldämpfer einer Pistole. Rot züngelte das Mündungsfeuer daraus hervor. Der dumpfe, charakteristische Laut entstand, den man schon im Nebenraum nicht mehr hören konnte. Selbst dann nicht, wenn die Wände ziemlich dünn waren.

Blitzschnell tauchte ich zurück in die Deckung und presste mich neben der Tür gegen die Wand.

Ich hatte nicht zurückschießen können.

Das Risiko für die Geisel, die Kerim sich genommen hatte war zu groß.

"Geben Sie auf, Kerim! Wir sind vom FBI, sie wollten mit uns reden..."

"Ich möchte, dass Sie einen Arzt kommen lassen!"

"Sie bekommen einen Arzt. Aber erst, wenn Sie sich ergeben!"

"Ich habe hier verdammt nochmal einen Mann in meiner Gewalt!" Kerim ächzte.

"Diese Nummer haben Sie einmal mit uns durchgezogen. Nochmal werden wir uns auf dieses Spiel nicht einlassen..."

"Mein Schalldämpfer zeigt in diesem Moment auf die Schläfe dieses Mannes..."

"In dem Fall ist Ihnen die Giftspritze ziemlich sicher, Mr. Kerim", erwiderte ich kühl. "Sie haben keine Chance zu entkommen. Das Haus ist umstellt. Und außerdem sind da noch Ihre Verfolger, die auf Sie warten..."

"Ich möchte Garantien!"

"Sie überschätzen Ihre Postion, Kerim. Sie haben nur noch die Wahl zwischen Leben und Tod. Ergeben Sie sich, lassen Sie Ihre Wunde behandeln und packen Sie aus! Und zwar möglichst bald!"

Wie zur Bekräftigung meiner Worte waren von draußen Polizeisirenen zu hören. Vielleicht war das die angekündigte Verstärkung.

Einige quälend lange Augenblicke sagte er gar nichts.

Dann endlich kam ein keuchendes: "Okay!"

*


Walid Kerim ließ sich widerstandslos festnehmen. Um die Wunde an seinem Bein kümmerte sich der Notarzt.

"Es sind Carinis Leute, die hinter mir her waren", keuchte er. "Sie müssen Carini festnehmen."

"War er der Drahtzieher hinter dem Überfall auf den Druckplatten-Transport?", fragte ich.

"Ja."

"Im Blackwood-Hotel war ein Mann bei Ihnen..."

"Er hieß Harry Jespers, ein Virtuose auf dem Computer..."

"Hieß?", echote ich. "Sie sprechen von ihm in der Vergangenheit..."

Er nickte. "Sie haben ihn umgebracht..."

"Wer?"

"Carinis Leute! Wir wollten, dass Carini uns hilft, das Land zu verlassen. Aber dieser Hund hat versucht, uns einfach auszuschalten, damit wir ihn belasten können, falls wir ihm in die Hände geraten sollten..."

Schweiß stand auf Kerims Stirn. Er stöhnte auf, während der Arzt sich um die Wunde kümmerte.

"Hören Sie, Sir, dieser Mann muss dringend in ein Krankenhaus! Die Kugel steckt noch drin und wenn sich erst ein Entzündungsherd bildet, sieht es böse aus."

"Dann bringen Sie ihn in die Gefängnisklinik von Rikers Island", meinte ich. "Er muss rund um die Uhr bewacht werden..."

Ich beugte mich zu Kerim nieder.

"Wir brauchen Namen, Mr. Kerim. Namen von den Leuten, die an dem Überfall beteiligt waren."

"Darauf werden Sie warten müssen, bis Mr. Kerim operiert ist", erklärte indessen der Arzt.

*


Carinis Residenz in East Harlem wurde von ein paar unserer Agenten beobachtet. Mr. McKee ordnete das an, um zu verhindern, dass der Buchmacher sich plötzlich aus dem Staub machte. Wir mussten jederzeit darüber Bescheid wissen, wo er sich befand.

Wir erwogen, auf Grund von Kerims Aussage sofort zuzuschlagen. Ein Durchsuchungsbefehl lag bereits vor und wartete nur noch darauf, dass er ausgeführt wurde.

Aber die Gefahr war groß, dass nichts dabei herauskam.

Im Grunde hatten wir nichts Beweiskräftiges gegen Carini in der Hand.

Da war nur die Aussage von Kerim, von der wir selbst noch nicht wussten, wie wir sie bewerten sollten. Dazu die Anschuldigungen eines Diskothekenbesitzers, der seine ganz eigenen Motive dafür hatte und aller Wahrscheinlichkeit nach auch zu feige sein würde, diese Vorwürfe vor Gericht zu wiederholen.

Und dann war da noch der Mann ohne Identität.

Der Killer, der hinter Kerim hergewesen war, sagte kein einziges Wort. Unsere Verhörspezialisten Baker und Hunter beschäftigten sich die halbe Nacht mit ihm. Er hatte nichts bei sich gehabt, was irgendeinen Hinweis auf seine Identität geben konnte. Natürlich wurden Fingerabdrücke von ihm genommen und Fotos gemacht. Beides wurde mit den Datenmengen verglichen, die in unseren Computerarchiven schlummerten.

Aber wir bekamen kein Ergebnis. Dieser Mann schien nie straffällig geworden zu sein. Seine Fingerabdrücke waren bei keiner Gelegenheit gespeichert worden. Bei einem Mann, der im Verdacht stand, bei Guy Carini für Aufträge der groben Art zuständig zu sein, war das nicht unbedingt zu erwarten.

Am nächsten Morgen waren Milo und ich sehr früh wieder im Büro. Mr. McKee hatte die ganze Nacht dort verbracht. Seit seine Familie durch Gangster ermordet worden war, gab es für unseren Chef so etwas wie Privatleben kaum noch.

"Ihren Kaffee werden Sie sich selbst machen müssen", meinte er, als er in unser Dienstzimmer hineinschneite und uns begrüßte. "Um diese Zeit ist Mandy noch nicht da..."

"Wie schade, Mr. McKee", erwiderte ich. "Leider habe ich das nicht bedacht, als ich heute Morgen aufbrach..."

Milo fragte: "Gibt es schon Neuigkeiten von Kerim?"

"Liegt in der Gefängnisklinik von Riker's Island. Sein Bein konnten sie retten, aber er muss mit Lähmungen rechnen."

"Vernehmungsfähig?"

"Ab heute Mittag. Sie können ja nachher mal rausfahren, Jesse."

"Und Mr. Anonym?", fragte ich.

"Sagt keinen Ton, Jesse."

Mr. McKee hatte ein Päckchen unter dem Arm, das er mir auf den Schreibtisch legte.

"Wurde hier durch einen Kurier abgegeben. An Sie persönlich, Jesse. Das Ding ist bereits von unseren Spezialisten überprüft. Sie können es getrost öffnen, ohne Angst haben zu müssen, dass Ihnen alles um die Ohren fliegt."

Ich öffnete das Päckchen.

Es enthielt ein Videoband. Ohne Beschriftung oder irgendeinen Zusatz.

Milo sagte: "Scheint, als wäre Frank Gettis doch kein Schwätzer!"

*


Inzwischen waren auch Orry und Caravaggio eingetroffen. Zusammen sahen wir uns Gettis' Videoaufzeichnungen in Mr. McKees Büro an.

Gettis hatte tatsächlich nicht zuviel versprochen.

In der ersten Szene war deutlich zu hören, wie Guy Carini ein Waffenarsenal inklusive Bazooka orderte. Dann kam ein abrupter Schnitt. Ein Gespräch zwischen Carini auf der einen und Kerim und Jespers auf der anderen Seite folgte.

"Damit können wir ihn festnageln", sagte Mr. McKee.

"Ich kann mir nach wie vor nicht vorstellen, dass das alles auf Carinis Mist gewachsen ist", wandte ich ein.

"Falls er Hintermänner hat, wird er uns darüber ja vielleicht Auskunft geben, wenn wir ihm ein entsprechendes Angebot unterbreiten", erwiderte Mr. McKee.

"Wenn wir noch länger warten, geht er uns am Ende noch durch die Lappen", war Milo überzeugt.

Das Telefon auf Mr. McKees Schreibtisch klingelte. Unser Chef nahm ab.

Einen Augenblick später wandte er sich an uns und sagte: "Das sind die Kollegen, die Carini beschatten. Mr. Carini scheint der Boden in New York zu heiß unter den Füßen zu werden. Er macht sich gerade mit unbekanntem Ziel auf den Weg!"

*


Guy Carini saß auf dem Rücksitz seiner Limousine. Sein Chauffeur fuhr hart an der Grenze dessen, was die strengen Geschwindigkeitsbegrenzungen erlaubten.

Auf dem Beifahrersitz saß ein bulliger Leibwächter, der auf den Namen Lopez hörte.

Er war damit beschäftigt, ein Magazin in seine Maschinenpistole einzusetzen. Mit einem Ratsch lud er die Waffe durch.

Neben ihm saß ein kleiner, unscheinbarer Mann mit schütterem Haar. Das war Allan Gaspardo, der für Carini in erster Linie als Anwalt in Erscheinung trat. Darüber hinaus war Gaspardo mit eigenem Geld an einigen der Wettbüros beteiligt, die Carini betrieb.

"Ich glaube, Sie reagieren jetzt etwas heftig, Mr. Carini", meinte Gaspardo. "Sie sollten Ruhe bewahren. Wenn Sie jetzt einfach untertauchen, wird der FBI erst recht hellhörig werden."

"Ihr Kopf ist es ja nicht, den Sie vor Gericht hinhalten müssen, Gaspardo."

"Es gibt keine Beweise gegen Sie! Kein Material, das Ihnen das Genick brechen könnte! Was hat dieser Kerim denn schon in der Hand? Dass Sie mal eine Kaution für ihn bezahlt haben, weil Sie zu tief in die dunklen Augen einer kraushaarigen Schönheit geblickt haben, ist nicht strafbar. Und das Kevin Fernandez mal Ihr Leibwächter war, auch nicht."

"Kerim wird auspacken", erwiderte Carini gereizt. "Und das allein reicht doch schon."

"Was kann er denn bieten, außer Behauptungen, die nicht zu beweisen sind."

"Jespers..."

"Mr. Carini, Mordaufträge gehören zu den Dingen, die am schwersten zu beweisen sind. Ins Loch wandern dafür nur Leute, die sich keinen anständigen Anwalt leisten können. Aber zu der Sorte gehören Sie ja wohl nicht, oder?"

"Wie auch immer", knurrte Carini zwischen den Zähnen hindurch. "Ich will auf Nummer sicher gehen und erst einmal für eine Weile abtauchen."

Carini war nervös.

Er atmete tief durch und tickte nervös mit Fingern auf dem Türgriff herum.

Die Dinge hatten sich in gefährlicher Weise zugespitzt, wie er fand.

Ein Handy klingelte. Lopez, der bullige Leibwächter ging an den Apparat.

Dann drehte er sich herum und wandte sich an Carini.

"Der Hubschrauber steht in Pearl River bereit", erklärte Lopez. Pearl River lag nördlich von Yonkers. Es gab dort einen kleinen Privatflughafen, der weitgehend unter Carinis finanzieller Kontrolle stand. Carini hatte lange für den Fall der Fälle vorausgeplant. Und jetzt, so schien es, war er eingetreten.

Die Ahnung eines Lächelns flog über Carinis Gesicht.

Finanziell würde er jedenfalls abgesichert sein, ganz gleich an welchem Ort auf der Welt er sich auch aufhielt. Selbst, wenn er einen kompletten Neuanfang starten musste...

Die Druckplatten hatten ihn saniert, nachdem er ein paar schwierige Jahre im Wettgeschäft zu überstehen gehabt hatte.

Das Handy klingelte ein zweites Mal.

Lopez nahm das Gerät ans Ohr. Das kantige Gesicht des Leibwächters zeigte eine Mischung aus Verwunderung und Besorgnis.

"Was ist?", fragte Carini.

"Das ist Jacky! Er meint, wir werden verfolgt!"

Carini blickte sich um. Hinter der Limousine fuhr ein unscheinbarer Golf. Das waren Carinis Leute. Drei schwerbewaffnete Gorillas, die notfalls eingreifen konnten, wenn es zu Komplikationen kam.

Der Beifahrer des Golf hatte ein Handy am Ohr und winkte Carini zu.

Carini beugte sich vor und riss Lopez den Apparat aus der Hand.

"Hier Carini. Seid ihr euch sicher, Jacky?"

"Kein Zweifel, Sir, da ist jemand hinter uns her... Ein Chevy. Sieht unscheinbar aus, aber ich verwette meine Kanone, dass der aus der Fahrbereitschaft des FBI oder der City Police stammt..."

"Provoziert einen Auffahrunfall", wies Carini seine Leute an. "Aber einen, der die Cops auch aufhält..."

"Aber, Boss..."

"Sorgt dafür, dass die Straße blockiert ist. Das ist alles!"

Carini klappte den Handy ein. Ein paar Augenblicke später hörte er hinter sich das Quietschen von Bremsen. Dumpf waren die Zusammenstöße zu hören. Carini drehte sich nicht um.

"Links abbiegen!", befahl er knapp seinem Chauffeur.

Die Limousine brauste um die Ecke, in eine kleine Einbahnstraße hinein.

*


Während Milo und ich in meinem Sportwagen die Fith Avenue am Central Park in Richtung East Harlem entlangjagten, meldete sich die Zentrale mit schlechten Nachrichten. Unsere Leute waren in einen Unfall geraten und hatten Carini verloren. Ein Hubschrauber war unterwegs und es lief eine Großfahndung an.

Unsere Kollegen hatten Carini in eine Einbahnstraße einbiegen sehen.

Er fuhr in nördliche Richtung.

Ein paar Minuten später hörten wir über Funk, dass Carinis Wagen von Beamten der City Police an einer Auffahrt zum Franklin D. Roosevelt Drive gesichtet worden war. Die City Police hatte dort einen Kontrollpunkt errichtet. Carinis Wagen hatte mitten auf der Fahrbahn gedreht. Ein Streifenwagen war ihm auf den Fersen und verfolgte ihn.

Carinis Limousine bewegte sich jetzt wieder südwärts, Richtung Yorkville.

Inzwischen kreiste der Hubschrauber über ihm. Carinis Position wurde ständig über Funk an alle Einheiten der Polizei und des FBI weitergegeben. Wie ein Wahnsinniger jagte er die Second Avenue hinunter und bog dann in die 8o. Straße ab. Dort saß er in der Falle. Einige Einsatzwagen des NYPD erwarteten ihn dort.

Die Kollegen blockierten mit ihren Wagen die Straße.

Milo und ich waren ganz in der Nähe.

Wir bogen von der anderen Seite in die Achtzigste ein. Eine Wagenlänge vor uns war der Streifenwagen, der Carini noch immer auf den Fersen war.

Carinis Chauffeur bremste. Die Limousine rutschte ein Stück vorwärts und kam dann zum Stehen.

Der Streifenwagen stellte sich quer. Die Kollegen sprangen aus dem Wagen und brachten ihre Waffen in Anschlag.

Ich ließ den Sportwagen mitten auf der Straße stehen. Es blieb mir gar nichts anderes übrig. Die Bürgersteige waren bereits dicht an dicht vollgeparkt. Milo und ich stiegen aus, rissen die Dienstpistolen aus den Halftern und gingen ebenfalls hinter dem Streifenwagen in Deckung.

Ich hielt kurz den Ausweis hoch, um die verdutzten Officers zu beruhigen.

"Agent Trevellian, FBI", sagte ich.

"Was ist das für ein Wahnsinniger, hinter dem ihr her seid", meinte einer der Officers kopfschüttelnd.

Milo sagte: "Wir können es uns leider nicht aussuchen."

Ein Chevy bog um die Ecke und kam mit einer Vollbremsung zum Stehen. Das waren Caravaggio und Medina.

Eine Megafonstimme ertönte von der anderen Seite und forderte die Insassen der Limousine auf, sich zu ergeben.

Einige Augenblicke lang geschah gar nichts.

Dann endlich schien Guy Carini begriffen zu haben, dass das Spiel aus war. Die Türen öffneten sich. Zuerst stiegen der Chauffeur und ein Leibwächter aus.

Dann kam der große Boss persönlich. Mit aschfahlem Gesicht.

Wir kamen aus unserer Deckung hervor. Der Leibwächter und der Chauffeur wurden von den Uniformierten in Empfang genommen und verhaftet. Handschellen klickten.

Ich wandte mich Carini zu - und jenem schmächtigen Mann mit schütteren Haaren, der erst jetzt aus dem Wagen stieg.

"Ich bin Anwalt!", rief er.

"Das trifft sich gut", erwiderte ich kühl. "Mr. Carini wird anwaltlichen Beistand dringend nötig haben... Allerdings werden Sie erklären müssen, welche Rolle Sie bei dieser Flucht gespielt haben, Mister..."

"Gaspardo."

Carini sah mich mit finsterem Blick an. "Was fällt Ihnen ein, G-man? Was soll dieser Zirkus?"

"Ich denke, Sie ahnen es", erwiderte ich.

"Ach, ja? Vielleicht klären Sie mich mal auf, weshalb Sie einen ehrbaren Geschäftsmann wie einen Schwerverbrecher behandeln." Er wandte sich an Gaspardo. "Mein Gott, unternehmen Sie etwas für Ihr Honorar!"

"Der Name Kerim sagt Ihnen etwas, oder?", fragte ich.

"Kommen Sie, G-man, was wird das hier für ein mieses Spiel? Ein Rate-Quiz? Ich habe Sie bereits einmal gewarnt. Und wenn dieses Theater hier vorbei ist, dann werden Sie noch bereuen, es eingeleitet zu haben. Sie wissen ja gar nicht..."

"Ja, ich weiß, ihre Verbindungen", nickte ich. "Von denen wird Sie morgen keiner kennen wollen, wenn es erstmal die Runde gemacht hat, welche Rolle Sie bei dem Überfall auf den Druckplatten-Transport gespielt haben."

"So?"

Ich zog zwei sorgfältig in Dritteln gefaltete Papiere aus der Innentasche meines Jacketts und händigte sie Carini aus.

"Was ist das?", brummte er.

"Lesen Sie sich beides gut durch. Das eine ist der Haftbefehl für Sie. Und das andere der Durchsuchungsbefehl für Ihre Privat- und Geschäftsräume."

"Was erhoffen Sie denn zu finden?"

"Ich nehme an, dass die Druckplatten längst an einem sicheren Ort sind, nicht wahr?"

"Das sind doch alles nur Unterstellungen!", mischte sich Gaspardo ein.

Ich wandte mich an den Anwalt. "Am besten Sie machen Mr. Carini möglichst schnell klar, dass er mit uns zusammenarbeiten sollte! Sonst sieht es sehr düster für ihn aus!"

"Sie bluffen doch nur, G-man!", rief Carini, bevor er abgeführt wurde.

"Der Staatsanwalt wird uns beglückwünschen", meinte Agent Medina.

Ich zuckte die Achseln.

"Das wird er wohl erst dann tun, wenn diese Druckplatten wieder auftauchen."

Orry machte eine wegwerfende Handbewegung. "Wer weiß, auf welchen dunklen Kanälen die längst verschwunden sind... Ich fürchte, die sehen wie nie wieder, Jesse."

*


Milo und ich fuhren am frühen Nachmittag nach Rikers Island, um mit Walid Kerim zu sprechen. Er schilderte Einzelheiten einer Schießerei, die in einer Montagehalle in Brooklyn stattgefunden hatte. Dort war Jespers erschossen worden.

"Sie wollten uns in Beton begraben", sagte Kerim bitter.

"Einige von ihnen haben das mit dem Leben bezahlt..."

"Wir werden Ihre Angaben überprüfen", erklärte ich.

"Tun Sie das! Es stimmt jedes Wort."

"Wir brauchen Namen", sagte ich. "Namen von Leuten, die noch an dem Überfall auf den Druckplatten-Transport beteiligt waren."

"Den eigentlichen Überfall hat Carini organisiert. Jespers und ich waren nur für Datenbeschaffung zuständig, indem wir uns in die EDV von McGordon Inc. hineinklickten." Er richtete sich ein Stück auf und verzog das Gesicht. "Wir kannten die anderen nicht. Und das war wohl auch das beste so. Je weniger man vom anderen wusste, desto besser, wenn etwas schiefgeht und einer erwischt wird."

"Kannten Sie diesen Mann?", fragte ich und zeigte ihm dabei ein Bild von Kevin Fernandez, bei dem die Bazooka gefunden worden war.

Er schüttelte den Kopf. "Nein, kenne ich nicht. Er sieht tot aus."

"Ist er auch. Sein Name war Kevin Fernandez. Sagt Ihnen der Name etwas?"

"Nein."

"Vielleicht kennen Sie ihn unter dem Namen Jay Wilbur?"

"Nein."

"Sie kannten also von den anderen Beteiligten nur Carini und Jespers?"

"Und Leila", sagte er.

"Die Schwester, die Sie angeblich haben?"

Ein mattes Lächeln ging über Walid Kerims Gesicht. "Woher wissen Sie das?"

"Carini hat Ihnen einmal aus der Klemme geholfen - weil Leila ihn dazu gebracht hat."

"Ja, das stimmt."

"Wo ist Leila jetzt?"

"Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie es war, die mich verraten hat. Niemand sonst wusste, dass ich im Fulton Hotel bin. Und wenig später tauchten die Killer dort auf... Carinis Killer, da bin ich mir sicher. Kurz zuvor hatte ich mit ihr telefoniert."

Milo hob die Augenbrauen und fragte: "Unter welcher Nummer haben Sie sie erreicht?"

Kerim nannte sie uns und ich notierte sie. Es war eine Mobilfunk-Nummer. Aus den Ziffern war das Betreiber-Unternehmen zu ersehen und vielleicht kamen wir auf diese Weise der Besitzerin dieses Handys auf die Spur.

Auch wenn Leila alias Carla Raines eine falsche Identität benutzte - zumindest das Konto, von dem aus die Gebühren abgebucht wurden, musste echt sein.

Ich fragte: "Was war Leilas Aufgabe?"

"Sie sollte sich an diesen Computerfachmann von McGordon Inc. heranmachen, um ihm die Passwörter abzuluchsen. Jespers und ich sind keine Superhacker. Und vor allem hatten wir nicht monatelang Zeit, um dann irgendwann vielleicht mit viel Glück endlich ans Ziel zu kommen."

"Ist Leila ihr wirklicher Name? Oder lautet der vielleicht Carla Raines?"

"Um ehrlich zu sein: Ich habe keine Ahnung."

"Was soll das heißen?"

"Ich habe sie als Leila kennengelernt. Und ich hielt sie für ein gewöhnliches Callgirl. Bekanntlicherweise tragen die auch mal Künstlernamen - wenn man das so bezeichnen kann. Sie hat eine ganze Weile bei mir gewohnt..."

"Waren Sie ihr Zuhälter?"

"Nein, es war ganz anders. Ich habe für sie gearbeitet. Sie hatte immer Geld und vermittelte mir eigenartige Jobs."

"Was für Jobs?"

"Leute fotografieren."

"Was für Leute?"

"Ich kannte sie nicht und ich habe auch nicht gefragt, was sie mit den Fotos gemacht hat. Manchmal waren es auch Orte. Ich weiß nicht genau, worauf sie es abgesehen hatte. Außerdem musste ich ihr manchmal dabei helfen, eigenartige E-Mails zu verschicken."

"Was für E-Mails?"

"Bilddateien. Alles mögliche. Bilder aus jedweder Epoche und in jeder Technik. Meistens Kunstmotive, aber auch Fotos. Sie hat sie aus Zeitschriften ausgeschnitten und dann eingescannt. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie die Motive gar nicht wirklich aussuchte, sondern mehr oder minder wahllos vorging."

"Haben Sie sie gefragt, was das soll?"

"Sicher."

"Und?"

"Sie ist mir ausgewichen. Normalerweise hätte ich gedacht, dass Leila vielleicht mit Kunstfreunden in aller Welt über das Internet korrespondiert. Aber andererseits war Leila nun wirklich nicht die typische Museumsbesucherin."

"Hat Leila Sie mit Carini zusammengebracht?"

"Ja. Carini hatte ein paar Jobs für mich..."

"Was für Jobs?"

"Ich möchte mich nicht unnötig selbst belasten, Mr. Trevellian!"

"Und wie ging das mit dem Überfall? Wie kamen Sie an diesen Job?"

"Ich hatte Leila eine Weile nicht gesehen. Sie war manchmal einfach für einige Zeit verschwunden. Ich hatte keine Ahnung, wo sie dann war. Jedenfalls schneite sie eines Tages plötzlich wieder in meine Wohnung. Machte ganz auf ladylike, mit Kostüm und so. Wie eine Börsenmaklerin oder Bankerin sah sie aus. Ich erkannte sie erst gar nicht wieder. Und dann hat sie mir gesagt, Carini hätte einen Riesen-Job für mich. Einen Job, nach dem ich ausgesorgt hätte."

Milo fragte: "Und wie kam Jespers dazu?"

"Ich habe ihn auf dem Treffen kennengelernt."

"Wo fand das statt?"

"Auf einem Parkplatz am Long Island Expressway."

"Und wer war alles anwesend?"

"Carini, einige Leute, die ich nicht kannte und Jespers."

"Leila nicht?"

"Nein."

Jetzt ging die Tür auf. Ein Mann im weißen Kittel kam herein. Ich kannte ihn flüchtig. Es handelte sich um Dr. Draper, den Chefarzt der Gefängnisklinik von Riker's Island.

Er wurde von einem bewaffneten Uniformierten begleitet.

"Sir, ich glaube, es reicht für den Patienten heute", erklärte er. "Ich muss Sie bitten, Ihre Vernehmung ein anderes mal fortzusetzen."

Ich nickte.

Kerim sah mich an.

"Was ist mit Carini?", fragte er.

"Er ist verhaftet", sagte ich. "Und vermutlich wird es sehr, sehr lange dauern, bis er wieder in Freiheit ist. Wenn überhaupt..."

Kerim sank in die Kissen zurück. Er schien erleichtert zu sein.

"Das ist gut", sagte er.

"Bitte gehen Sie jetzt, Mr. Trevellian", forderte uns Dr. Draper noch einmal auf.

"Noch eine Frage", sagte ich, als wir uns bereits ein paar Schritte in Richtung Tür bewegt hatten. "Leila ist ein arabischer Name, nicht wahr? Er bedeutet 'Nacht'."

Kerim lachte heiser.

"Ich wusste gar nicht, dass die Fremdsprachenausbildung beim FBI so umfassend ist!"

"Ihre Mutter erwähnte das..."

Sein Gesicht verändert sich, wurde etwas ernster.

"Ich spreche kaum mehr als ein paar Wörter", erklärte Kerim.

"Und Leila?"

"Was meinen Sie damit?"

"Hatte sie auch arabische Wurzeln?"

"Um ehrlich zu sein, habe ich mich manchmal gefragt, ob sie überhaupt irgendwelche Wurzeln hat. Ich weiß es nicht."

Wir verließen den Raum. Vor der Tür waren schwerbewaffnete Wachposten. Der ganze Trakt war durch mehrfache Schleusen gesichert. Überall folgten uns die elektronischen Augen von Überwachungskameras. Walid Kerim hatte keine Chance, hier zu entkommen. Umgekehrt konnte er aber auch sicher sein, dass er von niemandem unliebsamen Besuch bekommen konnte.

*


Die Festgenommenen schoben sich gegenseitig die Schuld zu und waren alle sehr gesprächig. Allen voran Gaspardo, der Anwalt, der plötzlich gar nichts mehr mit seinem Mandanten zu tun haben wollte. Er betonte immerzu, dass er an der geplanten Flucht Carinis nicht beteiligt gewesen sei, sondern unfreiwillig daran teilgenommen hätte.

Vielleicht würde man ihm das Gegenteil nicht beweisen können.

Von Lopez, dem Leibwächter, erfuhren wir, dass Carini sich von einem Privatflughafen aus mit einem Helikopter absetzen wollte. Ziel unbekannt. Mit dem Überfall auf den Druckplatten-Transport wollte er nichts zu tun gehabt haben.

Genauso wenig mit dem Mord an Jespers. Inzwischen nahmen die Kollegen der Scientific Research Division die Montage-Halle in Brooklyn unter die Lupe, in der man Jespers und Kerim hatte einbetonieren wollen.

Obwohl sich unsere Vernehmungsspezialisten eingehend mit Lopez und dem Chauffeur befasst hatten, bestand ich darauf, selbst noch einmal mit Lopez zu sprechen.

Ich suchte ihn in einer der Gewahrsamszellen auf, die wir in unserem Hauptquartier bereithalten.

Lopez knurrte mir etwas Unverständliches entgegen.

Besonders begeistert war er nicht von meinem Auftauchen.

"Mr. Lopez, wenn sich nicht doch noch herausstellen sollte, dass an Ihren Händen Blut klebt, haben Sie gute Chancen, mit einem blauen Auge aus dieser Sache herauszukommen", gab ich ihm zu bedenken. "Aber dazu müssen Sie mit uns zusammenarbeiten."

"Ich habe auf alle Fragen Auskunft gegeben", erwiderte er.

"Sie haben Ihren Boss ziemlich oft begleitet, nicht wahr?"

"Ja."

"Erinnern Sie sich an ein Treffen auf einem Parkplatz am Long Island Expressway?"

"Mein Gott, es gab so viele Treffen. Ich war nur dazu da, meinen Boss zu bewachen."

"Walid Kerim und Jespers waren anwesend. Es wurden Einzelheiten zur Durchführung des bevorstehenden Überfalls besprochen... Ich habe mit einem der anderen Teilnehmer des Treffens gesprochen, also reden Sie nicht drum herum."

"Okay, okay, es war so wie Sie sagen."

"Wir brauchen die Namen der anderen Anwesenden."

"Kannte ich nicht."

Ich glaubte ihm kein Wort. Aber immerhin schien Kerims Aussage im Hinblick auf dieses Treffen einigermaßen glaubwürdig zu sein.

"Sie lügen", sagte ich kühl.

Er sah mich an. "Was springt für mich dabei heraus?", fragte er dann.

"Ich bin kein Gebrauchtwagenhändler", sagte ich. "Sie können mit mir nicht feilschen. Außerdem habe ich auch gar nichts anzubieten. Allerdings wäre Ihre Aussage jetzt sehr viel glaubwürdiger, als wenn Sie erst damit warten, bis irgendjemand von Carinis Leuten Sie anschwärzt - aus welchem Grund auch immer."

Lopez atmete tief durch. Dann sagte er: "Ich kenne wirklich nicht alle. Aber Pete Norringham und Jack Lupica waren dabei."

"Was sind das für Leute?"

"Zwei, die auch früher schon für Carini Jobs der gröberen Art erledigt haben. Ja, und dann war da noch Mr. Al-Malik."

"George Al-Malik? Mr. Carinis Partner?"

"Genau."

Ich verließ Lopez' Zelle und grübelte über den Hinweis auf Al-Malik nach, diesen Geschäftsmann, über den wir so gut wie nichts wussten. Offenbar war seine Weste nicht so weiß, wie es erst den Anschein gehabt hatte.

*


George Al-Malik fuhr mit seinem schwarzen Sportflitzer den Interstate McKeeway 495 entlang, der in Riverhead endete. Von dort aus hielt Al-Malik sich in nördliche Richtung. Er hatte das Verdeck seines Wagens nach hinten geklappt und genoss es, dass der frische Meerwind, der vom Atlantik her über Lond Island fegte, ihm um die Ohren blies.

Neben ihm auf dem Beifahrersitz saß Mike - eigentlich Michel -, der für ihn als Leibwächter tätig war. Mike war ein Neffe Al-Maliks. Er gehörte zur Familie. Und das war einer der Gründe dafür, weshalb er Mike absolut vertraute.

Ans Steuer seines Sportflitzers ließ er ihn trotzdem nicht.

Al-Malik war ein Autobesessener. Er liebte das Fahren, vor allem auf relativ abgelegenen Pisten, auf denen man kaum je erwischt werden konnte, wenn man sich nicht an die strengen Geschwindigkeitsbegrenzungen hielt.

Al-Malik trat das Gaspedal voll durch.

Es kamen ihm kaum Fahrzeuge entgegen. Long Island, diese mehr als hundert Kilometer lange Insel, die sich wie ein langer Wurm vor der Küste der Staaten New York und Connecticut hinzog, hatte tatsächlich noch einsame Ecken.

Zumindest auf dem Ostteil der Insel.

Die Straßen wurden immer schmaler. Möwen kreischten. Das himmelblau in der Sonne glitzernde Wasser des Long Island Sound war hier und da hinter der Dünung zu sehen. Auf der anderen Seite dieser Bucht lag die Connecticut-Küste. Al-Malik brauste die Küstenstraße entlang.

"Wie kannst du nur so ruhig sein", meldete sich Mike irgendwann zu Wort, der sich während der ganzen Fahrt immer wieder umgedreht hatte, als erwartete er jeden Moment, dass ein Verfolger auftauchte.

"Wir haben es fast geschafft, Mike. Und dann habe ich ausgesorgt - und du auch."

"Der FBI hat Carini in der Mangel, George. Und der wird reden."

"Das wird er nicht. Er wird schön die Klappe halten, dafür wird schon sein Anwalt sorgen. Schließlich könnte Carini sich sonst um Kopf und Kragen reden. Er steckt einfach viel zu tief drin im Dreck, da muss er sehr vorsichtig sein."

"Ich weiß nicht..."

"Außerdem habe ich mich bei allem immer hübsch im Hintergrund gehalten. Die Finger haben sich andere schmutzig gemacht. Leute wie Carini, die zu gierig waren, um einen klaren Kopf behalten zu können." Al-Malik lachte rau.

"Der FBI stellt eure Wettbüros auf den Kopf..."

"Und? Was sollte er da finden, Mike? Nichts, was mich belasten könnte. Und selbst wenn der ungünstigste Fall eintritt - in Kürze sind wir mit einer Riesensumme im Ausland. Und ich habe das Gefühl, dass sie noch etwas größer ausfällt, als ursprünglich erwartet..."

"Du willst pokern?", fragte Mike. Besorgnis klang in seinem Tonfall mit.

"Mach dir nicht in die Hosen, Junge!"

"Ich finde nur, dass du nicht in der Position bist, das zu tun."

"Und ich finde, dass dir diese Kritik nicht zusteht, Mike."

Seine Worte klangen eisig. Etwas versöhnlicher setzte er hinzu: "Mike, wir haben etwas, hinter dem die ganze Welt her wäre! Wir wären dumm, wenn wir diesen Trumpf nicht ausspielen würden. Alles hat seinen Preis, Mike... Alles!"

*


An der Küste tauchte ein Bungalow auf. Er hatte eine traumhafte Lage in Strandnähe.

Ein Lächeln umspielte Al-Maliks Gesicht.

Das war sein Haus.

Er hatte diese Immobilie vor Jahren erworben, um sich hin und wieder für ein paar Wochen eine Art Auszeit nehmen zu können. Hier fand ihn niemand.

Er fuhr den Sportflitzer in die Einfahrt.

Sie stiegen aus.

Mike knöpfte sein leichtes Baumwolljackett auf, um notfalls die Automatik blitzschnell aus dem Schulterholster herausreißen zu können.

Al-Malik ging zielstrebig auf die Tür zu, suchte nach dem richtigen Schlüssel.

"Hier sind Reifenspuren", stellte Mike fest.

"Sicher unsere eigenen."

"Nein, dein Flitzer hat schmalere Reifen."

"Komm schon, Mike. Ich war vorgestern mit einem anderen Wagen hier."

Al-Malik öffnete die Tür. Mike folgte ihm.

Sicherheitshalber zog er die Automatik heraus. Sie durchquerten einen Flur, dann betraten sie das Wohnzimmer, in dessen Mittelpunkt sich ein großer Kamin befand.

Auf der Couch lag eine Frau. Dunkle Augen blickten Al-Malik aus einem feingeschnittenen äußerst hübschen Gesicht heraus an.

"Leila", entfuhr es Al-Malik.

Mike steckte seine Waffe weg.

Leila nahm die Füße von der Couch und schlüpfte in ihre Schuhe. Sie trug ein blaues Kleid, das sich äußerst eng an ihre aufregenden Formen schmiegte und eine Handbreit oberhalb des Knies endete.

"Hallo, George", hauchte sie und strich sich dabei einige verirrte Haarsträhnen aus dem Gesicht.

Sie bückte sich und nahm einen Schlüssel von dem niedrigen Wohnzimmertisch auf. Sie hielt ihn in der Hand und ließ ihn am Anhänger hin und herbaumeln. "Den hattest du mir einst überlassen. Erinnerst du dich noch?"

"Sicher erinnere ich mich", erwiderte Al-Malik, während auf seinem Gesicht ein entspannterer, leicht verklärter Zug erschien. "Wie könnte ich das vergessen haben..."

"Du sagst es."

"Genau wie die Nächte mit dir, Leila." Al-Malik atmete tief durch. Er stellte sich Leila gegenüber. Mike blickte derweil aus dem Fenster. Das Meeresrauschen war im Hintergrund zu hören. Und manchmal stach der Schrei einer Möwe aus dieser immerwährenden Geräuschkulisse heraus. "Möchtest du einen Drink, Leila?", fragte Al-Malik.

"Nein, danke. Und ich denke, dass du auch besser nüchtern bleibst, Darling." Sie nestelte am Revers seiner Jacke herum. Sein Blick verharrte einen Augenblick auf ihren Brüsten.

Dann sah sie ihm geradewegs in die Augen.

Ein Blick, so kalt wie Stahl.

"Ich bin weder zum Vergnügen noch um der alten Zeiten willen hier", zischte sie.

"Ach, nein? Bedauerlich, Leila."

"Ich will die Platten! Ich hoffe, du hast sie mitgebracht."

"Bin ich wahnsinnig?"

"Langsam könnte man auf den Gedanken kommen. Schließlich gefährdest du mit deiner Verzögerungstaktik alles."

Al-Malik lachte.

"Nun mal halblang", erwiderte er. "Nur wegen des Theaters, was im Moment wegen Carini im Gang ist, wird doch jemand wie du nicht gleich den Kopf verlieren, oder?"

"Deswegen nicht, aber..."

"Aber was?"

"Schluss mit dem Gequatsche, Darling! Ich will die Ware!"

"Kriegst du auch, Leila. Es hat sich nur eine Kleinigkeit geändert."

Sie hob die Augenbrauen.

"Und das wäre?", fragte sie kühl.

"Der Preis. Die Ware ist an einem sicheren Ort. Es hat also keinen Sinn, mich aufs Kreuz legen zu wollen.

"Wie viel?", fragte sie.

"Das Doppelte."

Ihre Augen wurden schmal, bekamen etwas Katzenhaftes. Sie entblößte ihre makellos weiß aufblitzenden Zähne.

"Du bis wahnsinnig, Darling. Und außerdem so gut wie tot."

*


Die Tür zum Nebenraum sprang auf. Ein Mann im dunklen Anzug umklammerte mit beiden Händen den Griff einer Automatik, deren Lauf in einem langen Schalldämpfer mündete.

Mike wirbelte herum.

Er griff unter das Jackett, während im selben Augenblick sein Gesicht zu einer Maske des Entsetzens wurde. Er riss die Pistole heraus.

Das dumpfe Geräusch einer Schalldämpferwaffe ertönte zweimal kurz hintereinander. Ein Zucken ging durch Mikes Körper. Das erste Projektil zerriss ihm den Hals, das zweite fuhr ihm in die Herzgegend. Er taumelte zurück, während sich sein Baumwolljackett rot verfärbte. Er rutschte gegen das Fenster, sackte dann zu Boden. Die Scheibe war blutverschmiert.

Mit starren Augen blickte Mike in Richtung seines Onkels George Al-Malik.

Der Killer trat etwas vor. Seine Waffe richtete sich auf Al-Malik.

Ein gemeines Grinsen spielte um seine Lippen, die dünn wie ein Strich waren.

"Darling, spätestens jetzt solltest du begreifen, dass du auf dem Holzweg bist, wenn du glaubst, mit mir Katz und Maus spielen zu können", hauchte Leila. "Wo sind die Platten?"

Al-Malik verzog das Gesicht.

"Jedenfalls wirst du das nicht mehr erfahren, wenn dein Gorilla mir eine Kugel in den Kopf gejagt hat", stellte er fest.

"Du scheinst es immer noch nicht begriffen zu haben, Darling. Die Zeit, in der du pokern konntest ist vorbei. Du hast deine Asse ausgespielt. Und jetzt sind wir an der Reihe. Tut mir leid für dich, dass man das mit dir nicht in einer angenehmeren Atmosphäre besprechen kann."

Sie nickte dem Killer kurz zu.

Dieser bleckte die Zähne wie ein Raubtier.

Blitzschnell sauste die Faust seiner Linken in George Al-Maliks Gesicht. Der Geschäftsmann taumelte rückwärts und kam hart gegen die Steinwand, die den Kamin umgrenzte. Das Blut schoss ihm aus der Nase.

Al-Malik rutschte zu Boden.

Er stöhnte.

Ihm war schwindelig. Und durch eine Welle des Schmerzes hindurch nahm er Leilas eiskalte Stimme wahr.

"Mein Freund hier hat reichlich Erfahrung darin, wie man schweigsame Menschen zum Sprechen bringt..."

*


Die Fahndung nach Pete Norringham, Jack Lupica und George Al-Malik lief auf Hochtouren. Norringham und Lupica waren einschlägig vorbestraft. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie uns ins Netz liefen. George Al-Malik schien in keiner seiner Büros erreichbar zu sein. Orry und Caravaggio waren auf dem Weg nach Jersey City, wo Al-Malik eine Villa besaß.

Vielleicht hatte auch Al-Malik bereits kalte Füße bekommen und war untergetaucht.

Milo und ich saßen Guy Carini gegenüber. Agent Baker, einer unserer Vernehmungsspezialisten war auch anwesend.

Carini schien sich entschlossen zu haben, die Flucht nach vorne anzutreten.

"Ich habe niemandem den Auftrag gegeben, Kerim und Jespers umzubringen. Das ist einfach nicht wahr", wehrte er sich.

"Und Sie werden Schwierigkeiten haben, das zu beweisen."

"Vielleicht ist die Beweislage noch nicht ganz so klar wie bei Ihrer Beteiligung an der Planung des Überfalls, aber nach und nach werden all die kleinen Handlanger ihrer Organisation zu reden anfangen. Und dann wird es eng für Sie, Carini", gab ich zu bedenken.

Carini atmete tief durch.

"Stört es Sie, wenn ich rauche?", fragte er dann.

"Seit ich es mir selbst abgewöhnt habe, ja", erwiderte ich.

In seinem Gesicht zuckte es nervös unterhalb des linken Auges.

"Ich wollte Kerim und Jespers wirklich helfen, auch wenn sie ein bisschen unverschämt waren."

"Jespers' Leiche wird gerade aus dem Beton geschlagen", sagte ich. "In einer abruchreifen Montagehalle in Brooklyn."

"Was habt ihr Kerim versprochen für sein Gequatsche?", zischte er wütend.

"Ich schlage vor, Sie verschwenden jetzt keinen Gedanken an Kerims Schicksal, sondern an Ihr eigenes", schlug Baker vor.

"Also gut", sagte er. "Meine Leute haben Kerim und Jespers bis zu diesem abbruchreifen Gebäude gebracht. Das war alles. Mit dem, was dann passierte, hatte ich nichts zu tun. George hat gesagt, ich sollte die beiden dort absetzen, den Rest würde er erledigen."

"Sie sprechen von George Al-Malik, ihrem Partner", stellte Milo fest.

"Ja", nickte er.

"Mir kommen die Tränen", sagte ich. "Und sie konnten sich nicht denken, was mit ihnen passieren würde?"

"Ich dachte, George sorgt dafür, dass sie untertauchen."

"In Beton."

"Nein, verdammt nochmal! George hat zahlreiche internationale Kontakte. Es ist nicht das erste Mal, dass er jemandem geholfen hat. Ich wusste nicht, was seine Gorillas vorhatten. Und Sie werden mir schwerlich das Gegenteil beweisen können!"

"Und die Männer, die später hinter Kerim her waren und für die Schießerei im Fulton-Hotel verantwortlich sind?"

"Ich nehme an, dass das Georges Männer waren."

"Sie nehmen es an..."

"Mein Gott, fragen Sie ihn doch selber!", brauste er auf.

"Das werden wir, sobald wir ihn haben", versprach Milo.

"Wenn Sie schnell sind, dann werden Sie bei ihm auch die Druckplatten finden. Obwohl ich beinahe vermute, dass er sie längst weitergegeben hat..."

"Was wissen Sie über George Al-Malik?", fragte ich.

"Zu wenig, wie sich inzwischen herausgestellt hat", knurrte er. Er zuckte die Achseln. "Ich habe keine Ahnung, womit er sein Geld gemacht hat, aber Tatsache ist, dass er immer genug davon hatte."

"Ein idealer Teilhaber, oder?", meinte Baker.

"Wie man's nimmt. Jedenfalls kam er eines Tages mit der Idee, Original-Druckplatten zur Herstellung von Dollarscheinen an sich zu bringen. Möglichst natürlich einen kompletten Satz, also auch die Vorlagen für die hohen Scheine. Ich hielt das zwar nicht für undurchführbar, war aber skeptisch, was einen Verkauf solcher Druckplatten anging."

"Doch Al-Malik teilte diese Skepsis nicht." Es war eine Feststellung, die da über Milos Lippen kam.

"Nein, er sagte, dass er einen sicheren Abnehmer hatte und nannte mir eine Summe, die so fantastisch war, dass ich nicht ablehnen konnte. Meine Aufgabe war es, das entsprechende Personal zusammenzustellen."

"Und Al-Malik war der Mann im Hintergrund", sagte ich.

"So ist es."

"Haben Sie Ihr Geld gekriegt?"

"Ja."

"Wir unterhielten uns mal über eine Leila. Erinnern Sie sich?"

Carinis Gesicht wurde finster.

"Was ist mit ihr?"

"Sie behaupteten, sie hätten Sie seit der Zeit nicht mehr gesehen, als sie ihr zu liebe die Kaution für Walid Kerim zahlten..."

Er verdrehte die Augen. "Mein Gott, ich wollte Sie loswerden, Trevellian!"

"Sie haben also gelogen."

"Ich stand ja nicht unter Eid, oder?"

"Was wissen über diese Frau?"

"Sie war Kerims Schwester."

"Da hat sie ihnen Märchen erzählt."

"Sie hatte einen Pass auf den Namen Leila Kerim, den habe ich selbst gesehen", erklärte er. Er fuhr sich mit einer nervösen Geste über das Gesicht. "Ich hatte sie wirklich eine ganze Weile nicht gesehen, dann tauchte sie plötzlich in Begleitung von George Al-Malik auf. Ich habe keine Ahnung, wo sie ihn kennengelernt hat. George wollte sie unbedingt mit der Aufgabe betrauen, die Passwörter zu besorgen, die nötig waren, um in die EDV von McGordon Inc. hineinzukommen." Er zuckte die Achseln. "Eine schöne Frau, die sich immer ins richtige Bett legt - so etwas soll's doch öfter geben, oder?"

*


"Was ist mit dem Killer ohne Namen?", fragte ich Baker, nachdem wir den Verhörraum verlassen hatten.

"Er ist nach wie vor stumm wie ein Fisch, Jesse. Und Carini behauptet, ihn nicht zu kennen."

"Hat es eine Gegenüberstellung gegeben?"

"Ja, aber ohne Ergebnis."

"Hat die Überprüfung seiner Waffe nichts ergeben?"

"Nein. Aber echte Voll-Profis wechseln die ab und zu, um uns das Geschäft schwerer zu machen."

Zehn Minuten später saßen wir im Büro von Mr. McKee. Agent Carter, unser Fahndungspezialist war auch anwesend. Und er hatte inzwischen ein paar interessante Neuigkeiten, was Leila anging, die geheimnisvolle Leder-Lady, die vermutlich eine eiskalte Mörderin war.

"Wir haben ermittelt, von wessen Konto ihre Handy-Gebühren abgebucht werden."

"Und?", fragte ich.

"Alexandra Lester, 74. Straße West, Hausnummer 324. Sie hat ein Konto bei der Grand National Bank, von dem jeden Monat die anfallenden Beträge abgebucht werden. Offenbar scheint sie viel zu telefonieren. Ein Nachweis über die einzelnen Gespräche wird uns noch durchgegeben."

"Wo sie ist, könnte auch Al-Malik sein", meinte Milo.

"Statten Sie dieser Adresse ruhig einen Besuch ab", meinte Mr. McKee.

"Ich hoffe nur, dass sie dort nicht genauso penibel aufgeräumt hat, wie bei bei ihrer letzten Adresse", sagte Milo.

"Fest steht für mich jedenfalls, dass sie in diesem Fall eine viel größere Rolle spielt, als wir ihr bisher zugestanden haben", meinte ich. "Warum dieser Aufwand? Sie muss diese verschiedenen Identitäten parallel zueinander aufgebaut haben. So etwas braucht viel Zeit und Vorbereitung.

Und ich schätze, dass es dafür einen sehr plausiblen Grund geben muss."

Mr. McKee sah mich an, nahm einen Schluck vom heißen Kaffee und runzelte leicht die Stirn. "Woran denken Sie, Jesse?"

"Kerim hat mir erzählt, dass sie scheinbar wahllos Bilddateien als E-Mails verschickt hat...", murmelte ich.

"Du denkst an Übertragung von verschlüsselten Informationen in Mikropunkten?", erriet Max Carter meinen Gedanken.

"Jedenfalls lässt sich auf diese Weise eine ungeheure Menge an Daten ganz unauffällig versenden. Wer macht so etwas?"

Das war natürlich eine rhetorische Frage.

Wir alle wussten es.

Es gehörte zu den Essentials unseres Jobs.

"Geheimdienste", sagte Mr. McKee. "Aber bis jetzt haben wir nur das Gerede von Walid Kerim, was in diese Richtung deutet, Jesse. Die Tatsache, dass diese Leila verschiedene Pässe offenbar nach Belieben aus dem Ärmel zieht, lässt sich auch anders erklären..."

"Aber wer außer Geheimdiensten würde einen derartig großen Aufwand treiben? Eine falsche Identität ist nicht gerade billig, Mr. McKee. Das wissen Sie so gut wie ich..."

Mr. McKee nickte nachdenklich. "Was Sie sagen klingt plausibel, Jesse. Aber es bleibt Spekulation. Wenn wir Al-Malik und diese Leila haben, werden sich einige Fragen vielleicht von selbst beantworten."

Wir nahmen uns kaum Zeit, um den Kaffee aufzutrinken, dann waren wir auch schon auf dem Weg in die Upper West Side, in die 74. Straße.

Alexandra Lesters Wohnung befand sich im 5. Stock eines Apartmenthauses der oberen Mittelklasse. Eine Adresse, die in vielem der von Carla Raines ähnelte. Hier herrschte Anonymität. Kaum einer der Bewohner von Nr. 324 kannte seine Nachbarn. Und die Sicherheitsmaßnahmen waren auch nicht auf dem neuesten Stand.

Milo und ich klingelten an der Wohnungstür.

Es öffnete niemand. Von der Hausverwaltung hatten wir uns einen Schlüssel aushändigen lassen, aber der passte nicht.

Alexandra Lester schien irgendwann das Schloss ausgewechselt zu haben, um vor unerwarteten Besuchen völlig sicher zu sein.

Also traten wir die Tür ein.

Mit der Pistole im Anschlag durchquerten wir einen ziemlich modern eingerichteten Raum. Er war vollkommen in schwarz und weiß gehalten. Ein sachliches, unpersönliches Design. Auf den schwarzen Regalen war der Staub gut zu sehen. Eine dünne, graue Schicht.

"Miss Lester scheint schon eine ganze Weile nicht mehr hier gewesen zu sein", meinte Milo, als er das Schlafzimmer überprüft hatte.

Ich steckte die P226 wieder ein.

"Ich frage mich, wie viele solcher geheimer Zufluchtsbasen diese Frau noch hat", meinte ich.

Wir durchsuchten jeden Winkel. Im Gefrierfach des Kühlschranks befand sich eine automatische Pistole, Kaliber 45. Sie war sorgfältig in Zellophan eingepackt. Der Schalldämpfer ebenfalls, zusammen mit 50 Schuss Munition.

Und in der Toilettenspülung befand sich ein Päckchen mit 50 000 Dollar in gebrauchten Scheinen, die jedoch sorgfältig gebündelt worden waren.

Im Kleiderschrank fanden wir unauffällige, praktische Sachen. Wir durchsuchten alles. Jede Tasche, jeden Schuh.

Aber auch da war nichts zu finden. Keine vergessene Notiz, keine notierte Telefonnummer, kein Adressbüchlein.

Sie wusste, was sie tat. Da war ich mir sicher.

Ich fragte mich, in wessen Auftrag sie hier war.

Es gab auch einen Telefonanschluss. Ich drückte die Wiederholungstaste. Es meldete sich eine geschäftsmäßig freundlich klingende Frauenstimme. "Hier ist die Rezeption des Hotels Plaza Athenee, Sie wünschen bitte?"

"Entschuldigen Sie, ich habe mich verwählt", erwiderte ich und legte wieder auf.

Milo sah mich an.

"Und?"

"Scheint, als hätte Alexandra Lester oder wie die Lady auch immer heißen mag, sich ein Hotelzimmer reserviert. Jedenfalls hat sie im Plaza Athenee angerufen."

"Nach der Staubschicht, die sich auf dem Apparat gebildet hat, muss das aber schon eine ganze Weile her sein, Jesse."

"Genau werden wir das wissen, wenn wir eine Gesprächsaufstellung der Telefongesellschaft für diesen Apparat haben."

"Sieht aus, als hätte Leila hier eine Art Fluchtburg gehabt. Ich schlage vor, wir lassen das Schloss wieder in den Ursprungszustand bringen und die Wohnung unter Beobachtung stellen. Eine Genehmigung für eine Abhöranlage müsste auch zu bekommen sein."

"Und wenn wir dann Glück haben, kommt Sie irgendwann mal wieder vorbei!"

"Genau."

"Ich möchte aber trotzdem, dass wir Leilas Phantombild im Plaza Athenee herumzeigen. Selbst, wenn der Anruf schon länger zurückliegt, könnte es ja sein, dass sie dort mal gewesen ist und sich jemand an sie erinnert."

"Nichts dagegen, Jesse."

Später unterhielten wir uns mit dem Verwalter und den Angestellten des Security Service. Sie glaubten beide, Alexandra Lester auf dem Phantombild zu erkennen, das wir von der Geheimnisvollen angefertigt hatten.

"Sie sah allerdings ganz anders aus", meinte der Verwalter.

"Viel konservativer. Eigentlich wirkte sie eher unauffällig."

"Kann schon sein, dass sie sich etwas anders hergerichtet hat", erwiderte ich.

"Sie war auch nicht oft hier", fuhr er fort. "Aber das gilt in diesem Haus nicht nur für Sie. In New York wird eben viel gearbeitet. Für manche lohnt es sich doch kaum, aus ihren Büros abends noch nach Hause zu kommen..."

"Ist Ihnen sonst irgend etwas Ungewöhnliches aufgefallen?"

"Nein. Es gab nie Probleme mit ihr. Um ehrlich zu sein, ich verstehe auch nicht ganz, weswegen sich der FBI für sie interessiert. Auf mich machte sie eher einen unauffälligen, etwas biederen Eindruck."

*


Al-Maliks Villa in Jersey City lag in der Thornton Street, einer guten Wohngegend. Medina und Caravaggio stellten den Wagen am Straßenrand ab und betätigten die Sprechanlage vor dem gusseisernen Tor. Niemand meldete sich.

"Entweder es ist niemand da oder Mr. Al-Malik legt auf unseren Besuch keinen Wert", meinte Caravaggio.

Sie versuchten es noch einmal.

Das Grundstück war von einer hohen Sandsteinmauer umgeben.

Darüber war Stacheldraht, der laut einem Warnschild elektrisch geladen war. Al-Malik hatte sich ziemlich eingeigelt. Und offenbar hatte er gute Gründe dafür.

Caravaggio berührte das Tor. Es bewegte sich ein Stück.

"Es ist offen, Orry", stellte er überrascht fest.

Wie auf ein geheimes Zeichen hin griffen beide G-men augenblicklich zu ihren Dienstpistolen.

Dass Al-Malik vergaß, sein Tor zu schließen, war relativ unwahrscheinlich.

Eine andere Möglichkeit lag wesentlich näher.

"Könnte sein, dass wir nicht die ersten sind, die Mr. Al-Malik einen Besuch abstatten wollen..."

Die beiden G-men betraten das Grundstück. Eine prachtvolle Gartenanlage mit millimetergenau geschnittenem Rasen und üppigen Blumenbeeten umgab die Villa. Im Vergleich zu dem, was die beiden G-men allerdings sonst bei Unterweltgrößen zu sehen bekamen, wirkte sie eher schlicht.

Die beiden bewegten sich auf das Portal zu.

Ein breiter Treppenaufgang war dort zu sehen. Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Irgendwo klapperte ein Fenster oder eine Tür hin und her.

Orry und Caravaggio pirschten sich bis zu einem großen Blumenkübel heran.

In der Mitte waren die Blumen seltsamerweise spärlicher, so als als würde etwas sie zu den Seiten hindrücken.

Orry griff mit der Hand hinein. Er teilte das üppig sprießende Grün auseinander und blickte dann in die starren, toten Augen eines Mannes. Mit der Hand hielt er eine MPi fest umklammert. Der Oberkörper war rot. Knapp unterhalb des Herzens klaffte eine furchtbare Schusswunde.

"Das muss ein Leibwächter Al Maliks sein", meinte Orry.

"Wir kommen also zu spät", stellte Caravaggio düster fest.

"Oder wir stören jemanden bei der Arbeit..."

Sie schlichen in Richtung des Portals, die Sig Sauer P226 immer im Anschlag. Denn sie konnten ja nicht wissen, ob der oder die Killer, die dem Leibwächter das Lebenslicht ausgeblasen hatten, noch im Haus waren.

Medina pirschte sich als erster die Treppen hinauf.

Clive Caravaggio folgte und deckte seinen Freund und Partner ab.

Die Tür war nicht abgeschlossen.

Orry riss sie auf, Caravaggio stürzte mit der Waffe im Anschlag hinein. Blitzschnell ließ er den Blick durch den großzügig angelegten Empfangsraum schweifen. An der Wand hingen kostbare Wandteppiche. Das Mobiliar wirkte zierlich und war von erlesenem Geschmack. Vermutlich Antiquitäten.

Aber jemand hatte sie sehr schlecht behandelt. Stühle und ein kleiner runder Tisch lagen durcheinandergekegelt auf dem Boden.

Und auf dem glatten Mamorboden lag lang hingestreckt der Kadaver eines Rottweilers.

Das Tier trug einen Maulkorb. Es hatte überhaupt keine Chance gegen seinen Gegner gehabt, der ihm mit mehreren Schüssen den Bauch aufgerissen hatte.

Die beiden G-men nahmen sich die nächsten Räume vor.

Es herrschte ein heilloses Chaos. In großer Eile war diese Villa durchsucht worden.

Im Schlafzimmer fanden sie einen an ein Bett gefesselten Mann, der offenbar gefoltert worden war. Vermutlich handelte es sich ebenfalls um einen von Al-Maliks Leuten. Zum Schluss hatte man ihm eine Kugel in die Schläfe gejagt.

"Wer immer auch dahinterstecken mag, er zeichnet sich durch ein ausgesprochen grausames Vorgehen aus", stellte Medina düster fest.

"Die Täter waren in großer Eile", glaubte Clive Caravaggio zu erkennen.

Er steckte die Waffe weg und holte sein Handy hervor.

Für den Erkennungsdienst würde es viel Arbeit geben.

*


Milo und ich fuhren in die 64. Straße zum Hotel Plaza Athenee.

Ein Mann und eine Frau hatten gerade Dienst an der Rezeption. Sie trugen Namensschilder an ihren Hoteluniformen.

Der Mann hieß Myers, die Frau Ramirez.

Ich zeigte meinen Ausweis.

"Mein Name ist Jesse Trevellian, ich bin Special Agent des FBI. Mein Kollege und ich hätten gerne eine Auskunft von Ihnen."

"Nun, ich weiß nicht...", brachte Miss Ramirez etwas unsicher hervor und blickte fragend zu ihrem Kollegen.

Ich holte einen Abzug des Phantombildes hervor, das wir von Leila alias Carla Raines alias Alexandra Lester hatten.

"Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen?"

Miss Ramirez nahm sich das Phantombild und betrachtete es mit skeptischem Gesichtsausdruck. Ihr Kollege Myers sah ihr dabei über die Schulter. Seine Augenbrauen bildeten dabei eine Schlangenlinie.

"Wer soll das sein?", fragte Myers.

"Sie trägt verschiedene Namen", sagte ich. "Vielleicht hat sie sich Leila Kerim genannt oder Alexandra Lester..."

"...oder Carla Raines", ergänzte Milo.

"Wir dulden keine Prostituierten hier", sagte Myers.

"Zumindest, soweit wir das zu erkennen glauben, gehen wir dagegen vor. Schließlich sind wir kein Stundenhotel. Und Sie können sich sicher sein, dass wir alles..."

"Sicher", unterbrach ich ihn.

"Natürlich haben wir kaum eine Handhabe, wenn ein Geschäftsreisender eine Dame mit auf das Zimmer nimmt."

"Es geht hier nicht um Prostitution", sagte ich. "Und es will Ihrem Hotel niemand ans Leder. Dafür wären wir ohnehin nicht zuständig, sondern die Vice-Abteilungen des jeweiligen Reviers des NYPD. Nicht der FBI. Sehen Sie sich diese Frau nochmal gut an... Es steht fest, dass Sie als Alexandra Lester vor einiger Zeit mit dem Plaza Athenee telefoniert hat..."

"Wir könnten bei den Zimmerreservierungen nachsehen", schlug Miss Ramierez vor.

"Tun Sie das bitte."

Und Milo ergänzte: "Die Frau scheint häufig ihr Äußeres zu ändern. Es kann sein, dass Sie sie in einem ganz anderen Outfit gesehen haben."

"Sie kommt mir bekannt vor", sagte Myrers. "Aber das kann doch nicht..." Er schüttelte den Kopf. "Das glaube ich einfach nicht!"

"An wen denken Sie?"

Myers sah mich mit sehr ernstem Gesicht an.

"Wenn ich jetzt einen Namen ausspreche, dann bedeute das für einen unserer Gäste erhebliche Unannehmlichkeiten, nicht wahr? Sollte das ganze aber ein Irrtum sein, fällt es auf unser Hotel und letztlich auf mich zurück. Was glauben Sie, was unser Chef danach mit mir macht? Ich möchte hier ganz gerne noch etwas länger arbeiten, wenn Sie verstehen, was ich meine!"

"Diese Frau ist vermutlich eine brutale Mörderin, Mr. Myers. Sie war an der Vorbereitung des Überfalls auf den Druckplatten-Transport beteiligt, bei dem zwei unschuldige Wachmänner rücksichtslos von einer Bazooka zu einem Haufen aus verkohlten Knochen und Asche verbrannt wurden. Wenn Sie etwas wissen, dann sagen Sie es uns."

Er atmete tief durch.

Er nahm sich noch einmal das Bild vor, dann nickte er.

"Du denkst doch nicht an Miss Smith?", meinte seine Kollegin.

"Doch, genau an die denke ich. Und du doch auch!" Er sah mich an: "Rebecca Smith hat seit drei Monaten eine Suite bei uns gemietet."

"Ist diese Rebecca Smith zur Zeit im Haus?"

"Nein, der Schlüssel hängt hier."

"Sie ist nicht oft hier, nicht wahr?"

"Miss Smith ist eine Geschäftsfrau, die für ein Software-Unternehmen an der Westküste tätig ist, aber ziemlich häufig in New York bei Verhandlungen für ihr Unternehmen anwesend sein muss."

"Und daher hat sie diese Suite dauerhaft gemietet."

"Ja."

Milo meinte: "Ein hübsches Märchen."

Ich wandte mich an Myers. "Bitte zeigen Sie uns die Suite."

Myers nahm den entsprechenden Schlüssel vom Haken und begleitete uns zu den Aufzügen.

Ein paar Minuten später standen wir vor Rebecca Smiths Suite. Myers öffnete sie. Die Zimmermädchen hatten ganze Arbeit geleistet. Jedes Detail war an seinem Platz. Vom Telefon aus war zuletzt der Zimmerservice angerufen worden.

Ein Stapel Zeitschriften lag wohlgeordnet daneben.

Illustrierte zumeist. Kunstzeitschriften genauso wie Modeblätter. Es fiel auf, dass immer wieder Bilder herausgeschnitten waren.

Die Suite enthielt einen kostbaren Sekretär. Er war abgeschlossen, aber das Schloss ließ sich relativ leicht öffnen. Wir fanden ein Notebook mit Modem und Scanner.

"Scheint, als hätte Leila ihr altes Hobby, Bilder zu verschicken noch nicht aufgegeben", kommentierte Milo.

"Zumindest ist dieses wohl ihre jüngste Adresse. Jedenfalls sehen diese Räume sehr bewohnt aus. Selbst für ein Hotelzimmer."

Dann kam der Anruf aus der Zentrale.

Wir nahmen alles unter die Lupe, suchten in den üblichen Verstecken nach, aber unsere Gegnerin ging auf Nummer sicher. Und sie hatte bis jetzt kaum Fehler gemacht.

"Ich nehme an, Sie haben hier im Hotel auch einen Safe oder eine Schließfachanlage", meinte ich an Myers gewandt.

"Ja, natürlich."

"Und? Hat Rebecca Smith diesen Service in Anspruch genommen?"

"Da muss ich nachsehen, Sir!"

*


Rebecca Smith hatte diesen Service wahrgenommen. Der Inhalt des Schließfachs war auf den ersten Blick sehr banal. Ein paar tausend Dollar Bargeld in kleinen, gebrauchten Scheinen, ein kleines Notizbuch, das ausschließlich Folgen von Zahlen und Buchstaben enthielt. Offenbar handelte es sich um irgendwelche verschlüsselten Aufzeichnungen.

Und dann waren da noch einige sehr detaillierte Karten und Stadtpläne von New York City und Umgebung. Dazu eine Zettel, auf den etwas notiert war.

Allerdings in arabischer Schrift.

"Lesen müsste man können", meinte Milo dazu.

Wir fuhren zurück zur Federal Plaza. Dort erfuhren wir von dem, was Orry und Caravaggio in Jersey City vorgefunden hatten. Unsere Leute würden dort noch eine ganze Weile zu tun haben.

Der FBI verfügt über Spezialisten für fast jedes erdenkliche Fachgebiet. Und natürlich gehören Sprachen dazu.

In einem Schmelztiegel wie New York, in dem alle möglichen Sprachen gesprochen werden, kommt es immer wieder vor, dass wir bei unseren Ermittlungen darauf angewiesen sind. Wer beispielsweise in einem Viertel wie East Harlem oder Chinatown aufgewachsen ist, kann gebürtiger Amerikaner sein, ohne einen einzigen Satz Englisch sprechen zu können.

Wir bekamen unsere Übersetzung und waren überrascht.

Bei den schnell dahingekritzelten Schriftreihen handelte es sich um Adressen.

Mehrere in New York City, vor allem East Harlem, eine in Jersey City und eine, etwas abgelegene auf Long Island.

"Klingt wie das Immobilienverzeichnis eines gewissen George Al-Malik", stellte Milo erstaunt fest.

"Bis auf die Adresse auf Long Island", erwiderte ich.

"Vielleicht hat auch George Al-Malik so etwas wie eine geheime Rückzugsmöglichkeit", vermutete Milo. "Ein Ferienhaus, das er durch einen Strohmann erworben hat oder etwas dergleichen."

*


Wir fuhren über die Williamsburg Bridge, quälten uns den Brooklyn-Queens-Expressway entlang. Diese beiden Stadtteile New Yorks nahmen die gesamte Westspitze von Long Island ein.

Übergangslos folgte der ebenfalls dicht besiedelte mittlere Teil der Insel, in dem sich kleinere Städte dicht aneinandereihten. Erst im Ostteil der Insel wurde die Besiedlung spärlicher. Es war später Nachmittag, als wir Riverhead an der Great Poconic Bay erreichten. Wir hielten uns dann nordwärts, bis wir an der Küste des Long Island Sounds waren. Das Meer glitzerte in der milchig gewordenen Sonne.

Wir fuhren die schmale Küstenstraße entlang.

Dann kamen wir an einen Kontrollpunkt der Polizei.

Die Männer trugen Uniformem der State Police des Staates New York, zu dem die gesamte Insel gehörte.

Sie waren zu zweit.

Beide trugen sie Maschinenpistolen. Sie winkten uns zu und bedeuten uns anzuhalten.

Ich ließ die Seitenscheibe des Sportwagens herunter.

"Guten Tag, Sir", sagte der State Police Officer. Er trug eine dunkle Sonnenbrille. Von seinem Gesicht konnte ich nicht viel sehen, mit Ausnahme einer hakenförmigen Narbe, die er am Kinn hatte. "Bitte drehen Sie um und fahren Sie die Straße wieder zurück. Ich nehme an, Sie wollen nach Mattituck. Fahren Sie einfach bis kurz vor Riverhead, dort an der ersten Kreuzung rechts..."

"Wir wollen nicht nach Mattituck", erklärte ich. "Wir müssen hier durch!" Bevor der Mann mit der Narbe Luft holen konnte, hatte ich ihm meinen Ausweis unter die Nase gehalten.

"Trevellian, FBI. Und dies ist mein Kollege Milo Tucker. Wenn Sie also nichts dagegen haben!"

"Moment mal", sagte der State Police Officer etwas schärfer. "Ihr Ausweis ist kein Freifahrtsschein, Mister! Sie können hier nicht durch. Unter keinen Umständen."

"Was ist denn passiert?", fragte Milo.

"Ich kann dazu keinerlei Auskunft geben, Sir."

"Wieso nicht?"

Seine Antwort war spröde und nichtssagend. "Dazu bin ich nicht autorisiert", erklärte er.

Ich sah ihn an

"Dann möchte ich Ihren Einsatzleiter sprechen", erklärte ich.

"Drehen Sie bitte um, Sir. Es geht um Belange der nationalen Sicherheit..."

Der Lauf seiner MPi deutete direkt auf mein Gesicht.

"Zeigen Sie mir Ihren Ausweis", forderte ich. "Ich möchte Ihren Namen und Ihre Dienstnummer und werde mich umgehend im Hauptquartier der State Police nach diesem Einsatz erkundigen..."

Ich hatte bereits das Handy in der Hand, da ließ mich ein harte Geräusch erstarren, das wie ein Ratsch klang. Der Mann mit der Narbe hatte seine MPi durchgeladen.

"Okay, Mister, Sie haben es nicht anders gewollt. Aussteigen, die Hände auf das Autodach und die Beine auseinander."

"Was soll das?"

"Ich werde es nicht zweimal sagen, Mister", knurrte der Kerl.

"Das kann Sie teuer zu stehen kommen."

"Das Gegenteil ist der Fall. Ich darf hier niemanden durchlassen und wenn jemand glaubt, mit einem gefälschten FBI-Ausweis..."

"Sie können in der Federal Plaza anrufen und sich nach unserem Auftrag erkundigen."

"Wir werden alles überprüfen! Und zwar ganz in Ruhe, Mister... Verstehen Sie! Aber jetzt erstmal raus aus dem Wagen, oder ich perforiere Ihnen dieses schöne Fahrzeug so, dass Sie es nicht wiedererkennen!"

*


Wir stiegen aus und stellten uns an den Wagen. Einer der Männer durchsuchte uns, der andere stand daneben und hielt den Lauf seiner Maschinenpistole auf uns gerichtet. Sie nahmen uns die Waffen ab und dann machte es zweimal hintereinander klick.

Unsere Hände steckten in Handschellen.

Aus den Augenwinkeln heraus warf ich einen Blick auf den Wagen der Beiden. Es handelte sich um einen unscheinbaren Chevy. Einen richtigen Einsatzwagen sah ich nirgends.

"Wann wollen Sie uns eigentlich unsere Rechte vorlesen?", fragte ich.

Dafür stieß der Kerl mit der Narbe mir den Lauf seiner Maschinenpistole in die Seite. Er tat das mit so großer Wucht, dass ich mich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte.

"Mundhalten!", knurrte er.

Er schien sehr gereizt zu sein.

Der andere ging zum Wagen. Ich sah, wie er ein Funktelefon zückte. Wir konnten nicht mithören.

Das Gespräch dauerte nicht lange.

Er kehrte zurück.

"Umlegen?", fragte der Mann mit der Narbe. "In den Dünen findet sie doch wochenlang keiner!"

Der andere schüttelte den Kopf. "Nein, wir brauchen Sie noch", sagte er.

"Wozu das denn?"

"Entscheidung vom Boss. Wir sollen etwas arrangieren... Und dabei spielt es eine große Rolle, aus welcher Waffe die Kugeln stammen, die man in ihren Gehirnen finden wird."

"Ich hoffe nur, dass nicht gerade jetzt jemand hier vorbeikommt...", knurrte der Man mit der Narbe.

Der andere wandte sich an uns. "In den Wagen", zischte er.

Er meinte damit den Chevy. Nervös fuchtelte er mit der MPi herum.

"Für wen arbeiten Sie?", fragte ich. "Für die State Police jedenfalls wohl kaum..."

Er sah mich kalt an.

"Es hat keinen Sinn, Fragen zu stellen."

Wir mussten uns auf die Rückbank des Chevys setzen. Der Narbige saß vorne auf dem Beifahrersitz, drehte sich halb herum und hielt uns den Lauf seiner Waffe entgegen. Sein Komplize fuhr zunächst meinen Sportwagen an den Straßenrand. Dann setzte er sich an das Steuer des Chevys. Mit quietschenden Reifen brauste der Chevy los. Die Fahrt dauerte nicht lange.

Sie endete in der Einfahrt eines traumhaft gelegenen kleinen Bungalows, direkt an der Küste des Long Island Sounds gelegen. Eine hügelige Dünenlandschaft erstreckte sich kilometerweit. Bis zum Strand war es nur ein Katzensprung.

Das Meer glitzerte blau zwischen den Dünen hindurch.

Der Chevy hielt an.

Es standen bereits drei weitere Fahrzeuge in der Einfahrt.

Einer davon war ein schwarzer Sportflitzer, bei den anderen handelte es sich um Limousinen.

Die angeblichen State Police-Leute stiegen aus und holten uns aus dem Wagen.

Das Kreischen von Möwen drang durch das allgegenwärtige Meeresrauschen. Ein Ort, der viel zu schön war, um hier zu sterben.

"Vorwärts", knurrte der Mann mit der Nabe.

Er schob uns vor sich her.

Wir erreichten den Eingang des kleinen Bungalows.

Ein Mann im dunklen Anzug öffnete die Tür.

"Bringt Sie herein", sagte er.

Wir wurden ins Wohnzimmer geführt. In einem der Sessel saß ein Mann, den ich erst auf den zweiten Blick erkannte, so schrecklich hatte man ihn zugerichtet. Aber es handelte sich zweifellos um George Al-Malik. Er war an Armen und Füßen gefesselt und hing zusammengekrümmt in dem Sessel. Jackett und Oberhemd hingen ihm in blutdurchtränkten Fetzen vom Leib. Sein Gesicht war fast bis zu Unkenntlichkeit entstellt.

Er sah mich mit einem trüben Blick an.

Seine Augen waren blutunterlaufen. Er öffnete die aufgeplatzten Lippen, brachte aber keinen Laut hervor. Nicht einmal ein Ächzen.

Am Fenster lag ein Toter, der mit glasigen Augen in unsere Richtung starrte.

"Da sind also die beiden G-men", säuselte eine Frauenstimme.

Aus dem Nachbarraum trat eine schlanke Gestalt in einem blauen Kleid. Auch wenn sie ihr Outfit abermals völlig geändert hatte - sie musste Leila sein. Oder Rebecca Smith.

Mochte der Teufel wissen, wie viele Identitäten sie noch hatte. Sie war wie ein Chamäleon. Immer in der Lage, sich perfekt anzupassen, eine andere Rolle spielen, ein Leben vorzutäuschen, das nicht das ihre war.

"Sie sind Leila", sagte ich. Ich weiß nicht, warum.

Vielleicht um ihre Reaktion zu sehen oder um überhaupt irgend etwas zu sagen. Denn mir schien, dass Milo und ich im Augenblick für jede Verzögerung dankbar sein mussten.

Ein grausames Lächeln stand auf ihrem Gesicht und ließ ihre makellos weißen Zähne blitzen.

Ihre dunklen Augen musterten mich abschätzig.

"Woher wissen Sie diesen Namen?", fragte sie.

"Von Walid Kerim."

"Ah, ich verstehe. Der arme Walid..."

"Ja, er kann froh sein, dass er noch lebt."

"Etwas, dass er Ihnen zweifellos bald voraushaben wird, G-man." Sie zuckte die Achseln. "Ursprünglich hatten wir vor, hier etwas aufzuräumen und die Toten in den Dünen zu vergraben. Aber Ihr Auftauchen lässt eine andere Möglichkeit zu..."

"Darf ich raten?", erwiderte ich. "Am Ende wird man zwei diensteifrige FBI-Agenten tot auffinden, die sich mit ein paar Gangstern eine Schießerei lieferten, bei der unglücklicherweise alle Beteiligten ums Leben kamen!"

"...nachdem sie zuvor im Übereifer einen Verdächtigen zu Tode gefoltert haben, der offenbar einfach keine Lust hatte, Ihnen irgendwelche Auskünfte zu geben", vollendete Leila süffisant. "Ja, so ähnlich habe ich mir das gedacht. Leider haben sich meine Leute nicht zugetraut, Sie beide ohne Handschellen hier her zu bringen. Die Druckstellen werden die Gerichtsmediziner etwas irritieren, aber wie heißt es so schön? Nobody is perfect." Sie wandte sich an den Narbigen.

"Gib mir eine ihrer Kanonen!"

Der Mann mit der Narbe warf ihr eine der P226-Pistolen zu.

Sie fing sie auf.

"Ein ausgezeichnetes Fabrikat", murmelte sie und strich beinahe liebevoll über den kalten, glatten Stahl.

"Worauf warten Sie noch?", fragte ich.

"Auf einen Anruf, der uns Gewissheit darüber verschafft, dass dieser Gentleman hier uns nicht angelogen hat", hauchte sie und deutete dabei mit dem Pistolenlauf auf Al-Malik.

"Es geht um die Druckplatten, nicht wahr?"

"Sie scheinen nicht so beschränkt zu sein, wie man es Staatsbediensteten im Allgemeinen nachsagt, G-man! Zu schade, dass Ihr Land in Zukunft auf Ihre Dienste wohl oder übel verzichten muss. Und nach dem, was man hier vorfinden wird, wird es wohl nicht einmal für ein Begräbnis mit Ehrensalut reichen."

Das war nun wirklich meine geringste Sorge. Ich blickte mich um, sah kurz zu Milo herüber und schätzte die Lage ab.

Aber die MPi-Läufe, die in unsere Richtung zeigten, machten jeden Gedanken an Widerstand absurd. Zumal unsere Hände nach hinten gefesselt waren. Wir hatten keine Chance. Im Grunde waren wir schon so gut wie tot, auch wenn die Kugeln, die uns zerfetzen sollten, noch in den Patronenkammern steckten.

Leila legte die P226 auf den Wohnzimmertisch.

Sie wandte sich herum, ging einen Schritt an Al-Malik vorbei und trat auf die Leiche am Fenster zu. Ich vermutete, dass es sich um einen von Al-Maliks Leuten handelte. Einen Leibwächter oder dergleichen. Sie bückte sich und nahm ihm die Waffe aus der Hand. Es war gar nicht so einfach, die Finger hatten sich regelrecht festgekrallt.

Dann kehrte sie zurück.

Ihre Absicht war mir vollkommen klar.

Mit der Waffe des Toten würden Milo und ich erledigt werden, während die Kugeln aus unseren Waffen bei Al-Malik zu finden sein würden.

Einem von uns musste man dann noch die Waffe in die Hand drücken, mit der der Leibwächter Al-Maliks getötet worden war.

Das Telefon klingelte.

Der Mann im schwarzen Anzug nahm ab.

Er sagte kein einziges Wort, sondern legte nach etwa zehn Sekunden einfach wieder auf.

"Was ist?", fragte Leila.

"Unsere Leute haben die Platten."

"Gut", sagte Leila.

Sie nahm die P226 vom Tisch, richtete sie auf Al-Malik und trat einen Schritt zurück. Dann drückte sie zweimal kurz hintereinander ab. Al-Malik stöhnte kurz auf. Ein Ruck ging durch seinen gequälten Körper, dann sank er in sich zusammen.

Sie legte die Waffe zurück auf den Tisch. Zweifellos würde man sie später einem von uns in die Hand drücken und vor allem die Fingerabdrücke sorgfältig beseitigen.

Leila nahm die Waffe des Toten.

Die Pistole, deren Patronen für uns bestimmt waren.

Sie fasste die Waffe mit beiden Händen. In ihren dunklen Augen blitzte es grausam.

Ich blickte der Mündung entgegen.

Jede Sekunde erwartete ich, dass das Mündungsfeuer herausblitzte und eine Kugel vom Kaliber 45 mir den Schädel wegblies.

*


"Nimm Ihnen die Handschellen ab", zischte sie dem Narbigen zu. "Die Druckstellen sind schon tief genug und wenn sie sich jetzt noch den Arm verrenken, wenn sie zu Boden fallen, ist das ein Fingerzeig zu viel für die Pathologen."

Der Mann mit der Narbe gehorchte.

Unsere Hände waren wieder frei.

Aber unsere Chancen am leben zu bleiben verbesserte das angesichts der zahlreichen Waffen, die auf uns gerichtet waren, nur unwesentlich.

Leila trat einen Schritt vor. Sie setzte mir den 45er direkt an die Stirn.

"Eine Sache noch..."

"Vergessen Sie's", sagte ich.

"Nicht so voreilig, G-man! Wie sind Sie auf diese Adresse gekommen?"

"Warum sollte ich Ihnen das sagen?", erwiderte ich kühl. "Sie werden uns ohnehin erschießen. Ich kann nichts gewinnen..."

Sie lachte.

Dann bewegte sie leicht den Kopf seitwärts. "Sehen Sie sich Al-Malik an, G-man! Man kann auf unterschiedlich schnelle Weise sterben. Also antworten Sie schon!"

Ich konnte schon verstehen, warum ihr diese Frage so wichtig war. Sie wollte wissen, wie weit wir ihr auf den Fersen waren. Ohne Vorwarnung bekam ich mit dem Lauf einer MPi einen brutalen Schlag in die Nieren. Ich ächzte.

"Das war nur ein Vorgeschmack", sagte Leila. "Und nachdem wir dann mit Ihnen fertig sind, nehmen wir uns Ihren Kollegen vor."

"Was wird dann aus Ihrem so kunstvoll arrangierten Tatort?", fragte ich.

Leila verzog das Gesicht.

Als sie dann lachte, zeigte sie ihre makellosen weißen Zähne. In diesem Moment erinnerte sie mich an ein geschmeidiges Raubtier. An eine Katze. Ihr Lächeln hatte etwas Teuflisches.

"Sie pokern hoch", stellte sie fest. "Das gefällt mir normalerweise. Schade, dass Sie auf der falschen Seite sind."

Ich beschloss ihr etwas Angst zu machen und gleichzeitig unser Leben zu verlängern. Denn solange sie mit uns sprach, konnte sie uns nicht erschießen.

"Im Plaza Athenee wohnt eine Frau namens Rebecca Smith, die eine ziemlich große Ähnlichkeit mit Ihnen hat, Leila!"

Sie stutzte.

Ihr Mund wurde für einen Moment zu einem geraden, dünnen Strich.

"So, das wissen Sie also auch schon. Mein Respekt."

"Wir haben den Inhalt des Schließfachs durchgesehen. Es war eine Liste von Adressen darunter..."

"Sie können Arabisch?"

"Im Gegensatz zu Ihnen leider nicht", erwiderte ich.

"Zu schade, dass Sie keine Gelegenheit mehr haben werden, diese schöne Sprache zu lernen, G-man. Eine Sprache, die bereits existierte, als es so etwas wie Englisch noch gar nicht gab!"

Sie drehte sich um und warf dem Mann im dunklen Anzug die Waffe zu. Er fing sie sicher auf.

"Ich denke, ihr kriegt diese unappetitliche Prozedur alleine hin, Jungs", sagte sie "Aber macht es ordentlich. Sonst gefährdet ihr alles..."

Sie ging an mir vorbei.

"Schade um Sie, G-man. Aber das Leben kann hart sein."

Sie nahm einen Wagenschlüssel an sich, den jemand auf einer Kommode abgelegt hatte.

Dann drehte sie sich noch einmal herum.

"Ich denke, es hat keiner von euch was dagegen, wenn ich mir den schwarzen Flitzer nehme! Der hat mir schon immer am besten an George Al-Malik gefallen!"

Sie ging hinaus.

Einige Augenblicke später war zu hören, wie der Motor des Sportwagens gestartet wurde.

Leila brauste davon.

Ziel unbekannt.

Und vor uns lag der Tod.

"Na los, bringen wir es hinter uns", sagte der Mann mit der Narbe.

Der Kerl im dunklen Anzug richtete die Waffe auf mich.

Die Knöchel seiner rechten Hand wurden weiß, als er den Druck auf den Abzug verstärkte.

Der Mann mit der Narbe ging einen Schritt zur Seite, damit er nichts abbekam.

Ich blickte seitwärts, zu Milo. Ich glaube weder an Telepathie noch an übersinnliche Phänomene. Aber wenn man einen Menschen sehr gut kennt, gibt es manchmal Dinge, die dem sehr nahe zu kommen scheinen. Milo und ich hatten in dieser Sekunde den gleichen Gedanken.

Ein Gedanke, der in einer Verzweiflungstat mündete.

Wenn diese Killer uns schon über den Jordan schicken wollten, dann sollten sie wenigstens keine Gelegenheit bekommen, den Tatort so zu arrangieren, wie sie es wollten.

Es würden Spuren bleiben. Spuren eines Kampfes.

Ich ließ blitzartig mein Bein hochschnellen. Es war so schnell und überraschend, dass der Mann im dunklen Anzug eine volle Sekunde brauchte, um zu begreifen, was geschah.

Ich traf ihn genau an der Hand und kickte ihm die Waffe weg. Sie flog im hohen Bogen durch die Luft und kam hart gegen die Wand. Ein Schuss löste sich und kratzte am Putz.

Im selben Augenblick hatte ich mit der Linken seitwärts gegriffen und den kurzen Lauf der Maschinenpistole umfasst, die der Mann mit der Narbe immer noch auf mich gerichtet hielt.

Zwei blitzschnelle Bewegungen, Zehntelsekunden genau aufeinander abgestimmt und koordiniert.

Ich bog den Lauf zur Seite, ehe der Kerl mit der Narbe abdrückte.

Die Maschinenpistole ratterte los und die Geschosse zerfetzten den Fußboden. Ein ohrenbetäubender Krach, der einem schier die Trommelfelle zerreißen konnte.

Ich warf mich ihm entgegen, den Waffenarm meines Gegenübers immer im Griff. Zusammen taumelten wir nieder, während der Mann im schwarzen Anzug seine eigene Waffe hervorzog und in unsere Richtung feuerte. Der Schuss ging dicht an mir vorbei und fetzte dann durch das dünne Holz der Tür hindurch.

"Bist du wahnsinnig?", rief der Mann mit der Narbe, denn um ein Haar hätte auch er getroffen werden können. Wir wälzten uns am Boden. Beide umklammerten wir seine Waffe. Ich fühlte sein Knie hart in meiner Seite.

Eine Welle des Schmerzes durchfuhr mich.

Im selben Moment als ich meinen Angriff gestartet hatte, griff Milo den auf seiner Seite stehenden Killer in der Uniform eines State Police Officers an. Er packte die MPi des Killers. Beide Männer hielten die Waffe umklammert. Ein Feuerstoß löste sich und ließ den Putz von der Decke rieseln.

Milo riss den Kerl herum, um die Waffe an sich zu bringen.

Im selben Moment feuerte der Mann im schwarzen Anzug.

Er traf seinen Komplizen im Rücken. Mit einem Aufschrei sackte dieser in sich zusammen. Milo riss ihm die MPi jetzt aus den Händen und richtete die Waffe auf den Mann im dunklen Anzug. Doch der feuerte ein zweites Mal.

Milo schrie auf, als ihn die Wucht des Geschosses nach hinten riss.

Er taumelte rückwärts und rutschte an der Wand zu Boden.

Eine Hand presste er gegen den Stoff seines Jacketts. Blut rann ihm zwischen den Fingern hindurch.

*


Der Mann mit der Narbe ächzte. Beide hielten wir seine MPi umklammert. Ich blickte in sein verzerrtes Gesicht. Wir wälzten uns am Boden. Ein verzweifelter Kampf auf Leben und Tod begann.

Dann kam meine Chance.

Für den Bruchteil eines Augenblicks ließ ich mit der Rechten das Gewehr los und schlug blitzschnell zu.

Ich versetzte meinem Gegner einen Faustschlag, der ihn bewusstlos zusammensacken ließ.

In der nächsten Sekunde riss ich die MPi an mich, aber der Mann im dunklen Anzug verschwand bereits in der Tür zum Nebenraum. Einen Augenblick später hörte ich das Klirren einer Fensterscheibe.

Wenn der Kerl erst einmal einen der Wagen an sich gebracht hatte, würde es schwer sein, ihn noch zu kriegen. Ich rappelte mich auf, riss dem vermeintlichen State Police Officer, der nun bewusstlos am Boden lag, die Dienstpistole aus dem Holster und nahm sie an mich. Hinter dem Gürtel steckte auch noch eine unserer P226-Pistolen, die die Gangster uns abgenommen hatten. Ob es Milos oder meine Waffe war, konnte ich nicht erkennen. Ich zog sie heraus und steckte sie in mein Gürtelhalfter.

Schließlich wollte ich keine unliebsame Überraschung erleben, sobald der Kerl wieder aufwachte.

Dann wandte ich mich zu Milo herum.

"Halb so schlimm", keuchte dieser, während er die Hand gegen die Schulter presste. "Sieh zu, dass du den Kerl noch in die Finger kriegst."

Es gefiel mir nicht, den verletzten Freund hier zurückzulassen. Aber den Killer im schwarzen Anzug einfach entkommen zu lassen, das gefiel mir genauso wenig.

Ich hörte, wie der Motor eines Wagens aufbrauste.

"Bis gleich, Milo", sagte ich.

"Ich rufe schonmal unsere Leute", versprach er, während ich losstürzte. Ich taumelte durch den Flur, rannte zur Tür, riss sie auf und stürmte hinaus.

Der Mann in Schwarz hatte sich den Chevy genommen, den zuvor die beiden falschen Cops benutzt hatten. Vermutlich deshalb, weil die den Schlüssel hatten stecken lassen.

In einem Wahnsinnstempo brauste der Chevy davon und zog eine Staubwolke hinter sich her.

Ich hielt mit der MPi auf die Reifen und feuerte.

Immer wieder drückte ich ab. Ein Feuerstoß nach dem anderen krachte aus der MPi-Mündung heraus. Garben von zwanzig, dreißig Schüssen. Erst platzte der linke, dann der rechte Reifen. Es gab einen regelrechten Knall und der Geruch von verbranntem Gummi wehte zu mir herüber. Der Wagen schlingerte hin und her, kam von der Fahrbahn ab und blieb dann an einer Düne stecken. Der Mann in Schwarz gab Gas. Die Felgen mit den zerfetzten Reifen daran drehten sich und wirbelten den Sand in zwei Fontänen auf. Der Wagen bewegte sich kaum einen halben Meter.

Ich spurtete los.

Der Mann in Schwarz stieg aus.

"Stehenbleiben!", rief ich.

Er riss seine Pistole herum und feuerte augenblicklich.

Grell sah ich das Mündungsfeuer aufblitzen, warf mich zur Seite, während die Schüsse haarscharf über mich hinwegzischten. Ich rollte mich am Boden herum, ließ die MPi noch einmal losknattern. Ich hoffte, dass das Eindruck auf ihn machte, aber da hatte ich mich getäuscht.

Er rannte weiter, verschwand hinter der nächste Düne.

Ich rappelte mich auf.

Die MPi warf ich zur Seite. Das Magazin war leergeschossen.

Um die Reifen des Chevys auf die Entfernung hin auch mit Sicherheit zu treffen, hatte ich mehr oder minder drauflosballern müssen.

Ich rannte. In geduckter Haltung kam ich über den Dünenkamm und zog die Pistole aus dem Halfter. Von dem Mann in Schwarz war nichts zu sehen. Ich sah mich um, blickte über die umliegenden Dünen und fragte mich, wo er sich wohl verkrochen hatte. Der Sand war so fein, dass Fußspuren sofort wieder in sich zusammenfielen.

Ich stieg vom Dünenkamm herab, immer auf der Hut. Die Pistole hielt ich in der Rechten. Ich wusste, dass ich mir gegen diesen Gegner nicht die geringste Unaufmerksamkeit erlauben konnte.

Aus den Augenwinkeln sah ich eine Bewegung.

Blitzschnell wirbelte ich herum.

Ich riss die Pistole hoch.

Der Mann in Schwarz tauchte hinter einer Grasnarbe hervor und richtete seine Waffe auf mich.

Wir feuerten beinahe gleichzeitig.

Ich traf ihn an der Schulter. Die Wucht des Geschosses ließ ihn zur Seite taumeln. Sein eigener Schuss ging ins Leere.

Mit wenigen Sätzen war ich bei ihm. Ich richtete die Waffe auf ihn.

"Die Pistole fallenlassen!", zischte ich.

Der Mann in Schwarz sah mich an. Er zögerte noch. Sein Arm zitterte. Er schien ihn nicht mehr richtig kontrollieren zu können. Er fletschte die Zähne wie ein Raubtier. Aber dann war er doch klug genug, um einzusehen, dass sein Spiel aus war. Die Waffe sackte in den Sand.

"Sie haben das Recht zu schweigen", sagte ich und begann damit die übliche Litanei bei einer Verhaftung.

*


Es dauerte nicht lange und in dem kleinen Bungalow am Strand des Long Island Sound herrschte reger Betrieb.

Der erste, der eintraf war der Notarzt, der sich um Milo und den Mann in Schwarz kümmerte. Milo hatte großes Glück gehabt. Er hatte nur eine Fleischwunde. Dem Mann in Schwarz hingegen steckte das Projektil noch in der Schulter.

Wenig später kamen die Kollegen vom zuständigen Sheriff Department und ein Gerichtsmediziner. Der Mann in Schwarz wurde ins nächste Krankenhaus gebracht, begleitet von einer Handvoll Deputy Sheriffs. Den falschen State Police Officer mit der Narbe am Kinn nahmen unsere Leute hingegen gleich nach New York City mit, um ihn in einer der Gewahrsamszellen unterbringen, die wir in der Federal Plaza zur Verfügung haben. Er schien ein genauso stummer Fisch zu sein, wie der namenlose Killer, der es auf Kerim abgesehen hatte. Er sagte kein Wort. Immerhin hatte er einen Führerschein bei sich. Das Dokument war auf den Namen Robert Brown ausgestellt. Auf den ersten Blick sah der Führerschein echt aus, aber vielleicht würden unsere Spezialisten dazu näheres in Erfahrung bringen.

Bis unsere Leute eintrafen, dauerte es eine Weile. Agent Fred LaRocca war mit einem halben Dutzend G-men zu uns herausgefahren, darunter auch einige Spezialisten, die sich mit dem Tatort eingehend befassen würden.

Max Carter, unser Fahndungsspezialist war ebenfalls dabei.

Die Suche nach Leila lief indessen auf Hochtouren. Leider bislang ohne Erfolg.

Etwas später am Abend fand man dann den schwarzen Sport-Flitzer, der eigentlich Al-Malik gehörte, verlassen auf.

Von der Fahrerin keine Spur.

Die Frau, die wie ein Chamäleon war und die Fäden aus dem Hintergrund zu spinnen wusste. Unser Netz würde schon sehr engmaschig sein müssen, wenn uns diese Teufelin nicht durch die Lappen gehen sollte.

*


Milo verbrachte die halbe Nacht in einer Krankenhaus-Ambulanz. Gegen ausdrücklichen ärztlichen Rat saß er am nächsten Morgen aber trotzdem in Mr. McKees Besprechungszimmer und hörte sich an, was es in diesem Fall an neuen Erkenntnissen gab.

Er sah allerdings sichtlich mitgenommen aus und gähnte ab und zu. Seine Schulter steckte in einem dicken Verband, der sein Jackett an der Stelle etwas ausbeulte. Außer uns waren auch Orry und Caravaggio sowie Fred LaRocca, Max Carter und unser Falschgeldspezialist Ron Figueira anwesend.

Mr. McKee wandte sich an Milo und mich. "Es liegt über die Waffe, die Sie in Alexandra Lesters Wohnung sichergestellt haben inzwischen ein ballistisches Gutachten vor", erklärte er. "Mit dieser Waffe wurde vor zwei Jahren ein Mann namens Muhammed Al-Khalili in Seattle umgebracht. Al-Khalili genoss in den USA politisches Asyl. Er war ein Gegner des irakischen Diktators Saddam Hussein."

Ich hob die Augenbrauen.

"Das würde bedeuten..."

"...dass Alexandra Lester, Rebecca Smith, Leila Kerim oder wie immer sich diese Dame im Moment auch nennen mag, vermutlich für den irakischen Geheimdienst tätig ist", erklärte Mr. McKee.

Ich nickte. "Dazu würde auch Kerims Aussage passen, was diese Übertragung von Bilddateien angeht", meinte ich.

Max Carter ergänzte: "Unsere Spezialisten untersuchen gerade das Notebook aus der Suite von Rebecca Smith im Athenee Plaza. Vielleicht lässt sich irgend etwas davon rekonstruieren... Außerdem überprüfen wir die Bankverbindungen, die Leila Kerim unter ihren verschiedenen Identitäten benutzt hat. Möglicherweise ergeben sich auch da Rückschlüsse."

"Was George Al-Malik angeht, so sind die Rückschlüsse ziemlich eindeutig", meldete sich nun Clive Caravaggio zu Wort. "Zwar ist bislang nur ein Bruchteil der Unterlagen ausgewertet worden, die in seiner Villa und seinen Geschäftsräumen beschlagnahmt wurden, aber er scheint intensive Geschäftskontakte zum Mittleren Osten gehabt zu haben."

Und Orry ergänzte: "Insbesondere nach Jordanien, über das seit dem Golfkrieg der größter Teil der Handelskontakte zum Irak laufen."

Jetzt meldete sich Ron Figueira zu Wort. "Wenn wir annehmen, dass die Fäden des Überfalls auf den Druckplatten-Transport in Bagdad gezogen wurden, würde das durchaus Sinn machen. Seit dem Golfkrieg verhindern Embargo-Vorschriften, dass der Irak wirtschaftlich und militärisch wieder auf die Beine kommt. Seit nur noch eine genau quotierte Ölmenge verkauft werden darf, um humanitäre Güter einzukaufen, herrscht akuter Devisenmangel, der sich natürlich am leichtesten dadurch lindern lässt, dass man die Devisen selbst herstellt. Außerdem lassen sich ausreichend große Mengen an Falschgeld auch als Sabotageinstrument benutzen, falls es wieder zu einer außenpolitischen Auseinandersetzung kommen sollte. Und das kann von heute auf morgen geschehen. Es reicht, wenn Saddam Hussein mal wieder den UNO-Inspektoren, die im Irak nach ABC-Waffen suchen sollen, den Zutritt zu bestimmten Gebieten verweigert, was ja schon mehrfach geschehen ist. Ein paar Tonnen Falschgeld, das von echtem nicht zu unterscheiden ist, könnten unsere Wirtschaft erheblich ins Trudeln bringen! Es wäre das jedenfalls nicht das erste Mal, dass ein Staat als Falschgeldproduzent in großem Stil auftritt. Vor fünf, sechs Jahren gab es CIA-Berichte, die vermuten ließen, das der Iran eine solche Fabrik unterhält. Und schon die Nazis haben versucht, die Wirtschaft der Alliierten durch die Verbreitung von falschen Pfund-Noten zu destabilisieren."

"Bislang ist das, was hier gesagt wurde, nur eine Hypothese", stellte Mr. McKee fest.

"Eine begründete Hypothese", warf Figueira ein. "Eine Theorie, die durch handfeste Indizien gestützt wird."

"Wenn das wahr ist, dann bedeutet das, dass wir es hier mit der Planung eines Verbrechens zu tun haben, das eine viel größere Dimension hat, als alles was wir bisher aus dem Falschgeldhandel kennen", erklärte Mr. McKee.

Figueira nickte. "Es ist natürlich schwer abzuschätzen, wie weit man in Bagdad mit den Planungen für eine solche Fabrik ist oder ob sie vielleicht schon existiert. Die Nachrichtenlage ist kompliziert. Ich habe bereits Kontakt zum CIA aufgenommen, aber der ist, was den Irak angeht, fast ausschließlich auf technische Informationsquellen, Satellitenbilder, Abhören des Funkverkehrs und dergleichen angewiesen. Der einzige befreundete Geheimdienst, der angeblich mit eigenen Leuten in Bagdad präsent ist, ist der israelische Mossad. Möglicherweise kommen über diesen Kanal ja noch ein paar zusätzliche Informationen herein."

"Der Irak konnte unbemerkt Giftgasfabriken bauen - warum nicht auch eine Dollardruckerei", war Clive Caravaggios Kommentar.

"Angenommen, diese Leila wurde wirklich vom Irak geschickt", sagte ich. "Dann hat man sie über Jahre hinweg als Agentin aufgebaut."

"Und dabei offenbar höchsten Wert auf Kontakte zur Unterwelt wertgelegt", ergänzte Max Carter. "Leute wie Carini und seine Schergen hatten die Drecksarbeit zu verrichten. Die Iraker selbst sollten vermutlich nicht in Erscheinung treten. Aber dann ging einiges schief und es blieb ihnen nichts anderes übrig."

"Wie auch immer", resümierte schließlich Mr. McKee. "Wenn unsere Annahme stimmt, dann müssen Leila und ihre Leute die Druckplatten irgendwie außer Landes bringen. Und genau das müssen wir verhindern."

*


Im Laufe des Tages bekamen wir vom CIA ein Dossier über den Mann im schwarzen Anzug. Er hatte bis vor drei Jahren in Zürich unter dem Namen Faruk Al-Jaffar gelebt. Er war mehrfach zusammen mit Personen fotografiert worden, von denen mit ziemlich großer Sicherheit angenommen werden konnte, dass sie Mitarbeiter des irakischen Geheimdienstes waren.

Was den falschen State Police Officer mit der Narbe anging, der einen Führerschein auf den Namen Robert Brown bei sich gehabt hatte, gab es keinerlei neue Erkenntnisse.

Dasselbe galt für den namenlosen Killer, der hinter Kerim hergewesen war. Beide schwiegen eisern, was im Endeffekt keinen von beiden vor einer Verurteilung retten würde.

Indessen arbeiteten unsere Spezialisten mit Hochdruck daran, sämtliche Unterlagen auszuwerten, die in Al-Maliks Villa und seinen Geschäftsräume zu finden gewesen waren.

Seine Angestellten wurden verhört. Irgendwo musste Al-Malik die Druckplatten zwischenzeitlich versteckt haben, bis Leilas Leute ihm mit ihren rüden Methoden die Zunge lockerten.

Wenn wir dieses Versteck hatten, konnten wir dort vielleicht Leilas Spur wieder aufnehmen.

Die Hoffnung, dass sie vielleicht nochmal im Plaza Athenee auftauchte war gering. Dasselbe galt für Alexandra Lesters Wohnung. So, wie wir Leila bisher kennengelernt hatten, hatte sie es gar nicht nötig, solche Fehler zu machen. Vermutlich hatte sie längst eine andere Identität angenommen. Wenn sie wirklich eine irakische Agentin war, dann konnte sie auf die Infrastruktur und die Finanzmittel eines Geheimdienstes zurückgreifen. Und damit war sie um Längen besser dran als gewöhnliche Kriminelle.

Wir bekamen schließlich eine vollständige Aufstellung aller Telefongespräche auf den Tisch, die Leila geführt hatte - sei es als Alexandra Lester oder als Rebecca Smith. Es waren eine Reihe von Gesprächen mit Al-Malik darunter. Außerdem schien sie immer demselben Pizza-Service in der Mott Street treugeblieben zu sein. CARLO'S EXPRESS hieß der Laden. Und wenn man danach ging, wie oft Leila seine Dienste in Anspruch genommen hatte, musste er besonders gut sein. Selbst ins Plaza Athenee hatte sie sich die bunten Schachteln bringen lassen.

Außerdem hatte sie verhältnismäßig häufig bestimmte Boutiquen angerufen. Nachfragen ergaben, dass Leila sich durch Kuriere Kleider hatte bringen lassen. Da sie immer wieder in neue Rollen zu schlüpfen hatte, war ihr Verschleiß daran relativ groß.

Ziemlich häufig hatte Leila Telefonzellen angerufen. Und ein paarmal tauchte auch die Nummer des New Amsterdam Hotels in Brooklyn auf.

Und eine Nummer in Pearl River, die zu dem kleinen Privatflughafen gehörte, der wiederum unter der Kontrolle von Guy Carini stand. Möglicherweise war ursprünglich geplant worden, die Druckplatten über diesen Flughafen außer Landes zu bringen. Jedenfalls bekamen Orry Medina und Clive Caravaggio den Auftrag, sich dort umzusehen. Agent LaRocca bekam die Aufgabe, sich in einem Apartment in Albany umzusehen.

Wie die Auswertung der in Al-Maliks Villa gefundenen Papiere ergab, hatte dieser das Apartment erst vor kurzem unter falschem Namen gemietet. Möglicherweise war dort das Versteck der Druckplatten gewesen.

Milo und ich fuhren zum New Amsterdam Hotel, das in der Nähe der Brooklyn Heights lag. Eine noble Adresse. Wir zeigten an der Rezeption ein Bild von Leila Kerim herum.

Inzwischen hatten uns unsere Innendienstler verschiedene Bearbeitungen des Phantombildes zur Verfügung gestellt, das Leila in unterschiedlicher Aufmachung zeigten.

Denn wenn sie tatsächlich hier, im New Amsterdam gewesen sein sollte, war kaum anzunehmen, dass sie dabei ihr Lederoutfit getragen hatte.

Aber wir hatten keinen Erfolg.

Niemand hatte Leila gesehen. Weder als Leder-Vamp noch als biedere Business-Lady.

Schließlich landeten wir im Büro von Darren D. Borovsky, dem Hotelmanager, dem unsere Fragerei unter seinem Personal ziemlich auf die Nerven ging.

"Was denken Sie sich eigentlich? Was meinen Sie, was das für einen Eindruck auf unsere Gäste macht, wenn der FBI..."

"Wir machen nur unsere Arbeit", erwiderte ich. "Und wir versuchen sie, so unauffällig wie möglich zu machen."

Und Milo ergänzte: "Es dürfte durchaus auch in Ihrem Interesse liegen, wenn Verbrechen aufgeklärt werden."

Borovsky faltete die Hände und lehnte sich in seinem Bürosessel zurück.

"Mr. Garth von der Rezeption sagte mir, dass Sie eine Frau suchen..."

"Das ist richtig", sagte ich und zeigte ihm die Bilder.

"Was wird dieser Frau vorgeworfen?", fragte Borovsky.

"Mord, geheimdienstliche Tätigkeit, Beteiligung an einem brutalen Raubüberfall. Ich selbst war dabei, als sie kaltblütig einen Mann erschoss..."

Borovskys Gesich blieb unbewegt.

Er gab mir die Fotos zurück. "An diese Frau erinnere mich nicht."

"Leider auch sonst niemand im New Amsterdam."

"Dann bedeutet das, dass Sie sehr wahrscheinlich auch nicht hier war!"

"Sie hat aber mit dem New Amsterdam telefoniert. Und zwar am 3. dieses Monats um 15.45 Uhr."

"Welcher Anschluss?"

Ich gab ihm die Nummer.

"Dieser Anschluss gehört zu einem der Zimmer."

"Man kann direkt durchwählen?"

"Ja, aber wenn es nicht belegt ist, geht der Anruf an die Rezeption."

"Ich verstehe. Dann ist es im Moment also nicht belegt..."

"Das mag sein."

"Könnten Sie feststellen, wer am 3. dieses Zimmer bewohnte?"

"Hören Sie..."

Ich schnitt ihm das Wort ab. "Ja oder nein?"

Borovsky überlegte einen Moment. "Unser Haus ist für seine Diskretion bekannt und..."

Ich beugte mich etwas vor. "Vielleicht ist es Ihnen lieber, wenn wir mit einem Durchsuchungsbefehl wiederkommen und hier alles auf den Kopf stellen."

Borovskys Stirn legte sich in Falten. Er betätigte seine Gegensprechanlage und wies seine Sekretärin an, die entsprechenden Unterlagen herbeizubringen.

Fünf Minuten später hatten wir es dann schwarz auf weiß.

Das Zimmer war von einem Mann namens William Hamid bewohnt gewesen. Eine Personenbeschreibung bekamen wir wenig später von einem der Zimmermädchen. William Hamid war dunkelhaarig, hatte einen gepflegten Knebelbart und hohe Wangenknochen. Als Adresse hatte er eine Straße in Washington, DC angegeben. Wir gaben diese Daten an die Zentrale weiter. Sollten unsere Kollegen in Washington überprüfen, wer William Hamid war.

Milo und ich machten uns indessen auf den Weg nach Little Italy. Genauer gesagt zu CARLO'S EXPRESS in der Mott Street.

Manchmal sind es Kleinigkeiten, die uns G-men bei unseren Ermittlungen weiterbringen. Gewohnheiten, Vorlieben und so weiter. Und da wir im Moment keine wirklich heiße Spur von Leila hatten, mussten wir nach jedem Strohhalm greifen.

Wir fuhren über die Brooklyn Bridge, als aus der Zentrale eine Rückmeldung wegen William Hamid kam.

Es existierte in unseren Datenarchiven ein Mann dieses Namens auf den auch die Beschreibung passte. Hamid war Geschäftsmann, vor einigen Jahren mal in Verfahren verwickelt gewesen, bei dem es um illegalen Technologie-Transfer gegangen war.

Außerdem besaß Hamid eine Reederei, deren Sitz New York City war und von einem Verwandten geleitet wurde. Wiederholt wurde HAMID GLOBAL TRANSPORTS verdächtigt, in illegale Geschäfte verwickelt zu sein.

"Eine Reederei, das passt doch wie die Faust aufs Auge", meinte Milo. "Wenn man zwei und zwei zusammenzählt, bedeutet das doch, dass jetzt irgendwo, in einem beliebigen Hafen, ein Schiff liegen könnte, das die Druckplatten an Bord nimmt, um sie dann über dunkle Kanäle bis nach Bagdad zu bringen."

"Ich hoffe nur, dass das nicht schon längst passiert ist", meinte ich.

"Kaum zu glauben, aber wir kümmern uns um einen Pizzaladen", schüttelte Milo den Kopf.

"Weil wir jeder Spur folgen müssen, bei der auch nur der Hauch einer Chance besteht, dass sie zu Leila führt."

"Wie auch immer. CARLO'S EXPRESS habe ich auch schon in Anspruch genommen, wenn ich abends noch Hunger hatte", meinte Milo. "Und ich sag dir eins: Deren Pizzen sind wirklich das beste, was ich in dieser Hinsicht seit langem zwischen den Zähnen hatte."

Als wir die Mott Street erreichten, brauchten wir eine Weile, bis wir CARLO'S endlich gefunden hatten. Der Laden war ziemlich klein und unscheinbar. Vor allem verzichtete er völlig auf Leuchtreklame oder irgendwelche anderen optischen Reize, um auf sich aufmerksam zu machen. Das Hauptgeschäft für CARLO'S EXPRESS war offensichtlich der Service, einem jede gewünschte Pizza bis an die Haustür zu bringen.

Ein kleines Lokal mit ein paar Tischen, an denen man sich niedersetzen konnte, gab es allerdings auch.

Wir zeigten unsere Ausweise herum und fragten nach dem Chef. Carlo DiLivio war ein breitschultriger Mann mit Halbglatze. Zu unserer Überraschung war er der einzige Italo-Amerikaner bei CARLO'S. Alle anderen Angestellten waren Einwanderer aus der Ukraine und Weißrussland. "Alles kann man lernen", sagte DiLivio. "Die machen genauso gute Pizzen, als wären Sie in Italien geboren - arbeiten aber für den halben Lohn."

"Wir suchen eine Frau, die unter verschiedenen Namen hier etwas bestellt hat", sagte ich.

"Kein Problem", sagte DiLivio. "Jede Bestellung wird bei uns elektronisch erfasst. Die Fahrer bekommen einen Ausdruck, auf dem die Bestellung samt der Adresse festgehalten ist..."

Carlo DiLivio ging mit uns zu einem der Computer-Terminals, an dem die Bestellungen aufgenommen wurden. Es dauerte nur wenige Augenblicke und wir hatten eine Art Verzehrliste vor uns.

In Leilas Fall war die allerdings recht eintönig.

"Sie scheint eine Vorliebe für vegetarische Kost zu haben", stellte Milo fest.

"Ich erinnere mich an die Lady", sagte einer der Angestellten, ein hochgewachsener, etwas schlaksiger Mann mit blassblauen Augen und einem unüberhörbaren Akzent. "Sie wollte, dass ich ihr alles aufliste, was kein Schweinefleisch enthält."

Wir zeigte Bilder von Leila herum. Einer der Angestellten erinnerte sich daran, ihr eine Lieferung ins Plaza Athenee gebracht zu haben. "Ich habe mich über das hohe Trinkgeld gewundert", fügte er hinzu.

Ich wandte mich an Carlo DiLivio.

"Hätten Sie etwas dagegen, wen wir Ihre Telefone abhören würden? Es könnte schließlich sein, dass diese Frau noch einmal anruft."

"Mama mia, wenn Sie jeden verhaften wollen, der hier eine vegetarische Pizza bestellt, dann ist das schlecht für's Image, Mister."

Ich schüttelte den Kopf.

"Nein, nein, so geht das natürlich nicht. Milo und ich kennen die Stimme diese Frau und könnten sie vermutlich auch identifizieren... Und Ihre Leute haben jetzt ein Bild der Gesuchten gesehen. Wenn Sie die Pizza an Ort und Stelle abliefern, werden sie Leila mit hoher Wahrscheinlichkeit begegnen."

"Besteht irgendein Risiko für meine Leute?", fragte DiLivio.

"Es ist nicht höher, als bei jedem Ihrer Pizza-Jobs."

Schließlich nickte er.

"Meinetwegen", sagte DiLivio schließlich. "Man sagt immer, dass alle Italiener mit der Mafia zu tun haben. Und heute beweise ich Ihnen das Gegenteil."

Wir sagten ihm nicht, dass dieser Fall herzlich wenig mit der Mafia zu tun hatte.

"Okay", sagte ich. "Dann werde ich jetzt in unserer Zentrale anrufen."

*


Obwohl die Sonne bereits milchig geworden war und sich anschickte, bald unterzugehen, trug die junge Frau eine tiefschwarze Sonnenbrille - genauso wie die beiden dunkel gekleideten Männer in ihrer Begleitung.

Sie schlenderten eine der Ufer-Promenaden im Battery Park entlang.

Um diese Zeit waren kaum noch Touristen hier, die den Ausblick auf die Freiheitsstatue genossen.

Auf einer Bank saß ein Mann und las eine Ausgabe von USA TODAY. Die Zeitung war so gefaltet, dass der Sportteil außen zu sehen war. Das war das Erkennungszeichen.

Die beiden Männer postierten sich in der Umgebung. Einer von ihnen langte kurz unter sein Jackett und überprüfte den Sitz der Waffe, die seine Kleidung unterhalb der Schulter etwas ausbeulte.

Die beiden ließen wachsam den Blick schweifen.

Die junge Frau mit der dunklen Brille setzte sich neben den Zeitungsleser, einen rotgesichtigen Mitvierziger.

Er legte die Ausgabe von USA TODAY auf die Knie und bedachte sie mit einem kurzen, prüfenden Blick.

"Sie sind Leila", stellte er dann fest. "Mr. Hamid hat Sie mir beschrieben..."

"Mr. Hamid ist ein Narr", sagte Leila kalt.

Der Rotgesichtige lachte heiser.

"Wie auch immer. ER bietet mir die Chance, das Geschäft meines Lebens zu machen."

"Sie sind..."

"Nennen Sie mich doch einfach Charly. Das tun alle meine Freunde."

"Wer sagt, dass ich mit Ihnen befreundet sein will, Charly?", fragte Leila. Ihre Stimme klang wie Eis.

"Warum so reserviert, Leila - oder wie immer Sie auch in Wirklichkeit heißen mögen? Wir sitzen doch im selben Boot."

"Das hoffe ich."

"Sie können sich auf mich verlassen."

Leila nahm die Sonnenbrille ab. Der Blick ihrer dunklen Augen ließ Charly unwillkürlich schlucken. "Das hoffe ich für Sie", versetzte Leila dann. "Sollte es nämlich anders sein, werden Sie es bereuen. Bitter bereuen..."

Charly runzelte die Stirn.

"Ich kann mir die Sache auch noch anders überlegen!"

"Wenn Sie handeln wollen, ist das der denkbar schlechteste Augenblick dafür", erklärte Leila. "Der Mann, der das zuletzt versucht hat, ist jetzt tot, Charly. Ich hoffe nicht, dass Sie der nächste sein wollen."

Charlys Gesicht wurde noch blasser, als es ohnehin schon war.

"Die SILVER QUEEN liegt zur vereinbarten Zeit im Hafen. Es läuft alles nach Plan. Die Papiere sind okay und es wird keinerlei Schwierigkeiten geben."

"Gut", sagte Leila. "Aber es gibt eine winzige Änderung an unserem Plan."

"Sie machen mir Spass."

"Hören Sie mir genau zu, Charly. Ich möchte mich ungern wiederholen. Und vor allem: Halten Sie jedes Detail genauestens sein. Davon hängt das Gelingen des ganzen Unternehmens ab. Die Summe, die ich mit Mr. Hamid abgemacht habe, wird um zwanzig Prozent erhöht. Ich hoffe, dass Mr. Hamid Ihnen davon etwas abgibt, Charly. Aber das ist ihr Problem."

Charly kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Sein Gesichtsausdruck zeigte nun deutliche Skepsis.

"Für mich klingt das danach, dass es irgendwelche Schwierigkeiten gibt."

"Keine, für die es nicht eine Lösung gäbe", erwiderte Leila.

"Ach, wirklich?"

"Machen Sie einfach Ihren Job, Charly, und tun Sie genau, was ich Ihnen jetzt sage..."

*


Unsere Leute saßen in einem präparierten Lieferwagen vor CARLO'S EXPRESS und werteten sämtliche telefonisch eingehenden Bestellungen aus. Milo und ich brauchten uns allerdings nicht die Nacht um die Ohren zu schlagen.

Schließlich wusste ja keiner von uns, ob Leila heute oder erst in einer Woche wieder Hunger auf eine Pizza hatte. Die Anrufer wurden unter verschiedenen Gesichtspunkten aussortiert. Alle Männerstimmen fielen durch das Raster. Von den Frauenstimmen wiederum alle diejenigen, die Pizzen bestellten in denen Schweinefleisch enthalten war. Wenn genug Indizien dafür sprachen, dass es sich bei der Anruferin um Leila handelte, sollten wir per Handy angerufen werden. Man würde uns dann die Aufnahme vorspielen. Letzte Sicherheit gab es, sobald die Pizza ausgeliefert war.

Wir kehrten in die Zentrale zurück. Unsere Kollegen aus dem Innendienst versuchten inzwischen alle Schiffsverbindungen unter die Lupe zu nehmen, bei der die Reederei HAMID GLOBAL

TRANSPORTS irgendeine Rolle spielte.

"Die meisten Schiffe dieser Reederei fahren unter sogenannten Billigflaggen", erläuterte Mr. McKee in seinem Büro. "Panama oder Liberia. Die Besatzungen sind aus aller Herren Länder zusammengewürfelt und oft sind nur noch der Kapitän und einige Offiziere Amerikaner..."

"Man müsste alle Schiffe dieser Reederei überprüfen, die im Moment in irgendeinem amerikanischen Hafen liegen", meinte Milo.

"Wissen Sie, wie viele das sind, Milo? Und wer sagt uns, dass das Schiff, das die Druckplatten abholen soll, nicht noch draußen auf hoher See ist und erst in einigen Tagen eintrifft. Wenn wir dann auch nur den kleinen Finger gerührt haben, dreht es einfach wieder ab. Im übrigen liegt uns bis jetzt nichts weiter als ein vager Hinweis vor, dass diese Leila einmal mit William Hamid telefoniert hat. Was, wenn es zwischen den beiden gar nicht zu einem Deal gekommen ist und die Druckplatten auf anderem Weg außer Landes geschafft werden?"

Mr. McKee hatte natürlich recht.

Die Situation war ziemlich verfahren. Ein Wettlauf mit der Zeit und unsere Gegner hatten bei diesem Pokerspiel alle Asse in der Hand.

Mr. McKee fuhr fort: "Die Zollbehörden sind angewiesen worden, bei allen Schiffen mit dem Zielhafen Akaba, Jordanien, besonders genaue Kontrollen durchzuführen. Schließlich ist bekannt, dass weit über neunzig Prozent der illegal in den Irak gelieferten Güter diesen Weg nehmen."

"Ich glaube kaum, dass Leila uns den Gefallen tun wird, diesen Weg zu benutzen", meinte ich.

"Das ist wahr. Wie auch immer, William Hamid wird in Washington beschattet, sein Telefon abgehört. Und für seinen Neffen, der hier in New York City als sein Stadthalter auftritt, gilt dasselbe."

Mr. McKee nippte an seinem Kaffeebecher.

Dann fuhr er fort: "Eine andere Möglichkeit, die Druckplatten außer Landes zu schaffen wäre das diplomatische Gepäck von unter Immunität stehenden irakischen Gesandten, etwa bei den Vereinten Nationen. Die Kollegen der CIA und das Außenministerium halten diese Möglichkeit allerdings für wenig wahrscheinlich."

"Weshalb?", fragte ich.

"Weil der Irak seit langem auf diplomatischem Weg eine Lockerung des UNO-Embargos zu erreichen versucht. Dazu braucht er Verbündete im UNO-Sicherheitsrat. Wenn aber durch irgendwelche Umstände beispielsweise ein UNO-Diplomat des Irak mit einem brutalen Raubüberfall in Verbindung gebracht werden würde, wären alle politischen Bemühungen umsonst gewesen. Trotzdem stehen alle in Frage kommenden Personen unter Beobachtung. Es ist nahezu unmöglich, dass diese Leila - oder wer immer die Druckplatten im Moment auch haben mag - sie einer dieser Personen übergeben könnte."

*


In dieser Nacht schien Leila keinen Appetit auf Pizza zu haben. Aber die Falle würden wir aufrecht erhalten. Vielleicht hatten wir ja doch noch Glück und sie schnappte zu.

Am nächsten Tag erreichte das FBI-Hauptquartier an der Federal Plaza der Anruf eines Anwalt namens Clark Breckham.

Er war der Pflichtverteidiger des falschen State Police Officers, dessen Führerschein auf den Namen Robert Brown ausgestellt war. Breckham teilte mit, dass sein Mandant jetzt doch bereit sei, gegenüber dem FBI auszusagen.

Milo und ich begaben uns auf die New Yorker Gefängnis-Insel Riker's Island, wo Brown inzwischen als Untersuchungshäftling einsaß.

In einem kahlen, schmucklosen Raum saßen wir dem Mann, der sich Brown nannte, schließlich gegenüber. Breckham, sein Anwalt, war auch anwesend. Er hielt sich allerdings stark zurück.

"Sie wollen also reden", stellte ich fest. "Wer sind Sie?"

"Robert Brown."

"Aber das ist nicht Ihr wirklicher Name."

"Er ist so gut wie jeder andere."

"Er kommt in den USA sicher einige tausend Mal vor."

"Da mögen Sie recht haben", murmelte er. Dann sah er mich geradewegs an. "Sie sind doch an den Druckplatten interessiert, nicht wahr?"

"Sicher."

"Ich könnte Ihnen sagen, auf welchem Weg die Druckplatten die Vereinigten Staaten verlassen sollen."

"Ich höre..."

Brown lächelte. Die Narbe, die er am Kinn hatte zog sich dabei etwas in die Länge. "Alles im Leben hat seinen Preis, G-man. Das wissen Sie doch."

"Und wie sieht der Preis aus, den Sie verlangen?"

"Ich will am Leben bleiben."

"Nun, ich..."

"Ein Mord wird mir nicht nachzuweisen sein", erklärte Brown.

"Trotzdem wird es reichen, Sie zwanzig, dreißig Jahre hinter Gitter bringen. Vielleicht sogar noch länger. "

"Aber wenn ich im normalen Strafvollzug bin, erlebe ich nicht einmal meinen eigenen Prozess."

"Wieso nicht?"

"Die Leute, für die ich arbeitete, verfügen über gute Verbindungen. Und wenn sie es wollen, reicht ihr Arm auch in ein amerikanisches Staatsgefängnis."

"Warum sollte man Sie umbringen?"

"Um zu verhindern, dass ich den Mund aufmache. Um zu verhindern, dass es internationale Verwicklungen gibt."

"Sie arbeiten für den irakischen Geheimdienst", sagte ich.

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Sein Gesicht blieb unbewegt. Ein Pokerface.

"Ich schlage vor, wir fangen noch einmal von vorne an", sagte er dann. "Ich beantworte gerne Ihre Fragen. Aber ich möchte Garantien."

"Wie sollen die genau aussehen?"

"Ich will eine andere Identität. Verlegen Sie mich unter falschem Namen in irgendeine Strafanstalt. Meinetwegen nach Wyoming oder Montana."

"Nun, es gibt das Zeugenschutzprogramm", sagte Milo.

"Wir sehen zu, was wir für Sie tun können", versprach ich.

"Aber ich denke, dass Ihre Forderungen erfüllbar sind."

"Gut", sagte er.

"Sie sagten, dass Ihnen bekannt sei, auf welchem Weg die Druckplatten aus den USA herausgeschmuggelt werden sollten."

Er nickte.

"Per Schiff."

"Zufällig ein Schiff aus der Flotte von HAMID GLOBAL TRANSPORTS?"

"Ja. Es heißt SILVER QUEEN, lag die letzten drei Wochen zur Überholung in Jersey City und müsste jetzt irgendwann auslaufen. Es wird dann im New Yorker Hafen am Pier 62

anlegen und seine Ladung aufnehmen. Keine Ahnung, was es ist. Irgend etwas Belangloses. Aber das, was Sie suchen, wird auch dabei sein."

"Wann soll das stattfinden?", fragte ich.

"Der Zeitpunkt wird erst kurz vorher übermittelt. Aus Sicherheitsgründen."

"Ich verstehe."

"Ich nehme an, dass Hamid einige Leute bei der Hafenpolizei und beim Zoll bestochen hat, damit die SILVER QUEEN unbehelligt passieren kann. Ich würde Ihnen also empfehlen, diese Institutionen bei Ihren Aktionen nicht zu informieren, weil Sie damit rechnen müssen, dass es da undichte Stellen gibt." Er hob die Augenbrauen. "Ich denke, dass das Informationen sind, die den Schutz eines Menschenlebens wert sind."

"Wir werden überprüfen, was Sie gesagt haben", erklärte ich zurückhaltend. Aus irgendeinem Grund hatte ich ein mulmiges Gefühl bei der Sache. Mein Instinkt ließ die Alarmglocken schrillen, obwohl ich eigentlich keinen logischen Einwand vorbringen konnte. Wenn es stimmte, was dieser Robert Brown gesagt hatte, dann waren wir dicht am Ziel. Dann brauchten wir uns nur noch auf die Lauer legen und abwarten, bis die SILVER QUEEN an der Pier 62 festmachte und beladen wurde.

Er weiß sehr viele Details, ging es mir durch den Kopf. Und er drängte sie mir geradezu auf, nachdem man ihm bis jetzt jedes Wort einzeln aus der Nase hatte ziehen müssen und er dennoch so gut wie nichts preisgegeben hatte. Das war ein Wandel, der mich erstaunte. Ich wechselte einen Blick mit Milo. Und ich sah, dass er genauso darüber dachte.

"Seit wann steht dieser Plan fest?", fragte ich.

Ich hatte das Gefühl, mich noch mehr vergewissern zu müssen.

"Es war von Anfang an so geplant. Lediglich der zeitliche Ablauf hat sich etwas verzögert, weil George Al-Malik auf einmal die Beute nur noch zu erhöhtem Preis herausrücken wollte."

"Dann weiß William Hamid, was in seiner SILVER QUEEN transportiert werden soll."

"Natürlich weiß er das."

"Warum tut er so etwas? Es bedeutet für einen Mann wie ihn doch ein großes Risiko?"

"Es bedeutet für ihn ein noch größeres Risiko, uns in dieser Frage die Hilfe zu verweigern."

"In wie fern?"

"Weil die Leute, in deren Auftrag wir handeln, unter Umständen dazu neigen, kurzen Prozess zu machen. William Hamid hat vielfältige Handelsbeziehungen in den Mittleren Osten. Wir haben ihn reich gemacht und als sein Unternehmen zwischenzeitlich in eine Krise geriet, haben wir es gerettet.

Er ist uns mehr, als nur einen Gefallen schuldig."

"Wer ist WIR?"

"Der irakische Geheimdienst."

"Sie sind Iraker?"

"Ja."

"Wie lautet ihr wirklicher Name und Ihr Rang im irakischen Geheimdienst?"

"Nennen Sie mich einstweilen weiterhin Robert Brown. Zu meiner eigenen Person werde ich im Moment keinerlei Aussagen machen."

"Das würde Ihre Glaubwürdigkeit sehr erhöhen."

"Gegebenenfalls bin ich bereit, später dazu Auskunft zu geben. Im Augenblick kann ich nicht abschätzen, was für Folgen das für mich hat."

"Wo hatte George Al-Malik die Druckplatten zwischenzeitlich versteckt?", fragte ich.

"In einem Wohnwagen in Danbury, Connecticut. Unsere Leute haben eine Weile gebraucht, bis sie den gefunden hatten, selbst nachdem uns Al-Malik den Standort verraten hatte."

"Al-Malik ist auch einer Ihrer Leute gewesen."

"Er war ursprünglich unser Strohmann, mit dessen Hilfe wir diverse Tarngeschäfte aufgebaut haben."

"Und Carini?"

"Ein gewöhnlicher Krimineller. Er wusste nichts von den Hintergründen. Der Überfall auf den Druckplatten-Transport war eine heikle Sache. Es musste vermieden werden, dass irgendjemand eine Verbindung nach Bagdad ziehen konnte. Schon aus diplomatischen Gründen."

"Was ist mit Leila?", fragte ich. "Was wissen Sie über sie?"

"Eine Spezialagentin, wurde vor ein paar Jahren hier etabliert. Ich lernte sie erst vor ein paar Wochen kennen. Aus Bagdad wurde mir signalisiert, dass ich Leilas Anweisungen bedingungslos zu folgen hätte. Mehr weiß ich nicht."

"Sie nannte sich Carla Raines, Alexandra Lester und Rebecca Smith."

"Das ist richtig."

"Kennen Sie weitere Tarnnamen?"

"Nein. Sie hat auch uns gegenüber nie mehr gesagt, als unbedingt notwendig."

"Sie hat eine Vorliebe für Pizza."

"Wenn man länger in diesem Land lebt, nimmt man zwangsläufig ein paar Gewohnheiten an."

"Haben Sie eine Ahnung, wo sie sich jetzt aufhält?"

"Nein. Ich kann Ihnen aber eine Reihe von Treffpunkten und konspirativen Wohnungen nennen."

*


Bei den Treffpunkten handelte es sich um verschiedene Bars und Cafés in Manhattan. Außerdem waren da noch einige Wohnungen und Häuser. Eine Villa in Yonkers, die einem Arzt gehörte, der für ein halbes Jahr im Ausland an einer Universität lehrte, ein Apartment in der Seventh Avenue, ein Zimmer in Jersey City, von dem aus man einen guten Blick auf den nahen Highway hatte.

So schnell es ging klapperten wir mit unseren Kollegen diese Orte ab. Aber das Ergebnis war enttäuschend. Wenn wir Bilder von Leila in der Nachbarschaft herumzeigten, hatte sie nie jemand gesehen.

Gleichzeitig wurden Agenten in der Nähe von Pier 62 postiert, um zu beobachten, ob sich dort etwas tat. Sobald das geschah, würden wir es jedenfalls wissen.

Milo und ich überprüften eine Wohnung in Queens, die ebenfalls auf Browns Liste gestanden hatte. Sie stand seit drei Monaten leer, aber es war nicht erkennbar, dass sie in dieser Zeit benutzt worden war.

"Jesse, ich habe das Gefühl, das der Kerl uns auf den Arm nehmen will", meinte Milo irgendwann ziemlich resigniert.

Denn es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, dass dies tatsächlich ein geheimer Treffpunkt oder Unterschlupf gewesen war.

"Nun, Leila war bei ihren bisherigen Unterkünften auch immer sehr gut darin, ihre Spuren zu verwischen", erwiderte ich.

"Jesse, dieser Mann schweigt erst wie ein Grab und dann macht er auf einmal den Mund auf und redet wie ein Wasserfall. Kommt dir das nicht auch merkwürdig vor?"

"Sicher."

"Ich habe ihn genau beobachtet, während du ihn befragt hast."

"Und? Zu welchem Schluss kommt dein psychologisch geschulter Geist?"

"Ich hatte das Gefühl, dass er uns ein Theater vorspielt."

Ich sah ihn an. "Ich hatte ein ähnliches Gefühl. Andererseits klingt das, was er sagte, sehr plausibel. Und vor allem stimmt es mit unseren bisherigen Erkenntnissen überein."

"Was wollte er damit erreichen?", fragte Milo.

"Das sagte er doch: Am Leben bleiben."

"Es scheint aber eine Weile gedauert zu haben, bis bei ihm der Groschen fiel und er erkannte, dass seine Auftraggeber und Komplizen ziemlich rüde Gesellen sind, die ihn ohne mit der Wimper zu zucken liquidieren würden."

"Wir können nicht einfach ignorieren, was er gesagt hat, Milo."

"Nein, aber wir sollten ihm auch keinen vorschnellen Glauben schenken."

Ich zuckte die Achseln, während wir wieder zu meinem Sportwagen gingen, den ich am Straßenrand abgestellt hatte.

Als wir uns in den Wagen gesetzt hatten, zögerte ich noch, den Zündschlüssel herumzudrehen und den Motor zu starten.

"Weißt du, Milo, mir kamen ganz ähnliche Gedanken. Aber was könnte jemand wie Robert Brown gewinnen, wenn er uns anlügt?"

"Ich bin keine Antwort-Maschine, Jesse."

Er griff sich an die Schulter und verzog etwas das Gesicht.

"Was macht deine Verletzung?", erkundigte ich mich.

"Da werde ich wohl noch 'ne Weile was von haben", erwiderte Milo. "Aber ich will nicht meckern. Wenn mich die Kugel eine Handbreit weiter links erwischt hätte, wäre ich jetzt tot."

*


An Pier 62 tat sich nichts. Unsere Agenten hatten sich dort so postiert, dass sie alles im Auge behalten konnten. Sie mussten im Hintergrund bleiben, um unsere Gegner nicht vorzeitig abzuschrecken.

Milo und ich fuhren nochmal nach Riker's Island, um mit Robert Brown zu sprechen.

"Wir sagen Ihnen ganz ehrlich, was wir denken", erklärte Milo, als er uns gegenübersaß.

"So?" Er lächelte matt.

Milo fuhr fort: "Bis jetzt gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass das, was Sie behauptet haben, wahr ist. Wir haben die Adressen und Treffpunkte überprüft. Alles Nieten. Und an Pier 62 tut sich auch nichts."

Robert Brown lief rot an.

"Was kann ich dafür? Ich habe Ihnen gesagt, was ich wusste. Wenn Leila inzwischen die Planung geändert hat, kann ich nichts dafür!" Seine Augen waren weit aufgerissen. Irgend etwas flackerte in ihnen. Aber ich hatte eigentlich nicht das Gefühl, dass es Angst war.

Die ganze Zeit über glaubte ich, einen Mann vor mir zu haben, der ganz genau wusste, was er tat. Und selbst, wenn er die Beherrschung verlor, schien das genau kalkuliert zu sein. Er hatte etwas von dem perfekten Timing eines Broadway-Schauspielers.

"Kommen wir auf Leila zurück", sagte Milo.

"Fragen Sie ruhig! Fragen Sie mir meinetwegen Löcher in den Bauch, ich sage Ihnen was ich weiß. Ich habe nämlich eine Scheiß-Angst."

"Ich nehme an, dass Leila das Land ebenfalls verlassen will, oder?", fragte Milo.

"Das weiß ich nicht."

"Geht sie auch an Bord der SILVER QUEEN?"

"Ich habe wirklich keine Ahnung."

"Wie lange glauben Sie, wird sich das mit diesem Schiff noch hinziehen?"

"Sie misstrauen mir."

"Es wundert uns, dass Sie plötzlich so gesprächig werden", stellte Milo fest.

"Was könnte ich dadurch gewinnen, dass ich Ihnen Märchen erzähle? Nichts! Und das wissen Sie!"

"Seit wann kennen Sie Mr. Breckham?", fragte Milo.

"Meinen Anwalt?"

"Genau den."

"Mein Gott, was hat der denn damit zu tun?"

Ich ergänzte: "Nun, Sie haben erst sehr hartnäckig geschwiegen. Seitdem Sie mit Mr. Breckham gesprochen haben, hat sich Ihre Einstellung geändert."

Er atmete tief durch. "Seine Nummer habe ich aus dem Telefonbuch."

"Er ist kein Pflichtverteidiger?"

"Nein." Er ballte die Fäuste. "Wenn Sie mir nicht glauben, bin ich bereit, meine Aussagen bei einem Lügendetektor-Test zu wiederholen."

Milo lächelte dünn.

"Ich nehme an, Sie wissen, dass eine Reihe von Testdurchgängen mit Ihnen notwendig wären, ehe ein Lügendetektor bei einer Befragung aussagekräftige Ergebnisse erbringen könnte. Schließlich sind die physiologischen Reaktionen, auf deren Auswertung diese Tests beruhen, bei jedem Menschen sehr unterschiedlich. Bis das geschehen ist, sind die Druckplatten längst in Bagdad..."

*


Am frühen Abend kam eine Meldung von der Pizza-Front.Eine junge Frau hatte etwas Vegetarisches bestellt, dazu noch einige Pizzen auf Thunfisch-Basis. Auf jeden Fall zu viel, um alles allein zu essen.

Unsere Kollegen überspielten uns den Anruf per Handy.

"Sie könnte es sein", meinte Milo.

Wir waren uns beide nicht hundertprozentig sicher. Die Stimme klang etwas verzerrt. Letzte Sicherheit würden wir haben, sobald CARLO'S EXPRESS seine Ware ausgeliefert hatte.

Die Bestätigung kam, noch bevor wir die Brooklyn Bridge zur Gänze passiert hatten. Wir fuhren mit Vollgas und Blaulicht, das wir natürlich rechtzeitig vor unserem Zielort wieder verschwinden lassen würden.

Die Agents Orry Medina und Clive Caravaggio waren ebenfalls auf dem Weg. Die angegebene Adresse gehörte zu einer Villa in den Brooklyn Heights.

Ein dreigeschossiges Haus mit gelber Fassade. Es bildete mit den Nachbarhäusern eine geschlossene Front.

Ich parkte den Sportwagen in einer Seitenstraße.

Wir stiegen aus.

Orry und Caravaggio trafen einen Augenblick später ein.

"Die City Police riegelt die Seitenstraßen großräumig ab", meinte Caravaggio. "Aber es dauert natürlich eine Weile, bis alles perfekt ist. Außerdem müssen wir warten, bis unsere Verstärkung da ist..."

"Okay", sagte ich und überprüfte den Sitz der P226 im Gürtelhalfter. Das Walkie Talkie hatten wir auch alle dabei, um uns bei diesem Einsatz untereinander verständigen zu können. Ich zog mein Jackett aus und vertauschte es mit einer kugelsicheren Weste. Auch die anderen legten diese Dinger an. Sie waren zwar nicht besonders kleidsam und ließen einen plump wie ein Teddy erscheinen, aber die Überlebenschance war einfach größer.

Weitere G-men trafen ein. Insgesamt waren wir ein gutes Dutzend Agenten.

Orry dirigierte die Neuankömmlinge über Funk zu uns. Die Männer sprangen aus den Dienstfahrzeugen. Die meisten trugen FBI-Einsatzjacken. Manche führten außer den üblichen Pistolen vom Typ Sig Sauer P226 auch noch Maschinenpistolen und Pump Guns mit sich.

Agent Fred LaRocca kam uns entgegen und grüßte uns knapp.

"Wie viele sind in dem Haus?"

"Der Pizza-Mann hat nur Leila gesehen", erwiderte ich.

"Aber das muss nichts heißen. Wir müssen uns auf alles gefasst machen!"

"Sollen wir warten, bis sie rauskommen?", fragte LaRocca.

"Nein", sagte Milo. "Wir müssen jetzt zuschlagen. Sonst riskieren wir, dass die da drinnen sich einigeln und die Gelegenheit nutzen, alle Beweise zu vernichten..."

"Wenn du das Wort 'wir' benutzt, sprichst du ja hoffentlich nicht von dir", meinte ich.

Milo sah mich ärgerlich an.

"Wovon redest du, Jesse?"

"Davon, dass ein Schussloch im Körper genug zu verkraften ist, Milo. Du bist noch nicht voll auf dem Damm. Also halt dich im Hintergrund, Milo!"

Milo hob die Hände.

"Okay, okay...", murmelte er.

LaRocca atmete tief durch.

"Dann los!"

Die G-men schwärmten in verschiedene Richtungen aus. Einige unserer Männer würden versuchen, über Nachbargrundstücke von hinten an das Haus heranzukommen.

Milo und ich gehörten zu der Gruppe, die sich von vorne näherte.

Der Verkehr verebbte.

Die Kollegen der City Police gaben über Funk bekannt, dass der Verkehr aufgehalten wurde. Niemand kam jetzt hier her.

Für die Dauer des Einsatzes mussten wir sicherstellen, dass es nicht zu zusätzlichen Komplikationen kam.

Unsere Leute verteilten sich.

Der Eingang des Hauses war im Visier von einem halben Dutzend Zielfernrohren.

Unsere Leute saßen hinter Mauervorsprüngen und parkenden Wagen.

Zusammen mit Orry und Caravaggio arbeitete ich mich bis zur Tür vor. Unsere Kollegen würden für den nötigen Feuerschutz sorgen, wenn es hart auf hart kam.

Orry brachte eine kleine Sprengladung am Türschloss an.

Mit einem dumpfen Knall sprang die Tür auf. Mit einem wuchtigen Tritt wurde sie aufgestoßen. Mit der P226 im Anschlag stürmte ich durch einen Flur. Orry folgte mir.

Rechts war eine Tür. Orry öffnete sie mit einem Tritt und richtete die Waffe ins Innere.

"FBI!", rief er.

Der Raum war leer.

Es handelte sich um ein recht spärlich eingerichtetes Büro.

Der Geruch von verbranntem, schmelzendem Plastik stieg uns in die Nase. Aus einem der Papierkörbe stieg beißender Qualm auf. Für mich bedeutete das zweierlei. Erstens war noch vor wenigen Augenblicken jemand in diesem Raum gewesen und zweitens schien man uns viel eher bemerkt zu haben, als uns das lieb sein konnte. Wir wurden erwartet.

"Wir brauchen einen Feuerlöscher!", rief Clive Caravaggio in sein Funkgerät.

Indessen stürmte ich den Flur bis zur nächsten Tür entlang.

Mit einem Tritt öffnete ich sie.

Die P226 hielt ich mit beiden Händen, die Beine waren gespreizt, die Haltung etwas geduckt. Ich war auf alles gefasst. Ich blickte in einen abgedunkelten Raum. Die Jalousien waren offenbar heruntergelassen worden. Nichts als Schwärze war zu sehen, aus der nur ein Sekundenbruchteil, nachdem ich die Tür aufgetreten hatte, das Mündungsfeuer einer Waffe aufblitzte.

Rot wie Blut leckten die Flammen innerhalb eines einzigen Augenaufschlags mindestens zwanzigmal aus der dunklen Mündung heraus. Der Feuerstoß einer Maschinenpistole.

Die mörderische Salve traf mich mit voller Wucht am Oberkörper und ließ mich rückwärts taumeln. Gleichzeitig feuerte ich mit meiner Pistole zurück. In meinem Rücken spürte ich die Wand, während sich die Geschosse meines unsichtbaren Gegners in meine kugelsichere Weste bohrten.

Ich rappelte mich auf und stürmte nach vorn, während Orry ins Innere des Raumes feuerte, bis ich nicht mehr im Schussfeld war.

Ich lehnte mich neben der Tür gegen die Wand.

Aus dem dunklen Raum kam kein Schuss mehr.

"Kommen Sie raus! Hier ist der FBI!", rief Orry. "Das ganze Haus ist umstellt!"

Es gab keine Antwort. Von drinnen war nicht ein einziger Laut zu hören. Nicht einmal ein Atmen. Vorsichtig arbeitete ich mich vor. Meine Bewegungen waren völlig lautlos. Die Waffe hielt ich in der Rechten.

Orry schüttelte den Kopf.

Ich ignorierte das. Blitzartig schnellte ich vor, die Waffe im Anschlag. Ich griff zur Seite und erwischte den Lichtschalter. Die Leuchtstoffröhren flackerten auf, während ich mich zu Boden warf, dort abrollte und die Waffe emporriss.

Ich hatte erwartet, dass ein Geschoßhagel über mir niederging. Doch es blieb still. Ich erhob mich und blickte mich in dem nun erleuchteten Raum um. Ein Schlafzimmer. Auf dem breiten Doppelbett war eine eigenartige Apparatur angebracht, deren wichtigster Bestandteil eine Maschinenpistole war. Mit Hilfe von Schraubzwingen war die Waffe fest verankert. Ein hauchdünner Nylonfaden führte von der Tür über eine Rolle in einer Art Zickzack bis zum Abzug der MPi. Sobald die Tür mit einem Ruck geöffnet wurde, krachte die Waffe los.

Eine einfache, aber sehr wirkungsvolle Selbstschussanlage. "Es ist niemand hier", murmelte ich düster.

Leila schien uns wieder mal den entscheidenden Schritt voraus zu sein.

*


Fieberhaft durchsuchten wir die Räume der oberen Stockwerke.

Aber es wurde uns ziemlich bald klar, dass wir zu spät kamen.

Nichts als ein paar leere Pizza-Schachteln waren von der grausamen Schönen geblieben.

Der Aufbruch musste sehr plötzlich erfolgt sein und so hatten wir immerhin die Hoffnung, dass der Erkennungsdienst einige interessante Spuren sichern konnte.

Natürlich fragten wir uns, wohin Leila und möglicherweise auch noch ein oder zwei Komplizen so plötzlich verschwunden waren. Sie schienen sich buchstäblich in Luft aufgelöst zu haben.

Die Antwort auf diese Frage fanden wir im Keller.

Agent Medina besorgte sich eine Taschenlampe und dann folgte er zusammen mit mir einem niedrigen, dunklen Gang, der schließlich in das Kanalsystem mündete, das die gesamte Stadt New York unterirdisch durchzieht. Der Geruch war kaum erträglich.

"Wir haben verloren, Jesse", meinte Medina schließlich.

"Jedenfalls fürs erste. Diese Leila kann durch jeden Gullideckel in Brooklyn wieder an die Oberfläche gekommen sein!"

Alles in mir sträubte sich gegen diese Erkenntnis.

Aber wenn man die Sache einer kühlen Analyse unterzog hatte Orry natürlich recht. Wir drehten um und kehrten zurück.

Noch hatten wir die vage Hoffnung, dass Leila vielleicht einer der City Police-Streifen in die Arme laufen würde, die jetzt in der Gegend um die Brooklyn Heights patrouillierten. Aber dazu war sie einfach zu schlau.

Das ganze Haus stellten wir buchstäblich auf den Kopf.

Wir fanden einiges an offenbar verschlüsseltem Material. Es würde eine Zeitlang dauern, bis das entschlüsselt war. Zeit, die wir nicht hatten.

Von den gesuchten Druckplatten war jedenfalls keine Spur zu entdecken.

Dafür fanden wir etwas über den Eigentümer des Hauses heraus. Er hieß Aziz Al-Tarik und war als Immobilienmakler bekannt. Ob er zusammen mit Leila durch die Kanalisation geflohen war, wussten wir nicht. Jedenfalls war er im Moment in seinen Büros, die er in der Seventh Avenue unterhielt nicht erreichbar. Seine Eltern stammten aus Basra, Irak. Es war immer dasselbe. Vermutlich hatte man Al-Tarik mit dem Hinweis auf Verwandte, die noch im Irak lebten, leicht zur Mitarbeit für den irakischen Geheimdienst bewegen können.

Mandys Kaffee, den wir später in Mr. McKees Büro von seiner reizenden Sekretärin serviert bekamen, war ein schwacher Trost für unseren Misserfolg.

"Die Fahndung im Gebiet um die Brooklyn Heights hat nicht den geringsten Hinweis erbracht", stellte Mr. McKee fest.

"Diese Frau ist wie ein Chamäleon. Sie scheint sich ihrer Umgebung derart perfekt anpassen zu können, dass sie durch jedes Raster schlüpft."

"Vermutlich wird Leila uns nicht zum zweiten Mal den gefallen tun und ihre Vorliebe für Pizza durch einen Anruf bei CARLO'S EXPRESS unter Beweis stellen", meinte ich.

"Wer sagt, dass sie begriffen hat, dass es dieser Anruf war, der uns auf ihre Spur brachte?", meinte Milo.

Ich sah ihn an. "Sie ist nicht dumm und kann zwei und zwei zusammenzählen. Egal, wo sie sich jetzt befindet, sie wird versuchen, das Geschehene zu analysieren. Und einer der wenigen Fehler, die sie überhaupt gemacht hat, ist, dass sie ein und demselben Pizza-Service treugeblieben ist. Darauf wird sie früher oder später auch kommen."

Milo hob die Augenbrauen. "Hoffen wir, dass du dich irrst, Jesse."

"Wir werden die Pizza-Falle aufrechterhalten", entschied Mr. McKee.

"Schaden kann es nicht", kommentierte Medina, dessen exquisite Kleidung bei unserem Run durch die Kanalisation etwas gelitten hatte. Er blickte zu Mr. McKee hin, nippte an seinem Kaffeebecher und fragte dann: "Was tut sich denn an Pier 62?"

"Unsere Leute liegen auf der Lauer", erklärte unser Chef und zuckte dann die Schultern. "Leider tut sich dort allerdings bis jetzt gar nichts."

Milo atmete tief durch. "Ich habe es gleich gewusst. Dieser Robert Brown hat uns einen Bären aufgebunden."

"Wenn das tatsächlich der Fall sein sollte, fragt man sich natürlich, was das Motiv dabei sein sollte", sagte Mr. McKee.

Er wandte sich an mich. "Welchen Eindruck haben Sie, Jesse?"

Ich zuckte die Achseln. "Schwer einzuschätzen. Seine Geschichte klang auf der einen Seite plausibel. Gegen den Club, für den dieser Brown offenbar arbeitet, wirkt dich jede Mafia-Familie wie eine Abteilung der Heilsarmee. Dass die Iraker ihn umbringen würden, um zu verhindern, dass er redet, könnte tatsächlich der Fall sein."

"In dem Fall wäre es doch dumm von ihm uns anzulügen", stellte Mr. McKee fest.

Ich nickte. "Das ist wahr. Allerdings sollten wir auch an die Möglichkeit denken, dass er uns vielleicht manipulieren will."

"Durch gezielte Desinformation?"

"Warum nicht? Der FBI schaut wie gebannt auf Pier 62, während die Druckplatten auf ganz anderem Weg inzwischen das Land verlassen. Brown wollte erst überhaupt nicht aussagen und änderte seine Meinung, nachdem ihn dieser Anwalt besucht hat."

Mr. McKee deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf mich. Eine Geste der Warnung. "Für das, was Ihnen jetzt im Kopf herumspukt, Jesse gibt es nicht den Hauch eines Beweises", gab er zu bedenken.

"Aber es wäre nicht das erste Mal, dass ein Anwalt auf illegale Weise dafür sorgt, dass Anweisungen in ein Gefängnis gelangen, Sir."

In diesem Augenblick klingelte eines der Telefone auf Mr. McKees Schreibtisch.

Der Special Agent in Charge nahm mit einer entschlossenen Handbewegung den Hörer ab.

Als er ihn Augenblicke später wieder einhängte, hatte er eine interessante Neuigkeit für uns, die unsere Diskussion fürs erste beendete.

"Die SILVER QUEEN ist aus dem Hafen von Jersey City ausgelaufen. Sie fährt den Hudson hinauf."

*


Es dämmerte bereits als die SILVER QUEEN in das Hafenbecken von Pier 62 einlief und wenig später dort anlegte.

Unsere Leute hatten sich überall in der Umgebung verteilt.

Als Hafenarbeiter verkleidete G-men patrouillierten unauffällig zwischen den Lagerhäusern herum. Die Zufahrten zu Pier 62 konnten innerhalb von Sekunden geschlossen werden.

Milo und ich standen an der Spitze der Nachbar-Pier mit der Nummer 61. Wir blickten hinüber. Etwa 70 Meter Hudson-Wasser lag zwischen uns und der SILVER QUEEN. Wir waren gezwungen, uns auf das Äußerste zurückzuhalten. Sonst würde hier niemals so etwas wie eine Übergabe der Druckplatten stattfinden.

Durch einen Feldstecher sah ich Charles Bykow, von dem wir wussten, dass er der Captain der SILVER QUEEN war. Charles Bykow war kein unbeschriebenes Blatt. Er war mehrfach wegen Schmuggelei und Vergehen gegen die Zollgesetze belangt worden.

Container wurden von riesigen Kränen auf die SILVER QUEEN gehievt. Sattelschlepper kamen über den West Side Highway heran und ließen sich von den Kränen die Ladung abnehmen.

"In irgendeiner dieser Riesenkisten könnte das enthalten sein, was wir suchen", meinte Milo.

"Jedenfalls würde ich nach allem was geschehen ist nicht unbedingt damit rechnen, dass Leila persönlich hier auftaucht, um die kostbare Fracht an Bord zu bringen", erwiderte ich.

Bei uns stand noch Agent Fred LaRocca.

Er hing an seinem Funkgerät und sprach mit Agent Medina, der sich irgendwo auf Pier 63 verschanzt hatte.

Wir alle warteten ab.

Etwas anderes blieb uns zunächst nicht. Wenn wir zuschlugen, bevor die Druckplatten an Bord waren, war die ganze Aktion ein Schlag ins Wasser. Dann standen wir buchstäblich mit leeren Händen da.

Die Stunden krochen dahin. Dunkelheit legte sich über die Stadt, die bald wie ein einzigartiges Lichtermeer aussah.

Von der anderen Seite des Hudson leuchteten ebenfalls Tausende von kleinen Lichtpunkten aus New Jersey herüber.

Dann geschah eine ganze Weile lang gar nichts.

Die Hafenarbeiter verließen großteils die Anlagen. Die Kräne standen still.

Eine Limousine kam vom West Side Highway heruntergefahren.

Sie war dunkel und hatte Überlänge.

"Das könnte sie sein", vermutete Fred LaRocca.

Wir starrten wie gebannt auf das, was geschah.

Zwei Männer in grauen Anzügen stiegen aus der Limousine, blickten sich nach allen Seiten um. Dann gingen sie zum Kofferraum. Charles Bykow, der Kapitän der SILVER QUEEN kam mit einigen Leuten herbei, die offenbar zur Crew gehörten.

Die Männer in Grau holten eine Kiste aus dem Kofferraum, die anschließend von den Leuten der SILVER QUEEN übernommen und an Bord gebracht wurde.

"Vielleicht war es das", meinte Agent LaRocca.

"So offensichtlich?", erwiderte Milo. "Ich hätte die Druckplatten an ihrer Stelle in einen der Container hineingeschmuggelt. Selbst bei einer Kontrolle wären die doch schwer zu finden."

Wir sahen weiter zu.

Der Kapitän ging an die Limousine heran.

Hinten wurde ein Fenster heruntergelassen. Die beiden Männer in Grau wirkten derweil etwas nervös und ließen den Blick schweifen. Einer griff zu seinem Handy, das er in der Jackentasche verstaut hatte. Das Jackett flog dabei durch einen Windstoß etwas auseinander. Durch den Feldstecher konnte man für einen kurzen Moment die Automatik sehen, deren Griff aus einem Gürtelhalfter herausragte.

Offenbar war ich nicht der einzige G-man, der das bemerkt hatte, den Sekunden später kam eine entsprechende Warnung über Funk an alle FBI-Agenten, die an der Operation beteiligt waren.

Die SILVER-QUEEN-Leute gingen jetzt an Bord.

Es wurde damit begonnen die Leinen loszumachen, was bei einem Schiff dieser Größe einige Minuten in Anspruch nahm.

Tief im Bauch der SILVER QUEEN begannen die Motoren dumpf zu brummen.

Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, um loszuschlagen.

Wenn die Druckplatten mit der SILVER QUEEN den Hafen von New York verlassen sollten, mussten sie nun an Bord sein.

Agent LaRocca nahm das Funkgerät zur Hand.

Und im nächsten Moment gab er das Signal, um die Falle zuschnappen zu lassen, die wir der SILVER QUEEN gestellt hatten.

*


Es ging alles sehr schnell. Die Operation war genauestens geplant. Wir wussten, dass wir uns gegen diesen Gegner nicht den kleinsten Fehler erlauben durften, wenn wir nicht bitter dafür bezahlen wollten.

Von allen Seiten stürmten G-men aus den Industrieanlagen und Lagerhäusern hervor, die Pier 62 umgaben. Die dunkle Limousine wollte zurück zum Highway, aber auch dort schnappte die Falle zu. Die Auffahrt wurde versperrt. In Windeseile wurden Wegfahrsperren gelegt, die mit nagelspitzen Stahlstacheln jeden Reifen unweigerlich zum Platzen brachten.

Mit MPis bewaffnete FBI-Agenten in dunkelblauen Einsatzjacken gingen in Stellung und hatten die Limousine umringt.

Unsere Leute waren inzwischen auch auf dem Schiff. Kapitän und Besatzung waren völlig überrascht. Und wer möglicherweise noch irgendeinen Gedanken an Flucht oder Widerstand hegte, wurde spätestens durch das Auftauchen des Hubschraubers überzeugt, der jetzt dicht über die SILVER QUEEN hinwegflog.

Agent Medina und Clive Caravaggio stellten die Kiste sicher, die soeben aus der dunklen Limousine entladen worden war.

Sie war mit einem Vorhängeschloss verriegelt.

Der Kapitän händigte widerspruchslos den Schlüssel aus.

Milo und ich waren ebenfalls an Bord gekommen und standen dabei, als Clive Caravaggio die Kiste öffnete. Der Deckel sprang auf. Wie gebannt blickten wir auf den Inhalt. Keiner von uns konnte die Enttäuschung verbergen, als wir auf schwarzgrau melierte Aktendeckel mit weißen Etiketten blickten.

Clive griff in die Kiste und holte einige dieser Akten heraus. Der flachsblonde Italo-Amerikaner schüttelte ungläubig den Kopf.

"Ich weiß nicht, warum Sie diesen Affenzirkus veranstalten, aber ich hoffe, Sie haben eine gute Erklärung dafür", ereiferte sich der Kapitän.

Charles Bykow grinste breit über das ganze Gesicht.

Er weidete sich an den dummen Gesichtern, die wir ohne Zweifel im Moment machten.

Fred LaRocca griff in die Innentasche seines Jacketts und holte ein sorgfältig beschriebenes Stück Papier heraus. Er reichte es Kapitän Bykow.

"Was soll das?", knurrte er.

"Das ist ein Durchsuchungsbefehl", erklärte LaRocca. "Sie können sicher sein, dass wir hier jeden Quadratzentimeter absuchen werden."

"Und was hoffen Sie zu finden?"

"Sobald wir es haben, sagen wir es Ihnen!"

Ich ging wieder an Land. Mich interessierte, wer in der schwarzen Limousine gesessen hatte. Die wenigen Meter bis zur Highway-Auffahrt ging ich zu Fuß. Die Limousine wurde dort noch immer festgehalten. Unsere Kollegen waren gerade damit beschäftigt, den Wagen zu durchsuchen und die Personalien der Insassen zu überprüfen. Die Waffen, die die Männer in Grau bei sich getragen hatten, waren natürlich auch sichergestellt worden. Der dunkelhaarige hochgewachsene Mann mit dem dünnen Oberlippenbart, der im Inneren der Limousine gesessen hatte, funkelte mich böse an.

"Wer ist das?", fragte ich einen unserer Kollegen.

"Das ist Mr. Alan Hamid, der Geschäftsführer der HAMID GLOBAL TRANSPORTS", bekam ich zur Antwort.

Ich wandte wich an Hamid.

"Dann sind Sie also der Mann, der für Ihren Onkel William aus Washington, DC in Manhattan den Statthalter spielt", stellte ich fest.

Hamid verzog das Gesicht.

"Sie werden das hier gut erklären müssen, Mister..."

"Trevellian."

"Sonst wird es ziemlich ungemütlich für Sie. Auch der FBI kann sich nicht alles erlauben."

Ich zeigte ihm eines der Phantombilder, die wir von Leila hatten.

"Kennen Sie diese Frau?"

"Nein, wer soll das sein?"

"Eine irakische Agentin, die bei dem Überfall auf den Druckplattentransport im Hintergrund die Fäden zog."

"Was geht das mich an."

"Wir vermuten, dass sich die Beute auf der SILVER QUEEN befindet. Wenn Sie etwas darüber wissen, sollten Sie jetzt aussagen, Mr. Hamid."

"Warum?"

"Weil wir Ihnen JETZT möglicherweise noch glauben würden, dass Sie mit alledem nichts zu tun haben und nur von Ihrem Onkel benutzt wurden..."

"Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen."

"Ihr Onkel William Hamid hat mit dieser Dame telefoniert, das steht fest."

Sein Zeigefinger schnellte hervor wie die Klinge eines Klappmessers. Alan Hamids Gesicht verzog sich zu einer grimmigen Maske. "Jetzt hören Sie mir gut zu, G-man! Ich hoffe in Ihrem Interesse, dass Sie finden, was Sie suchen! Und sollte das nicht der Fall sein, dann können Sie sich auf was gefasst machen! Mit diesem Schiff werden Werkzeugmaschinen transportiert. Nichts anderes!"

*


Am nächsten Morgen in Mr. McKees Büro machten wir alle ziemlich übernächtigte und sehr lange Gesichter.

"Die ganze Aktion war ein kompletter Reinfall", stellte Mr. McKee unmissverständlich fest. Unsere Leute hatten buchstäblich jeden Quadratzentimeter der SILVER QUEEN gefilzt. Von irgendwelchen Druckplatten war nirgends etwas zu finden gewesen.

"Scheint, als müssten wir noch ein ernstes Wörtchen mit unserem Kronzeugen reden", meinte Milo grimmig.

"Ich frage mich, ob er uns angeschmiert hat oder es nicht besser wusste und Leila im letzten Moment ihre Pläne geändert hat", meinte ich.

"Nun, diesen Robert Brown kann jedenfalls niemand mehr nach den Beweggründen für seine Aussage fragen", erklärte Mr. McKee trocken. "Brown - oder wie immer er auch in Wirklichkeit heißen mag - hat sich in der letzten Nacht in seiner Zelle erhängt. Ich hab vorhin mit Riker's Island gesprochen."

Diese Nachricht war wie ein Schlag vor den Kopf.

"Steht es fest, dass es Selbstmord war?"

"Es sieht alles danach aus. Jedenfalls hatte laut Gefängnisleitung niemand Zutritt zu Brown. Aber das wird natürlich noch genauer überprüft." Mr. McKee zuckte die Achseln. "Vielleicht war die Gefahr, von der er sprach wirklich real. Es kann aber genauso gut sein, dass sein Fanatismus so groß war, dass er sich bereitwillig opferte, um zu verhindern, dass wir weitere Informationen aus ihm herausbekommen. Die Ausbildungsmethoden des Geheimdienstes in Bagdad dürften einer Gehirnwäsche sehr nahekommen, daher würde mich das nicht allzu sehr erstaunen."

Ich lehnte mich zurück.

Nicht einmal der legendäre Kaffee von Mandy schmeckte mir im Moment noch. Meine Laune war auf dem Tiefpunkt.

"Wie lange ist die SILVER QUEEN noch bei Pier 62?", erkundigte sich Milo.

"Überhaupt nicht mehr", erwiderte Mr. McKee.

"Was?"

"Es gibt keinerlei Handhabe, die SILVER QUEEN länger aufzuhalten. Nicht die geringste! Alle Papiere sind in Ordnung, die Ladung ist in Ordnung und jede nur erdenkliche Vorschrift ist eingehalten worden. Ich hatte vor einer halben Stunde noch ein ziemlich unangenehmes Gespräch mit Staatsanwalt McDouglas. Die SILVER QUEEN läuft jetzt vermutlich gerade aus... Richtung Atlantik. Ein paar Stunden und sie hat die Hoheitsgewässer der USA endgültig verlassen..."

"Dagegen muss man doch etwas unternehmen können", meinte Milo aufgebracht.

"Und mit welcher Begründung bitteschön?", erwiderte Mr. McKee ruhig. "Die Platten waren nicht an Bord. Das müssen wir akzeptieren. Ansonsten kann man weder dem Kapitän, noch der Besatzung oder dem Reeder irgendeinen Vorwurf machen." Mr. McKee zuckte die Achseln. "Alles, was bleibt ist die Tatsache, dass diese Leila sehr wahrscheinlich mit William Hamid telefonierte, als dieser in New York war."

"Und die Aussage von Robert Brown...", murmelte ich.

"Richtig. Aber der war ja offenbar falsch informiert."

"Mr. McKee, gehen wir doch mal von der Annahme aus, dass dieser Mann, der sich Robert Brown nannte, ganz genau wusste, was er tat..."

"Alles Theorie, Jesse! Ich habe das Gefühl, dass Sie sich da in etwas verrennen."

"Eine Theorie, die uns vielleicht direkt zu den Platten führt. Mr. McKee, ich brauche Ihr Okay für eine Aktion, die auf den ersten Blick absurd erscheinen mag..."

Der Chef des FBI-Districts New York schüttelte den Kopf.

"Jesse, das Spiel ist aus! Vielleicht haben wir Glück und Leila geht doch dem Zoll ins Netz - was ich für nicht sehr wahrscheinlich halte."

*


Leila stand mit einem Fernrohr da und suchte den Horizont ab.

Das Meer war grau und sie wurde langsam ungeduldig. Dann entspannte sich ihr Gesicht, als sie das Schiff auftauchen sah. Sie vergewisserte sich noch einmal.

Es war die SILVER QUEEN.

Sie hatte die Lower Bay passiert und fuhr nun die Küste von Staten Island entlang.

"Alles in Ordnung?", fragte der Mann, der neben ihr stand.

Es handelte sich um Aziz Al-Tarik, den Mann, in dessen Haus sie zuletzt Unterschlupf gefunden hatte. Die Druckplatten hatte sie allerdings an einem anderen Ort versteckt. Eine gute Entscheidung, wie sich herausgestellt hatte, denn die schwere Kiste hätten sie auf ihrer überstürzten Flucht niemals mitnehmen können.

Aziz war breitschultrig und hatte den Reißverschluss seiner Lederjacke bis oben hin zugezogen. Der Wind vom Atlantik her schien ihm ziemlich zuzusetzen. Ein paar Meter entfernt lag ein großes Schlauchboot mit Außenborder. Die letzten anderthalb Stunden hatten sie beide damit zugebracht, das Boot aufzupumpen. An Bord befand sich eine massive, wasserdichte Metallkiste. Ihre Maße betrugen ein Meter mal ein Meter zwanzig. Sie war ziemlich schwer, aber die gewaltigen Luftkammern des Schlauchboots würden sie tragen.

Der Boden des Bootes bestand aus massiven Holzplatten, genau wie das Heck, an dem der Außenborder befestigt war.

Leila nahm das Fernglas herunter. "Hilf mir", sagte sie an den Mann gewandt. Sie gingen zum Boot.

"Kommen Sie gut in Bagdad an, Leila", sagte der Mann auf Arabisch. Er beherrschte die Sprache nicht mehr sonderlich gut.

Leila lächelte.

"Danke."

Er sah sie an. "Fragt sich nur, was jetzt aus mir wird", sagte Aziz Al-Tarik. "Die werden mich längst suchen..."

"Viel Glück, Aziz", sagte sie.

"Sie haben mir versprochen, dass Ihre Leute mir helfen würden."

"Sie werden dem FBI viel zu erklären haben", sagte sie. Ein nachdenklicher Zug erschien in ihrem Gesicht. Und plötzlich hatte sie eine Pistole in der Hand. Eine Automatik. Ganz plötzlich hatte sie die Waffe aus der Jackentasche gezogen.

Aziz erstarrte.

"Es tut mir leid", sagte sie. "Aber ich kann nicht riskieren, dass dieses Unternehmen doch noch gefährdet wird. Dafür habe ich zu schwer dafür gearbeitet."

"Aber..."

Er kam nicht mehr dazu weiterzusprechen. Pure Todesangst verschloss ihm die Kehle. Mit bleich gewordenem Gesicht wich er einen Schritt zurück, während sie den Schalldämpfer aus der anderen Jackentasche herausholte und ihn dann aufschraubte.

Aziz taumelte davon.

Zweimal kurz hintereinander ertönte ein Geräusch, das wie ein kräftiges Niesen klang. Der Wind verschluckte es beinahe.

Das Mündungsfeuer blitzte aus dem Schalldämpfer heraus.

Zuckend sackte Azizs Körper in sich zusammen und blieb dann reglos liegen.

"Sorry", murmelte sie.

Sie musste sich sehr anstrengen, um das Boot so weit ins Wasser zu schieben, dass es schwamm. Salzwasser umspülte ihre Knöchel und tränkte die Beine ihrer Jeans bis fast zum Knie.

Sie nahm all ihre Kraft zusammen. Und dann lag das Boot endlich nicht mehr auf Grund - trotz der schweren Ladung.

Sie hievte sich ins Boot und wurde dabei beinahe bis zu den Hüften nass. Mit einem Paddel stieß sie sich weiter ab und kämpfte dabei gegen die leichten Wellen. Sie durfte nicht riskieren, dass die Schraube des Außenborders sich in den Boden drehte.

Leila gewann ein paar Meter.

Dann zündete sie den Motor.

Das Boot machte einen Ruck. Die Spitze stieg empor und es brauste durch die Wellen. Direkt auf die SILVER QUEEN zu. Das sicherste Versteck war eines, das kurz zuvor durchsucht worden war. Und genau das traf auf die SILVER QUEEN zu. Hier würde der FBI jetzt die Druckplatten zu allerletzt suchen.

Der Wind wehte um ihre Ohren und riss an ihrem dunklen Haar.

Ein zufriedenes Lächeln stand auf ihrem Gesicht. Ich habe gesiegt, dachte sie. In den gesamten Vereinigten Staaten von Amerika würde es nicht einen einzigen Richter geben, der eine nochmalige Durchsuchung der SILVER QUEEN jetzt noch erlauben würde.

Sie atmete tief durch.

Ein Teil von ihr bedauerte, dass sie New York nun verlassen musste. Sie hatte sich an das Leben im Big Apple sehr gewöhnt.

Ein bisschen von dem, was sie in den zahllosen Rollen, die sie angenommen hatte, vorspielte, war an ihr haften geblieben.

Auch wenn es vielleicht nur Kleinigkeiten waren. Aber jetzt war es unmöglich für sie geworden, weiterhin auf amerikanischem Boden zu bleiben. Ihre Vorgesetzten in Bagdad sahen sie als verbrannt an. Und vermutlich hatten sie recht damit.

Wer weiß, dachte sie. Vielleicht kehre ich eines Tages zurück. In einer neuen Mission...

Die Minuten gingen dahin. Die grau emporragenden Wandungen der SILVER QUEEN schienen immer größer zu werden, je näher sich das kleine Boot diesem Ungetüm aus Stahl näherte.

Leila nahm ihr Funkgerät zur Hand.

"Hier Leila", sagte sie. "Ich bin noch einige hundert Meter von Ihnen entfernt. Sie müssten mich inzwischen gesichtet haben."

"Hier Charly", meldete sich Kapitän Charles Bykow über Funk. "Ich sehe Sie, Leila. Wir nehmen Sie an Bord!"

*


"Da ist sie!" stellte Bridger, unser Hubschrauber-Pilot fest. Milo und ich blickten hinab auf die graue See. Die SILVER QUEEN war deutlich zu sehen. Sie bewegte sich auf die Küste von Staten Island zu - was eigentlich nicht ihrem Kurs entsprach.

Aber da war noch etwas anderes zu sehen.

Ein kleines Schlauchboot, das sich auf die SILVER QUEEN zubewegte.

"Ich habe es gewusst", sagte ich und nahm das Fernrohr.

"Das ist sie! Leila!" Es war nicht leicht gewesen, Mr. McKee von dieser Aktion zu überzeugen. Die Grundlage war schließlich auch nicht mehr als ein vager Verdacht gewesen.

Wenn der Mann, der sich Robert Brown genannt hatte, uns bewusst falsch informiert hatte, dann war das auf Leilas Weisung hin geschehen. Sie hatte sich also einen Vorteil davon versprechen müssen. Natürlich konnte sie sich an zwei Fingern ausrechnen, dass jedes Schiff mit Bestimmungsort Mittlerer Osten unter Verdacht stand. Und wenn man versuchte, diesen Bestimmungsort zu vertuschen, war das - falls es entdeckt wurde - ein noch größeres Verdachtsmoment. Die Hoffnung, durch die SILVER QUEEN die Kräfte ihrer Verfolger maßgeblich bündeln zu können, war auch illusorisch. Dazu gab es einfach zu viele FBI-Beamte.

Nein, ich war mir sicher, dass Leila uns in eine Falle gelockt hatte - anstatt umgekehrt. Wir hatten an Pier 62 unsere Blamage erlebt und nach den Ereignissen dort war die SILVER QUEEN vor weiteren Durchsuchungsaktionen sicher.

So musste Leila gedacht haben.

Wir hatten keine Ahnung gehabt, wo sich die Druckplatten befanden.

Aber wir wussten, dass jede Kursabweichung der SILVER QUEEN etwas zu bedeuten haben konnte. Irgendwo an der Küste würde sie die Druckplatten an Bord nehmen. Und dazu Leila, die Agentin aus Bagdad, die sehr hoch gepokert hatte.

Wir waren der SILVER QUEEN einfach gefolgt und hatten sie im Radar-Auge behalten. Und dann war diese Kursänderung nach Südwesten erfolgt, an der Staten Island-Küste entlang, obwohl sie eigentlich ins offene Meer hätte fahren müssen, nachdem sie die Lower Bay passiert hatte.

Schnellboote der Küstenwache folgten uns in einigem Abstand.

Schließlich hatten wir niemanden an Bord der SILVER QUEEN misstrauisch machen wollen.

Milo sagte den Kollegen über Funk Bescheid, dass die Aktion jetzt in ihre entscheidende Phase treten konnte.

Die Schnellboote kamen schnell näher.

Die SILVER QUEEN hatte keine Chance ihnen zu entkommen.

Über Megafon forderte ich die Besatzung des Schiffes indessen auf, beizudrehen und keinen Widerstand zu leisten.

Milo hielt ein Sturmgewehr mit Laserzielerfassung schussbereit im Anschlag.

"Wollen Sie an Deck gehen, Jesse?", fragte Bridger.

Ich schüttelte den Kopf. "Nein, bringen Sie mich möglichst nahe an das Schlauchboot heran."

Leila hatte indessen das Schlauchboot herumgedreht. Der Außenborder lief auf auch Hochtouren. Sie war jemand, der nicht so schnell aufgibt. Steil reckte sich der Bug hinauf und das Boot schoss über das Wasser hinweg.

Bridger ließ den Helikopter einen Bogen fliegen. Er schnitt Leilas Boot den Weg ab und kam dann schräg von vorne auf sie zu. Wir flogen so niedrig, dass das Wasser unter uns in Bewegung geriet.

Leila musste sich am Boot festklammern, so stark schwankte es hin und her. Eine Menge Gischt spritzte ins Boot. Wellen schwappten über den Rand. Die Kiste, in der sich vermutlich die Druckplatten befanden, stand schließlich einige Zentimeter tief im Wasser.

"Machen Sie den Motor aus!", rief ich über das Megafon.

Leila blickte nach oben.

Sie erkannte, dass sie keinerlei Chance mehr hatte zu entkommen. Allein schon der durch die Rotorbewegung verursachte Wellengang machte sie völlig handlungsunfähig.

Sie kroch zum Motor, während Bridger kurzfristig den Helikopter ein paar Meter höhersteigen ließ. Schließlich wollten wir weder, dass Leila über Bord ging, noch dass die Druckplatten in der Tiefe des Atlantik versanken. Sie machte den Motor aus.

"Und jetzt nehmen sie ganz langsam Ihre Waffe heraus!", befahl ich. "Werfen Sie sie in den Bug und bleiben sie selbst im Heck."

Milo hielt sie die ganze Zeit über im Visier.

Wenig später hielt Leila eine Automatik empor. Aber anstatt sie in den Bug zu befördern, machte sie eine kurze Seitwärtsbewegung und schleuderte sie hinaus auf das Wasser. Sie versank innerhalb von Sekundenbruchteilen. Ihre Absicht war klar. So wenig Beweise wie möglich.

"Bleiben Sie im Heck und halten Sie die Hände hoch!", befahl ich unmissverständlich.

Sie gehorchte.

"Ich klettere jetzt zur ihr runter", meinte ich an Bridger und Milo gewandt.

Ich ließ die Strickleiter hinunter.

Dann kletterte ich hinunter. Bridger war ein guter Helikopter-Pilot. Er hielt genau die Position. Während ich das schwankende Schlauchboot erreichte, sah ich, wie von den herannahenden Schnellbooten aus die SILVER QUEEN geentert wurde.

Kapitän Bykow und seine Leute leisteten offenbar keinerlei Widerstand. Bykow war erfahren genug, um zu wissen, dass er in dieser Situation nur noch eins tun konnte: Sich möglichst schnell einen möglichst guten Anwalt zu suchen. Aber dafür würde William Hamid sicherlich sorgen.

Einen Augenblick später befand ich mich auf dem schwankenden Boot.

"Wer hätte das gedacht, dass wir uns nochmal wiedersehen", sagte ich und hielt Leila dabei meine P226 entgegen. Sie saß im hinteren Teil des Bootes.

Bridger ging derweil mit dem Helikopter noch ein Stück in die Höhe, so dass wir nicht mehr so stark schwankten.

Sie sah mich mit ihrem katzenhaften Blick an. Ihre dunklen Augen musterten mich auf eine Weise, die mir nicht gefiel.

Sie verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.

"Sie haben Recht, G-man! Ein Wiedersehen war nicht eingeplant!"

Ich deutete hinüber zur SILVER QUEEN. "Ihr Plan war genial", gestand ich ein.

"Wie sind Sie darauf gekommen?"

"Ich habe versucht, so zu denken wie Sie, Leila - oder wie immer auch Ihr wirklicher Name lauten mag. Und es scheint, als wäre mir das zumindest für einige Augenblicke gelungen. Sie wollten zu perfekt sein, Leila. Vielleicht war das Ihr Fehler."

"Man lernt nie aus, G-man."

"Sie werden viel Zeit haben, um darüber nachzudenken..."

Sie lachte. "Wirklich? Ich glaube kaum."

Ich hob die Augenbrauen.

"Haben Sie vor, es Ihrem Komplizen gleichzutun, der sich den Namen Robert Brown gab?"

"Ich entnehme Ihren Worten, dass Robert Brown wusste, was seine Pflicht war."

"Er war ein Dummkopf. Sie sollten ihm nicht nacheifern!"

"Ich habe vor den Augen eines FBI-Agenten einen Mann erschossen. Dafür wird man mir vermutlich die Giftspritze geben. Ich kenne die Gesetze Ihres Landes auch ein bisschen."

Ich konnte ihr nicht widersprechen. "Das liegt in der Entscheidung von Gerichten", sagte ich. "Sie haben das Recht zu schweigen. Sollten sie auf dieses Recht verzichten..."

"Sparen Sie sich die Mühe", versetzte sie. "Ich kenne den Spruch."

*


Der Tritt kam völlig unvermutet und sehr hart. Eine Sekunde lang blieb mir fast die Luft weg, als ihr Fuß mich am Solar Plexus erwischte. Ich taumelte rückwärts und fand mich im nächsten Moment im eiskalten Salzwasser wieder.

Sie musste wahnsinnig sein!

Eine Flucht war aussichtslos, wenn ein Helikopter über einem schwebte und mehrere Schnellboote in der Nähe waren.

Leila konnte unmöglich glauben, mit dem Schlauchboot davonkommen zu können. Aber das hatte sie auch gar nicht vor, wie ich einen Augenblick später begriff.

Leila packte einen der seitlichen Griffe der Kiste, in der die Druckplatten sein mussten. Sie zog daran. Ein kräftiger Ruck, der das Boot stark schwanken ließ. Die Druckplatten waren schwer. Aber sie war zäh und hatte Kraft. Sie zog die Kiste über den stramm aufgepumpten Gummirand des Bootes, hielt sich daran fest und stürzte zusammen mit der Kiste in die Tiefe.

Ich dachte an den Mann, der sich Robert Brown genannt hatte. Leila schien eine ähnliche Konsequenz zu ziehen, wie jener Mann, der sich in seiner Zelle auf Riker's Island das Leben genommen hatte.

Ich zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde.

Dann tauchte ich hinab. Ich wusste, dass ich sehr schnell sein musste, wenn ich sie noch erreichen wollte. Ihren Fuß bekam ich einen Augenblick später zu fassen. Sie strampelte und versuchte mich abzuschütteln. Sie trat und schlug nach mir, während ihre Linke sich immer noch an der Kiste festklammerte. Unaufhaltsam sanken wir hinab. Meine P226 hatte ich bei der Rangelei längst verloren. Auch sie sank unaufhaltsam dem Meeresboden entgegen. Die Sekunden liefen mir davon. Ein Schwall von Luftblasen ging hinauf in Richtung Oberfläche.

Ich packte ihr Handgelenk. Ihre Finger hatten sich geradezu an dem Griff der Kiste festgekrallt. Sie strampelte unkoordiniert um sich. Und mir war klar, dass ich es auch nur noch wenige Augenblicke unter Wasser aushalten konnte. Ihre Kräfte schien etwas nachzulassen. Ihre Bewegungen wurden weniger heftig und immer unkontrollierter. Kostbare Sekunden rannen dahin.

Mit einem kräftigen Ruck riss ich an ihrem Unterarm. Die Kiste löste sich aus ihrer Hand und sank weiter in die Tiefe.

Wir bekamen wieder Auftrieb.

Langsam stiegen wir wieder empor an die Oberfläche.

Ich schnappte nach Luft. Leila war bewusstlos. Ich sorgte dafür, dass ihr Kopf und Mund über Wasser blieben und schleppte sie hinter mir her. Das Boot war indessen ein ganzes Stück abgetrieben. Aber aus dem Helikopter heraus hatte man uns einen Rettungsring zugeworfen. An den klammerte ich mich, bis eines der Schnellboote herbeikam und uns an Bord nahm. Ich hatte immer noch das Gefühl, zu wenig Luft zu bekommen, als ich an Deck des Schnellbootes war. Meine Atemfrequenz lag mit Sicherheit um einiges über den Normalwerten. Einer der Männer an Bord kümmerte sich um Leila und führte eine künstliche Beatmung durch.

Sie kam wieder zu sich.

In ihren Zügen stand Unverständnis.

"So einfach kommen Sie nicht davon", sagte ich. "Ich will, dass Sie für das, was Sie getan haben, vor Gericht stehen!"

Sie antwortete mir nicht.

Aus ihren Augen leuchtete ohnmächtige Wut.

*


Marinetaucher bargen einige Tage später die Kiste mit den Druckplatten. Und ganz in der Nähe wurde die Leiche von Aziz Al-Tarik entdeckt. Es sprach viel dafür, dass auch sein Tod auf Leilas Konto ging, nachdem er ihr zuvor geholfen hatte.

Nachdem wir Al-Tariks Haus als eines von Leilas Verstecken enttarnt hatten, musste sie damit rechnen, dass der Besitzer uns früher oder später Rede und Antwort stehen musste. Das hatte sie wohl zu verhindern beabsichtigt. Der entscheidende Beweis - die vermutliche Tatwaffe - blieb irgendwo auf dem Grund des Meeres. Die Marinetaucher konnten sie nicht finden, was auch nicht verwunderlich war. Im Gegensatz zu der Kiste mit den Druckplatten handelte es sich um einen relativ leichten Gegenstand, der von der Strömung meilenweit weggeschwemmt werden konnte.

Leila wartete inzwischen in der Untersuchungshaft auf ihren Prozess. Sie verweigerte jede Aussage, so wie auch ihre Komplizen. Der Staat, für den sie gearbeitet hatte, bestritt natürlich, dass Leila - oder wie immer sie auch in Wahrheit heißen mochte - überhaupt eine seiner Bürgerinnen war. Ein Mammut-Verfahren stand vor der Tür und das juristische Hin und Her würde sich über Monate hinziehen. Der diplomatische Schaden blieb jedoch gering. Alle Seiten schienen daran interessiert zu sein, den Fall nicht unnötig hochzukochen. Ein paar unfreundliche Statements wechselten zwischen Bagdad und Washington hin und her. Aber mehr geschah nicht. William Hamid sah ebenfalls einem Prozess entgegen. Die Anklage sammelte fleißig Indizien dafür, dass er mit Leila zusammengearbeitet hatte. Dasselbe galt für Hamids Neffen Alan, der für die Geschäfte von HAMID GLOBAL TRANSPORTS in New York City verantwortlich war. Charles Bykow, der Kapitän der SILVER QUEEN entschloss sich dazu, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Für die Hamids würde es nicht leicht werden, sich aus der Klemme herauszuwinden, in die sie sich selbst hineinmanövriert hatten. Auch gute Anwälte konnten ihnen da vermutlich nicht mehr heraushelfen.

Wir kamen gerade aus dem Gerichtsgebäude, nachdem wir unsere Aussagen im Prozess gegen Leila gemacht hatten.

Auf dem Weg zum Parkplatz kamen wir an einem Schnellimbiss vorbei und kauften uns einen Hotdog. Milo bezahlte mit einem Zehn-Dollar-Schein.

Er sah dabei in meine Richtung.

"Der Stoff, aus dem die Träume sind, Jesse", meinte er, während er seinen Hotdog in Empfang nahm.

"Meinst du den Geldschein oder den Hotdog?", fragte ich mit einem Grinsen.

Jetzt mischte sich der Mann am Imbissstand ein. "Auf jeden Fall ist ein richtiger Hotdog schwerer zu fälschen als eine Dollarnote", war er überzeugt.

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