Читать книгу Hamburg - Wien - Venedig - ermordet! 3 Krimis - Alfred Bekker - Страница 10
A. Graziella und der Hengst
ОглавлениеZur Orientierung:
a.) Orte des Dramas, das bei Cortina spielt
• Il Pascolo Vecchio dei Cavalli; Gestüt; Rennstall
• Albergo Tre Croci – ein nahegelegener Gasthof
• Casa delle Querce – ein nahegelegener Bauernhof
• Casa Grande dei Cavalli – konkurrierender Reiterhof
b.) Die Detektive des Dramas
• Commissario Eugenio Amarici; Kripo von Cortina
• Volpe natürlich und ich, Dr. Sergiu Petrescu
c.) Personen des Dramas
• Graziella Ghiotti – Chefin des Gestüts Pascolo Vecchio
• Il Pascolo Primo – Graziellas bestes Rennpferd
• Antonella Muffo – ihre Trainerin
• Enrico Pasquale – Antonellas Lover
• Bernardo Lotti – Stallbursche (Student) zusammen mit ...
• ...Elena d‘Este – seiner Geliebten (Studentin)
• Zwei namenlose Marokkaner; Stallburschen
• Sofia Schicchi – nächtliche Besucherin des Pascolo Vecchio
• Marcantonio Galoppi – Chef der Casa Grande dei Cavalli
• Federico Renzo – sein Trainer
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1. Teil: Vorgeschichte bei Volpe zuhause
»Du hast vollkommen recht, mein Lieber, es ist eine Kulturschande erster Güte«, meine Volpe eines warmen Tages Anfang Oktober, blickte von der Lektüre eines altgriechischen Klassikers auf und zog die rechte Augenbraue empor.
»Schön, dass du dich meiner Meinung anschließt, Volpe. Es ist mir wirklich unbegreiflich, wie diese Barbaren von Stadtvätern das tun konnten«, sagte ich im Brustton der Empörung, »denn der Deutsche Fußballbund könnte sein höchst überflüssiges Trainingszentrum überall sonst wo erreichten, nur nicht an dieser altehrwürdigen Stätte des Pferdesportes.«
»Warst du schon einmal dort und hast einen Lokaltermin gemacht, weil du dich damit so gut auskennst?«
»Ich habe, wie du ja weißt, in München studiert, spreche seitdem das Deutsche einigermaßen perfekt und freue mich jedes Mal, wenn wir uns in dieser Sprache unterhalten können, aber die Stadt am Main habe ich noch nie gesehen. Außerdem kann ich der Balltreterei nur wenig abgewinnen, schon gar nicht der Frankfurter Eintracht, habe aber immerhin einen deutschen Lieblingsverein.«
»Was du nicht sagst! Und der wäre?«
»Schon mal was von Darmstadt gehört?«
»Kenne ich nicht; nie gehört; klingt irgendwie lustig. Wo ist das Kaff zu finden? Immerhin hat die goldige Stadt eine eigene Zeitung namens Echo, dessen aktuelle Online-Ausgabe ich auf dem Tablet flimmern sehe, das gerade auf deinem Schoß ruht.«
»Dreißig Kilometer südlich von Frankfurt; 160.000 Einwohner, die Hälfte davon nichts als Eingemeindungen; also im Grunde eher eine Kleinstadt.«
»Aha! Und woher deine Vorliebe für die dortigen Kicker?«
»Sie haben den goldigen Spitznamen – Die Lilien – nach der Lilie im Stadtwappen, und das ist einmalig; eine Blume als Name für einen Fußballklub! Zurzeit spielen sie in der zweiten Liga. Mehr weiß ich nicht, hihihi, nur dass dieses Darmstadt zu Kaisers Zeiten einmal Hessens Hauptstadt war.«
»Aha, und was hat das mit der geschlossenen Galopprennbahn in Frankfurt-Niederrad zu tun, der wir beide nachtrauern?«
»Gar nichts; aber wie kommst du drauf, dass ich mich soeben über diese geldgeile Stadt am Main geärgert habe?«
»Ich habe heimlich mitgelesen und erfahren, dass ein mir unbekannter Präsident der deutschen Fußballer seinen Rücktritt eingereicht hat. Anbei standen einige Worte der Kritik darüber, dass sich Frankfurt seine traditionsreiche Rennbahn hat abkaufen lassen.«
»Ach, so simpel war dein Gedankengebäude«, sagte ich frech.
»Ja, so einfach war das wieder mal«, sinnierte Volpe, »aber wenn wir schon einmal beim Turf sind, wie geht es unserer Freundin Graziella, dem niedlichen Jockey von, äh, mindestens Mitte Fünfzig, die wir vor einiger Zeit um Mitternacht in einer Gespenstergruft kennenlernten? [Nachzulesen in meinem Buch: Venezianische Vampire] Lebt sie noch? Verbrennt sie immer noch mumifizierte Leichen im Kaminofen? Ihr seid doch nicht etwa ein Paar geworden, du alter Schwerenöter, seit ihr euch im Bannkreis des Sprungturms in den warmen Fluten der Adria näher kennen zu lernen das Vergnügen hattet? Nicht wahr, Freundchen, du hast sie seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen? Aus den Augen, aus dem Sinn.«
»Mann, bist du neugierig! Wir besuchen uns nur noch gelegentlich am Wochenende, denn ihr Beruf lässt ihr kaum eine freie Minute, aber es ist wunderschön, in ihre Armen zu liegen, und ihr französisches Bett ist saumäßig bequem. Leider hatte sie zuletzt keine Zeit mehr für mich«, sagte ich trotzig, »aber woher willst du wissen, was sich damals vor der Insel Lido ereignete?«
»Ich hockte am Strand und hatte meinen Feldstecher dabei. Es dauerte seine Zeit, bis ihr liebestrunken an Land kamt. Graziella war, hihihi, zufällig das Bikini-Oberteil abhanden gekommen, hihihi, was für sie nicht unbedingt von Vorteil war.«
»Du Schuft«, knurrte ich.
»Nun reg dich mal nur nicht künstlich auf, mein Lieber. Im Großen und Ganzen ist sie ja wirklich eine niedliche Puppe. Sie war nie beim Schönheitschirurgen und sieht dennoch um die zehn Jahre jünger aus als sie leider Gottes schon ist. Pflücke die, hihihi, Lilie, solange sie noch blüht! Nun aber zur Sache: Ich habe da einen lukrativen Auftrag für uns an Land gezogen und fürchte, wir müssen dort hinfahren, weil sich die Chose von hier aus durch reines Nachdenken nicht lösen lässt.«
»Na schön; vielleicht hättest du endlich einmal die Güte, mir mitzuteilen, wohin die Reise geht?«
»In la Montagna, mein Freund, fort aus dem stickigen Venedig mit seiner vom Brackwasser der Kanäle geschwängerten Luft, hinauf in die bizarre Welt der Dolomiti, und ich bin bass erstaunt, dass du, ein Mann von anerkanntem Scharfsinn, das Ziel der Reise nicht längst erraten hast. Aber nein, statt eines unserer guten alten italienischen Blätter zu lesen, schmökerst du im Darmstädter Echo, wo naturgemäß nichts von der aktuellen Affäre steht, welche in Cortina d‘Ampezzo das Hauptthema der Gespräche bildet.«
»Und worüber zerreißen sich die alten Weiber dort das Maul?«, fragte ich und blätterte zum Sportteil weiter, wo triumphierend stand, dass die Lilien mit einem sensationellen Sieg über den Hamburger Sportklub Aufsehen erregt und dem Traditionsklub die Rückkehr in die erste Liga vermasselt hätten.
»Nun, es gibt da das Problemchen mit dem spurlos verschwundenen Hengst Il Pascolo Primo, durch dessen Siegesserie unsere kleine Graziella zur großen Millionärin geworden ist, sowie durch den mysteriösen Tod der uns ebenfalls bestens bekannten Trainerin Antonella Muffo. Ich dachte, das könnte einen gestandenen Mann wie dich interessieren, insbesondere, wenn ein so bezauberndes Mädchen auf dich wartet«, murmelte Volpe frech und zündete sich umständlich einen seiner seltenen Zigarillos an.
»Antonella tot? Die liebe Antonella?«, rief ich erschüttert und schaltete das Tablet ab.
»Seit vorgestern. Alberto behauptete im aktuellen Corriere, sie sei durch eine nicht aufgefundene Keule mitten im rauen Gebirge erschlagen worden, und jetzt will Graziella, dass ich den Fall kläre, obwohl sich bereits die Carabinieri von Cortina damit befassen, denen ich nicht eigentlich ins Handwerk pfuschen möchte.«
»Ich würde dich gerne begleiten, wenn ich dir nützlich wäre. Außerdem habe ich Sehnsucht nach meiner Flamme. Ich fürchte, sie hat das Interesse an mir verloren. Vielleicht bin ich ihr zu jung.«
»Gut möglich, dass sie sich einen reiferen Lover wünscht. Ansonsten wunderbar! Du bist also mit von der Partie. So lass uns die Koffer packen. Vergiss dein vorzügliches Fernrohr nicht. Wir werden es brauchen; und dann ab nach Mestre und den Cinquecento aus der Garage geholt!
Die erste Stunde der Reise werde ausnahmsweise ich den Chauffeur machen, damit du bestens im Bilde bist, nachdem du in aller Ruhe Albertos Ergüsse im Corriere della Sera gelesen hast. Dann solltest du das Steuer übernehmen, damit ich mir noch rasch eine Mütze Schlaf reinziehen kann, denn es kommen anstrengende Zeiten auf uns zu, mein Lieber.«
Nach einer Dreiviertelstunde zügiger Fahrt, während der die frische Luft dank zurückgerolltem Verdeck über uns niederknatterte, verließen wir die Ebene. Gelegentlich hatte uns ein Verrückter hupend und auf seinen PS-Protz pochend überholt, was Volpe zur Bemerkung hinriss, der Blödmann habe zu viel Power unter der Motorhaube und zu wenig unterhalb der Hirnschale. Einmal klebte uns eine feiste Donna samt doppeltem Doppelkinn mit ihrem riesigen Geländewagen auf der Stoßstange, bevor sie uns hupend überholte und dabei den Motor brüllen ließ.
Volpe sinnierte dazu: »Entsetzlich, diese Damen von heute, brutal und zum Fürchten, die reinsten neuen Männer! Ach, wenn ich da an mein sommersprossiges Püppchen denke! Meine Renata war das Gegenteil dieser unangenehmen Weibsperson. Wie ich sie vermisse!«
»Hör endlich auf damit«, rief ich, »das ist doch schon so lange her. Willst du lebenslang um sie trauern? Du machst mich, du machst dich noch verrückt damit.«
»Bin ich nicht schon längst verrückt? Ich habe meinen Master in Griechisch, Latein, Geschichte und Musik gemacht. Das bereits genügte, mich für verrückt zu erklären. Ich bin professioneller Geiger und, wenn man auf die Kritik hört, ein ganz guter Maler. Nebenbei gehe ich mit dir auf Verbrecherjagd und trauere immer noch meiner Jugendliebe nach, statt mir endlich eine dauerhafte Partnerin unter den Nagel zu reißen. Ist das nicht verrückt? Total verrückt?«
Gerade jemand wie ich wollte und konnte dem nicht widersprechen und schwieg, denn schon hatten wir die meist schnurgerade Chaussee hinter uns und waren in der Nähe von Vittorio Veneto angekommen. Dort genossen wir den Anblick der ersten Berge, gewannen einen Parkplatz und stiegen aus, um uns dem göttlichen Lunchpaket zu widmen, welches uns Giovanni mitgegeben hatte, denn Reisen macht bekanntlich hungrig.
Während wir genießerisch aßen und tranken, sagte Volpe: »Entschuldige meine Abschweifung vom Thema! Kommen wir zur Sache! Ich denke, du hast dir jetzt schon einen ersten Einblick in die Ereignisse um den Mord an Antonella Muffo sowie das erneute Verschwinden des Rennpferdes Il Pascolo Primo gemacht.«
»Gewiss! Freund Alberto berichtet darüber ausführlich, nicht ohne den Hinweis, dass der Hengst schon einmal spurlos verschwunden war, wie wir beide ja wissen. Hast du dir etwa schon eine Theorie zurechtgelegt?«
»Aus der Distanz ist das nicht einfach. Hier handelt es sich meiner Meinung nach um einen Fall, bei dem es zunächst wichtiger ist, sämtlichen Details nachzugehen, als voreingenommen alles mögliche Beweismaterial gegen den mutmaßlichen Täter zu sammeln, wie das die Carabinieri wieder einmal tun.
Das Problem besteht für uns darin, das Skelett der Fakten aus dem uns vorliegenden Wust der Theorien und Vermutungen zu lösen, denn erst auf dieser Basis kann es uns gelingen, die erforderlichen Schlüsse zu ziehen und die Dinge im Fokus zu vereinigen. Vorgestern erhielt ich zwei Mails, eine von deiner Graziella, die andere von Commissario Eugenio Amarici aus Cortina, der mit dem Fall betraut ist und mich als alter Freund unseres Tenente di Fusco um Beistand ersucht, da er in seinen Ermittlungen auf keinen grünen Zweig gekommen sei und mit einem ungeduldigen Vorgesetzten leben müsse.«
»Warum fahren wir dann erst heute?«, fragte ich erstaunt.
»Du hast guten Grund, mir das vorzuwerfen«, sagte Volpe, »aber ich nahm irrtümlich an, ein in ganz Europa bekanntes Rennpferd werde sich nicht in Luft auflösen können. Darum wartete ich stündlich auf die Nachricht, es sei wieder auf der Bildfläche erschienen, so dass die Carabinieri nebenbei im Stande wären, der Öffentlichkeit den Mörder von Antonella Muffo zu präsentieren.
Wie bekannt, pfusche ich den beamteten Kollegen nur ungern ins Handwerk. Als ich heute Morgen jedoch feststellte, dass die Carabinieri nichts als die Verhaftung des jungen Stallburschen namens Bernardo Lotti zustande gebracht haben, den man postwendend wieder in Freiheit setzte, entschloss ich mich zum Aufbruch. Immerhin war meine gestrige Arbeit nicht ganz für die Katze.«
»Hast du etwa schon eine bestimmte Vorstellung?«
Er nickte. Ich hockte mich hinter das Steuer und warf den Motor an, und schon ging‘s munter bergauf.
Volpe schwieg eine Zeitlang und genoss den Anblick der Gegend, bevor er sagte: »Fassen wir die Fakten zusammen, welche ich ermitteln konnte, denn das ist der beste Weg zum Ziel und erforderlich, wenn du mir helfen willst: Der uns bestens bekannte Gaul Il Pascolo Primo ist zurzeit Italiens bestes Rennpferd und steht in der Blüte seines Lebens. Bis zu den ominösen Geschehnissen galt er als Favorit des internationalen Galopprennens von Verona am wunderschönen Lago di Garda. Die Summen, die in letzter Zeit auf ihn gesetzt wurden, sind ungeheuer groß, und genau darum gibt es naturgemäß gewisse Leute, die darauf aus sind, dass er am genannten Derby nicht teilnimmt; doch gemach! Lass mich der Reihe nach vortragen, was ich bislang weiß.«
»Ich bin ganz Ohr«, sagte ich.
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2. Teil: Volpes Bericht über das bislang Geschehene
Zu Pascolo Vecchio dei Cavalli stand der Hengst Pascolo Primo, der ganze Stolz unserer Freundin Graziella, und wartete auf das große Rennen. Damit nichts dazwischenkäme, wurde das Gelände rund um die Uhr bewacht. Graziella stellte zusätzlich noch ein Studentenpärchen ein, und einen scharfen Hund hat es da auch noch, einen reinrassigen Dobermann.
Die Trainerin namens Antonella Muffo, bis zu ihrem Unfall, von dem sie uns damals berichtete, selber Jockey, war hier auf Graziellas Hof seit acht Jahren in Diensten und hatte sich als treu und erfolgreich bewährt. Unter ihrer Führung arbeiten zurzeit zwei junge Gehilfen, der schon genannte achtzehnjährige Bernardo Lotti und seine zwei Jahre jüngere Freundin Elena d‘Este.
Eine der drei genannten Personen musste in der Nacht Wache schieben, während die anderen beiden schlafen konnten. Dazu waren zwei Kammern unmittelbar an den Stallungen und der daran angefügten Reithalle reserviert, die eine für Antonella, die andere für das saubere Pärchen.
Als Aushilfe oder um sich ein Zubrot zu verdienen, kommt Bauer Ferdinando Arbusto immer wieder einmal von seinem benachbarten Hof, der Casa delle Querce (Eichenheim) herüber, um die dreihundert Meter entfernt, um mit anzupacken, begleitet vom braven Irish Setter Lucio, den wir schon früher kennengelernt hatten.
Ferdinando lebt als Single und hat keine Angestellten. Plagt ihn der Hunger, kehrt er im nahegelegenen Gasthof Tre Croci ein, in welchem wir damals übernachteten, bevor wir uns auf den Marsch zur Gruft der Grafen machten.
Ansonsten ist es eine dergestalt verlassene Gegend, dass sich dort Fuchs und Hase Gute Nacht wünschen, die vollkommene Einsamkeit, einmal abgesehen von einem erheblich weiter entfernten zweiten Reiterhof, der einem mir unbekannten Signore mit dem sprechenden Namen Marcantonio Galoppi gehört. Schließlich gibt es noch den alten griesgrämigen schwerhörigen, ewig Pfeife rauchenden Knecht Ferdinando Arbusto, der sein Zimmer in einem Hinterhaus des Gutshofes bezieht und von minderer geistiger Qualität ist.
Bis nach Cortina d‘Ampezzo benötigt der geübte Kraftfahrer ungefähr eine halbe Stunde. Soweit zum Gelände, in welchem sich vor vier Tagen das tödliche Drama abspielte.
Zunächst einmal verlief der gesamte Tag in routinierter Langeweile, Training und Pflege der Rösser, darunter Il Pascolo Primo als herausragende Gestalt. Erst gegen einundzwanzig Uhr kehrte Ruhe ein. Die Pferde standen wieder in den Boxen. Ferdinando samt seiner unzertrennlichen Pfeife war in seiner Behausung verschwunden und schnarchte in üblicher Weise wie ein Sägewerk.
Elena und Bernardo hockten angeblich noch im Aufenthaltsraum und vertilgten ein rustikales Abendessen, während Antonella bereits draußen auf der Heide die Wache samt Kohldampf schob und auf ein kräftiges Mahl wartete, das ihr Elena hinausbringen wollte, Ungarisch Gulasch mit Nudeln, scharf mit Paprika und Pfeffer gewürzt; dazu einen großen Krug Wasser, denn Graziella hatte den Bediensteten jedwedes alkoholisches Getränk während der Arbeitszeit verboten.
Das Mädchen schleppte übrigens eine Taschenlampe mit sich herum, weil das Gelände, ähnlich wie bei unserem dortigen Abenteuer, unbeleuchtet war und in schwärzester Nacht versank, die durch den aufkommenden Regen noch unheimlicher wurde.
Jetzt war sie schon hundert Meter vom Stall entfernt und hoffte, jeden Augenblick auf Antonella zu treffen, als sich eine Gestalt aus der Finsternis schälte und auf sie zu kam. Es war eine große schlanke Frau in einem schwarzen Overall und gestreiftem Kopftuch, aus dem der dunkelblonde Haarwust hervorquoll, die Füße steckten in hohen Stiefeln. Im grellen Schein der Lampe wirkte sie ungemein bleich und nervös. Elena, dieses Pummelchen, schätzte ihr Alter auf dreißig bis vierzig und war baff vor so viel Schönheit.
Noch stand sie starr vor Schrecken auf der Stelle, als die Fremde mit betörend sanfter Stimme sagte: »Scusa, Signorina! Ich logiere im Albergo Tre Croci, ganz in der Nähe der Pass-Straße, habe mich verlaufen und weiß nicht mehr weiter. Schon gedachte ich, unter den Zweigen einer der großen Eichen, die es hier hat, zu übernachten, als ich aufatmend den Schein Ihrer Taschenlampe gewahrte. Gott sei gedankt, dass ich Sie hier getroffen habe. Man sieht ja kaum die Hand vor Augen. Wo bin ich?«
»Mitten auf dem Privatgelände des Pascolo dei Cavalli. Alles gehört meiner Chefin, Graziella Ghiotti. Was wollen Sie hier?«
»Na, das trifft sich aber gut! Genau hierher zog es mich. Es soll da eine Trainerin geben, der Sie vermutlich diesen köstlich duftenden Imbiss zu bringen haben. Nun, Sie sind ein junges Ding und können gewiss ein paar Euro extra gut gebrauchen, nicht wahr?«
Mit diesen Worten zog sie einen Zettel aus der Tasche. »Fünfzig Euro, wenn Sie ihr diesen Wisch da bringen.«
Elena war die Fremde unheimlich, und sie rannte zu den Stallungen zurück, wo ihr ein hellerleuchtetes, offenstehendes Fenster durch den stärker werdenden Regen entgegenflimmerte.
Als sie hineinblickte, gewahrte sie dort Antonella sitzen, die sie im hinteren Teil des Geländes wähnte. Die beiden mussten sich im Finsteren verpasst haben.
Antonella hockte auf einem hölzernen Schemel an einem schmalen Tisch. Aufatmend tischte Elena das genannte Mahl auf und begann, ihr von der unheimlichen Begegnung im Park zu berichten, als die fremde Donna auch schon draußen im strömenden Regen erschien. Offenbar war sie Elena auf dem Fuße gefolgt. Sie stützte sich auf einen Wanderstab, der seltsam schwer wirkte.
»Buona Sera, Signora Muffo«, rief sie durchs Fenster hinein, »ich muss Sie unbedingt sprechen.«
[Elena leistet inzwischen jeden Schwur, dass der Zettel, den sie anzunehmen sich geweigert hatte, noch immer zerknüllt in der Faust der Besucherin steckte und nur ein wenig herausragte.]
»Was wünschen Sie?«, fragte Antonella unwirsch.
»Nichts als eine kleine Auskunft, für die ich Ihnen ein hübsches Sümmchen zu zahlen bereit bin; fünftausend Eier.«
»Schießen Sie los!«, kommandierte Antonella.
»Gut, schön! Sie haben hier im Stall ein Zwillingspärchen stehen, die Hengste Il Pascolo Primo und Pascolo Secondo, beide äußerlich kaum unterscheidbar. Aber nur einer von beiden ist imstande, das Derby von Verona zu gewinnen. Könnte es sein, dass Ihre Chefin auf den langsameren von ihnen eine Unsumme gewettet hat, obwohl sie ganz genau weiß, dass er nicht siegen wird? Für einen Tipp, welcher der Zwillinge laufen wird, und eine weitere kleine Gefälligkeit spende ich Ihnen satte Fünftausend.«
Scheinbar erbost sprang Antonella empor und brüllte: »Na warte, du Schnüffelschwein! Gleich komme ich mit unserem Dobermann nach draußen! Sofort lasse ich ihn los.«
Elena wusste, wie angriffslustig der giftige Köter war und flüchtete sich lieber ins Haus und die Arme ihres Lovers, um mit ihm zur Seite den Verlauf des Dramas zu beobachten, während Antonella schon mit der schwarzen Bestie an der Leine vors Haus stürzte.
Obgleich sie das Terrain mit Hilfe des Hundes absuchte und dadurch teilweise in der Finsternis untertauchte, konnte sie, wie es Elena vorkommen wollte, als sie aus dem Fenster spähte, nichts mehr vorfinden. Der Eindringling sei, so Elena später, anscheinend unauffindbar verschwunden gewesen.
Unverrichteter Dinge und offenbar übel gelaunt kehrte Antonella zu den Stallungen zurück, vor denen sie den Hund an die Kette legte. Er ließ es sich gefallen, zog sich knurrend in seine Hütte zurück, legte sich schlafen und spielte von nun an keine Rolle mehr.
»Einen Augenblick bitte«, unterbrach ich Volpes Bericht, »hat Antonella, bevor sie den Park durchsuchte, den Stall hinter sich verschlossen oder offen stehen lassen?«
»Eine ausgezeichnete Zwischenfrage, Sergiu«, grunzte Volpe, »und genau dies versuchte ich zu ermitteln und setzte mich mit Commissario Eugenio Amarici vom Revier in Cortina in Verbindung.
Er teilte mir mit, Elena habe ausgesagt, dass Tür und Fenster verschlossen waren, als Antonella auf die Pirsch ging.«
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3. Teil: Volpe setzt seinen Bericht fort
Nachdem also der Dobermann an die Kette gelegt und fest eingeschlafen war, warum auch immer, eilte unsere Antonella erneut in die Nacht und den Park hinaus.
Elena kam das seltsam vor. Daher machte sie Graziella telefonisch Meldung. Diese schien ungeheuer aufgeregt zu sein, obwohl sie die Tragweite des Zwischenfalls noch nicht erfasst hatte, denn Antonella war, nachdem sie sich vom Hündchen getrennt hatte, spurlos verschwunden. So forderte sie Elena auf, sie unverzüglich über das Wiedererscheinen der Trainerin in Kenntnis zu setzen, aber Antonella kam nie wieder an die Stallungen zurück.
Ansonsten hütete Graziella faul das Bett, und das junge Pärchen hielt auf ihre Anweisung hin die Stallungen ab sofort eisern verschlossen. Besser wäre es gewesen, wenn Graziella die Carabinieri gerufen hätte. Es ist schleierhaft, warum sie es nicht tat. Wahrscheinlich wollte sie keinen blinden Alarm auslösen.
Gegen Mitternacht bemerkte Elena im Halbschlaf, so sagte sie später aus, wie ihr Freund in die Kleider schlüpfte. Als sie ihn fragte, was das zu bedeuten habe, antwortete er angeblich, er sei wegen der Pferde beunruhigt und wolle noch einmal nach ihnen sehen.
Sie bat ihn, in ihren warmen Armen zu bleiben, da es mittlerweile immer heftiger regnete, aber er ließ sich nicht davon abhalten, das Haus zu verlassen und zu den Stallungen hinüber zu gehen. Dazu schlüpfte er in einen Anorak mit Kapuze und marschierte in die Nacht hinaus. Elena wartete noch eine Weile, dann fiel sie in einen von Alpträumen verseuchten unruhigen Schlaf.
Als sie gegen 7.00 Uhr aufwachte, tastete sie vergebens nach ihrem Freund. Das bequeme breite Bett zu ihrer linken Seite war leer.
Nervös sprang sie aus den Federn, streifte sich einen Morgenrock über die Blöße, vergaß vor lauter Nervosität, den Gürtel zuzuziehen und rannte als flatterndes Gespenst hinaus und hinüber zu den Stallungen.
Das doppelflügelige Tor stand sperrangelweit offen. Bernardo hockte auf einem Strohballen inmitten der Stallgasse, glotzte glasig vor sich hin, stand anscheinend unter Drogen und war nicht ansprechbar; von Antonella, der Trainerin, keine Spur; die Box des berühmten Hengstes gähnend leer.
Elena weckte die beiden Stallknechte, zwei Nordafrikaner, die wie üblich oben unter dem Dach im Heu-Lager übernachtet hatten und fragte sie, ob sie nichts gehört hätten. Sie verneinten und verwiesen darauf, dass sie über einen gesunden Schlaf verfügten.
Da aus Bernardo keine Auskunft herauszuholen war, rief sie Graziella an, um ihr den Stand der Dinge zu erklären. Es dauerte eine Weile, bis sie endlich den Hörer abhob. Das Telefon stand auf ihrem Nachttisch. Als sie aber vernahm, dass das Ross verschwunden war, sprang sie aus dem Bett, schlüpfte ins nächstbeste Kleid, kam barfuß herüber gestürmt, durch Regen und Schlamm, und machte sich gemeinsam mit Elena und den beiden Marokkanern auf die Suche nach Antonella und dem feurigen Pferd Il Pascolo Primo.
Noch hegten sie die Hoffnung, Antonella habe das Tier aus unbekanntem Grund ins Gelände geführt, das man aufgrund einer sanften Anhöhe nicht überblicken konnte und werde in Kürze samt Pferd am Halfter wieder aufkreuzen. Doch als unsere vier Leutchen den Kamm des Hügels erklommen hatten und den Blick frei über der Landschaft schweifen ließen, sahen sie weit und breit nichts anderes als die von Bäumen bestandene blühende Heide.
Graziella hatte ein Fernglas mitgebracht und schwenkte es über dem Grünland hin und her, bis sie einen Grunzen ausstieß, denn sie hatte in ungefähr 400 Meter Entfernung eine grüne Reitjacke über einem Gebüsch liegen sehen, die wahrscheinlich aus dem Besitz der verschollenen Trainerin stammte. Außer ihr trug nämlich niemand auf dem Hof ein solches Kleidungsstück.
Erregt reichte sie das Glas an Elena und die Marokkaner weiter. Dann rannte man aus Leibeskräften in diese Richtung. Schon standen sie vor der knorrigen Hecke. Graziella fischte die Jacke herunter. Über der linken Brusttasche war mit Goldfaden Antonella Muffo eingestickt. Kopfschüttelnd umrundete sie das Gestrüpp, die anderen im Schlepptau, und erstarrte, denn ihnen allen bot sich ein Anblick des Grauens:
Auf dem Rücken liegend fand sich die Leiche der Trainerin. Sie trug sehr kurze, unten ausgefranste Jeans und ein T-Shirt, das ihr beim Sturz empor gerutscht war und nun den gesamten Bauch bis zur Mitte des Oberkörpers frei ließ. Stirn und Gesicht waren bis zur Unkenntlichkeit mit irgendeiner furchtbaren Keule zertrümmert worden, aber der Täter hatte ihr auch noch eine weitere Verletzung zugefügt: Von der hervorragenden linken Gesäßbacke der Ermordeten an zog sich ein feiner blutiger Schnitt bis zum Knie abwärts, der von einem sehr scharfen filigranen Messer stammen sollte.
Ganz offensichtlich hatte Antonella erbittert ums Leben gekämpft, bevor sie den Schlägen des Angreifers erlag, denn sie hielt noch im Tode ein nadelspitzes Messerchen in der rechten Hand und umklammerte mit der linken ein blaurot gestreiftes Kopftuch, welches Elena sofort als das der unheimlichen gestrigen Besucherin wiedererkannte.
Dass daran nicht der geringste Zweifel bestand, wurde aus Bernardos späterer Aussage offensichtlich. Er war ihr nämlich bei seinem oben genannten nächtlichen Rundgang begegnet und hatte sie, da sie nett zu ihm war, mit in den Stall genommen, wo sie gemeinsam einen Humpen Wein leerten. Dabei sollte es der Hübschen gelungen sein, ihm ein Narkotikum beizubringen.
Bernardo verschwieg dabei zunächst, dass es im Stroh einer nicht belegten Box zu einer Liebesszene zwischen ihm und der Signorina mit dem angeblichen Vornamen Sofia gekommen war. Das rund zehn Jahre ältere Weib hatte es seiner Aussage nach verstanden, ihn zu vernaschen. Erst als sie sich liebend in den Armen lagen, konnte ihm die falsche Schlange das Betäubungsmittel eintrichtern.
[Elena, dieses Pummelchen, hatte nämlich trotz ihrer blühenden Jugend keine Chance, sich mit der wilden Bestie aus Napoli vergleichen lassen. Sie verzieh ihm später den Fehltritt und heiratete ihn. Da hat sich mal wieder der eine für den anderen erbarmt. Blieb nur noch die Frage, ob Bernardos Aussage der Wirklichkeit entsprach, denn er war überall als Aufschneider bekannt. Doch jetzt rasch wieder zurück zum Tatort!]
Da es, wie gesagt, heftig geregnet hatte, konnte man im überall verbreiteten Matsch die Hufspuren vom Stall aus bis zur obigen Mulde gut verfolgen. Ebenda zeigten sie auf, dass man hier verharrt hatte. Der Hengst war nämlich mehrfach im engen Kreise geführt worden und musste anschließend Zeuge des mörderischen Kampfes gewesen sein. Jetzt endlich rief man die Carabinieri.
Diese durchkämmten die ganze Gegend und setzten sogar einen Hubschrauber ein, doch alles war vergebens. Das Ross war und blieb verschwunden. Schließlich wurde der Becher untersucht, aus dem Bernardo getrunken hatte, und es ließen sich Spuren eines rasch wirkenden Rauschgiftes nachweisen, mit dem er allem Anschein nach außer Gefecht gesetzt worden war.
So, mein lieber Sergiu, das wären im Großen und Ganzen die uns vorliegenden Informationen. Ich will jetzt nur noch berichten, was Commissario Eugenio Amarici, ein erfahrener und kompetenter Mann, ermittelt hat. Leider mangelt es ihm an Einfühlungsvermögen, sonst könnte er es zum Meister seines Metiers bringen.
Kaum war er im Gestüt angekommen, ließ er Bernardo festnehmen und einbuchten, da offensichtlich auf ihm der größte Verdacht ruhte. Er stammt aus gutbürgerlicher Familie, ist Sportstudent im ersten Semester, Reiter von Kindesbeinen an, und verdient sich als Pferdeliebhaber nebenbei ein paar Euro in sämtlichen Reitställen, in denen man ihn brauchen kann.
Als Eugenio seine Konten überprüfte, stieß er auf verdächtige Kredite, die er in Wetten eingebracht hatte, die sich gegen unseren Pascolo Primo richteten. Er hätte also guten Grund, ihm eine Niederlage zu wünschen. Doch wo war die Schöne geblieben, die ihn angeblich im Stroh der leeren Box beglückt hatte?
Wie gesagt, Eugenio Amarici ist ein tüchtiger Carabiniere. Nicht ohne Mühe gelang es ihm, die streunende Schlange aufzugreifen, als sie versuchte, per Anhalter zu türmen. Dabei bedurfte es der Kraft zweier gestandener Männer, von denen einer in die Klinik eingeliefert werden musste, das bösartige Biest zu bändigen.
Nach ihrer Verhaftung gab Sofia Schicchi (so heißt sie) unumwunden zu, in die Region unterhalb des Passo Tre Croci gekommen zu sein, um etwas über das gefeierte Ross unserer Graziella in Erfahrung zu bringen.
Gleiches habe sie noch vor sich, wenn man sie nur lasse, um den Reiterhof bei Belluno aufzusuchen, denn dort sei der andere Favorit des kommenden Rennens zuhause, ein Hengst namens Incitato, betreut von den Signori Eduardo und Ruggiero Ricci.
Sofia gab sich ferner nicht die geringste Mühe, den bisherigen Aussagen über den vergangenen Abend und die darauf folgende Nacht etwas entgegenzusetzen. Sie bestritt aber, in unlauterer Absicht gekommen zu sein und den Jungen verführt zu haben. Es sei ihr lediglich um Information aus erster Hand gegangen.
Als Eugenio ihr das gestreifte Kopftuch vor die Nase hielt, wurde sie käseweiß um die Nase, stammelte unverständliches Zeug daher und konnte keine Erklärung darüber abgeben, wie der Fummel in die linke Hand der ermordeten Trainerin gelangt sein könnte.
Ihre durchnässten Klamotten waren freilich ein unwiderleglicher Beweis, dass sie in der verregneten Nacht auf dem unheimlichen Gelände des Reiterhofes Pascolo Vecchio herum gegeistert war. Eugenio fand dies insbesondere bei einer so hübschen Donna wie Sofia für mutig und erwähnenswert.
Freilich war das Ende des Stabes, auf den sie sich in der Mordnacht gestützt hatte, am unteren Ende aufgebohrt und mit Blei gefüllt, wie die Untersuchung zeigte. Wenn man jemandem mit dieser Waffe gegen den Schädel schlüge, so Eugenio, könnte dies eine verheerende Wirkung entfalten.
Auch wenn keine Spuren der Ermordeten daran gefunden wurden, hielt der Commissario seinen Verdacht aufrecht und inhaftierte die Signorina, zu deren Gunsten allerdings sprach, dass sie nicht die geringste Verletzung aufwies, obwohl Antonella gegen den Mörder, wie es schien, mit dem Messerchen in der Hand erbitterten Widerstand geleistet hatte.
So, mein guter alter Freund, das sollte alles sein, was ich in Erfahrung brachte. Se non vero, ben trovato (wenn nicht wahr, dann gut erfunden). Wenn du noch Fragen dazu hast oder dir etwas aufgefallen ist, was ich möglicherweise übersehen habe, wäre ich dir dankbar, wenn du es mir mitteilen könntest.
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4. Teil: Blut am Messer
Mit gespannter Aufmerksamkeit hatte ich Volpes Worten gelauscht. Das meiste kannte ich schon durch den Bericht unseres Freundes Alberto Scimmia im Corriere, aber mein Freund übertraf das Geschriebene an Präzision und in seiner gewohnten Lebhaftigkeit. Als er verstummte, kam mir ein schlauer Gedanke, und ich sagte: »Ich habe da eine Idee.«
»Na, dann schieß mal los!«, meinte Volpe.
»Antonella wurde durch einen wuchtigen Schlag gegen Stirn und Gesicht getötet. Wäre es nicht möglich, dass ihr, als sie im Sterben lag, ein Zucken durch den ganzen Körper lief, sodass sie sich den Schnitt am Oberschenkel selber beibrachte?«
»Bravo, bravissimo, mein Lieber. Ein ähnlicher Gedanke war auch mir schon gekommen. Ich habe Eugenio daher gebeten, eine Blutuntersuchung vornehmen zu lassen. Vielleicht hat sie das Labor schon fertiggestellt; werden gleich mal sehen.«
Volpe nahm das Mobilphone aus der Gesäßtasche, stellte den Außenlautsprecher an und tippte eine Nummer ein. Kurz darauf meldete sich Commissario Amarici.
Volpe rief: »Buon Giorno, Eugenio; Giuseppe!«
»Buon Giorno, Giuseppe, come sta?«
»Großartig! Ich bin mit meinem Kollegen Sergiu Petrescu auf Pascolo Vecchio angekommen. Sergiu wüsste gerne, ob du schon Nachricht vom Labor bekommen hast?«
»Exakt in dieser Minute! Das Blut da am komischen Messerchen stammt von der Ermordeten. Unser Betriebsarzt meint, sie habe sich, beim Sterben zuckend, selber verletzt. Leider müssen wir das als entlastend für Signora Schicchi werten. Sie wird jetzt wieder auf freien Fuß gesetzt und darf in der Pension Albergo Tre Croci unterkriechen, hat sich aber zweimal am Tag telefonisch bei mir zu melden.«
»Hast du dir schon eine neue Theorie über den Tathergang zurecht gelegt, Eugenio?«
»Ich glaube, ich denke, jede einzelne Theorie widerlegt sich selber. Als Einziges möchte ich vermuten, dass es Sofia war, die den kleinen Bernardo, nachdem sie ihn in die Horizontale gehievt hatte, kirre gekriegt hat. Als der Gute endlich außer Gefecht gesetzt war, holte sie Il Pascolo Primo aus der Box, ohne sich des Sattels und der Trense zu bedienen. Reiten wollte sie ihn offenbar nicht, sondern führte ihn am Strick, den sie am Halfter befestigte, hinaus in Nacht und Nebel. Warum sie das Pferd entführte, ist mir freilich schleierhaft. Jedenfalls hatte sie es dabei so eilig, dass sie das Stalltor sperrangelweit offen stehen ließ, während sie sich auf und davon machte.
Noch befand sie sich auf dem Gelände des Pascolo Vecchio, als ihr die Trainerin in die Quere kam, die seltsamerweise dort trotz Regen und Nacht umher streunte. Als sie erkannte, dass es sich um eine Entführung des preisgekrönten Hengstes handelte, fiel sie Sofia in den Arm. Es kam zu einer wüsten Rauferei.
Dabei zückte Antonella das Messerchen. Sofia ließ den Strick fahren, schlug kraftvoll mit dem Stab zu und zerschmetterte ihr den Schädel. Im Fallen riss diese der Mörderin das Kopftuch herunter und klammerte sich daran fest. Was anschließend geschah, muss noch offen bleiben.
Entweder suchte Il Pascolo Primo nach Pferdeart das Weite und treibt sich immer noch herrenlos in der Gegend herum, weil Sofia den Strick hatte fahren lassen, oder aber er verharrte auf der Stelle und ließ sich von Sofia in irgendeinem Versteck unterbringen. Leider gibt uns die hübsche Frau keinerlei Auskunft. Zugegeben, lieber Giuseppe, meine Theorie hinkt, um es passend zur Lage auszudrücken, auf allen vier Hufen, aber etwas Besseres ist bislang weder mir noch meinen Kollegen eingefallen.«
»Ich bin voll und ganz deiner Meinung, Eugenio, und weiß selber nicht weiter. Darum möchte ich dem keine weitere Theorie hinzufügen, bevor ich mir die Sache nicht vor Ort angesehen habe, denn auch ich werde aus dem Wust der widersprüchlichen Aussagen nicht klug. Doch in Kürze dürften wir beim Gestüt eintreffen und können dann weitersehen.«
––––––––
5. Teil: Endlich vor Ort
Wie das Gelände des Gestüts aussieht, habe ich bereits in meinem Band »Venezianische Vampire« so ausführlich geschildert, dass es hier und heute keiner Wiederholung bedarf.
Das Regengebiet war abgezogen. Milde Mittelmeerluft erinnerte an den vergangenen Sommer. Die Sonne vergoldete die wunderschöne Landschaft. Wir fuhren genießerisch mit zurückgerolltem Verdeck einher. Am gusseisernen Tor angekommen, kurbelte ich das Fenster herunter, denn dort erwarteten uns Graziella, meine Süße und Commissario Amarici.
Während Eugenio in dezentes Grau gekleidet war, trug meine Flamme, ganz Italienerin, grüne Turnschuhe, ein superkurzes weißes Höschen und ein kurzärmeliges rotes Hemdchen, welches zehn Zentimeter oberhalb des frei liegenden Nabels endete.
Ich bewunderte ihren brettflachen Bauch und ärgerte mich, dass Volpe ihre sichelförmigen Beine mit heruntergezogenen Mundwinkeln musterte. Sie nahm es nicht zur Kenntnis und sagte: »Buon Giorno, Giuseppe! Wie freue ich mich, dass du dich hierher bemüht hast und den Fall übernimmst! Signore Amarici hat ja sein Bestes gegeben, ist aber weit von einer Lösung entfernt. Ich bitte dich daher, alles daranzusetzen, Antonellas Mörder der gerechten Strafe zuzuführen und mir das Ross wiederzubeschaffen.«
»Ich tue, was ich kann, meine Liebe. Gibt‘s inzwischen etwas Neues?«, fragte Volpe.
»Leider rein gar nichts«, sagte der Commissario, »und daher halte ich es für das Beste, wir machen einen Ortstermin, bevor die Dämmerung über uns hereinbricht.«
»Gut, gehen wir!«, sagte ich ungeduldig und stellte den Cinquecento hinter dem gusseisernen Tor auf dem Besucherparkplatz ab. Wir stiegen aus, schlossen uns den beiden an und stapften schweigend über die grüne Wiese, auf der erste rosige Kelche der Herbstzeitlosen empor geschossen waren, während Eugenio seine altbekannten Theorien noch einmal hervorsprudelte, was darin gipfelte, dass er Sofia für den gesuchten Mörder hielt, auch wenn sich dies bislang nicht beweisen lasse, da sie die Auskunft verweigere.
»Jede neue Entdeckung kann Ihre Theorie über den Haufen werfen, Signore Commissario«, sagte ich und blickte auf Volpe, der seine altbekannt fuchsige Miene aufgesetzt hatte und sich plötzlich an Eugenio wandte.
»Was ergab die Untersuchung des kleinen Messers?«
»Wie gesagt, nur, dass das Blut daran von Antonella stammt.«
»Ach, und das war schon alles?«
»Leider Gottes, ja!«
»Das spricht aber gegen Sofias Schuld«, wandte ich ein, »hat man an ihr Spuren einer Rauferei gefunden, irgendwelche Blessuren?«
»Eine Beamtin unterzog sie einer Leibesvisitation«, sagte Eugenio, »und erstattete mir Bericht. Sofias Körper sei von makelloser Schönheit, schreibt sie neidisch und weise nicht den geringsten blauen Fleck oder Ähnliches auf.«
»Das beweist, dass es zu keiner handgreiflichen Auseinandersetzung kam und Antonella sich beim Sturz selber verletzt hat«, sagte Volpe mit Entschiedenheit, »aber das reinigt Sofia keineswegs vom Mordverdacht. Sie könnte brutal zugeschlagen haben, bevor Antonella noch an Gegenwehr dachte.
Nachweislich trieb sie sich auf dem Gelände herum, obwohl es Hunde und Katzen regnete, hatte einen mörderischen Stab bei sich und ließ ihr Kopftuch in der linken Hand der Toten zurück. Wenn Pascolo Primo nicht schnellstens wieder auftaucht, hätte sie das Ziel erreicht, ihn vom nächsten Derby auszuschalten. Das alles sollte doch wohl reichen, sie unter Anklage zu stellen.«
»Das vielleicht schon«, maulte ich, »aber jeder gute Strafverteidiger würde darauf hinweisen, dass es keine Beweise, nur Vermutungen seien und einen Freispruch zweiter Klasse beantragen. Insbesondere würde ich als Anwalt folgendes zu Protokoll geben: Meine Damen und Herren Geschworene, sagte ich, warum sollte meine Mandantin, nachdem sie den jungen Bernardo mit Liebe und Rauschgift betört hatte, das Rennpferd umständlich aus dem Stall bringen statt es an Ort und Stelle kampfunfähig zu machen? Ein Schlag mit einer Latte gegen eine der empfindlichen Sehnen hätte genügt, das Pferd für die nächste Zeit lahmen zu lassen.
Außerdem: Wie und wo sollte denn die anerkannt ortsfremde Frau diesen wilden Hengst verstecken? Sie kannte doch niemanden in der Gegend. Sie fuhr nur einen Mietwagen und hatte keinen Pferdehänger dabei. Ferner ist nicht geklärt, was es mit dem Zettel auf sich hatte. Nur Signora Antonella könnte es uns sagen, aber sie ist tot. Ich stelle daher den Antrag, Signora Schicchi mangels Beweisen freizusprechen.‘«
»Gut argumentiert«, meinte Eugenio, »aber der Zettel hat sich vielleicht als Hundert-Euroschein entpuppt. Er fand sich in der Hosentasche unseres liebestollen Freundes Bernardo Lotti. Doch auch Ihren anderen Argumenten, Dottore, möchte ich widersprechen: Sofia kannte sich hier in der Gegend bestens aus und hat gerade erst vergangenen Sommer einen Urlaub im Albergo Tre Croci verbracht. Sie ist Apothekenhelferin von Beruf und könnte das Narkotikum von ihrer Dienststelle entwendet haben. Das Ross findet sich vielleicht zerschmettert in einer der Schluchten der ins schroffe Bergland der Dolomiti übergehenden Umgebung.«
»Und wie denkst du über das Kopftuch, Eugenio?«, fragte Volpe, während wir tüchtig voranschritten.
»Sofia gibt unumwunden zu, dass es sich um ihr Eigentum handelt. Sie behauptet, das Ding unterwegs verloren zu haben. Aber auch das Argument mit dem fehlenden Pferdehänger ist leicht zu entkräften. Wie wäre es mit einem Komplizen, der in finsterer Nacht an der Straße zum Passo Tre Croci aufs Ross wartete, um es zu verladen und das Weite zu suchen?«
»Gut möglich«, knurrte Volpe, »aber gibt es dazu auch Spuren oder Zeugen?«
»Leider nein«, entgegnete Eugenio, »denn wer schon war in dieser scheußlichen Nacht unterwegs? Immerhin sind wir allen Möglichkeiten nachgegangen und haben die Bauernhöfe der gesamten Gegend abgeklappert. Signora Graziella hatte uns prächtige Fotos des Hengstes mit auf die Reise gegeben, aber kein einziges Pferd, das wir sahen, ähnelte ihm auch nur ein wenig. Was wir suchten, war ein markanter Braunschecke mit einer weißen Flocke mitten auf der der Stirn, drei Hufe schwarz, einer weiß. Dergleichen fanden wir aber nicht.«
»Giovannis Internet-Recherche ergab, dass es hier in der Region noch einen zweiten Rennstall gibt«, meinte Volpe.
»Auch daran haben wir bereits gedacht und entsprechende Untersuchungen angeleiert. Es handelt sich um das Gestüt eines gewissen Marcantonio Galoppi. Das dortige Ross Argento gilt als Mitfavorit des nächsten Rennens. Darum hätte er ein Interesse daran, Pascolo Primo auszuschalten, das ist wahr.
Sein Trainer Federico Renzo hat Geld aufs eigene Ross gesetzt und soll mit unserer Ermordeten in keinem guten Verhältnis gestanden sein. Wir haben die Stallungen unter die Lupe genommen, aber nichts Verdächtiges gefunden. Der gesuchte Hengst war dort nicht untergebracht, und Galoppi besitzt keinen zweiten Stall.«
»Auch keine Verbindung zu Sofia Schicchi oder dass sie in seinem Auftrag handelte?«, fragte Volpe.
»Leider keine, nicht das geringste Anzeichen«, sagte Eugenio.
»Was nicht ist, kann noch werden«, murmelte Volpe geistesabwesend und nahm auf einer Parkbank in der Nähe der Reithalle Platz. Verwundert hockten wir uns zu ihm. Er ließ den Kopf hängen, so dass der feuerrote Zopf nach vorne baumelte, sah versonnen auf den Rasen mit seinen Herbstzeitlosen hinunter und schien wie weggetreten zu sein. Der Commissario blickte mich seltsam schräg an, ganz, als wollte er sagen, Volpe sei nun endgültig verrückt geworden. Als ich meinen Kumpel sachte am Arm berührte, zuckte er zusammen und straffte sich.
»Scusa, Signori«, murmelte er, »es war so etwas wie ein Tagtraum, der mich mit Beschlag belegte.«
Ich blickte ihm ins Gesicht. Es hatte einen verdammt fuchsigen Ausdruck angenommen. Ein feines Strahlen glitt über seine Züge. Ganz klar, er war dem Geheimnis einen Schritt näher gekommen, ohne dass ich die geringste Ahnung gehabt hätte, was er herausgefunden hatte. Zweifellos hatte er wie ein alter Jagdhund die Fährte aufgenommen, und in solchen Momenten durfte man ihn nicht ablenken.
»Willst du jetzt mit uns zum Tatort gehen?«, fragte der Commissario ungeduldig.
»Geht ihr schon einmal voraus. Ich möchte mir zunächst einmal die Dinge hier am Stall vor Augen führen. Nicht wahr, Graziella, unsere Antonella galt als treu und zuverlässig? Ich denke, man hat die Leiche gründlich untersucht, bevor man sie ins Kühlhaus verbrachte? Sie trug kurze Jeans, wie ich vernahm. Habt ihr den Inhalt ihrer Hosentaschen aufgelistet?«
Graziella erwiderte: »Sie war eine vorbildliche Angestellte, ohne Fehl und Tadel. Folgende Gegenstände trug sie in den beiden Gesäßtaschen und den vorderen Taschen bei sich: eine Schachtel Streichhölzer; eine Armbanduhr ohne Armband; eine Börse mit ein paar Scheinen und Münzen; das metallene Etui zu dem wunderbar feinen Messerchen, das sie noch im Tode in der rechten Hand hielt.«
Eugenio nahm das Wort: »Es besitzt einen elfenbeinernen Griff und hat eine rasiermesserscharf geschwungene Klinge aus flexiblem Damaszenerstahl, auf der Solingen, Germany eingeprägt ist. So ein Ding habe ich noch nie gesehen. Das Labor meint, es handele sich um ein chirurgisches Instrument aus uralten Zeiten.«
Der Commissario holte sein Tablet aus der Aktentasche und führte uns sämtliche Gegenstände und zuletzt einige Aufnahmen der Ermordeten vor Augen. Volpe widmete sich vor allem dem Messer, um schließlich zu sagen: »Eine ungewöhnlich schlanke Klinge, hochempfindlich und zu filigranen Zwecken gemacht, jedenfalls weder zur Selbstverteidigung noch als Kampfgerät von Nutzen, wie der Blinde mit der Krücke sieht. Wenn das Ding wenigstens zusammenklappbar wie ein Taschenmesser wäre. Was denkt ihr? Ist das die Waffe, mit der man in ein nächtliches Abenteuer aufbricht, um sich zu verteidigen, ausgerechnet wenn es regnet wie verrückt?«
Graziella mischte sich ein und sagte: »Im Etui befand sich eine Kugel aus Samt, der man noch ansah, dass darin die Spitze geborgen war. Tagelang sah ich es auf Antonellas Schreibtisch liegen, ohne mir Gedanken darüber zu machen. Als sie in Nacht und Nebel untertauchte, muss sie es mitgenommen haben. Eine jämmerliche Waffe, wenn es um Sein oder Nichtsein geht, denke ich, aber besser als gar nichts.«
»He, Eugenio«, sagte Volpe, »gewiss hast du den Computer und auch die Schreibtischschublade der Toten untersucht, insbesondere, um ihre Vermögensverhältnisse unter die Lupe zu nehmen. Was kam dabei heraus?«
»Merkwürdiges: Antonella hat regelmäßig mehr ausgegeben, als es ihr Gehalt zuließ. Wir haben ihr Bankkonto überprüft. Sie besitzt keine Ersparnisse. Wie konnte sie so leben?«
»Ja, das ist die Frage aller Fragen«, sinnierte Volpe, »doch jetzt wäre es an der Zeit, uns den Schauplatz des Dramas vor Augen zu führen, oder gibt es noch Ergänzendes zu sagen?«
Eugenio und Graziella schüttelten die Köpfe. Wir folgten dem Kiesweg, den ich dank einer gruseligen Nacht noch in unheimlicher Erinnerung hatte, tief hinein in den Park und sogar an der gräflichen Gruft vorbei. Gerade in diesem Augenblick schloss ein hagerer Kerl zu uns auf und rief erregt ohne sich vorgestellt zu haben: »Haben Sie den Mörder endlich verhaftet, Signori?«
»Leider noch nicht, Signore«, sagte Eugenio, der Enrico Pasquale, Antonellas Lover, bereits kannte, »aber jetzt ist ja Signore Tartini aus Venezia zu uns gestoßen, und da wird es, denke ich, bald Fortschritte geben.«
Volpe beäugte den Ankömmling neugierig und meinte: »Mir will es scheinen, dass wir uns schon einmal auf dem Markusplatz bei einem öffentlichen Konzert begegnet wären.«
»Ich war noch nie in Venedig«, entgegnete Pasquale.
»Wirklich nicht?«, sagte Volpe und mimte Erstaunen. »Und doch will es mir scheinen, Sie hätten einen auffällig blütenweißen Anzug mit feuerroter Krawatte getragen.«
»Solche Klamotten besitze ich nicht.«
»Scusa, Signore! Errare humanum est (lat.: Irren ist menschlich). Dann wollen wir dem keine Bedeutung mehr beimessen.«
Mit solchen Worten folgte er der übrigen Gesellschaft in den hintersten Teil des Parks, und man gelangte zur Mulde, in der die Leiche gelegen war.
Volpe sagte: »Das also ist das Gebüsch, auf dem Antonellas grüne Reitjacke lag, gekennzeichnet durch ihren in Gold aufgestickten Namen?«
»Ganz recht«, erwiderte der Commissario.
»War es stürmisch genug, dass die Jacke vom Wind gegen das Gesträuch geweht worden wäre?«
»Auf gar keinen Fall. Ein Regengebiet zog durch, aber es kam zu keinen Sturmböen.«
»Dann wurde die Jacke also von Antonella oder ihrem Mörder darübergelegt, warum auch immer«, schlussfolgerte Volpe.
»Ganz meiner Meinung«, sagte Eugenio.
Vor der Mulde hatte der Commissario eine große Matte aus Sisal ausgebreitet, auf die wir uns stellen konnten, ohne die Spuren zu zertrampeln. Eine zweite lag daneben.
Eugenio sagte: »Ich habe einen Schuh der Ermordeten und einen der verdächtigen Signora Schicchi mitgebracht.«
»Ausgezeichnet!«, murmelte Volpe anerkennend und schob sich, bäuchlings auf der zweiten Matte liegend, zur Mitte der Mulde vor, um den Schlamm einer Prüfung zu unterziehen. Dabei war er sich nicht zu schade, mit beiden Händen im Dreck zu wühlen. Wie gebannt sahen wir ihm zu, bis er plötzlich einen heiseren Schrei des Triumphs ausstieß und ein schmutzbesudeltes Streichholz sowie einen Kerzenstummel in die Höhe hob, um sie uns zu zeigen.
»Wie konnte das Ding meiner Aufmerksamkeit entgehen«, seufzte der Commissario, »wo ich doch jeden Zentimeter des Geländes abgesucht habe.«
»Mach dir keine Vorwürfe, Eugenio! Winzig, wie es ist, war das Zeug im Morast versunken. Ich konnte es nur entdecken, weil ich dezidiert danach suchte.«
»Da komme ich nicht mit«, sagte Eugenio.
»Nun, bei genauem Nachdenken war es so gut wie sicher, dass sich hier ein Zündholz würde finden lassen, weil sich in der Hosentasche der Toten eine Streichholzschachtel befand«, sagte Volpe und krabbelte aus der Mulde. »Und was ist mit den Fußspuren?«
»Ich habe wirklich alles in der Umgebung der Mulde abgesucht, aber das Unwetter hat die Spuren gelöscht, soweit sie auf dem festen Grund des Rasens überhaupt entstanden waren. Aber wenn du willst, kannst du es liebend gerne noch einmal versuchen. Hier sind die Schuhe.«
»Nein, danke«, sagte Volpe, »ich sehe schon, dass du vorzüglich gearbeitet hast und ich dem nichts hinzufügen kann. Doch, hoppla, was ist denn das?«
Er zog ein rostiges Hufeisen aus dem Gras und hielt es dem Commissario unter die Nase.
»Ach Gott«, zwitscherte Graziella, »es kommt immer wieder mal vor, dass eines meiner Rösser ein Eisen verliert. Sie rosten dann unbemerkt vor sich hin.«
»Dieses da ist aber verdammt frisch«, bemerkte Volpe, »und nur von einer feinen Schicht Rost bedeckt.«
»Waren gestern noch andere Rösser draußen?«, fragte ich.
»Bei diesem Wetter?«, rief Graziella.
»Dann gehört es zum verschollenen Il Pascolo Primo«, schlussfolgerte Volpe, rieb das Hufeisen an einem Grasbüschel blank, steckte es ein und meinte: »Ich gedenke, zusammen mit Sergiu eine kleine Wanderung über das Gelände und in der Umgebung zu machen, solange es das Tageslicht noch zulässt, wenn Sie nichts dagegen haben, Signori. Bekanntlich bringen Hufeisen Glück. Ich werde es über meiner Haustür anbringen, sobald der Fall geklärt ist. Arrivederci.«
Graziella nickte nur kurz und ungeduldig, wobei sie Volpe ansah, als hielte sie ihn für verrückt.
»Signore Commissario«, sagte sie, »Reisende soll man nicht aufhalten. Doch jetzt wäre es an der Zeit, Sie zu einer kurzen Besprechung in mein Haus einzuladen. Nur eine winzige Frage noch an meine Freunde Giuseppe und Sergiu: Soll ich Il Pascolo Primo von der Teilnehmerliste des Derbys streichen lassen?«
»Tun Sie das nicht! Er könnte wieder auftauchen«, sagte Volpe und ging mit mir in die Weite des Landes hinein.
»Ich erwarte euch zu einer abschließenden Besprechung bei Signora Ghiotti«, rief uns Eugenio hinterher, »seht also zu, dass ihr euren Spaziergang nicht allzu weit ausdehnt!«
»Wir werden es versuchen«, rief Volpe zurück.
»Versuche, was du willst«, schrie uns Graziella hinterher, »aber leider hast du uns der Lösung des Problems keinen einzigen Schritt näher gebracht. Erlaube, dass ich maßlos enttäuscht bin. Für die ausgesetzte Belohnung von Zehntausend Euro hätte ich ein Bisschen mehr von dir erwartet.«
Volpe gab keine Antwort, aber ein roter Schimmer flutete über sein Gesicht und verebbte wieder, während das trotzig nach vorne geschobene Kinn sagen wollte, dass er ihr das heimzahlen werde.
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6. Teil: Bei Marcantonio Galoppi
Während die übrige Gesellschaft nun schnatternd den Rückzug antrat, schritten wir putzmunter über die Heide. Die Sonne hing als blutroter Fleck im westlichen Dunst und ließ die ganze Gegend erglühen. Die fernen Gipfel der Dolomiten schimmerten unvergleichlich schön. König Laurins Rosengarten bezauberte mich.
Ganz anders Volpe: Keinen einzigen Blick widmete er der berauschenden Pracht der Dolomiten. In sich gekehrt, den Blick starr nach unten gerichtet, hing er seinen Gedanken nach, bis er sich plötzlich straffte, mir ins Gesicht sah und sagte: »Selbst ich war einer falschen Fährte gefolgt. Immer drehte sich alles darum, wer Antonella mordete. Das war falsch. Zunächst müssen wir herausfinden, wo der Hengst geblieben ist. Der Rest wird sich dann in Wohlgefallen auflösen. Nun, wir besitzen in Cavallino ein eigenes Ross. Hinzu kommt, dass du ein eifriger Leser des Reitjournals und daher Kenner der Materie bist. Was wird der Hengst angesichts der Tragödie wohl gemacht haben?«
»Herrenlos, wie er war, wird er das Weite gesucht haben.«
»Aber es war doch stockfinster.«
»Wie zum Beispiel die Rehe besitzen auch Pferde Guanin-Kristalle enthaltende Fasern hinter der Netzhaut, die das Rest-Licht schillernd reflektieren. Bei Lichteinfall leuchten ihre Augen daher scheinbar auf. Pferde sehen nachts ziemlich gut.«
»Vielen Dank, Herr Hippologe«, sagte Volpe händereibend, »und wohin rennen einsame Rösser, he?«
»Es handelt sich um Herdentiere. Sie gesellen sich auf dem kürzesten Weg zur nächsten Gruppe. Daher war es Blödsinn, wenn Eugenio die Heide nach einem einsamen Ross absuchen ließ.«
»Und wo standen ihm die vierbeinigen Kollegen zur Verfügung?«
»Wo schon? Zum einen hier bei Graziella auf dem Pascolo Vecchio dei Cavalli oder drüben in der Casa Grande dei Cavalli. Sonst gibt es hier in der Gegend keine weiteren Gestüte.«
»Und der Stall des Signore Galoppi liegt, vom Tatort aus gesehen, ein wenig näher, nicht wahr? Dort sollte der Hengst also untergekommen sein, bei Graziellas Feind und Konkurrenten.«
»Unmöglich! Eugenio war bereits vor Ort und hat sich sämtliche bei Marcantonio Galoppi untergebrachte Rösser angeschaut, aber Il Pascolo Primo war nicht darunter.«
»Wer weiß, ob Eugenio nicht bunte Knöpfe statt Augen im Gesicht hatte«, meine Volpe kichernd, während wir uns dem Gehöft des Nachbarn näherten, vor dem das feste Grasland endete und einem von Pfützen übersäten sandigen Übungsgelände Platz machte, über das nur eine einzige Spur führte. Sie war tief in den aufgeweichten Grund hinein gestampft; eindeutig die Hinterlassenschaft eines eilig und raumgreifend dahertrabenden Rosses.
Schon standen wir am Rand des Übungsplatzes, als Volpe sich mit dem vorhin gefundenen Hufeinsen in der Hand eifrig über die dort beginnende Spur beugte und dann sagte: »Na also! Drei Hufe sind beschlagen; das eine, rechts hinten, ist ohne Hufeisen. Die übrigen drei besitzen dieselbe Größe wie das da in meiner Hand. Ich denke, wir sind kurz vor dem Ziel.«
»Wunderbar«, sagte ich, »aber Eugenio war vor uns da!«
»Er ist ein guter Detektiv«, sagte Volpe, »aber bei ihm hapert es an der Intuition. Während wir uns vorstellten, wie es gewesen sein könnte, klammerte er sich an die nackten Fakten und betrieb seine Ermittlungen dementsprechend.«
Wir folgten der Spur des Rosses über den schlammigen Platz und gewahren, dass es wenige Meter vom gegenüber liegenden Rand des Terrains entfernt stehen geblieben war. Menschliche Fußstapfen [geschätzte Größe 44] strebten diesen Platz an, um dann neben den Eindrücken der Hufe dem Stall zuzustreben, wo sie verschwanden. Das Pferd war jetzt eindeutig Schritt gegangen.
Ich sagte: »Ganz klar; irgendjemand hat es am Halfter genommen und beruhigt, indem er es ein paarmal im Kreise herumführte. Dann verbrachte er den Hengst drüben auf den betonierten Hof.«
Wir folgten der gewundenen doppelten Spur, bis wir vor dem offen stehenden Tor des Reitstalls gelangten. Einer der Knechte hatte uns gewahrt, brach hervor und giftete: »Was habt ihr hier zu suchen? Das ist Privatgelände. Muss ich erst den Köter loslassen, bis ihr verschwindet, neugieriges Pack? Was gibt‘s hier zu schnüffeln?«
»Ich benötige nur eine kleine Auskunft; dann gehen wir. Ist Signore Galoppi schon auf den Beinen, wenn wir morgen früh um sechs Uhr dreißig hier wieder erscheinen? Ich habe dann einige Fragen an ihn.«
Volpe schob ihm zehn Euro zu, die er eilig in der Brusttasche seines blauen Overalls verschwinden ließ. Schwer auf die Heugabel gestützt, sagte er dann gedehnt: »Ja, jeden Morgen gegen sechs erscheint er hier im Stall. Er kommt als Erster und geht als Letzter, so ist er. Aber wenn Sie Fragen an ihn haben, können Sie sie jetzt gleich stellen, denn da kommt er.«
In diesem Augenblick brach ein schlanker Mann in Reitzeug, die Gerte in der Hand, aus dem Stall hervor. Als Ersatz für die auf dem Schädel fehlenden Haare trug er Vollbart. Sein Gesicht hatte den typischen Wutausdruck von Menschen, denen man nicht gerne bei Mondschein begegnet.
Er brüllte: »Wie lange wollen Sie denn noch das Arbeiterdenkmal bilden, Federico? Auf, ans Werk! Die Boxen wollen ausgemistet werden. Oder soll ich Ihnen Beine machen? Faulenzer!«
Signore Federico Renzo machte sich murrend aus dem Staub, während Galoppi nun uns beiden seine Aufmerksamkeit widmete: »In drei Teufels Namen, was haben Sie hier verloren, Signori? Wer sind Sie überhaupt, dass Sie es wagen ...«
»Ich bin Giuseppe Tartini aus Venezia, und das da ist mein Assistent Dr. Sergiu Petrescu. Nur ein paar wenige Worte möchte ich mit Ihnen wechseln, Signore Galoppi«, sagte Volpe äußerst gelassen.
»Auch das noch, der venezianische Schnüffler! Leute Ihresgleichen können mich mal kreuzweise. Gehen Sie jetzt freiwillig, oder muss ich den Köter auf Sie hetzen?«
Volpe kicherte und log: »Sergiu hat seinen kleinen Ballermann dabei. Er gilt als vortrefflicher Schütze. So haben Sie doch Erbarmen mit Ihrem Bello!«
»Glauben Sie etwa, Sie könnten mich einschüchtern?«
»Das habe ich nicht im Mindesten vor, Signore Galoppi«, meinte Volpe freundlich, »aber ich halte es für besser, wenn wir den Fall Il Pascolo Primo in Ihrer guten Stube statt hier draußen vor aller Augen und Ohren erörtern. Ich denke, auf diese Weise könnten wir uns einer einvernehmlichen Lösung nähern.«
Signore Galoppi vergaß sich; er schrie: »Damit habe ich nicht das Geringste zu tun.«
»Also doch«, erwiderte Volpe schmunzelnd, »und ich halte mein Gesprächsangebot aufrecht.«
»Na schön, dann kommen Sie halt rein«, sagte der Brummbär, »aber Ihr Kumpel muss draußen bleiben; einverstanden?«
»Einverstanden«, sagte Volpe und dann zu mir: »Es wird nur wenige Minuten dauern. Wenn du dich solange gedulden könntest, Sergiu?«
Notgedrungen nickte ich, und beide verschwanden in backsteinernen Gutshaus, einem wohl hundert Jahre alten Bau. Eine Viertelstunde muss es gedauert haben, während der ich im Hof auf und ab ging, den würzigen Geruch von Pferd und Heu in der Nase, während ich das melodisch aufbrausende Wiehern der Rösser genoss. Ach, wie liebe ich doch diese göttliche Kreatur, von der die Araber sagen, Allah persönlich hätte sie als Kind des Windes geschaffen.
Scusa, lettore carissimo! Entusiasmo mio è grandissimo. Ja, wenn ich eine volle Stunde in scharfem Trab und Galopp hinter mir habe, und jetzt Ross und Reiter im Schweiße stehen, dann steige ich ab, nehme meinem Freund den Sattel vom dampfenden Rücken, nachdem ich sein Mäulchen von der Trense befreit habe, rubbele ihn mit Stroh ab oder verwende notfalls das Schweißmesser dazu, und falle ihm nun um seinen breiten muskulösen Hals, damit seine Glut in meine Brust übergehen kann, während er mir den langen Kopf über die Schulter legt, um mit mir zu schmusen und sanft an mir zu knabbern.
Das rauschhafte Glück und diese alles überwältigende Liebe, welche mich dabei durchdringen, sind unbeschreiblich und lassen mich alles Leid des Lebens vergessen, denn es ist ein Teil der ewigen Seligkeit; doch genug damit! Lettore caro, versuche es selber, und du wirst mir danken.
Als Volpe in Begleitung von Signore Galoppi wieder auf der Bildfläche erschien, hatte sich das Blatt gewendet. Der eben noch so anmaßende Gestütsinhaber war wie verwandelt. Wie ein dummer Schuljunge trottete er neben Giuseppe her. Mag sein, dass das gelbliche Licht, das der Himmel noch spendete, dazu beitrug, aber auf mich wirkte er bleich und fahrig. Auf seiner Stirnglatze glitzerten tausend Schweißperlen. Die Hände zitterten und zuckten wie nervöse Vogelspinnen, während Volpe siegesgewiss und aufrecht wie eine Tanne über den Hof schlenderte. Kurz suchten sie noch die Stallung auf. Dann erschienen sie wieder.
Signore Galoppi murmelte mit wahrer Grabesstimme: »Alles soll so geschehen, wie Sie es angeordnet haben, verehrter Signore Tartini, und selbstverständlich sende ich Ihnen ein volles Dutzend Fotos meines Anwesens zu, damit Sie mir ein prächtiges Ölgemälde davon anfertigen können. Über den Preis und auch sonst alles andere sind wir uns ja vollkommen einig. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Befolgen Sie meine Anweisungen minutiös, dann findet die Chose noch ein glückliches Ende. Wenn es durch Ihre Schuld schiefgeht, tragen Sie sämtliche Konsequenzen.«
Der Chef des Reitstalls war um seine Lage nicht zu beneiden. Unter Giuseppes Drohungen schien er fast zusammenzubrechen. Dienstbeflissen flüsterte er: »Ich schwöre, er wird in Bestform zur Stelle sein. Soll ich ihn, bevor er auftritt, noch, äh, umziehen, wenn ich das so sagen darf?«
»Um Gottes Willen, nein! Belassen Sie ihn in seiner augenblicklichen Kluft. Hihihi! Sie steht ihm wirklich gut.«
»Ganz, wie Sie wünschen, Signore.«
»Und vergessen Sie nicht! Sie haben den jungen Mann genau so gut zu behandeln, als wäre er ihr eigener Sohn.«
»Das ist doch selbstverständlich.«
»Gut, schön! Ich bin im Besitz Ihrer Karte. Sie hören morgen wieder von mir und erhalten Ihre Instruktionen. Arrivederci.«
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7. Teil: Gedanken und Worte auf dem Rückweg
Volpe drehte dem wie erstarrt stehengebliebenen Mann den Rücken und wandte sich endlich einmal mir zu: »Scusa, Sergiu, dass ich dich so lange habe warten lassen! Aber ich konnte die Zwischenzeit nutzen, den Dingen ihre erforderliche Richtung zu geben. Jetzt wollen wir uns aber in aller Eile zurück zum Pascolo Vecchio dei Cavalli und damit zu deiner entzückenden und reizenden Freundin Graziella begeben. Die Nacht bricht schon herein, und wir müssen noch an der gruseligen Gruft der Grafen vorübergehen, um heil das Gutshaus zu erreichen. Mir wird die Besitzerin das wunderschöne Gästezimmer anweisen, während du armer Schluffen dich mit ihrem spartanisch eingerichteten Schlafgemach zufriedengeben musst, hihihi.«
Ich hielt lieber die Klappe und erwiderte nichts, auch wenn es mir schwerfiel. Wir machten uns auf den Weg und ließen Signore Galoppi einfach auf seinem betonierten Hof stehen. Nachdem wir den Schlammplatz überwunden hatten, fragte ich Volpe: »Und was hast du bei diesem feigen Grobian wollen? Selten einen weniger sympathischen Kerl gesehen! Hat er sich das gesuchte Pferd etwa unter den Nagel gerissen?«
»Wer weiß, mein Lieber, wer weiß? Jedenfalls tischte er mir die verrücktesten Ausreden auf. Aber als ich ihm sein Vorgehen dergestalt exakt beschrieb, als wäre ich Augenzeuge seines Handelns gewesen, gab er klein bei. Er konnte gar nicht leugnen, dass es die Abdrücke seiner Stiefel waren, die neben der Spur des Rosses mit nur drei Hufeisen einher ging. Als ich ihm auch noch das verlorene Eisen zeigte, war es endgültig um seine Fassung geschehen.
Ich berichtete ihm, als wäre ich dabei gewesen, wie der Hengst zunächst über die Heide galoppierte, dann den schlammigen Übungsplatz erreichte und dort in Trab und Schritt überging. Signore Galoppi habe daraufhin eilends seinen Hof verlassen, um das fremde Ross einzufangen, soweit alles ganz normal. Auch du alter Pferdenarr hättest nicht anders gehandelt.
Doch dann habe er begriffen, dass er seinen größten Konkurrenten am Halfter hielt und in seiner Gewalt hatte, auf den jede Menge Wetten liefen und sah die Chancen seines eigenen Rennpferdes tüchtig steigen. Kurze Zeit nur habe er gezögert und es in Erwägung gezogen, Pascolo Primo zurück in den benachbarten Stall zu führen, dann aber ...«
»Aha«, sagte ich, »dann beschloss der Schuft, das Ross in seinem Stall zu verstecken, bis das große Rennen vorüber sei.«
»Genau das sagte ich ihm auf den Kopf zu. Er konnte die Tatsachen nicht bestreiten und dachte jetzt nur noch daran, wie er ungeschoren aus der Chose herauskommen könnte.«
»Aber da bleibt immer noch ein kleines Problem: Der Commissario kam unangemeldet und überfallartig auf den Reiterhof Casa Grande dei Cavalli und begab sich sofort in die Stallungen. Vom gesuchten Pferd war aber nichts zu sehen. Wo hat ihn Galoppi versteckt? Hast du das nicht herausgefunden?«
»Ich wusste von vorn herein, wo Pascolo Primo stand.«
»Was du nicht sagst!«
»Im Stall da drüben naturgemäß! Ich war vor wenigen Minuten an seiner Box und habe ihm ein Leckerli ins Mäulchen schieben dürfen, das mir Galoppi gnädig überlassen hatte. Als ich ihn klopfte und streichelte, wieherte er leise, als wäre ich sein bester Freund. Ich habe ihn auf Anhieb erkannt; ein Prachtbursche.
Unser bärtiger Freund führte Pascolo Primo dann auf die Stallgasse. Ich untersuchte seine Hinterbeine unmittelbar oberhalb der Hufe und wurde fündig: Über dem rechten findet sich ein winziger Schnitt, der zwar die Haut durchtrennt, aber die Sehne dahinter unverletzt lässt.«
»Dann war Commissario Amarici auf dem linken Auge blind und konnte mit dem rechten nichts mehr sehen, wenn er das Ross nicht entdeckt hat«, spottete ich, ohne den Schluss von Volpes Vortrag zu begreifen. Die unbedeutende Verletzung, dachte ich, dürfte sich der Hengst beim ungestümen Galoppieren durchs Gelände zugezogen haben.
Giuseppe aber sagte in meine Gedanken hinein: »Sei doch nicht so voreilig! Eugenio war nur im übertragenen Sinne blind, weil es ihm an Empathie fehlte. Hätte er sich nur einen Augenblick lang in Signore Galoppi und dessen Gedanken eingeklinkt, wäre der Hengst längst wieder bei Graziella. Er hätte das auch ohne unsere Hilfe hinkriegen müssen.«
»Gut, schön«, maulte ich, »Signore Galoppi hat das Pferd also in irgendeiner Weise getarnt, so dass es Eugenio nicht erkannte, das ist jetzt sogar einem Ochsen wie mir klar geworden. Doch dann verstehe ich nicht, warum du das kostbare Tier in seinen Händen zurücklässt, statt dich auf der Stelle mit dem Commissario in Verbindung zu setzen und von Graziella den, äh, Finderlohn einzustreichen. Musst du nicht befürchten, dass Marcantonio es jetzt auf andere Weise außer Gefecht setzt?«
»Ich habe meine Gründe. Insbesondere kann ich deiner Freundin nicht vergeben, wie sie vorhin über mich gespottet hat, ganz so, als wäre ich auf den Kopf gefallen. Was aber Signore Galoppi anbetrifft, so wird er unseren Hengst wie seinen Augapfel hüten und ihn trainieren, als ob er sein eigener Favorit wäre und Sein oder Nichtsein von seinem Sieg abhinge.«
»Auf mich hat der Kerl keinen angenehmen Eindruck gemacht.«
»Ich bin ganz deiner Meinung, aber darum geht es nicht. Er steckt in der Klemme. Ein Wort von mir, und die Carabinieri kommen, um ihn einzubuchten. Das weiß er ganz genau und kann sich glücklich preisen, dass ich als schlichter Privatmann nicht verpflichtet bin, ihn anzuzeigen, solange er nach unserer Pfeife tanzt; und das wird er! Alles geht gut, wenn du nur schweigst.«
»Du kannst dich auf mich verlassen. Doch das löst noch lange nicht die Frage, wer Antonella hinmordete. Das aber ist aber die Hauptsache; wo das Ross steckt, ist nicht so wichtig. Dem willst du jetzt, wie ich dich kenne, nachgehen.«
»Auf gar keinen Fall! Unsere Arbeit ist getan. Morgen kehren wir ins schöne Venedig zurück. Verbringe du die Nacht in den zarten Armen deiner Freundin und lüge ihr vor, unsere Untersuchungen seien wie das Hornberger Schießen ausgegangen, während ich mich im Besucherzimmer langweile. Nach dem Frühstück werden wir uns dann in aller Ruhe nach Hause begeben, begleitet von Spott, Hohn und Häme deiner Geliebten.«
»Bist du verrückt geworden?«, fauchte ich. »Du willst eine Untersuchung, die bereits so weit gediehen ist, einfach sausen lassen?«
Volpe nickte nur und widmete mir ein sardonisches Grinsen, während wir bereits die Umrisse des Gutshauses im aufkommenden Nebel erblickten. Kein Sterbenswörtchen konnte ich mehr aus ihm herausbringen. Er war nicht mehr ansprechbar und zündete sich den zweiten Zigarillo des Monats an.
Als wir im matten Schein der Laterne vor der Haustür ankamen, nahmen uns Graziella und Commissario Amarici in Empfang. Volpe sagte förmlich, den Glimmstängel in der Hand: »Signora Ghiotti cara, Sie haben uns freundlicherweise ein Nachtquartier angeboten. Da es spät geworden ist, nehmen wir Ihr Angebot mit Freuden an. Nach der Colazione (Frühstück) freilich dürfen wir uns empfehlen. In Venedig warten wichtigere Dinge auf uns. Es hat einen Überfall auf den Museo Correr gegeben. Gerne überlassen wir die Lösung Ihres Falles Signore Amarici. Er ist bei ihm in den besten Händen.«
»Ihr kommt also unverrichteter Dinge zurück und gebt den Mordfall aus den Händen?«, rief Eugenio mit spöttischem Auflachen.
»Leider ist es so«, sagte Volpe, »immerhin hat uns beiden die frische Luft des Berglandes gut getan. Aber dennoch darf ich darauf hoffen, ja, erwarten, dass der verschwundene Hengst in einer Woche an den Start gehen wird. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler, seine Nominierung zu stornieren. Es gibt da Dinge, die ich von meinem Büro aus besser managen kann. Nur eines noch: Lasst mich ein paar Worte mit dem jungen Pärchen wechseln, das hier einen Teil der Stallarbeit übernommen hat.«
»Sie befinden sich drüben am Ausmisten der Boxen«, sagte Graziella unter hellem Kichern und zog die Mundwinkel herunter.
Volpe ging seiner Wege und ließ mich beim Commissario und meiner Süßen zurück, die mir jetzt um den Hals fiel, um mich abzuküssen. Der Südwind hatte aufgelebt und warme Mittelmeerluft in die Alpen geweht.
Graziella lief barfuß im winzigsten Höschen und trägerlosen bauchfreien Bustier daher und ließ mich vergessen, dass sie um viele Jahre älter als ich war. Das matte Licht tat sein Übriges, sie nicht älter als dreißig erscheinen zu lassen, auch wenn sie stramm auf die Sechzig zuging. Einzig ihr nur streichholzlanges Haar war nicht ganz nach meinem Geschmack. Sollten wir wider Erwarten heiraten, müsste sie es wachsen lassen.
Indem meine Blicke nun begehrlich über die Blöße meiner Süßen schweiften, konnte ich das, was da kommen sollte, kaum noch erwarten, so kribbelig war ich schon, während der junge Eugenio, der von soviel Weiblichkeit unberührt schien, die Mundwinkel herabzog, sich eine Zigarette zwischen die Zähne klemmte, anzündete, eine Rauchwolke ausstieß und dann mürrisch murmelte: »So hätte ich mir die Zusammenarbeit mit dem berühmten Kollegen aus Venezia nicht vorgestellt. Kaum einen einzigen Zentimeter weiter bin ich durch seine gnädige Mitarbeit gekommen. Verlassen ist, wer sich verlässt.«
»Aber er sagte Ihnen doch, dass Pascolo Primo an den Start gehen werde. Ist das denn nichts?«, wandte ich ein.
»Leere Worte! Wo steckt das Ross?«
»Keine Ahnung«, erwiderte ich verlogen und legte mir weitere Worte zurecht, um Volpe in Schutz zu nehmen, aber da kehrte mein Freund bereits aus den Stallungen zurück.
»Was wolltest du von Elena und Bernardo wissen?«
»Ich erkundigte mich nach den Ziegen, die hier in der Gegend eingesetzt werden, um die Verbuschung des Graslandes zu verhindern. Sie fressen sogar Disteln ab, und kein Schössling ist vor ihren scharfen Zähnen sicher.«
Der Commissario tippte sich vollkommen ungeniert an die Stirn, und Graziella quiekte vor Lachen.
»Was haben die beiden gesagt?«, fragte ich, um meinem Freund aus der Bredouille zu helfen.
»Nichts Besonderes«, sagte Volpe, dem der Zorn das Gesicht gerötet hatte, »aber sie konnten mir immerhin über die Ziegenherde Auskunft erteilen, die zurzeit hier in der Nähe grast. Es handele sich um sieben zutrauliche Tiere, darunter ein bunter Bock. Zwei der Ziegen, so Bernardo, zögen ein Hinterbein hinter sich her. Das war alles, was ich erfahren konnte und kam keineswegs überraschend. Eugenio, caro mio! Darf ich deine Aufmerksamkeit auf diese Ziegenkrankheit richten?«
»Ich bin doch kein Bauer. Glaubst du etwa allen Ernstes, das es für diesen Mordfall hier von Bedeutung ist?«, fragte der Commissario ungläubig und grinste über beide Backen.
»In gewisser Hinsicht schon«, meinte Volpe und gähnte herzhaft, ohne sich die Hand vorzuhalten, »doch das wäre noch näher zu untersuchen. Hast du dich schon mit dem Verhalten des Dobermanns beschäftigt?«
»Auch da gibt es nichts Besonderes. Er lag in seiner Hütte und schlief, als sich das Drama abspielte. Hunde pennen bis zu sechzehn Stunden am Tag«, sagte Eugenio altklug.
»Merkwürdig, trotzdem höchst merkwürdig«, sagte Volpe, schüttelte Eugenio zum Abschied die Hand und ließ sich dann von Graziella die Schlafkammer zeigen, einen kleinen feinen Raum mit Nasszelle. Er stellte die schmutzig gewordenen Stiefel auf den Korridor, in der berechtigten Hoffnung, das Hausmädchen, welches ihm soeben augenzwinkernd einen abendlichen Imbiss auftischte, werde sie ihm schon putzen.
Dann zog er sich dann in sein Zimmer zurück und schlug die Tür hinter sich ins Schloss, während Graziella mich mit Feuereifer in ihr Gemach zerrte, wo mich neben frisch zubereitetem Toaste Hawaii und zwei Flaschen süßen sizilianischen Weines aus der Acireale eine heiße Nacht erwarteten. Das Erstere war schmackhaft, das Letztere überwältigend. Am Morgen kam der Kater; ce la vie!
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8. Teil: Das Rennen
Eine ereignislose Woche später [den Überfall auf das Museum hatte Ambrosio längst geklärt, so dass Volpe Zeit genug blieb, das zweite Violinkonzert von Paganini zu üben] saßen mein Kumpel und ich im Schnellzug von Venedig über Mestre, Padua und Vicenza nach Verona, wo wir nach dem großen Ereignis auf der Pferderennbahn der prächtigen Römer-Arena einen Besuch abstatten wollten.
Vor dem Bahnhof der traditionsreichen Stadt wartete Graziella in ihrem Daimler bereits auf uns. Sie trug zur Abwechslung ein kurzes Jeanskleid, war farbenfroh geschminkt und duftete betörend nach Nelke. Ihr markanter Schädel mit seinen kurz geschorenen Haaren und den abstehenden Ohren steckte in einer Schirmmütze aus grüner Seide, die niedlichen Füße mit ihren grün lackierten Nägeln in roten Flipflops.
Neben ihr hockte erwartungsvoll und schadenfroh grinsend Commissario Amarici auf dem Beifahrersitz. Mich begrüßte Graziella herzlich. Volpe würdigte sie keines Blickes.
Notgedrungen nahmen wir im Fond des Wagens Platz, und schon brauste meine Flamme mit halsbrecherischer Geschwindigkeit hinaus aus der schönen Stadt und hin zur Rennbahn. Ihr Gesicht verfinsterte sich während der Fahrt immer mehr und strahlte eisige Verachtung für meinen Freund aus. Kurz vor dem Ziel fuhr sie in eine Haltebucht und fauchte: »Tartini, von meinem Pascolo Primo hat man nichts gesehen.«
»Die Hoffnung stirbt zuletzt«, meinte Volpe trocken.
»Wenn sie nicht bereits tot ist«, ergänzte Graziella böse, »und für diesen Blödsinn habe ich das Startgeld berappt. Das stelle ich dir in Rechnung, mein Bester.«
»Nicht so voreilig, schöne Frau«, sagte Volpe, »und dazu noch eine kleine Frage: Würdest du deinen Hengst wiedererkennen?«
»Jetzt leidest du endgültig unter einem Dachschaden, Tartini«, bemerkte Graziella giftig, »ich und mein eigenes Pferd nicht mehr erkennen? Ich, der ich seit über vierzig Jahren mit nichts anderem als Rössern zu tun habe, im Unterschied zu dir Freizeitreiter? Jeder Leser des Reitjournals hat schon Fotos meines Lieblings gesehen und würde ihn mühelos identifizieren.«
»Wie reagieren die Wettbüros?«, fragte ich.
»Ursprünglich ordnete man ihn mit siebzehn zu eins als den großen Favoriten ein; dann sanken die Ziffern unaufhörlich; im Augenblick stehen sie nur noch auf zwei zu eins und sind weiter im Fallen«, sagte Graziella.
»Ganz richtig! Dann ist aber irgendetwas durchgesickert«, meinte Volpe, »und da Sergiu diese Quote während der Bahnfahrt auf dem Tablet ermittelte, hat er rasch zehntausend Euro auf den Sieg des Nichtmehrfavoriten gesetzt.«
»Auf ein verschollenes Pferd zu setzen, das ist der reinste Schwachsinn. Solches Geld kann man in den Schornstein schreiben«, sagte Graziella überheblich und fügte garstig hinzu: »Sergiu, du hast zu viel auf der hohen Kante.«
Schon saßen wir in der für uns reservierten Loge, jeder mit einem Fernrohr ausgestattet, während auf der großen Anzeigetafel die Namen der Hengste eingeblendet wurden. Es erschienen insgesamt acht Teilnehmer; an vierter Stelle ein gewisser Pascolo Primo vom Gestüt Pascolo Vecchio dei Cavalli; Inhaberin Graziella Ghiotti.
Die Nennung dieses Rosses erregt ein Raunen unter den Zuschauern, das bald in wildes Schreien überging. Die Quoten auf den Hengst stiegen jetzt nämlich unaufhaltsam in die Höhe, während acht Rösser mit den darauf kauernden Jockeys in die Bahn geführt wurden.
In den allgemeinen Tumult hinein brüllte Graziella: »Teufel noch einmal! Sie haben mein Pferd genannt, aber es ist nicht dabei. Keiner der acht Hengste ist mein Pascolo Primo.«
»Abwarten, Tee trinken«, meinte Volpe und lehnte sich zurück. Obwohl er den Lässigen mimte, war ihm die Anspannung dennoch anzusehen, denn jetzt wurde das Pferd, dessen Jockey die Farben von Graziellas Stall trug, tief unten vor uns vorübergeführt, ein prächtiger gewaltiger einfarbiger Fuchs, ein wahrer Riese von Pferd.
»Mein Pascolo Primo ist ein Braunschecke«, seufzte Graziella andächtig, »aber dieses Ross da unten, das sehe ich sofort, ist ein Rennpferd der Sonderklasse. Volpe, wie konntest du diesen Burschen da nur unter meinem Namen laufen lassen?«
»Ist doch gleichgültig. Hauptsache, er gewinnt«, sagte Volpe kurz angebunden und klemmte sich den Feldstecher vor die Augen, denn schon wurde das Rennen gestartet, und alles schaute gespannt und wie gebannt auf den grünen Rasen der Rennbahn hinunter.
Die gesamte Kavalkade raste dicht an dicht voran, ohne dass es einem der Rösser oder Reiter gelingen wollte, sich vom Pulk abzusetzen. Erst in der Schlussgeraden schlüpfte der riesige Fuchs an seinen Rivalen vorbei und entschied das Rennen mit der Länge des geradezu waagerecht nach vorne gestreckten halben Kopfes für sich. Der Hengst des Signore Galoppi belegte knapp geschlagen den zweiten Platz. Graziella sprang in die Höhe und jubelte so frenetisch, als hätte ihr eigenes Ross den Sieg nach Hause gebracht.
»Lasst uns hinübergehen und der Siegerehrung aus der Nähe beiwohnen«, meinte Volpe, »denn dank Graziella dürften wir doch wohl unmittelbaren Zutritt haben.«
Sie nickte gnädig. Wir erhoben uns und stapften zur genannten Stelle hinüber. Der Fuchs stand da, einen Kranz aus Eichenlaub um seinen Hals. Der Jockey war abgestiegen und hielt den Hengst. Als Graziella sich näherte, verbeugte er sich und überreichte ihr die Zügel. Das Pferd schnupperte an ihrem Gesicht, wieherte leise und lehnte seine Ganaschen an ihre Wange, während das Publikum begeistert applaudierte.
»Giuseppe«, flüsterte sie mit belegter Stimme und vor Rührung fast stumm, »ein Wunder ist geschehen. Dies da ist zweifellos mein geliebter Pascolo Primo, auch wenn er sich vom Braunschecken in einen Fuchs verwandelt hat.«
»Du brauchst ihn nur unter die warme Dusche zu stellen und eifrig mit dem Schweißmesser abziehen, dann wird die rote Soße über den Boden fließen und der hübsche Junge in alter Schönheit wieder auferstehen.«
»Das werde ich tun«, sagte Graziella, »aber du bist mir noch eine Erklärung schuldig, mein Lieber, so dankbar ich dir auch bin.«
»Ich entdeckte ihn irgendwo bei der Konkurrenz in exakt der Verkleidung, in der wir ihn hier sehen. Da nahm ich mir die Freiheit, die Maskerade bis zum heutigen Tag beizubehalten.«
»Wer war der gottverdammte Schuft? Ich werde ihn anzeigen«, sagte Eugenio bissig.
»Seinen Namen zu nennen, verbietet die Ganovenehre. Alle Formalitäten des Rennens hat Giovanni für uns geregelt«, erwiderte Volpe grinsend, »aber es gibt auch für dich keinen Grund mehr, ihn einzubuchten, denn er hat das Ross in Bestform präsentiert und für dich den Sieg herausgeholt. Was wollen wir mehr?«
»Da hast du auch wieder recht«, meinte der Commissario, »denn zu mehr als einer Anzeige wegen groben Unfugs dürfte es nicht reichen, und die wäre ja auch gegen dich gerichtet, Giuseppe.«
»Weißt du was, Eugenio«, sagte nunmehr ich, »da es mir aufgrund dieses groben Unfugs gelungen ist, das Vielfache meines Wetteinsatzes herauszuholen, werde ich eurer Freud- und Leidkasse glatte Zehntausend spenden.«
»Das wäre schön! Signori, ihr könnt euch ja gar nicht vorstellen, wie knauserig Vater Staat mit uns umgeht.«
»Außerdem muss Graziella zehntausend Euro Finderlohn an Volpe zahlen, wie vertraglich vereinbart«, fügte ich stolz hinzu, »aber die hat‘s ja, seit ihr Ross gewonnen hat.«
»He, ihr Herren! Ich bin auch noch da. Natürlich erhält Volpe die ausgemachte Prämie. Aber es war dennoch eine Unverschämtheit, mich derart auf die Folter zu spannen. Tartini, warum hast du mir das angetan, diese schlaflosen Nächte?«
»Auch wir haben unsere Ehre im Leib«, erwiderte Volpe und grinste frech dazu, »denn als ich mich mit Freund Sergiu auf den Abendspaziergang über die wunderschöne Heide begab, rief mir eine gewisse Donna in höchst unverschämter Weise folgendes hinterher, wenn ich es wörtlich zitieren darf: Tartini, leider hast du uns der Lösung des Problems keinen einzigen Schritt näher gebracht. Erlaube, dass ich maßlos enttäuscht bin. Für die ausgesetzte Belohnung von zehntausend Euro hätte ich ein Bisschen mehr von dir erwartet.«
»Schluss mit den gegenseitigen Komplimenten«, maulte der Commissario, »denn von Berufs wegen interessiert mich der wunderbarerweise wieder aufgetauchte Gaul nicht mehr die Bohne. Er ist wieder da und Schluss. Mein Chef erwartet aber, dass ich endlich den Mörder ans Messer liefere, doch in dieser Frage tappe ich nach wie vor im Dunklen. Vielleicht kannst du auch mir ein wenig unter die Arme greifen, Giuseppe?«
»Gerne; ich habe ihn längst überführt.«
»Aha, ein Mann also. Wer ist es? Wo ist er?«
»In unserer unmittelbaren Nähe.«
»Bist du wahnsinnig geworden. Ich soll Antonella umgebracht haben? Das geht zu weit. Das ist eine Frechheit. Das zahle ich dir heim, du Schurke«, fauchte und zischte Graziella erbost.
»Also gut«, sagte Volpe kichernd und klopfte den Hengst genüsslich am Hals, »wenn du es nicht warst und weder Eugenio noch wir beiden es gewesen sein konnten, wer kommt dann alleine in Frage?«
»Il Pascolo Primo? Unmöglich!«, schrie Graziella verblüfft.
»Doch, doch«, sagte Volpe, »er ist der Täter, auch wenn man ihm die Tat nicht anrechnen kann. Mit Details werde ich morgen Abend dienen. Ihr alle seid bei mir zur Cena eingeladen. Giovanni wird sein Bestes geben, und meine beiden Gästezimmer stehen euch zur Verfügung. Doch jetzt möchte ich in unsere Loge zurückkehren, um mir das nächste Rennen anzuschauen. Ich habe auf Il Vento gesetzt; wollen mal sehen, ob etwas dabei herausspringt.«
»Ich will dein Angebot gerne annehmen, und Reisende soll man nicht aufhalten«, murmelte der Commissario, »aber wie ich vernahm, hast du nur zwei Gästezimmer eingerichtet. Wir sind aber unserer drei. Wie soll das gehen?«
»In diesem Falle«, erwiderte Volpe kichernd, »müssten sich Graziella und Sergiu eben ein und dasselbe Gemach teilen.«
»Wenn es denn unbedingt sein muss«, seufzte mein Mädchen und nahm mich liebevoll in die Arme.
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9. Teil: Cena bei Volpe
Eine Kaltfront war mit Urgewalt übers Land gezogen. Volpe hatte das berühmte Hufeisen über seiner Haustür angebracht, den gebogenen Teil nach unten gerichtet, da nur so das Glück hineinfallen könne. Giovanni hatte vorsorglich den Kamin eingeheizt, damit der geladenen Gesellschaft nach der Cena ein gemütlicher späterer Abend zuteil werden könnte.
Nachdem wir seine Kochkünste ausgiebig gewürdigt hatten, zogen wir uns ins Kaminzimmer zurück, wo drei bequeme Korbsessel im Halbkreis um einen runden Tisch mit Glasplatte vor den knisternden Holzscheiten gruppiert waren. Seltsamerweise stand ein vierter herrenlos in der hinteren Ecke des Raumes.
Volpe saß links von mir. Graziella hatte auf meinem Schoß Platz genommen. Eugenio nahm den rechten Sessel ein. Vor uns auf der standen zwei Halbliter-Gläser, sowie in ihrer Mitte ein Trinkstiefel, allesamt in einer 1: 3 Mischung von Lambrusco und San Benedetto gefüllt. Die Spannung stieg. Nachdem wir einander zugeprostet hatten, nahm Volpe das Wort.
»Signori! Aufgrund der Berichte, die ich vom ominösen Ereignis erhielt, legte ich mir einen Wust von Theorien zurecht, die mich aber allesamt in die Sackgasse führten. Es gab eine verführerische Menge von widersprüchlichen Anhaltspunkten und Aussagen.
Mein erster Gedanke war freilich, Sofia Schicchi müsse die Mörderin sein, denn so gut wie alles sprach gegen sie, aber die Indizien reichten bekanntlich keineswegs für eine Verhaftung aus. Immerhin hat die hübsche Dame bestritten, den jungen Bernardo verführt zu haben. Vermutlich war sie es aber, die ihn durch ein Narkotikum außer Gefecht setzte. Ich sage, vermutlich! Es dürfte also unmöglich sein, ihr das Gegenteil nachzuweisen.
Auf ähnliche Weise könnte sie den Hund zum Schweigen gebracht haben. Ihr erinnert euch vielleicht noch daran, dass ich auch nach dem Dobermann fragte. Alles lief darauf hinaus, absolute Stille in der Gegend zu erzeugen, denn der Köter hätte mit Sicherheit gebellt, als irgendjemand das Pferd aus der Box holte und in die Heide hinein führte. Daher sollte es jemand gewesen sein, den der Hund kannte. Er gilt als bissig und hätte unsere Sofia nie im Leben an sich herangelassen.«
»Also war‘s Antonella«, sagte ich dazwischen.
»Niemand sonst kommt dafür in Betracht.«
»Und dann hat sie den Hengst aus der Box geholt, in der absoluten Stille der Nacht.«
»Genau das. Unser Pascolo Primo ist nichts für Laien, zu temperamentvoll. Sofia gibt zu, mit Pferden keine Erfahrung zu haben.«
»Verstehe«, sagte Eugenio, »Sofia wollte das Ross entführen und brauchte dazu einen Komplizen, vermutlich Antonella.«
»So ähnlich jedenfalls«, erwiderte Volpe, »und Antonella sollte den Hengst auf die Heide führen, unmittelbar an der Gruft vorbei, um ihn nach dem geplanten Eingriff wieder im Stall unterzubringen. Graziella und Elena lagen im Schlaf der Gerechten und Bernardo schnarchte, nachdem er das angebliche Liebesabenteuer überstanden hatte, hihihi.
Wäre alles nach Plan gegangen, hätte niemand etwas von diesen nächtlichen Eskapaden mitbekommen, aber die Folgen wären am nächsten Tag spürbar gewesen, nicht wahr?«
»Genau so ist es«, sagte ich eifrig, »aber dann kam es ja zum Mord, und der Hengst suchte das Weite ...«
»... und ebenso Signorina Sofia«, ergänzte Eugenio.
»Lieber Giuseppe«, flötete Graziella giftig, »du willst uns allen Ernstes weismachen, Antonella hätte nichts als einen nächtlichen Spaziergang samt Pascolo Primo unternehmen wollen, als es sie erwischte und sie totgeschlagen wurde. So ein Quatsch! Hast du noch alle Tassen im Schrank?«
»Nun«, sagte Volpe, während der Butler unsere Becher wieder auffüllte, einen vierten hinzufügte und den leeren Sessel vor den Kamin schob, links von Giuseppe, »zu jeder Fernsehshow gehört der Überraschungsgast. Giovanni, hättest du die Güte, ihn herein zu geleiten?«
Es dauerte keine Minute, da kehrte er mit einer Dame am Arm zurück. Mir verschlug es den Atem. Sie war um die 1,80 m groß gewachsen, steckte in einem raffinierten knielangen rosa Schlauchkleid, des jeden Zentimeter ihrer Figur betonte, schüttelte das dunkelblonde Haar im Nacken, so dass es ihr über die Schultern fiel, war dezent geschminkt und blickte uns trotzig an. Eine durchaus schöne Frau, aber schon in der Mitte des Lebens, wie die vielen feinen Fältchen in ihrem regelmäßigen Gesicht verrieten, keineswegs so jung, wie ich gedacht und gehört hatte, eine rechte Schlange, ganz das, was mich am Weib fasziniert.
Der Commissario schien sie zu kennen. Um Graziella und mich ins Benehmen zu setzen, sagte Volpe: »Signori, darf ich vorstellen? Dieses niedliche Mädchen ist Signora Sofia Schicchi aus Napoli, meine neueste Freundin.«
»Die vermeintliche Mörderin«, knurrte Graziella neidisch.
»Wie auch immer«, sagte Volpe, »ich habe sie eingeladen, um die Dinge, die ich ihr auf den Kopf zusagte, als ich mit ihr im Albergo Tre Croci telefonierte, mit eigenen Worten zu berichten. Bitte, keine Vorurteile! Der Gast ist heilig. Lasst uns zuerst einen guten Schluck auf Sofias Ankunft tun!«
Sofia sagte mit einem betörenden Opernsopran: »Buona Sera, Signori«, ließ sich aufseufzend in ihren Sessel fallen, wobei der Saum des Kleidchens aufwärts rutschte, streckte die wohlgeformten Schenkel dem Feuer entgegen, nahm Volpes linke Hand mit ihrer filigranen Rechten und hob mit der Linken des Glas; eine Linkshänderin also. Feierlich prosteten wir einander zu; dann nahm sie das Wort.
»Signori, ich will ein offenes Geständnis ablegen. Ich wurde in ein Syndikat hineingeboren, das sich unter anderem mit gezinkten Pferdewetten befasst. In diesem Zusammenhang schickte man mich, ob ich wollte oder nicht, nach Cortina, um den favorisierten Hengst Pascolo Primo außer Gefecht zu setzen. Mein Weg zum Erfolg führte naturgemäß über die Trainerin, über Antonella Muffo, von der meine Leute herausgefunden hatten, dass sie knapp bei Kasse sei. Nachdem wir uns im Albergo Tre Croci getroffen und kennengelernt hatten, bot ich ihr fünftausend Euro an, wenn sie den Hengst manipulierte.
Es taten sich da aber zwei Schwierigkeiten auf: Es gab zu viele Personen auf dem Reiterhof, die etwas hätten bemerken können, und dem Pferd durfte man den Eingriff nicht ansehen. Antonella bat sich ein paar Tage Bedenkzeit aus. In dieser Zeit, so sagte sie mir am vierten Tag, experimentierte sie mit den Schafen, die sich auf der Heide herumtrieben. Nachdem zwei von ihnen lahmten, war sie entschlossen, mein Angebot anzunehmen und dasselbe Experiment mit dem Hengst durchzuführen.«
»Nicht wahr, sie ritzte den Schafen mit dem uns bekannten Messerchen irgendeine Sehne an, um zu sehen, wie das wirkte?«, sagte Eugenio in einem plötzlichen Geistesblitz.
»Genau so war es«, sagte Sofia, »und nachdem das Experiment geglückt war, galt es, die Chose am Hengst zu wiederholen. Dazu war absolute Stille im Reiterhof vonnöten. Der Dobermann schlief ein, nachdem er eine präparierte Wurst verschlungen hatte, die ihm Antonella reichte. Gut so. Schon war es Mitternacht, als wir uns daran machten, Pascolo Primo aus der Box zu holen, aber da kam Bernardo in die Quere. Ob er etwas ahnte? Jedenfalls war er stockbetrunken und konnte sich kaum auf den Beinen halte. Ich sagte, ich sei hier die neueste Reitlehrerin, und er glaubte es mir. Es war die reinste Kleinigkeit, ihn kirre zu kriegen.«
»Aha, so so«, fauchte ich und spielte den Moralapostel, »und darum haben Sie es mit ihm im Stroh der Box getrieben.«
»Aber keineswegs! Ich doch nicht! Wenn er das sagt, lügt er, der alte Angeber, denn ich ... brächte sowas gar nicht über mich. Ich bin keineswegs das, was Sie von mir halten, Dottore, nein, eher das genaue Gegenteil. Es war nämlich ganz leicht, ihm das Narkotikum in den Wein zu schütten. Meiner kaum entwickelten Verführungskünste bedurfte es überhaupt nicht.«
Sofia war jetzt puterrot angelaufen. Wollte sie damit sagen, dass sie zu der Sorte Frauen gehörte, die mit Männern nichts am Hut haben? Oder war sie nur eine, die nicht so leicht zu haben ist?
»Berichte bitte weiter, Sofia«, sagte Volpe, »und lass dir von Sergiu, dem alten Schwerenöter, nicht den Schneid abkaufen.«
Sofia steckte die Nase tief ins Glas und fuhr dann fort: »Nachdem Hund und Signore schliefen, führte Antonella den Hengst in meiner Begleitung hinaus in die Nacht. Das üble Wetter unterstützte unser Vorhaben. Als wir ein Stück weit hinter der Gruft eine flache Mulde erreicht hatten, gab sie mir den Strick, der am Halfter des Rosses befestigt war, in die Hände und hieß mich, das Pferd zu halten. Gespannt beobachtete ich, was sie nun tat.
Sie begab sich hinter das Ross, zündete einen Kerzenstummel an, ließ das Streichholz fallen, steckte die Schachtel wieder ein und stellte die Kerze ins Gras. Dann fasste sie dem Hengst unter den linken Hinterhuf, ganz so, als wolle sie ihm den Huf auskratzen. Brav hob er das Bein und ließ den Huf in ihre hohle Hand kugeln. Dann sah ich ein Messerchen in ihrer Rechten blinken, mit dem sie die Haut des Tieres auf der Rückseite des Beines, unmittelbar oberhalb des Hufes ritzte.
Der Hengst musste augenblicklich den Schmerz empfunden haben, denn bevor das Messerchen noch tiefer eindringen konnte, schlug er mit der Schnelligkeit des Blitzes und der Wucht der Dampframme aus und zertrümmerte den Schädel meiner Komplizin voll und ganz. Ohne noch einen Todesschrei auszustoßen, sackte sie stumm in den Schlamm und blieb liegen.
Ich ließ den Strick fahren. Der Hengst galoppierte davon und tauchte in der Dunkelheit unter. Ich beugte mich über sie. Es war noch ein Rest an Leben in ihr. Ihre Hand verkrampfte sich in meinem Kopftuch. Ich ließ es zurück und rannte durch Nacht und Nebel ums Leben. Wie ich den Albergo Tre Croci erreichte, ohne unterwegs vor Grauen zu sterben, das wissen die Götter.«
Sofia schwieg und leerte das Glas. Wir taten es ihr gleich. Giovanni sorgte dafür, dass wir auch jetzt nicht verdursten mussten.
Nachdem Volpe den Gaumen tüchtig befeuchtet hatte, sagte er: »Dein Bericht, Sofia cara, deckt sich Punkt für Punkt mit meinen Ermittlungen. Signori, wir dürfen also jetzt endlich auf einen abgeschlossenen Fall anstoßen. Die Kuh ist vom Eis.«
»Mal halblang, ihr Leute«, murrte Eugenio und setzte sein Glas klirrend auf die Glasplatte, »unsere gewiss bezaubernde Signora Schicchi hat sich meines Erachtens leider strafbar gemacht. Das muss ich als Staatsbeamter feststellen und melden. Sollen oder dürfen wir ihr dieses ungesetzliche Tun etwa durchgehen lassen?«
»Was kannst du ihr denn nachweisen?«, konterte Volpe. »Ja, sie hat sich in der Gegend des Tatorts herumgetrieben, das ist wahr. Aber sie hat dort im Gasthof Tre Croci Urlaub gemacht, und du kannst nicht einmal beweisen, dass sie das Narkotikum für Kerl und Köter besorgte. Vielleicht war es ja auch Antonella. Ob diese von ihr zu einer Straftat animiert wurde oder umgekehrt, lässt sich ebenso wenig beweisen. Geld ist offenbar keines geflossen, noch nicht, oder es war nur Bargeld wie der lachhafte Hundert-Euroschein, was wiederum nicht nachweisbar wäre. Antonella aber, die einzig mögliche Zeugin, kann keine Auskunft mehr erteilen.
Willst du das Mädchen vor Gericht zerren, um sie den Rest des Lebens unter dem zu erwartenden Freispruch zweiter Klasse leiden zu lassen? Viel wichtiger wäre es, sie nach dem Fehlschlag des Unterfangens vor der Rache ihres Klans zu schützen. Ihr habt ja keine Ahnung, welches Leben Sofia hinter sich hat. Mir hat sie es gestanden. Es war die Hölle auf Erden. Sie wurde schon als kleines Kind missbraucht.«
Sofia blickte mit feuchten Augen in die Runde. Volpe streichelte ihr übers Haar und murmelte:
»Wer von uns wird gegen dich aussagen? Ich jedenfalls nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte Graziella.
»Ich schon gar nicht«, rief ich.
»Dann werde auch ich die Sache auf sich beruhen lassen. Wie es wirklich zum, äh, Mord kam, muss ich freilich meinem Vorgesetzten berichten, ohne Sofia zu nennen. Als Unfall werde ich es darstellen, ohne die Geschichte mit dem Messerchen breitzutreten. Ich denke, er wird dann die Akten schließen, denn Antonella ist ja tot; und du, lieber Giuseppe, darfst dann deinen Antrag auf Erhalt der ausgesetzten Belohnung stellen. Der Oberstaatsanwalt hat zweitausend Euro dafür ausgesetzt. Du hast dir die Prämie mit Fug und Recht verdient.«
»Nein, das lehne ich ab«, erwiderte Volpe, »denn ich möchte in diesem Fall mit keinem einzigen Wort erwähnt werden. Sieh zu, junger Kollege, dass du den ganzen Ruhm an deine Fahnen heftest und lasse Sergiu und mich aus dem Spiel.«
»Danke, Giuseppe, vielen Dank!«, rief der Commissario.
»Der Dank ist angenommen. Dann lasst uns nun fröhlich auf unsere Freundschaft anstoßen«, rief Volpe, während Giovanni mit süffisant hochgezogener linker Augenbraue die dritte Lage hereinschleppte und klirrend auf die ums Leben bangende Glasplatte stellte.
Nachdem wir die Becher geleert hatten und ein jeder von uns mindestens einmal zwecks Erleichterung in der Toilette verschwunden war, ja, nachdem es Sofia nicht mehr im eigenen Sessel gehalten hatte und sie jetzt auf Volpes Schoß hockte, um ihn gründlich abzuschlecken, lallte Eugenio mit dickem Knoten in der Zunge: »... und ich ... ich dachte, hier ... hier hätte es nur ... nur zwei Gästezimmer. Was machen ... machen wir da-dann mit So-So-Sofia?«
Unter Aufbieten des Restes an Konzentration radebrechte ich: »M-mein Vo-Vorschlag zur Gü-Güte: Ich de-denke, Volpe kö-könnte sich dieser zu-zuckersüßen Pu-Puppe annehmen und sie in seiner Ka-Kammer über-übernachten la-lassen.«
Das plapperte ich in meiner Gnade und Menschenfreundlichkeit daher, aber nicht ohne hochkochende Neidgefühle, denn das Biest war ganz nach meinem Geschmack ausgefallen.
––––––––
10. Teil: Colazione bei Volpe
Als wir uns am folgenden Tag gegen 10.00 Uhr an den Frühstückstisch schleppten, war Eugenio, nachdem er zu Giovanni gesagt hatte, Dienst sei Dienst und Schnaps sei Schnaps, längst gen Norden abgedampft. Im Unterschied zu Volpe und mir hatte er gewiss eine ausreichende Menge an Schlaf genossen.
Übernächtigt und noch gar nicht zurechtgemacht, sahen unsere beiden Freundinnen bei Weitem nicht so niedlich aus wie am gestrigen Abend. Mein Appetit war darum ausschließlich auf Toast Hawaii und leckere Lachsschnittchen gerichtet, von Freund Volpe ganz zu schweigen, der mir fürchterlich übernächtigt vorkam und an seinem üblichen Müsli würgte, der alte Gesundheitsapostel, tiefe Ringe unter den Augen, während seine Sofia putzmunter zu sein schien und ihm gelegentlich einen frechen Blick zuschleuderte.
Schweigend also genossen wir Giovannis prächtigen Imbiss. Jeder hatte seine eigene Sitzgelegenheit; kein Händchen-Halten, kein Auf-dem-Schoß-Sitzen und Abküssen. Nichts als animalische Kaugeräusche und genüssliches Schlürfen war zu hören, gelegentlich von einem unterdrückten Rülpsen unterbrochen.
Schon wollten sich unsere bezaubernden Damen im geborgten Morgenrock erheben, um sich auf die Toilette und unter die Dusche zu begeben, als es Volpe wieder einmal nicht lassen konnte, einen seiner uralten Tricks anzuwenden, von dem ich noch nie begeistert war. Nach einem tüchtigen Schluck aus der riesigen Café Latte Tasse sagte er boshaft grinsend: »Hör zu, Sofia! Als ich den Hengst bei Signore Galoppi inspizierte, besah ich mir den feinen Schnitt oberhalb des Hufes minutiös unter der Lupe. Er war allem Anschein nach gar nicht tief genug, als dass Pascolo Primo den Schmerz bereits hätte spüren können. Das ist der Haken an der wunderschönen Story, Sofia cara, die du uns gestern aufgetischt hast.«
Er blickte sie herausfordernd an. Sie presste die Lippen zusammen, lief rot an und schwieg verbissen, denn bislang hatte Volpe nichts als die Wahrheit gesagt, und sie dachte bereits daran, ihm zu widersprechen. Doch jetzt log er schamlos: »Darum besah ich mir auch die Arschbacken des Hengstes und entdeckte einen Striemen quer darüber. Nicht wahr, Sofia, du trugst doch einen Stock bei dir, wie ihn die Mafiosi gerne benutzen, nachdem sie das untere Ende mit Blei ausgefüllt haben?«
»Was willst du damit sagen, Giuseppe?«, fragte sie zögerlich und verknotete eilig den Gürtel das geblümten Bademantels, der sich zufälligerweise einen tüchtigen Spaltbreit geöffnet hatte und gewisse Einblicke gewährte.
»Nichts Besonderes. Ich hätte nur gerne die Wahrheit aus deinem eigenen Munde gehört, Sofia, das wäre mir am liebsten; oder muss ich es dir auf den Kopf zu sagen?«
»Ich habe gestern bereits alles berichtet.«
»Jetzt lügst du, Mädchen. Gut, du willst nicht mit der Sprache herausrücken; dann also ich. Es war so, meine Puppe: Du hast das Ross überhaupt nicht am Halfter gehalten, da du dich mit Pferden nicht auskennst. Der Hengst wurde also von Antonella am Busch angebunden, über den sie dann ihre Jacke warf, um freie Hand bei der, äh, Operation zu haben. Dazu beugte sie sich tief über den Huf des Rosses, um die ominöse Sehne zu ritzen.
Du erkanntest in letzter Sekunde, zu welcher Schweinerei du dich da als Komplizin hergegeben hattest und schlugst dem Ross kräftig mit dem Stock auf die oben genannten Arschbacken. Erst darauf hin schlug Il Pascolo Primo aus, ganz wie du das erwarten konntest, und zertrümmerte Antonella Kopf und Gesicht.
Ich will nicht unbedingt behaupten, dass du diese üble Trainerin unbedingt umbringen wolltest, aber du hast es billigend in Kauf genommen und musstest damit rechnen.
Als du sahst, was du angerichtet hattest, bekamst du es mit der Angst zu tun, machtest den Hengst los, verpasstest ihm einen weiteren Schlag auf den Hintern, sodass er wie verrückt in die Nacht hineinpreschte, und machtest dann, dass du in deine heimelige Albergo Tre Croci kamst. Lege ein Geständnis ab! Ausflüchte lasse ich nicht mehr gelten. Ich habe beide Striemen gesehen.
Außerdem möchte ich noch wissen, welche Rolle Antonellas Lover spielte. Er nennt sich Enrico Pasquale und ist ein alter Halunke. Ich hatte vor Jahren einmal mit ihm zu tun, auch wenn er es neulich bestritt, als ich es ihm auf den Kopf zu sagte. Nicht wahr, er stellte den Mittelsmann zwischen dir und Antonella?«
Sofia nickte zustimmend. Sie war während dieser Rede auf den Tod erbleicht, in sich zusammengesunken, wie zu Stein erstarrt und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Jetzt heulte sie Rotz und Wasser. Wimmernd warf sie sich an Volpes Brust und barg das Antlitz an seiner Schulter.
Er nahm sie tröstlich in die Arme, streichelte ihr übers widerborstige Haar und sagte: »Sergiu und ich werden darüber schweigen wie das Grab.«
»Du kannst dich auf mich verlassen, Sofia«, rief ich eifrig.
»Ich darf mich dem anschießen«, sagte Graziella gnädig und warf mir strafende Blicke zu, denn es war augenscheinlich, dass ich mich in Volpes neueste Flamme vergafft hatte.
Zwei Stunden später brachten wir Sofia zur Bahn. Ihr Ziel war über Roma das geliebte Napoli, wo sie ihre Freundin erwartete. Der Abschied war kurz und prosaisch. Mit einem melodisch dahin gehauchten: »O Napoli, sospiro mio (oh, Neapel, du meine Sehnsucht)« stieg sie ein, und die automatische Tür glitt hinter ihr ins Schloss. Wir haben sie leider nie wieder gesehen. Wüsste ich nur, was aus ihr geworden ist, aus ihr, der Unvergesslichen!
Graziella hingegen machte noch einige Bemerkungen zum Reitermonument des Colleoni, das sie auf meinen Rat hin angeschaut hatte, ohne zu begreifen, warum das edle Ross weder Trab noch Galopp geht und nahm den Zug nach Norden. Gerne hätte ich ihr das Buch »Edle Rösser der Griechen und Römer« in die Hand gedrückt (Ed. M.W. Schulz), damit sie begreift, dass es noch weitere Gangarten des Pferdes gibt, aber es ist nur auf Deutsch erschienen, und diese Sprache versteht sie leider nicht. Wir sahen uns die nächsten Wochen nur noch sporadisch. Meine Gedanken und heimliche Wünsche kreisten noch lange um Sofia.
Ungefähr eine habe Stunde später, als Volpe und ich einsam und verlassen vor dem kleinem aber feinen Palazzo am Calle di Cavallo ankamen, fragte ich frech: »Nun, mein Freund, wie war die letzte Nacht?«
»Furchtbar, Sergiu, einfach furchtbar. Ich werde sie nie im Leben vergessen, denn ich habe vergebens versucht, im Sessel zu schlafen und musste dem Mädchen mein Bett überlassen. Sofia ist eine gottverdammte bekennende Lesbe; aber süß und lieb und hübsch ist sie doch. Ich durfte ihr aus den Klamotten helfen, sie unter die Dusche komplimentieren, ihr den Rücken waschen und sie dann mit dem großen grünen Frotteetuch abrubbeln. Als kleine Belohnung drehte sie anschließend eine Pirouette auf Zehenspitzen und ließ sich zu Bette bringen und zudecken. Wärst du nur ein Mädchen!, flüsterte sie und schlief ein.«
»Mein Gott, ach du lieber Gott«, sagte ich, »und an meinem Seelenleben hatte bereits der gelbe Neid zu nagen begonnen.«
»Bitte, lieber Sergiu, jetzt kein neues Melodram! Kaum hast du dir das eine Weib unter den Nagel gerissen, hältst du bereits Ausschau nach der nächsten. Du bist und bleibst unverbesserlich.
Jetzt aber hilf mir lieber, die Staffelei aufzubauen! Signore Galoppi wartet auf mein Ölgemälde. Für bescheidene zehntausend Euro bekommt er einen echten Tartini im Format von 3 x 2 Meter zum Freundschaftspreis; und so will ich das Kunstwerk gestalten: Auf dem schlammigen Vorplatz werde ich Federico Renzo abbilden, ganz im Vordergrund, wie er dabei ist, unseren guten alten Pascolo Primo einzufangen. Signore Galoppi kommt gerade aus dem Torbogen hervor, beäugt die Szene neugierig und mimt dazu einen verflixt pfiffigen Gesichtsausdruck. Die backsteinernen Stallungen dahinter bilden nichts anderes als die Kulisse.«