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Kapitel 1: Wirklichkeit und Spiel

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Beim Essen kratzte Darren Farrett mit der Gabel über den Teller, obwohl er wusste, dass das kindisch war. Das Kratzen erzeugte ein hässliches quietschendes Geräusch und er hoffte, seine Eltern damit zu provozieren, aber wie gewöhnlich ignorierten ihn die beiden komplett.

Sein Vater hieß Mark Farrett.

Er hatte sich hinter dem Wall Street Journal verschanzt und Darrens Mutter schwebte eben erst herbei, strich sich kurz mit einer perfekt manikürten Hand durch das sorgsam frisierte Haar und nahm am Tisch Platz.

"Wie war dein Tag, Darren?", fragte sie ihren neunzehnjährigen Sohn mechanisch und ihr Lächeln war so kühl wie das Glas Weißwein, an dem sie nippte.

Solche Fragen hasste er.

Was sollte man da schon sagen?

Abgesehen davon fand er, das seine Mutter im Allgemeinen etwas zu neugierig war.

"Alles cool", antwortete Darren knapp und legte die Gabel zur Seite. Er schaute von seiner Mutter zu seinem Vater.

Wegen der Zeitung konnte er zwar nichts von ihm sehen, aber sein Vater, der Investmentbanker, trug auch zu Hause meistens Anzug und Krawatte. Auch jetzt. Erst nach der Abendmahlzeit würde er es sich etwas bequemer machen.

Mark und Blanche Farrett legten großen Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild und sie liebten Geld. Die Villa in den Pacific Palisades hatte drei Millionen Dollar gekostet, wie Mark beiläufig zu bemerken pflegte.

Wie Darren das alles hasste! In starkem Kontrast zu seinen Eltern trug er zerrissene Jeans und ein fleckiges Sweatshirt mit einem Totenkopfbild, das riesig vorne auf der Brust prangte, und seine blonden Haare hingen ihm strähnig in die Augen. Unrasiert, letzte verblassende Aknenarben und mürrisch herabgezogene Mundwinkel vervollständigten das Aussehen des einzigen Sohnes der Familie Farrett.

"Hast du eigentlich mal darüber nachgedacht, was du nach der High School machst?", fragte sein Vater.

"Nein."

"Aber es wird Zeit, dass du dir darüber Gedanken machst."

"Es wird sich schon was ergeben."

"Nein, es ergibt sich nicht einfach was. Man muss was dafür tun. Was ist mit deinen Bewerbungen fürs College?"

"Dad!"

"Ja, das meine ich ernst! Oder willst du einfach erstmal ein Faulenzer-Jahr einlegen."

"Ich habe noch keine Vorstellung davon, was kommt."

"Welches College. Darüber solltest du dir Gedanken machen."

"Könnte doch sein, dass ich gar nicht aufs College gehe, Dad! Muss man immer von allem einen Plan haben?"

"Man muss nicht. Aber man sollte."

"Dad..."

"Jura - das ist das Beste. Selbst wenn man nur mittelmäßig begabt ist, hat man dann eigentlich immer sein Auskommen."

"Ja, weil man eine Hamburger-Kette darauf verklagen kann, dass sie einen nicht darauf hingewiesen hat, dass man von Hamburgern dick werden kann und dann eine Millionenentschädigung heraushaut! Das ist doch Mist, Dad! Sowas will ich nicht!"

"Unser Sohn ist ein hoffnungsloser Fall", sagte Mister Farrett.

"Na, wenigstens sagst du noch unser Sohn und nicht dein Sohn."

Mister Farrett wandte sich wieder Darren zu: "Es geht im Leben um eine wichtige Sache: Geld. Alles, was man dir sonst noch erzählt, stimmt nicht. Es geht nur darum, genug davon zu haben. Dann regelt sich alles andere."

Um seine Eltern wirklich ernsthaft zu ärgern, hätte er schon etwas Kostbares kaputtmachen müssen, wie zum Beispiel die schneeweiße Ming-Vase, die in einer Fensternische stand. Aber – nein.

Viel zu mühsam und dann der ganze Stress danach, darauf hatte Darren nun wirklich keinen Bock.

"Der junge Rebell, der sich einzig und allein durch Nichtstun auszeichnet", so hatte ihn sein Vater einmal mit mildem Spott bezeichnet und hinzugefügt: "Na, das verwächst sich auch wieder. Auf einmal, ehe du dich versiehst, wirst du studieren, Tennis spielen und deinen Platz im Leben finden."

Bei dieser durch und durch "biederen" Vorstellung wurde Darren einfach nur übel, und manchmal hatte er schon mit dem Gedanken gespielt, kriminell zu werden oder drogenabhängig.

Oder beides?

Gäbe es etwas Besseres, um seinen Eltern zu zeigen, dass er nicht so werden wollte wie sie? Aber – wieder das gleiche Problem: er empfand es als zu anstrengend.

Darren warf einen Blick auf sein Smartphone. Wie viele andere junge Menschen, konnte er nicht darauf verzichten. Und es musste immer das neuste Modell sein, Hauptsache teuer – man konnte dann zeigen, von wem man abstammte.

Schon so spät? Wortlos stand er auf und schlurfte barfuß in Richtung Treppe.

Seine Eltern nahmen keine Notiz davon. Soweit er sich erinnern konnte, war das immer so gewesen: höchst selten, dass sie überhaupt zu dritt beim Dinner saßen, meistens hatte Darren allein gegessen, denn 60- bis 70-Stunden-Wochen waren bei seinen Eltern keine Seltenheit, sie waren absolute Workaholics. Beide im Investmentbanking, was ihren Sohn extrem anwiderte.

In ihrer Gegenwart kam er sich fast wie ein Geist vor.

Darren schüttelte diesen unangenehmen Gedanken ab – gleich würde er sich mit Nora und Jay treffen. Sein Highlight des Tages!

Sorgfältig verriegelte er die Tür seines Zimmers im Dachgeschoss und setzte sich vor den Super-Duper-Computer, das allerneueste Modell in Sachen Online-Gaming, VR-Brille inklusive.

Die benutzte er allerdings nur selten, da er davon Kopfschmerzen bekam.

Bei Shandagor, dem Fantasyspiel, nach dem er seit einigen Monaten vollkommen süchtig war, genügte das normale Spiel vor dem Computer sowieso, man wurde geradezu hineingezogen in die erstaunlich detaillierte, farbenprächtige Spielewelt, und an seinem Bildschirm kamen noch faszinierende 3-D-Effekte hinzu, einfach auf Knopfdruck – er war eben absolut hip!

Darren Farrett wusste nicht so recht, was er aus seinem Leben machen sollte, er hatte keine Ziele und hing einfach so herum, nachdem er die High School mit Ach und Krach hinter sich gebracht hatte.

Aber für Shandagor brannte er.

Es war einfach das Spiel der Spiele.

Eine andere Welt...

So fantastisch...

Bunt und abenteuerlich und damit ganz anders, als sein reales Leben.

Wenn er in der Welt von Shandagor war, konnte er all das, was ihn bedrückte, vergessen.

Meistens zumindest.

Minuten später hatte er sich ins Game eingeloggt und siehe da, Jay und Nora waren auch schon online. Ihre Avatar-Symbole wurden ihm in der unteren Menüleiste blinkend angezeigt. Darren lächelte breit, und hätte ihn jetzt seine Mutter sehen können, sie wäre bestimmt sehr erstaunt darüber gewesen, wie gut er plötzlich aussah, wie seine langbewimperten grünen Augen funkelten und sich seine ganze Ausstrahlung positiv änderte.

Schnell klickte er sich durch anstehende Missionen und Aufgaben seines Charakters.

Richtig, heute war Huldigungstag! Er musste sich beeilen, wenn er sich vorher noch mit seinen beiden Mitspielern in der "Götter-Lounge" virtuell treffen wollte. Hoffentlich waren sie dort; er mochte die beiden und quatschte gern mit ihnen.

Komisch eigentlich, denn er kannte sie nur innerhalb des Spiels, wusste sonst kaum etwas über sie, außer ein paar dürre Eckdaten, so zum Beispiel, dass Nora in Phoenix, Arizona wohnte und Jay in Chicago zu Hause war.

Tatsächlich hatte er keine Ahnung, wie Nora und Jay im wirklichen Leben aussahen, er kannte nur ihre Avatare. Der von Nora stellte ein rothaariges, blauäugiges Mädchen mit toller Figur dar – in der Realität war sie möglicherweise ein unscheinbares Pummelchen. Das war ihm aber ganz egal, denn er schätzte ihre Art zu spielen und ihren schrägen Humor.

Jays Avatar war ein junger Asiate – wer wusste, was dahinter steckte, am Ende vielleicht ein schwarzer Junge aus der South Side von Chicago, würde direkt passen.

Wäre Darren aber auch komplett gleichgültig gewesen.

Ihm gefielen Jays Ernsthaftigkeit und sein taktisches Geschick. Die drei spielten häufig als Team miteinander und nannten sich "The Divine Clover" – mit ´nem Augenzwinkern, klar, aber andererseits stimmte es ja, ein Kleeblatt... ein göttliches Kleeblatt.

Genau diese Besonderheit zog die meisten Shandagor-Spieler in ihren Bann: Von all den Elfen, Trollen, Feen, Zwergen und sonstigen Geschöpfen in der bunt und lebendig gestalteten Fantasywelt wurden sie als Gottheiten verehrt, und dieses Spielkonzept bot ihnen ungeahnte Möglichkeiten.

Darren freute sich schon auf sein nächstes Shandagor-Werk, das er nach dem Huldigungsritual in Angriff nehmen würde.

Erst vor kurzem war es ihm gelungen, durch das Wirken seiner göttlichen Macht zwei verfeindete Königreiche zu Verbündeten zu machen, und nun würden diese gegen ein Kaiserreich in den Krieg ziehen. Ein Krieg musste hin und wieder sein – auch wenn Darren es bevorzugte, etwas zu erschaffen und Länder aufzubauen – Schlachtenszenen und Kämpfe waren actionreich und interessant, und es war ja schließlich nur ein Spiel.

Darren, Jay und Nora trafen sich in der Lounge und tauschten sich über den Messenger aus; wie gewöhnlich ging es nur um Shandagor, sie blendeten ihr Alltagsdasein vollkommen aus.

Und dann "begaben" sie sich in ihre Palasttempel auf den Geweihten Purpurhügeln, um die Huldigungen ihrer Gläubigen entgegenzunehmen. Denen erschienen sie als prachtvolle, strahlende Gestalten, umgeben von farbkräftigen Auren – umso herrlicher, je mehr gute Taten sie vollbracht hatten.

Da sie als Spielerteam agierten, war es immer möglich, auch mal kurz einen Blick in den Huldigungs-Raum der Teamkameraden zu werfen, das fand Darren immer spannend; Konkurrenzgehabe herrschte zwischen ihnen gar nicht, angenehmerweise. Das war nicht bei allen Spielergruppen so, vermutete er. Prima, dass er Jay und Nora hatte. Die beiden waren einfach tough.

Darren nutzte abwechselnd Maus, Tastatur und Joystick, während er spielte, routiniert und fast ohne es zu merken, und alles lief wie am Schnürchen und versetzte ihn in eine rundum positive Stimmung.

Shandagor-Spielen war besser als jede Droge.

Nur zum Ende des Huldigungsrituals hin passierte eine Kleinigkeit, die ihn etwas irritierte, wahrscheinlich ein Bug im System oder aber eine Zufallsherausforderung. Wobei, nein, letzteres kam eigentlich nicht infrage, nicht bei seinem hohen Level, solche Challenges bekamen nur niedere Gottheiten, die erst seit wenigen Wochen oder aber halbherzig spielten.

Jedenfalls hatte sich ein Rattenkobold geweigert, ihm zu huldigen.

Das auf den Hinterbeinen laufende, in schlichtem Filz gekleidete Geschöpf mit dem typischen Kopf und dem langen nackten Schwanz dieser Nagetiere stand einfach nur da, in der Nähe des Tempelportals, und hatte die Pfoten trotzig vor der Brust verschränkt. Darren hatte den Ego Shooter Modus aktiviert und zoomte aus dieser Perspektive alle Einzelheiten heran, so auch diese. Alle anderen Untertanen, ob einfache Bauern, Gaukler, Adlige, Mischwesen, hatten sich ehrerbietig zu Boden geworfen, knieten vor ihrem Gott oder lagen platt auf dem Bauch.

Nur dieser eine rattenköpfige Kobold nicht.

Komisch.

Er zog die Stirn in Falten, ohne es zu merken.

In seinen Augen spiegelte sich der Monitor und das Bild – er vergaß sogar das Blinzeln.

Es gab einen Button "Refresh", mit dem man leichtere Fehlfunktionen beheben konnte, ohne dass der Spielverlauf unterbrochen wurde, und den betätigte Darren nun. Aber als er wieder in die Tempelecke schaute, stand das unbotmäßige Geschöpf immer noch genauso da. Darren kratzte sich das unrasierte Kinn.

Sollte er einen Blitz schleudern? Das war vielleicht etwas übertrieben. Er legte viel Wert darauf, ein gnädiger, gerechter und edler Gott zu sein. Während er noch überlegte, drehte sich der Rattenkobold um und verließ gemächlich das Gotteshaus.

Egal, dachte er.

Er machte sich keine weiteren Gedanken darüber.

Wozu auch?

Darren vergaß den Vorfall schnell wieder und stürzte sich voller Elan in seine neue Kampagne, nicht ohne zuvor seine Teamkameraden zu fragen, ob sie sich zu ihm gesellen und ihm helfen wollten. Nora hatte Lust dazu und versprach, ihm eine Gruppe ihrer besten Bogenschützen zu senden, die ihn im Kampf gegen das feindliche Kaiserreich Hul unterstützen würden.

"Was meinst du?"

"Nein, besser nicht. Trotzdem danke."

"Wieso nicht?"

Jay lehnte ab, er wollte sich um eines seiner Lieblingsländer kümmern, das unter einer verheerenden Dürre litt.

"Ich hoffe, du bist deshalb nicht sauer, Darren?", fragte Jay besorgt nach, woraufhin Darren ihn sofort beruhigte.

"Alles gut."

"Wirklich?"

"Ja."

"Okay..."

"Wünsch dir viel Glück bei deiner Mission – und mit Nora schieß ich auf jeden Fall den Vogel ab!"

Nora sandte ihm daraufhin einen Kicher-Smiley.

"Ich folge dann deinem Link, Darren, hab hier nur noch eben was zu erledigen. Will es nicht aufschieben."

*


Dieser Darren, was der immer für seltsame Sprüche draufhatte! "Den Vogel abschießen", das klang nach einem Literaturkurs am College.

Oder hatte sie das nur nicht richtig verstanden?

Konnte sein.

Bei Darren wusste man das nie so genau.

Nora schmunzelte und warf ihre tiefrote Mähne zurück. Shandagor spielen machte ihr erst richtig Spaß, seitdem sie die beiden Jungs kennengelernt hatte. Wobei sie letzten Endes nicht sicher sein konnte, ob es sich bei Jay und Darren wirklich um junge Männer handelte. Sie können genauso gut Mädchen mit männlichen Avataren sein. Nein, glaub ich einfach nicht. Das hätte ich gemerkt. Früher oder später hätten sie sich verraten.

Ihr wurde bewusst, dass sie ziemlich viele Stunden mit dem Online-Game verbrachte.

Das war auch der Grund, weshalb sie Jay und Darren beinah als echte Freunde betrachtete und sie zu kennen glaubte – schon verrückt!

Spielkameraden, dachte sie.

Das traf es.

Nur, dass sie eben ihre Burgen nicht im Sandkasten bauten, sondern am Rechner.

Aber passt schon, fügte sie in Gedanken hinzu, schließlich haben wir schon eine Menge Abenteuer bestanden, das schweißt zusammen, bis aus uns "das göttliche Kleeblatt" wurde. Und genau wie ich machen die zwei sich nichts aus hirnlosen Ballerspielen. Taktik, Strategie, Aufbau und gute Geschichten, das ist mehr unser Ding. – Sie machte sich rasch an ihre kleine "Zwischen-Aufgabe", um dann Darren beizustehen.

Nora benutzte ihre VR-Brille unbefangen, es war ein älteres Modell, das sie sich von ihrer großen Schwester geborgt hatte. Sie setzte sie auf, um "mittendrin" zu sein. Und trat gemessenen Schrittes – sie war als Göttin Nora, die Einzigartige, in fließende weißgoldene Gewänder gekleidet und mit sicheren Schritt – auf die zwei Streithähne zu.

Vor einiger Zeit war es ihr gelungen, ein Zwergenvolk mit einer Gruppe Elfen zu versöhnen, eine außergewöhnliche göttliche Leistung – und nun standen zwei dieser Individuen zornerfüllt voreinander und beschimpften sich.

Der Elf schien drauf und dran, dem kleinen knorrigen Zwerg mit beiden Händen an die Gurgel zu gehen, während dieser wiederum sich anschickte, dem weißblonden schlanken Jüngling mit ihrer Axt einen neuen Scheitel zu ziehen.

Nora trat dazwischen.

Sie hatte keine Ahnung, wobei es bei dem Streit ging, aber es war unerhört, dass dies noch während der Huldigungszeremonie passierte. Sie breitete ihre Arme aus und wollte mit der sanften Kraft ihrer göttlichen Stimme den Konflikt in Nichts auflösen und die zwei ermahnen, sich dem Frieden und der Freundschaft hinzugeben, zu denen ihre beiden Völker gefunden hatten. Aber etwas stimmte nicht. Sie konnte sich überhaupt nicht hören! Kein Ton kam über ihre Lippen, nichts, und so war es auch kaum ein Wunder, dass die zwei Kontrahenten sie nicht beachteten.

Verflucht, dachte sie verunsichert, was war denn jetzt los?

Nora betätigte hektisch ein paar virtuelle Knöpfe an der Brille, weil sie zuerst dachte, das alte Ding sei dabei, endgültig den Geist aufzugeben. Aber daran lag es nicht. Sekundenlang hatte Nora das beklemmende Gefühl, nicht mehr sie selbst zu sein (nicht mehr göttlich zu sein), und sie spielte mit dem Gedanken, auf der Menüleiste, links oben in ihrem Blickfeld, die "göttliche Notbremse" zu ziehen, einen Button, den man bei Shandagor tunlichst nicht benutzte, weil er einen wertvolle Spielpunkte kostete.

Sie war einfach abgelenkt – denn urplötzlich waren ihre beiden Sorgenkinder von der Bildfläche verschwunden. Was sollte das denn jetzt?

"Mist", fluchte Nora und ärgerte sich, aber rasch verdrängte sie diesen Zwischenfall und loggte sich in Darrens Sphäre ein. Von dort aus aktivierte sie ihre Bogenschützinnen, blendend aussehende Amazonen, kampferprobt und gestählt im Umgang mit ihren Waffen, und sicherheitshalber fügte sie noch eine Gruppe attraktiver und muskulöser Schwertkämpfer hinzu.

Auch darin stimmte sie mit Jay und Darren überein: Gegen die eine oder andere zünftige Schlacht war nichts einzuwenden, gab dem Spiel die richtige Würze, vor allem, wenn es gegen einen absolut fiesen Feind ging wie das grausame Kaiserreich Hul.

Der Kampf musste edel und gerecht sein, dann mischten die drei Gottheiten gerne mit.

Sie versuchten dabei, so wenig ihrer eigenen Kämpfer wie möglich zu verlieren und sie lenkten die Geschicke mit großer Leidenschaft – so auch jetzt. Dabei stellte sie sich sehr souverän an. Darren und Nora kommunizierten ausgezeichnet miteinander, setzten ihre Ressourcen sinnvoll ein und nahmen den Gegner effektiv in die Zange. Nora verglich das Geschehen hier gern mit der antiken römischen oder griechischen Götterwelt: Jene Gottheiten hatten ebenfalls durchaus menschliche Gefühle und sie kamen "ihren" Menschen oft sehr nahe.

Nora musste wieder ein bisschen grinsen, als sie feststellte, dass sich Darren mehrere Male inkognito, als einfacher Fußsoldat, ins Kampfgeschehen einschaltete – sie selbst tat das auch manchmal; obwohl ihr nichts "passieren" konnte, war das Spannung pur, reines Adrenalin.

Genau das hätte ein altgriechischer Gott vielleicht auch gemacht, Zeus zum Beispiel.

In der antiken Mythologie bekämpften sich die Gottheiten auch untereinander, man denke nur an den Kampf um Troja, Athene gegen Aphrodite, Hermes gegen Apollon, Poseidon gegen Ares. (Zuerst in der Bibliothek und dann im Internet hatte sie sich wissbegierig auf alle Artikel gestürzt, die sie verstehen konnte.)

Doch die griechische Mythologie war das eine - das gab es hier in Shandagor nicht, dafür hatten sie Dämonen als Gegner, Kreaturen, die direkt aus Shandagors stinkender Unterwelt hervorquollen. Auch hier, während der Großen Schlacht gegen Huldugan, mussten sie sich mit einem solchen auseinandersetzen: Sein Name war Planzarus und er hatte das Erscheinungsbild einer riesigen Echse auf zwei Beinen.

Man munkelte, dass er der leibliche Vater von Kaiser Huldugan war, den er mit einer Menschenfrau gezeugt hatte. Trotz des recht furchterregenden Äußeren und einiger beeindruckender Fähigkeiten gehörte Planzarus jedoch eher zu den niederen Dämonen und stellte für die High-Level-Gottheiten Darren und Nora kein größeres Problem dar. Trotzdem zog sich die Schlacht hin und blieb herausfordernd.

Endlich errangen sie einen gewaltigen Sieg und warfen das grausame Kaiserreich nieder. Die Mission endete mit dem triumphalen Einzug in die Kaiserstadt und einem ausgelassenen Fest.

Das Spieler-Duo heimste einen Haufen Punkte ein, mehrere davon sogar in Form von höchst wertvollen Rubinsternen, daneben auch noch Goldklumpen und Onyxscheiben.

"Wow! War das der Hammer", schrieb Darren später in der Lounge, in der sie sich wie immer noch kurz unterhielten.

"Danke für deine Unterstützung, Nora."

"Habe ich total gern gemacht. Ich fand es auch phänomenal", bestätigte sie knapp.

"Nur eins kam mir merkwürdig vor", las sie Darrens nächste Worte und sah den "nachdenklich"-Smiley, den er direkt hinterherschob.

"Ich hätte doch gedacht, dass meine Aktion Gorrach mal wieder aus seinem Versteck hervorlockt, nicht nur den albernen Planzarus. Aber nichts dergleichen."

Gorrach, der Dämonenherrscher von Shandagor, hatte früher öfter einmal als NPC (eine nicht von Spielern, sondern einer KI gesteuerten Figur) ins Geschehen eingegriffen und für Wirbel gesorgt – ohne Zweifel von den Programmierern des Spiels per Zufallsgenerator gesteuert – und Nora vermisste das Auftauchen dieses mächtigen Bösen genau wie Darren.

"Ja, der scheint abgetaucht zu sein", antwortete sie.

"Oder meinst du, dass sich ein paar Spieler vielleicht beschwert haben, weil Gorrach schließlich zu ultra-krassen Aktionen neigt?"

"Kann sein", erwiderte Darren.

"Wobei ich das total idiotisch fände. Solche Weicheier gehören nicht nach Shandagor, sollen sie eben Farmville spielen oder sonstwas ..."

Nora sandte eine ganze Reihe von Lach-Smileys und dann schrieb sie hastig, sie müsse sich jetzt ausloggen. "Hab morgen einen langen Tag."

"Lass dich nicht zu sehr stressen!", lautete Darrens Abschiedszeile.

Kurz darauf war der Bildschirm ihres Laptops dunkel und die VR-Brille lag daneben auf dem Tisch, ein plötzlich nutzlos gewordenes Requisit.

Ja, morgen hatte sie wieder einen langen Tag vor sich, wie immer.

Nora seufzte ergeben, reckte und streckte sich ausgiebig. Diszipliniert schaute sie auf die Uhr, stellte fest, dass es Zeit zum Schlafengehen war, und machte sich bereit dazu.

Das Bad rief. Und später - frisch geduscht und mit geputzten Zähnen schlüpfte sie in ihren Pyjama und lief zu ihren Eltern in die gemütliche Wohnküche, zum Gute-Nacht-Sagen.

"Na, wird auch Zeit", sagte ihr Vater mahnend.

"Beatrice ist schon in den Federn, und das als die ältere Schwester!"

Nora zögerte nicht, wollte aber auf den kleinen Vorwurf nicht näher eingehen.

"Gute Nacht, Dad", erwiderte Nora diplomatisch und beugte sich vor, um ihm einen Kuss auf die bärtige Wange zu geben.

Er kitzelte an ihrem Kinn.

"Hast du dein Pensum geschafft, Kind?", fragte ihre Mutter besorgt. "Du hattest ja noch eine Menge zu lernen, deshalb ist es auch so spät geworden, stimmt’s?"

Nora fühlte einen kurzen Gewissensbiss. Wenn du wüsstest, Mom, was ich stattdessen gemacht habe ...

Laut sagte sie: "Alles gut, Mom. Habe alles drauf..." und tippte sich an die Schläfe.

"Aber jetzt bin ich hundemüde."

Sie gähnte theatralisch und machte sich rasch aus dem Staub, ehe es weitere und intensivere Nachfragen gab.

Ihre Eltern hatten sich aus kleinen Verhältnissen emporgearbeitet und erwarteten von ihren beiden Töchtern Ähnliches. Absoluter Fleiß, Lerneifer und perfektes Benehmen war ihnen so wichtig, dass Beatrice und Nora das total verinnerlicht hatten. Beatrice war zwanzig und schon auf dem College, Nora siebzehn und im letzten Highschool-Jahr. Außerdem hatte sie vor einem Jahr den Posten als Cheerleaderin der Footballmannschaft ihrer Schule errungen und dass trotz ihrer roten Haare. Jahrelang hatten nur Blondinen diesen Prestigejob gekriegt.

Für Nora bedeutete das extrem harte Arbeit, immer wieder musste sie sich behaupten und kämpfen und noch dazu galt es, in möglichst vielen Schulfächern mit Bestnoten abzuschneiden. Beliebt und immer gut drauf sein, lernbegeistert und leistungsfähig rund um die Uhr, darum ging es. Frühere Hobbys, die ihr lieb und teuer gewesen waren, wie Flötenspiel und Bogenschießen, hatte sie aufgeben müssen. Die einzigen Stunden, in denen Nora abschalten konnte, verbrachte sie beim Spielen von Shandagor.

Wenn sie sich mit Darren und Jay zusammen dem göttlichen Wirken hingab und die Geschicke ganzer Reiche und Völker beeinflusste, oder wenn sie hin und wieder mit den beiden einfach nur herumalberte – nur dann fühlte sie sich so jung und noch so frei, wie sie eigentlich sein sollte, eher der "Ernst des Lebens" sie einholte, wie ihre Mutter immer ein wenig zynisch meinte, wenn sie selber nicht gut drauf war.

Ansonsten gab es in Noras Leben nichts als Stress, fast pausenloses Lernen und absolute Disziplin. Es musste sein, das war ihr klar.

Sie hatte große Angst davor, ihre Eltern zu enttäuschen – schließlich wusste sie genau, welche Opfer beide gebracht hatten, um es bis hierher zu schaffen. Sie hatten beide gute Jobs in der Stadtverwaltung und bewohnten mit ihrer Familie einen Altbau, Downtown Phoenix, in gutbürgerlicher Nachbarschaft und malerischer städtischer Umgebung.

Wenn ihr Vater oder ihre Mutter gewusst hätten, dass ihre jüngere Tochter abends ziemlich oft ein eskapistisches Online-Fantasyspiel zockte, wäre der Teufel los gewesen. Sie lehnten solche Computergames nicht einfach nur rundweg ab, nein: Sie hassten sie geradezu.

Aber zum Glück haben sie keine Ahnung, dachte Nora, als sie in ihr Bett kroch. Und sie hoffte, dass das noch eine Weile so blieb und sie nicht dahinter kamen.

Weil es in Shandagor wieder so schön und erfüllend gewesen war, fiel sie rasch in einen tiefen und erholsamen Schlaf.

Der Zauber von Shandagor

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