Читать книгу 6 Zukunftskrimis - Alfred Bekker - Страница 11
Teil 2
ОглавлениеDer Boden bestand aus weichem, gepflegten Rasen, dessen Pflegezustand man in längst vergangener Zeit als 'englisch' bezeichnet hätte. Wir kamen sehr hart auf. Das Antigravagggregat hatte den Aufprall zwar erheblich gedämpft, aber es war eben eigentlich nur auf mein Gewicht programmiert – und nicht auf gut die doppelte Kilozahl.
Etwas benommen stand ich auf.
Brondins Deflektor hatte sich durch den Aufprall deaktiviert. Er lag ächzend am Boden.
Wir befanden uns in den parkähnlichen Anlagen, die zwischen den kuppelförmigen Gebäuden der Lichtjünger angelegt worden waren. Weißgekleidete Männer und Frauen wandelten hier auf schmalen Pflasterwegen. Die Anlage hatte allerdings mehr Ähnlichkeit mit einem geometrisch exakten Rokkoko-Park als mit einem wildwuchernden Paradiesgarten der Glückseligen. Auch bei der Anlage der Grünflächen herrschten runde und halbrunde Formen vor.
Die Weißgekleideten starrten Brondin ungläubig an.
Ich ergriff Brondins Arm.
Die Lichtjünger starrten noch immer, als Brondin den Druckknopf an seinem Deflektorgürtel betätigte und daraufhin vor ihren Augen verschwand.
Durch das Loch, das ich in die Gebäudewand gebrannt hatte, gaben unsere Verfolger jetzt ein paar Nadelschüsse in unsere Richtung ab.
"Los, weg hier!", knurrte ich.
"Zu den Gleitern!", schlug Brondin vor. Er deutete zu dem Gleiterparkplatz am Ufer der Lagune. Aber ich nahm an, dass gerade dort die Sicherheitsmaßnahmen sehr ausgefeilt waren.
"Eine Flucht mit dem Gleiter hat doch schon beim letzten Mal nicht geklappt", gab ich zu bedenken.
"Und was schlagen Sie vor?"
"Wir gehen in den Dschungel."
Wir wandten uns in Richtung des nahen Dschungels, der den größten Teil von Makatua überwucherte.
Nur wenige hundert Meter lagen zwischen uns und dem grünen Chaos, das sich so eklatant von der wohlgeordneten Welt der Lichtjünger unterschied. Im Dschungel würden Brondin und ich vorerst in Sicherheit sei. Ich setzte darauf, dass die Lichtjünger einfach nicht über genügend bewaffnete Kräfte verfügten, um das Gelände, auf dem sich die Siedlung befand, so abzuriegeln, dass sie uns an einer Flucht hindern konnten.
Auf dem parkähnlichen Gelände der Lichtjünger-Siedlung ertönten jetzt Lautsprecheransagen, die die Sektenmitglieder instruieren sollten. Sie hatten gegen zwei Unsichtbare allerdings keine Chance. Wir erreichten ohne größere Probleme den Dschungel, liefen in das Unterholz hinein. Die einzige Schwierigkeit für uns beide war dabei, dass wir uns gegenseitig nicht verlieren durften. Aber auch das war in dieser wildwuchernden Pflanzenwelt viel einfacher als in der eher sterilen Umgebung der Siedlung. Die Fußtritte des anderen, abgeknickte Äste, der Weg, den er sich durch das hohe Farne bahnte – all das war sichtbar.
Gleiter überflogen das Dschungelgebiet. Ihre Ortungssysteme waren sicherlich nicht mit dem zu vergleichen, was ich an Bord meines VXR installiert hatte. Aber zweifellos reichte es aus, um uns früher oder später aufzuspüren.
"Wir sollten die Deflektorschirme abschalten", erklärte ich und setzte das auch gleich in die Tat um. "Wir erleichtern unseren Gegnern sonst die Peilung!"
Brondin Jarvus folgte meinem Beispiel.
"Sie sind der Boss!"
Ich ließ die Datenübertragung zu meinem Gleiter allerdings bestehen, auch wenn das ein gewisses Risiko bedeutete. Aber auf diese Weise war ich über die Ortungssysteme des VXR immer über die Aktivitäten unserer Gegner informiert.
Im Gesichtsfeld meines linken Auges zeigte das SYSTEM eine schematische Darstellung der Insel Makatua. Fünf Gleiter schwebten in der Luft und suchten die Insel ab. Aber keiner von ihnen verfügte über einen Bioscanner, der auch nur im entferntesten mit dem Equipment des VXR zu vergleichen war. Wozu auch? Diese Gleiter waren dazu angeschafft worden, Waren und Vorräte zu transportieren. Die meisten Modelle waren längst nicht mehr auf dem neuesten Stand. Eigentlich brauchte man sie nur für den Fall, dass die Transmitterverbindung abbrach. Aber eine gewisse Autarkie war den Lichtjüngern offenbar wichtig.
Keine Bioscanner!, rief ich mir ins Gedächtnis und atmete dabei innerlich auf. Davon abgesehen waren sie allerdings dazu in der Lage, die Datenverbindung zwischen meinem CyberSensor und dem VXR-Gleiter anzupeilen.
Doch das Risiko musste ich auf mich nehmem.
Wir kämpften uns durch das immer dichter werdende Unterholz. Brondin hatte keine besonders gute Kondition. Er fluchte dauernd vor sich hin. Beinahe konnte man den Eindruck gewinnen, dass er sich zurück in die Hände seiner Glaubensbrüder wünschte.
"Ich verstehe nicht, wie mein Vater auf die Idee gekommen ist, Sie anzuheuern!", schimpfte er.
"Das hat einen einfachen Grund: Es gibt kaum jemanden, der so einen Auftrag überhaupt annehmen, geschweige denn erfolgreich beenden würde", erwiderte ich ruhig, während wir eine kurze Rast einlegten.
Er zuckte die Achseln.
"Ich hoffe, Sie haben einen Plan oder so etwas!"
"Den hatte ich. Ich dachte, wir hätten über die Transmitteranlage der Lichtjünger verschwinden können. Dann säßen wir bereits in meinem VXR-Gleiter."
"Hat nicht ganz geklappt, was?", Brondin lachte heiser auf.
"Kein Grund zur Panik."
"Kein Grund zur Panik?" Er schüttelte verständnislos den Kopf. "So wie ich das sehe, sieht unsere Situation denkbar mies aus und Sie tun das mit einem lapidaren ' Kein Grund zur Panik' ab, so als wäre das hier ein Spaziergang."
"Naja, etwas anstrengender als ein Spaziergang wird es schon werden", erwiderte ich.
"Vielleicht weihen Sie mich in Ihre Pläne ein!"
"Über meinen CybersSensor werde ich den VXR-Gleiter fernsteuern. Wir müssen eine Lichtung – oder noch besser: die Küste! – aufsuchen. Irgend einen Platz, an dem der Gleiter ohne größere Schwierigkeiten landen und uns abholen kann."
"Die Herren dieser Insel schießen ihn vorher ab!", war Brondin überzeugt.
Ich lächelte dünn. "Das ist nicht so sicher ..."
Er sah mich an. "Sie spielen gerne Vabanque ..."
"Hin und wieder bin ich dazu gezwungen."
"Mir kommen die Tränen. Sie scheinen mir eher der Typ eines tollkühnen Selbstmörders zu sein."
"Das sagen Sie mir?", fragte ich kopfschüttelnd. "Was ich tue, ist auf keinen Fall selbstmörderischer als das, was Sie zuwege gebracht haben."
Seine Augenbrauen bildeten jetzt eine Art Schlangenlinie. "Was meinen Sie damit?"
"Na, dass Sie sich dieser sogenannten Kirche des reinen Lichtes angeschlossen haben."
Brondin atmete tief durch. Sein Blick wurde in sich gekehrt. Er wirkte jetzt sehr nachdenklich und ernst.
"Sie verstehen das nicht."
"Ein Vorurteil."
"Und wenn schon."
"Warum versuchen Sie nicht einmal, es mir zu erklären?"
"Dazu gibt's nicht viel zu sagen." Er machte eine Pause, hob den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Dann glitt sein Blick seitwärts, an meinem Hals entlang bis zum Nacken. Er suchte etwas, streckte dann die Hand aus und deutete auf jene Stelle an meinem Nacken, in die mein CyberSensor eingelassen war. "Es hat mit dem Ding zu tun, das Sie da in Ihrem Nacken haben."
Ich hob überrascht die Augenbrauen. "Mit meinem CyberSensor?"
"Ja."
"Das verstehe ich nicht."
"Kein Wunder. Wer sind Sie denn auch? Der Fortsatz einer Maschine, der organische Arm eines Computernetzes. Nichts weiter."
"Ich bin ein Individuum."
"Das ist eine Illusion." Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Gesichtsfarbe wirkte ungesund hell. "Ich wollte so etwas nie sein. 'Du sollst das Ebenbild Gottes, den Menschen, nicht zum Sklaven der Maschine machen' – so heißt es in der Revidierten Bibel."
"Ich bin kein Sklave", erwiderte ich.
"Seien Sie sich da nicht so sicher."
"Jedenfalls bin ich freier als Sie es waren – in dem Energiefeld, das Sie an ihre Zellenpritsche fesselte ..."
Er schwieg.
Wir setzten unseren Weg fort. Über uns patrouillierten die Gleiter der Lichtjünger. Ich ließ mir im Gesichtsfeld meines linken Auges ein Holo von Makatua anzeigen. Eine zur Landung des VXR geeignete Stelle lag nur wenige Kilometer entfernt auf einer Lichtung. Bis dorthin mussten wir uns durchschlagen.
"Wohin gehen wir?", fragte Brondin.
"Wenn Sie einen CyberSensor hätten, könnte ich es Ihnen zeigen."
"So viel ist es mir dann doch nicht wert."
"Ein bis zwei Stunden Fußmarsch, dann haben wir es geschafft, Brondin."
"Ich hoffe nur, dass wenigstens diesmal Ihr Plan klappt."
"Man muss improvisieren können."
"Inzwischen ist es mir völlig gleichgültig, auf welche Weise ich hier wegkomme!"
"Geht mir genauso", murmelte ich.
Während des weiteren Weges redeten wir nicht mehr viel. Ich hörte Brondins Keuchen hinter mir.
Wir erreichten schließlich die Lichtung, die mir als Holo angezeigt worden war. Über die Sensoren des VXR-Gleiters ließ ich feststellen, ob sich unsere Verfolger in der Nähe befanden. Das Scan-Ergebnis war eindeutig. Die Gleiter der Lichtjünger konzentrierte ihre Suche zur Zeit auf andere Gebiete.
Ich ließ über CyberSensor-Befehle den VXR-Gleiter einen weiten Bogen fliegen, dann blitzschnell zurückkehren und genau auf die Lichtung zuschnellen.
Der Gleiter näherte sich mit hoher Geschwindigkeit, bremste dann ab und setzte anschließend zu einer punktgenauen Landung an.
"Los!", rief ich an Brondin gewandt, als der Gleiter auf dem Boden aufgesetzt hatte. Die Landung war mustergültig. Die hohe Summe, die ich in die Optimierung das Autopilot-Programms investiert hatte, hatte sich schon des öfteren ausgezahlt.
Wir liefen aus dem Unterholz heraus und rannten durch das fast hüfthohe Gras auf den Gleiter zu.
Der Außenschott öffnete sich auf einen Mentalimpuls meines CybersSensors hin.
Wir stürzten hinein. Der Schott schloss sich und noch im selben Augenblick ging ein Ruck durch den Gleiter. Ein Mentalimpuls meinerseits hatte die Startsequenz ausgelöst. Der Gleiter hob ab, beschleunigte, stieg auf. Die Beschleunigung war derart stark, dass die Andruckabsorber für Sekunden Schwierigkeiten hatten, das auszugleichen. Wir verloren das Gleichgewicht, taumelten zu Boden.
Zwei der Verfolger-Gleiter näherten sich, wie ich über die Augenanzeige registrierte.
"Objekte eliminieren?", meldete sich das SYSTEM über Lautsprecher.
"Gefahrenanalyse!", forderte ich.
"Verfolger-Objekte sind nur leicht bewaffnet. Distanz vergrößert sich zusehends."
"Sie werden nicht feuern", meinte ich, während ich mich wieder aufrichtete.
Brondin kam auch wieder auf die Beine.
"Wieso sind Sie sich da so sicher?", fragte er.
"Die Benutzung von größeren Strahlgeschützen oder Lenkwaffen würde von den Behörden registriert – und dann liefen Ihre Freunde da unten auf Makatua Gefahr, dass ihr Paradies aufgelöst wird. So wichtig werden Sie denen dann doch nicht sein."
"Das sind nicht meine Freunde", erwiderte Brondin eisig. "Wissen Sie überhaupt, was die mit mir vorhatten? Haben Sie auch nur eine blasse Ahnung davon?"
"In dem Datenmaterial, das mir Ihr Vater überlassen hat, war einges über die Methoden der Kirche des reinen Lichtes zu erfahren", sagte ich.
Brondins Stimme zitterte leicht, als er nach einer kurzen Pause wieder zu sprechen begann. "Sie nennen es 'Reinigung'."
"In Wahrheit ist es eine Art Gehirnwäsche."
"Ja."
"Seltsam ..."
"Was ist seltsam?"
"Als wir noch auf Makatua waren, hatte ich ab und zu den Eindruck, Sie würden diese Leute trotz allem noch verteidigen."
Brondin starrte durch die Verglasung hinaus. Er blickte zurück in Richtung Makatua. Die Insel wurde immer kleiner, während die Verfolger-Gleiter abgedreht hatten. Offenbar hatten die Lichtjünger eingesehen, dass sie keinerlei Chance hatten, meinen VXR abzufangen, es sei denn, sie eröffneten mit einer Strahlkanone das Feuer und landeten einen Volltreffer. Und das wiederum würden sie im wohlverstandenen Eigeninteresse gar nicht erst versuchen.
"Nicht alles war schlecht an ihnen", sagte Brondin dann. "Und viele ihrer Glaubensgrundsätze halte ich nach wie vor für richtig ..."
Ich schüttelte den Kopf. "Ich verstehe Sie nicht, Brondin!"
"Das müssen Sie auch nicht."
Diese Lichtjünger haben ihn von ihrer Sekte abhängig gemacht!, ging es mir durch den Kopf. Sie hatten ihn mit dem geködert, was er am meisten gesucht hatte: mit der Geborgenheit einer Gemeinschaft und einem Sinn für sein Leben. Diese Sekte war für Brondin etwas Ähnliches wie eine Droge. Er wusste, dass sie gefährlich für ihn war, aber ich bezweifelte, dass Brondin es so leicht schaffen würde, sich psychisch schnell von ihr zu lösen.
"Ich weiß noch nicht einmal Ihren Namen", bemerkte Brondin, kurz bevor ich ihn in New Manhattan absetzte. (Nach der Ansicht einiger populärwissenschaftlicher Autoren befanden sich die archäologischen Überreste der legendären Bronx unter den Fundamenten des modernen New Manhattan. Ein klug gewählter Ort für eine Legende – denn seit es um New Manhattan herum eine Leicht-Energiekuppel zur Stabilisieung des Klimas gab, war es unmöglich einen Tiefenscan durchzuführen, der das Erdreich unterhalb der modernen City mehr als 500 Meter tief durchdrang. So würde es fürs erste unmöglich sein, diese Behauptungen zu wiederlegen. Eine zwischenzeitliche Abschaltung der Energiekuppel hätte Milliarden Galax gekostet. Niemand würde auf Jahrhunderte dazu bereit sein ...)
Ich blickte Brondin etwas überrascht an.
"Meinen Namen?", echote ich.
"Immerhin haben Sie mich aus einer schlimmen Lage befreit."
"Sehen Sie das wirklich so?"
"Sie weichen aus."
Ich musste unwillkürlich lächeln. "Vielleicht haben Sie sogar recht, Brondin."
Der VXR-Gleiter tauchte in die Leicht-Energiekuppel ein. Das war problemlos möglich, wenn es in einem bestimmten Eintrittswinkel geschah. Das Autopilot-Programm des Gleiters war darauf eingerichtet. Ich sandte eine Nachricht an Palmon Jarvus, woraufhin mein VXR durch einen Leitstrahl zu einem Privathangar gelotst wurde. Er befand sich in einem der oberen Geschosse eines hohen Wohnturms. Palmon Jarvus nahm seinen Sohn in Empfang, beglückwünschte mich zu meiner Arbeit und gab mir sein Wort darauf, dass meine persönlichen Daten aus den Datenspeichern von GADRAM gelöscht werden würden. Was dieses Wort wert war, musste sich noch zeigen.
Palmon Jarvus reichte mir zum Abschied die Hand und meinte: "Sie können mir vertrauen, Morley!"
"Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig."
Selbst wenn er mich, was die Daten bei GADRAM betraf, am Ende doch übers Ohr haute, so waren mir die 200 000 Galax doch sicher.
Mit gemischten Gefühlen trat ich den Rückflug an.
Ich hatte ein paar Bekannte, die es vielleicht fertigbringen konnten, sich bei GADRAM einzuhacken.
Der VXR-Gleiter schwebte über die schroffe Topographie aus hoch emporragenden Wohntürmen, die für New Manhattan kennzeichnend waren. Der Autopilot des SYSTEMS lenkte das Gefährt durch die Leichtenergiekuppel, in deren Inneren Temperatur und Zusammensetzung der Atmosphäre konstant gehalten wurde. Ich flog auf die Hudson-Mündung zu, unter mir befanden sich die Ruinen von Old Manhattan, unter anderem die Zwillingstürme des World Trade Centers, einem Baudenkmal aus dem zwanzigsten Jahrhundert.Einer unbestätigten Theorie nach handelte es sich bei den Ruinen allerdings nicht um das Original, sondern einen Nachbau aus späterer Zeit. Dieser historischen Lehrmeinung nach war das World Trade Center im Verlauf der Jahrhunderte insgesamt viermal zerstört und wieder aufgebaut worden. Jedesmal natürlich stabiler und sicherer als je zuvor. Die lange Überlebensdauer der bestehenden Version von mehr als einem Jahrtausend sprach dafür, dass dies zumindest beim letzten Bau auch gelungen war. Dieser Theorie nach war die jetzt bestehende Version im 23. oder 24. Jahrhundert entstanden. Die archäologische Wahrheit darüber war auf Grund von Ereignissen der späteren, besser dokumentierten Geschichte heute allerdings nicht mehr festzustellen ... Old Manhattan war bis vor dreihundert Jahren eine blühende Stadt gewesen.
Dann war es zu einem Unfall gekommen, bei dem Pasang-Strahlung freigeworden war. Jetzt war Old Manhattan ein Sperrgebiet, das noch auf Jahrtausende hin unbewohnbar bleiben würde. Die tödliche Pasang-Strahlung wurde durch ein seit Jahrhunderten aufrechterhaltendes elektromagnetisches Eindämmungsfeld in Schach gehalten, so dass keine Gefahr für die großen Städte in der Umgebung bestand: insbesondere Greater Brooklyn und Queens. Laserlicht-Markierungen zeigten optisch die Grenzen des Eindämmungsfeldes und damit auch der Sperrzone an.
Der VXR sank plötzlich, mitten über einem wildwuchernden Stück Dschungel, bei dem es sich angeblich um die Überreste des ehedem legendären Central Parks handelte. Riesenhafte Farne wuchsen dort. Die Verantwortlichen stritten noch darum, ob die Pasang-Strahlung für Mutationen gesorgt hatte oder ob es sich um illegal eingeführte Sorten von anderen Welten handelte. Aber es gab niemanden, der ein Interesse hatte, das genauer zu untersuchen. Der normale Erdmensch des vierten Jahrtausends wohnte in einer STADT, die in der Regel ohnehin klinisch vom Rest des Planeten separiert war. Und die wenigen Außenseiter, die in ein anderes Leben bevorzugten und beispielsweise in den OutlawSectors oder auf einsamen Inseln wie Makatua lebten, interessierten sich aus anderen Gründen nicht dafür.
Ich registrierte die Warnanzeigen, sowohl an den Konsolen, als auch in meinem linken Auge.
>Warnung! Akuter Energieverlust!>
"Warnung! Akuter Energieverlust!"
Sowohl die Pseudostimme, die nicht viel mehr als einen meiner Hörnerven über den CyberSensor darstellte, als auch die Lautsprecherstimme des SYSTEMS schrillten gleichzeitig.
Besser gesagt: fast gleichzeitig.
Es gab eine geringe, aber doch hörbare Verzögerung von wenigen Millisekunden. Und allein die Tatsache, dass beide Sprachanzeigen nicht mehr synchron waren, machte mir überdeutlich, dass etwas nicht stimmte.
Ich überlegte fieberhaft, ging per Mentalimpuls im Blitztempo das SYSTEMMENÜ durch. Die Flugbahn des Gleiters verlangsamte und senkte sich. Eine Kombination, die mir Schweißperlen auf die Stirn trieb.
Ich stürzte ab.
Der VXR raste geradewegs auf einen der Zwillingstürme des World Trade Centers zu.
"Umschalten auf manuelle Steuerung!", befahl ich.
>Zugriff verweigert.>
"Zugriff unmöglich."
Die Synchronizität zwischen Pseudostimme und SYSTEM-Lautsprecher war offenbar vollkommen dahin. Complete Error, so hätten die heute ihrer sprachlichen Ausdruckskraft wegen hochgeschätzten Dichter altirdischer Computerjournale vielleicht ausgedrückt.
Ich versuchte es nochmal und bekam nichts weiter als ein sinnloses Konzert sich überlagernder Sprachmeldungen des SYSTEMs. Ein kompletter Systemabsturz, durchzuckte es mich. Sekunden noch und der VXR würde mit voller Wucht auf den Beton des World Trade Centers stoßen. Der sichere Tod für mich. Selbst wenn ich von Bord ging und mich auf das Antigrav-Aggregat unter meinen Schuhen verließ, war ich geliefert. Zwar würde das Aggregat dafür sorgen, dass ich sanft zu Boden schwebte und es erlaubte dem geübten Benutzer Sprünge bis zu dreißig Meter Höhe, aber die Dosis an Pasang-Strahlen, die man selbst bei einem nur Minuten währenden Aufenthalt in Old Manhattan abbekam, war tödlich. Selbst die fortgeschrittene Medizin unseres Jahrtausends konnte nichts gegen die Folgen tun. Ein paar qualvolle Tage auf der elektromagnetisch abgeschirmten Isolierstation eines MedoCenters waren in diesem Fall das, was ich im Höchstfall erwarten konnte. Jemand, der durch Pasang-Strahlen verseucht wurde, war nicht nur ein sicherer Todeskandidat, er wurde selbst ebenfalls zu einer Strahlenquelle und gefährdete seine Umgebung.
Kein Ausweg, durchzuckte es mich.
Jedes Schlupfloch schien von einer allmächtigen Entität im Hintergrund versperrt worden zu sein.
Es war wie verhext.
Als ob die wirren Fantasien der Kirche des reinen Lichtes Wirklichkeit geworden wären und das Universum tatsächlich im Einflussbereich Satans liegt!, ging es mir schaudernd durch den Kopf.
Die Augenanzeige rechnete mir vor, wie viele Sekunden mir noch bis zum Aufprall blieben.
Sieben, acht ...
In meinem Hirn rasten fieberhaft die Gedanken. Hast du etwas übersehen? Etwas, das du jetzt noch tun könntest? Etwas, das dich aus dieser miesen Lage herauskatapultieren könnte?
Ich fühlte mich wie gelähmt.
Man sagt immer, dass in solchen Augenblicken das gesamte Leben wie in einer rasanten Holo-Anwendung an einem vorüberzieht. Bei mir war das nicht der Fall.
Noch fünf Sekunden ...
Ich machte ein paar schnelle Schritte zur Transmitterstation. Sie jetzt zu benutzen war äußerst riskant. Schließlich lag ein ohne Zweifel schwerwiegender SYSTEMfehler vor. Und wenn ich Pech hatte, dann löste mich der Transmitter in meine Moleküle auf und beließ es dann dabei.
Zerstückelt in Milliarden Einzelteile, deren Anordnung in einer Daten-Matrix gespeichert war. Wenn die verloren ging, dann bedeutete das den Tod, einen Zerfall, der millionenmal schneller vor sich ging als die natürliche Verwesung. Der Eintritt in das absolute Nichts von einem Moment zum anderen.
Drei Sekunden ...
Ich hatte keine Wahl, trat in die Transmitterkabine ein und aktivierte die Notfallsequenz. Unter normalen Umständen musste ich innerhalb eines Augenaufschlags in der Transmitterstation meiner Wohnung in Barcana materialisieren.
Aber von normalen Umständen konnte keine Rede sein.
Gleichgfültig ob das System reagiert oder nicht, dachte ich. Vielleicht kam es auf dassselbe hinaus.
Ich schloss die Augen.
Zwei Sekunden.
Eine.
Schluss.
*
Ich öffnete die Augen. Das erste, was ich sah, war ein undeutliches Flimmern. Der Eindruck von grellem Licht. Dann Stimmen. Das Flimmern verschwand schon nach ein paar Sekunden, die Stimmen waren weiterhin zu hören.
"Wir haben ihn", hörte ich eine Männerstimme sagen. "Das war verdammt knapp!"
Konturen bildeten sich. Mein normales Sehvermögen kehrte zurück. Ich blickte mich um, erkannte sofort die Transmitterstation meiner Residenz in Barcana. Ich fühlte mich etwas schwach auf den Beinen und konnte mir das erst nicht erklären. Ein Gefühl wie Muskelkater.
Drei Männer in dunklen Kombinationen befanden sich mit mir im Raum, dazu eine Frau, die auf die gleiche Art gekleidet war. Das Emblem der Polizei von Barcana war eher unscheinbar an der Schulter angebracht.
Zwei der Polizisten griffen zu den Strahlern an den Magnethaltern ihrer Kombinationen.
"Stehenbleiben! Keine Bewegung!", rief einer von ihnen. Es handelte sich um einen grauhaarigen Mann mit kurzen Haaren und kantigem Gesicht. "Lugan Caminaro, Barcana Police Department", stellte er sich vor. "Ihr CyberSensor kann unseren Dienstcode bestätigen. Sorgen Sie dafür, dass Ihr Gerät empfangsbereit ist."
Ich gehorchte.
Es blieb mir auch kaum etwas anderes übrig.
Der CyberSensor akzeptierte die Identifikation der Beamten und gab im Gegenzug meinen Code an die Polizisten weiter. Aber genau damit stimmte etwas nicht.
Die dunkel Gekleideten blickten sich an. Die Frau hob eine Augenbraue hoch. Auf ihren Augen-Anzeigen musste irgend etwas zu sehen sein, was sie erstaunte.
"Ihrem Code nach sind Sie Tom Forano, wohnhaft in Mars Port, Mars, 77 Jahre alt ...", stellte Lugan Caminaro mit emotionsloser Stimme fest, während einer seiner Kollegen an mich herantrat und mir meine Waffen abnahm. Ich trug immer noch den CyberSensor mit den Persönlichkeitsmerkmalen von Tom Forano, desgleichen die hauchdünnen halborganischen Handschuhe und die Kontaktlinsen zur Simulation eines Iris-Musters. Okay, dachte ich. Du hast ein Identitäts-Verbrechen begangen. Aber das würde sich mit einer 1000 Galax-Geldbuße für einen gemeinnützigen Zweck wieder hinbiegen lassen.
Lugan Caminaro trat näher an mich heran, musterte mich auf eine ziemlich unangenehme Weise.
"Wir haben in den Datenspeichern Ihres Wohnungscomputers Bildmaterial entdeckt, das Sie als eine Art Doppelgänger von Dak Morley ausweist. Sie wissen, dass Gesichtsmerkmale zwar nicht mehr als für eine Identifizierung ausreichende Datengrundlage gelten, aber zusammen mit weiteren Merkmalen ..."
"Ich will nicht weiter um den heißen Brei herumreden", erklärte ich, denn ich begann zu ahnen, dass Lugan Caminaro und seine Leute einen trifftigen Grund haben mussten, um in meine Wohnung einzudringen. Unbehagen regte sich in mir. Meine Beine fühlten inzwischen wieder ganz normal an. Der ziehende Schmerz war verschwunden. Aber es blieb die Frage, was eigentlich geschehen war? Es war nicht alles normal verlaufen, und das betraf auch den Transmitter-Transport von meinem VXR-Gleiter aus. Der Gleiter musste längst an den Betonmauern des World Trade Centers zerschellt sein. Der interne Rechner der Transmitterstation musste Daten darüber enthalten, von welchem, Punkt man mich aus dem Äther gefischt hatte. Das bedeutete, dass nach und nach alles ans Licht kommen konnte. Und vielleicht war sogar schon mehr bekannt, als mir lieb war.
Lugan Caminaro hob die Augenbrauen.
"Also?"
"Ich bin Dak Morley."
"Das dachten wir uns. Im übrigen haben wir bei der Durchsuchung Ihrer Residenz und der Datenspeicher Ihres Wohnungsrechners noch diverse andere interessante Dinge gefunden. Beispielsweise ein Programm zur Erstellung von Kontaktlinsen zur Simulation eines falschen Iris-Musters und ..."
"Was gibt Ihnen eigentlich das Recht, hier herumzuschnüffeln und Datenspeicher zu durchsuchen?", unterbrach ich ihn. Caminaros Gesicht blieb völlig unbewegt.
"Sie haben das Recht zu schweigen, wenn Sie sich durch Ihre Aussage selbst belasten würden – aber Sie haben nicht das Recht auf Unverletzlichkeit Ihrer Datenspeicher, wenn in Ihrer Wohnung ein Kapitalverbrechen begangen wurde ..."
"Ein Kapitalverbrechen?", echote ich. Mir wurde eng um den Hals. Ich zog den CyberSensor für meine Tom Forano-Identität aus der Nackenöffnung, holte das Dak Morley-Gegenstück aus der Brusttasche meiner Kombination und steckte es hinein. Sämtliche Funktionen der Wohnung waren auf Dak Morleys persöhnliche Merkmale hin programmiert. Tom Forano hatte hier ja auch eigentlich nichts zu suchen.
Anschließend streifte ich die halborganischen Handschuhe ab.
"Sie wissen, dass Sie sich strafbar gemacht haben?", erkundigte sich Lugan Caminaro.
"Ich denke, Sie sind nicht wegen dieser Lappalie hier."
"Nein, das ist richtig."
"Was ist passiert?"
"Zuerst beantworten Sie mir noch ein paar Fragen."
Ich hob die Augenbrauen und knibbelte an dem rechten halborganischen Handschuh herum. Er lag so dicht an, dass er sich wie eine zweite Haut anfühlte und auch optisch kaum auffiel. Leider war es nicht immer ganz einfach, die Dinger wieder abzustreifen, was bei einem Rechtshänder eben vor allem für die rechte Hand galt.
"Fragen Sie", forderte ich ihn auf.
Währenddessen rasten die Gedanken nur so in meinem Kopf. Ich versuchte über Mentalimpulse an das SYSTEM meiner Wohnung heranzukommen, um Näheres zu erfahren. Es war unmöglich. Meine Freunde und Helfer vom Barcana Police Department hatten in dieser Hinsicht vorgesorgt und so gut wie alle relevanten Programmteile blockiert.
>Zugriff verweigert! Zugriff verweigert!>, schnarrte die Pseudostimme in meine Gehörnervenendungen.
Verdammt.
Die Frau machte sich inzwischen am internen Rechner der Transmitterstation zu schaffen.
"Er hat sich von einem auf Tom Forano zugelassenen VXR-Gleiter hierher beamen lassen", stellte sie fest. "Der Gleiter befand sich gerade ..." Sie stockte. "Er war gerade im Begriff in die Todeszone von Old Manhattan zu stürzen."
"Noch mal Glück gehabt, was?", meldete sich Caminaro zu Wort.
"Kann man sagen", nickte ich.
"Was war los mit Ihrem Gleiter?"
"Fehlfunktion im SYSTEM, nehme ich an. Ich hatte wirklich Glück, nicht zusammen mit dem Ding in die Ruinen gestürzt zu sein."
"Sie hatten auch verflucht großes Glück, hier überhaupt angekommen zu sein."
"Klar, bei einer Fehlfunktion im SYSTEM kann ja auch der Transmitter fehlerhaft arbeiten und die eigenen Moleküle in alle Winde verstreuen."
"Genau das wäre beinahe passiert, Morley. Einzig und allein der Tatsache, dass wir hier waren und eingreifen konnten, verdanken Sie Ihr Leben."
Ich blickte zur Transmitterstation. "Dann gab es auch beim Empfang der Daten Schwierigkeiten?"
"Und zwar ganz erhebliche!" Caminaro deutete zu der Frau hinüber. "Glücklicherweise kennt sich unsere Kollegin Jimora hervorragend mit Transmittern aus."
Mir war bekannt, dass die meisten Polizeieinheiten im gesamten Iplan-Gebiet über Transmitter-Spezialisten verfügten. Schließlich war der Transmitter im Allgemeinen ein sehr schnelles und problemloses Transportmittel – und dadurch auch eine Fluchtmöglichkeit ersten Ranges. Zumindest wenn man schnell war und nicht erst wartete, bis die eigenen ID- Merkmale in allen Fahndungsdateien waren, was zur Folge haben konnte, dass eine Transmitterbenutzung sofort an den Zentralrechner für Verbrechensbekämpfung gemeldet wurde. Aber für den Sprung auf und davon war der Transmitter nach wie vor unschlagbar. Tausende von Lichtjahren in Nullzeit. Dagegen war jedes Raumschiff (bedingt durch die Beschleunigungsphasen vor dem Raumsprung) eine Schnecke.
"Warum reisen Sie mit falscher Identität herum?", fragte mich Caminaro.
"Die Tatsache an sich habe ich zugegeben, eine Begründung dafür muss ich Ihnen nicht geben."
"Mir nicht, aber dem Gericht ..."
"Vielleicht sagen Sie mir jetzt langsam mal, was hier eigentlich los ist, Caminaro."
Lugan Caminaro wechselte einen kurzen Blick mit seiner Kollegin Jimora.
Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen.
Ein Schweigen, das mir nicht gefiel.
"Kommen Sie", forderte Caminaro mich dann auf. Mit einer nachlässig wirkenden Geste bedeutete er mir, ihm zu folgen. Ich ging hinter ihm her. Ein flaues Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Sorana, dachte ich. Wann würde sie zurückkehren? Ich hoffte, dass das erst der Fall war, wenn Caminaro und seine Meute verschwunden waren. Aber ich hatte es im Gefühl, dass es anders kommen würde. Ganz anders.
Ich betrat gemeinsam mit Caminaro einen der Aufenthaltsräume. Die Wand war transparent, man konnte hinaus auf das Meer blicken. Wolken zogen von Alt-B herüber. Es würde Regen geben.
Ich ließ den Blick schweifen und erstarrte.
Ein seltsam verrenkter Körper lag ausgestreckt auf dem Boden. Ein Frauenkörper.
"Sorana", flüsterte ich. Ich beugte mich zu ihr hinunter, kniete mich nieder, berührte leicht ihre Schulter. Ihr Blick war starr, das Gesicht verzerrt.
"Sie können sie ruhig anfassen", sagte Caminaro kalt wie ein Fisch. "Wir haben einen Totalscan Ihrer Wohnung genommen. Es gibt keine Spur, die uns entgehen könnte."
Ich schluckte.
Caminaros Stimme klang für mich wie ein Echo aus weiter Ferne. Dutzende von Gedanken rasten in diesen Augenblicken gleichzeitig durch mein Hirn. Verdammt, was ist hier Entsetzliches geschehen?, hämmerte es in mir. Sorana ... Ich war glücklich mit ihr gewesen und jetzt lag sie reglos vor mir. Tot. Alles in mir krampfte sich zusammem. Es war beinahe wie ein körperlicher Schmerz.,
"Die Tote ist Sorana Zanuck", stellte Caminaro fest. "Den Meldedateien nach ist sie ein Deck tiefer hier in Barcana gemeldet ..."
"Ja, sie hatte offiziell noch ihre eigene Wohnung, aber wir haben quasi zusammengelebt."
"Sie war ..." Caminaro zögerte.
"Meine Lebensgefährtin", ergänzte ich müde. Meine Hände ballten sich dabei unwillkürlich zu Fäusten. Ja, das war sie gewesen. Genau das. 'Einen wie großen Teil deines Lebens hast du denn mit ihr geteilt, dass du sie so nennst?', meldete sich eine leicht sarkastische Stimme in meinem Inneren. 'Hast du sie nicht von allem ausgeschlossen, was wirklich entscheidend war?' Sorana hatte von meinen Geschäften kaum wirklich etwas gewusst. Ganz grob mochte sie geahnt haben, dass manches davon nicht ganz koscher war. Es war besser so gewesen und sie schien das auch begriffen zu haben, denn irgendwann hatte sie die bohrende Fragerei ziemlich zurückgeschraubt. Nicht aus Desinteresse, sondern weil sie gewusst hatte, dass sie ohnehin keine Antwort erwarten konnte. Jedenfalls keine, die die volle Wahrheit enthielt.
Aber kam es auf diese Dinge jetzt noch an?
Sie war tot.
Das war alles, was zählte.
Wirklich begriffen hast du es noch nicht, Dak Morley oder wie immer du dich auch gerade nennst!, durchzuckte es mich schlaglichtartig.
"In Ihrem SYSTEM haben Sie eine Modifikation vorgenommen", stellte Jimora sachlich-kühl fest. "Sie haben das Programm so modifiziert, dass Sorana Zanucks Iris-Muster, Handabdrücke und Stimmuster intern in Daten umgewandelt wurden, die Ihren Werten entsprechen, Morley."
"So konnte sie auch in meiner Abwesenheit in der Wohnung sein, ohne dass es zu Problemen mit dem SYSTEM kam", erwiderte ich halblaut.
"Eine beachtliche Programmierleistung", erkannte Jimora mit hochgezogenen Augenbrauen an.
"Danke."
Caminaro meldete sich wieder zu Wort. "Warum haben Sie nicht einfach Ihre Lebensgefährtin dem SYSTEM als ebenfalls autorisierte Person angegeben?"
"Weil ..."
"Sie wollten die doppelten Systembenutzer-Gebühren sparen", stellte Caminaro fest.
"Das geht Sie nichts an."
"Sie haben recht. Ich ermittle nicht wegen illegaler Softwarenutzung."
"Beruhigt mich ja zu hören."
"Allerdings hat dieser kleine Programmiertrick, den Sie angewendet haben, doch etwas mit dem Tod Ihrer Lebensgefährtin zu tun."
"Ach, ja?"
"Sorana Zanuck starb durch einen elektrischen Schlag, den eine Fehlfunktion des Nahrungsmittelspenders auslöste."
"Ein Unfall?"
"Nein, kein Unfall."
Ich erhob mich, starrte Caminaro erstaunt an. "Wie soll ich das verstehen?"
"Das interne Programm des Nahrungsmittelspenders wurde durch eine Art Datensuffix manipuliert."
"Ein Virus?"
"Man könnte es so nennen. Allerdings haben wir Grund zu der Annahme, dass dieser Datensuffix ganz bewusst mit dem Ziel eingesetzt wurde, einen Menschen zu töten." Caminaro trat einen Schritt näher. Sein Blick bohrte sich auf unangenehme Weise in meine Augen. "Sie, Morley."
"Sie meinen ..."
".... dass der Angriff eigentlich auf Sie zielte, ja."
Der Gedankengang war logisch. Sorana hatte vermutlich den Befehl gegeben, eine Mahlzeit zuzubereiten oder eine Tasse Kaffee aufzubrühen. Gleichgültig, ob Sorana dies akustisch oder nur durch einen Mentalimpuls über ihren CyberSensor geäußert hatte, das SYSTEM musste sie durch meinen Programmiertrick als Dak Morley identifiziert haben.
Und dann hatte der unbekannte Programmsuffix die Fehlfunktion ausgelöst und Sorana einen elektrischen Schlag versetzt.
Caminaro streckte seinen Zeigefinger in meine Richtung und diese Geste wirkte auf mich beinahe so, als ob er mit der Mündung eines Nadlers auf mich zielte.
"Ich möchte wissen, wo Sie in den vergangenen achtundvierzig Stunden gewesen sind."
"Sie verdächtigen mich, Sorana getötet zu haben? Gerade noch haben Sie gesagt, dass der Anschlag vermutlich auf mich zielte ..."
"So sieht es aus. Aber das kann man ja auch simulieren!"
Und Jimora ergänzte: "Ganz besonders gilt das natürlich für jemanden mit Ihren Fähigkeiten."
"Das ist doch absurd!", fuhr ich auf.
Caminaro schüttelte den Kopf. "Nein, ist es nicht. Sie hätten den Nahrungsspender manipulieren können, sich mit einem Gleiter, einem falschen CyberSensor und falscher Identität davonmachen und dann mit Hilfe des Transmitters zurückspringen können, um den Eindruck zu erwecken, Sie seien zur Mordzeit gar nicht hiergewesen – obwohl die Daten Ihres SYSTEMS eine andere Sprache sprechen."
"Das SYSTEM hat Sorana registriert und für mich gehalten!"
"Durch Ihre Manipulation konnte es Sie und Ihre Lebensgefährtin nicht unterscheiden ... Aber das war ja vielleicht Teil des Plans!"
"Wenn Sorana und ich gleichzeitig in dieser Wohnung gewesen wären, dann müssten völlig wiedersprüchliche Daten auftauchen!", versuchte ich mich zu verteidigen. "Etwa dergestalt, dass ich gleichzeitig in zwei Zimmern anwesend war und SYSTEM-Applikationen genutzt habe ..."
"Solche paradoxen Daten MÜSSEN keineswegs auftauchen, Sie KÖNNEN ...", korrigierte er mich.
"Haben Sie mein System daraufhin gecheckt?"
"Mehrfach."
"Und?"
"Es gibt keine derartigen Paradoxien – aber das heißt nur, dass wir Ihnen gegenwärtig noch nicht Ihre Schuld beweisen können. Ein Beweis Ihrer Unschuld ist das nicht!"
Ich atmete tief durch. Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, vor einem tiefen Abgrund zu stehen. Alles schien sich gegen mich verschworen zu haben. Die unsichtbare Schlinge eines unsichtbaren Galgens zog sich immer enger um meinen Hals.(Diese antike Hinrichtungsmethode war bis heute sprichwörtlich geblieben).
Ich wusste, dass ich Sorana nicht umgebracht hatte. Aber ich war offenbar der einzige, der davon überzeugt war. Alles sprach gegen mich. Die Indizien bildeten eine geschlossene Kette, die ich mit wachsender innerer Panik in Gedanken entlangglitt, um sie auf irgendeine Schwachstelle hin zu untersuchen.
"Haben Sie mal darüber nachgedacht, welches Motiv ich haben sollte, Sorana zu töten?", fragte ich. Meine Stimme klang entsetzlich schwach dabei.
"Die überwiegende Mehrzahl aller Gewaltverbrechen sind Beziehungstaten", erklärte er.
Während er lächelte, entblößte Caminaro seine makellosen Zähne.
"Dann werden Sie mich wegen Mordes verhaften?", fragte ich.
Caminaro schüttelte den Kopf.
"Zunächst einmal gibt es nur Hausarrest."
"Zu gütig."
"Unsere Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Sie gelten als Verdächtiger und behalten Ihren Zugang zum GalaxyNet."
Einschränkung der corporalen Bewegungsfreiheit, so hieß die Maßnahme, die Lugan Caminaro gerade verhängt hatte. Ich war nicht begeistert davon, aber andererseits hätte es auch wesentlich schlimmer kommen können.
"Warum nehmen Sie mich nicht gleich in Untersuchungshaft?", erkundigte ich mich. "Schließlich scheint der Fall in Ihren Augen ja ziemlich eindeutig zu sein."
Lugan Caminaro lächelte dünn.
"Es gibt einen einzigen Punkt, der für Sie spricht."
"Und der wäre?"
"Sie sind bei der Benutzung des Transmitters beinahe ums Leben gekommen. Wenn wir Sie da nicht herausgeholt hätten, wären Ihre Moleküle jetzt nicht mehr zusammenzufügen."
"Hätte ich nicht auch das vorausplanen können?", erwiderte ich sarkastisch. "Schließlich wusste ich doch, dass Sorana im internen Rechner ihres CyberSensor eine Maximum Security-Applikation installiert hatte."
Genau diese Applikation war verantwortlich dafür, dass Lugan Caminaro und seine Leute jetzt hier in meiner Wohnung standen. Der CyberSensor des Anwenders von Maximum Security zeichnete einige physische Parameter wie Herzschlag, Gehirnströme, Blutdruck und andere mehr auf. Wenn diese einen vorher festgelegten Toleranzrahmen überschritten, wurde automatisch der medizinische Notfalldienst alarmiert. Im Falle des Ablebens auch die Polizei und die Gerichtsmedizin, die nach den Iplan-Gesetzen bei jedem Todesfall hinzugezogen werden musste.
Die Installation von Maximum Security kostete ein kleines Vermögen. Aber nachdem Sorana vor anderthalb Jahren eine Art Allergieschock erlitten hatte, war es ihr die entsprechende Summe wert gewesen.
"Wir werden alles herausfinden, Morley. Jedes Detail", versicherte mir Caminaro. Es klang wie eine Drohung.
"Ich kann's kaum erwarten!"
"Wir haben noch eine zweite Theorie!", mischte sich jetzt Jimora ein. Ich sah sie erstaunt an. Sie fuhr ungerührt fort: "Wir halten es – allerdings mit geringerem Prozentsatz der Wahrscheinlichkeit – für möglich, dass tatsächlich Sie das Opfer sein sollten, Morley. Wir haben uns Ihre 'Geschäfte' etwas genauer angesehen. Sie sind offiziell Privat-Ermittler, aber was Sie in Wirklichkeit so treiben ..."
"Meine Kollegin will darauf hinaus, dass Sie sich möglicherweise mächtige Feinde gemacht haben, die sich nichts sehnlicher wünschen als Ihren Tod", schnitt ihr Caminaro das Wort ab. "Wenn das so sein sollte, dann würde ich Ihnen dringend raten, in jeder nur erdenklichen Hinsicht mit uns zusammen zu arbeiten, Morley. Der nächste Anschlag auf Sie könnte erfolgreich sein."
Ja, dachte ich, und das vor allem, weil ich jetzt Gefangener in meiner eigenen Residenz bin! Der unbekannte Feind, der mir ans Leder wollte, brauchte jedenfalls nicht lange nach mir zu suchen. Er hatte es einmal geschafft, in mein SYSTEM einzudringen und es gab keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass ihm das nicht ein zweites Mal gelingen würde.
Ein Signal meiner Sichtanzeige bedeutete mir, dass zwei Beamte in der Uniform des Barcana Police Departments meine Residenz betreten hatten. Einer von Caminaros Leuten hatte sie hereingelassen.
Wenig später tauchten sie in dem Aufenthaltsraum auf, in dem Sorana getötet worden war.
Es handelte sich um einen Mann und eine Frau. Der Mann war hochgewachsen, sehr hellhäutig und rothaarig. Die Frau eher gedrungen und blond.
Der Mann beiden hielt einen Apparat in der Hand.
"Wir würden gerne die Leiche abholen", sagte er an Caminaro gewandt.
"Tun Sie das", nickte dieser.
Ich wusste, wie so etwas vor sich ging. Ein lokales Transmitterfeld verbrachte den Leichnam direkt ins Labor.
Der Mann stellte den Apparat auf den Boden. Es war ein speziell für diese Zwecke konstruierter Minitransmitter. Für Lebende war die Übertragungsrate der Datenmatrix nicht groß genug, für Tote reichte sie aus. Ihnen machte es schließlich nichts mehr aus, wenn der Rematerialisierungs-Prozess etwas länger dauerte – etwa so lange, dass ein lebendes Gehirn einige Minuten lang ohne Sauerstoff gewesen wäre, weil die Lunge, die für die Atmung hätte sorgen können, noch in ihre Moleküle zerlegt war. Aber für Tote war das in Ordnung.
Ich sah mit geradezu gebanntem Blick auf ihren Körper, ihre panisch verzerrten Gesichtszüge. Sie verschwand langsam vor meinen Augen, wurde zu einer schwachen, von Flimmerlicht durchdrungenen Projektion, bevor sie schließlich ganz verschwunden war.
Den, der dafür verantwortlich war, würde ich zur Rechenschaft ziehen. Das nahm ich mir fest vor.
Eine Welle ohnmächtiger Wut, gemischt mit Trauer, überspülte mein Bewusstsein.
"Was glauben Sie, wer Sie umbringen will, Morley?", hörte ich Lugan Caminaros Frage beinahe wie durch eine Mauer aus Watte hindurch.
"Ich habe keine Ahnung", sagte ich.
Es war in diesem Fall tatsächlich die Wahrheit. Ich wusste es einfach nicht.
BARETTO vielleicht?
War doch einer einer der BARETTO-Spione bei GADRAM an meine Daten herangekommen? Oder hatte am Ende sogar mein ach so großzügiger Auftraggeber Palmon Jarvus die Daten höchstpersönlich weitergegeben, um mich ans Messer zu liefern und damit die letzte Spur zu beseitigen, die ihn mit einer illegalen Aktion auf der Pazifik-Insel Makatua in Verbindung brachte?
Mich.
'Die Staaten – sie sind kalte Ungeheuer' – so hatte ich das Zitat eines antiken Philosophen aus der Prä-Weltraum-Ära in Erinnerung. (War es Friedrich Nietzsche? Irgendein Europäer jedenfalls.) Der Satz ließ sich auch auf Konzerne anwenden, das hatte ich oft genug erlebt.
"Was haben Sie mit Ihrem Gleiter über Old Manhattan gemacht?", fragte mich Caminaro. Er schielte leicht mit dem linken Auge, die Pupille zitterte. Ich nahm an, dass seine Sichtanzeige ihm irgend etwas auf die Netzhaut zauberte. Vielleicht neueste Daten über den Zusammenstoß meines VXR- Gleiters mit einem Gebäude, das einstmals unter der Bezeichnung World Trade Center große Bedeutung gehabt hatte, während heute kaum noch jemand wusste, was diese drei Worte eigentlich bedeuteten. Mit Ausnahme von Leuten, zu deren Hobby es gehörte, ausgestorbene Sprachen wie Latein und Englisch zu lernen. Sprachen, die nur noch in Form zahlloser Fachbegriffe überdauert hatten.
Ich kratzte mich am Kinn, wich Caminaros Blick aus.
Schließlich sagte ich: "Ich kann nicht mehr dazu sagen, als dass es ein beinahe totales SYSTEMversagen gab."
"Sie sind in New Manhattan gestartet." Es war eine Feststellung, keine Frage.
Ich nickte. "Ja."
"Beim Passieren der Leichtenergie-Barriere gab es keinerlei Probleme?"
"Nein, erst danach."
"Was haben Sie in New Manhattan gemacht?"
"Geschäfte."
"Mit wem? Worum ging es? Nun reden Sie schon, Mann! Wenn Sie wirklich der Mörder Ihrer Freundin sind, dann sollen Sie jetzt endlich auspacken! Wie gesagt, wir sind weder vom Department gegen Industriespionage noch von der Drogenpolizei. Uns interessiert nur der Mord an Sorana Zanuck!"
Ich wog blitzschnell ab. Angenommen, Palmon Jarvus steckte tatsächlich dahinter (was mir immer wahrscheinlicher erschien, je länger ich darüber nachdachte), dann konnte ich nichts dadurch gewinnen, dass ich Caminaro gegenüber seinen Namen erwähnte. Einer wie er war für mich unangreifbar, jedenfalls auf juristischem Weg. Und wenn ich ihn in Schwierigkeiten brachte, ohne dass er etwas mit der Sache zu tun hatte, schuf ich mir damit einen weiteren mächtigen Feind – neben dem unbekannten Mister X, der die Herrschaft in meinem SYSTEM übernommen hatte.
Also erklärte ich: "Ich kann Ihnen dazu nichts sagen."
"Das ist nicht Ihr Ernst!"
"Ich berufe mich auf meine Rechte gemäß der Iplan-Verfassung."
Caminaro sah mich eine Weile an. Dann zuckte er mit den Schultern. "Okay, Sie wollen es nicht anders. Dann werden Sie die Folgen ausbaden müssen, Morley."
"Das lassen Sie mal meine Sorge sein."
"Wie Sie meinen. Die internen Rechner sämtlicher Außentüren sowie Ihres privaten Gleiterhangars wurden modifiziert. Ich mache Sie pflichtgemäß darauf aufmerksam, dass Sie diese Türen nicht mehr öffnen können, ohne dafür eine Genehmigung unserer Behörde eingeholt zu haben ..."
"... die für die Dauer Ihrer Ermittlungen aber wohl kaum erteilt werden wird!", vollendete ich.
Caminaro verzog das Gesicht. "Sie sagen es."
Er machte seinen Leuten ein Zeichen.
Sie zogen ab. Hinter ihnen schloss sich die Tür meiner Residenz, die von nun an zu einer Art Gefängnis für mich wurde.
*
Ich sah mir einen alten 2-D-Film an und dachte dabei über verschiedene Dinge nach. Vor allem über meine Flucht. Denn dass ich hier nicht wie ein schlachtreifes Kaninchen in seinem Käfig ausharren würde, bis man mir die Schlinge um den Hals legen konnte, stand für mich außer Frage. (Ja, ich liebe diese antiken Analogien. Die 2-D-Filme sind voll davon. Sie besitzen gewissermaßen eine Art eigenen Sprachcode.)
Ich musste weg, aber das wollte gut vorbereitet sein. Irgendwie würde ich das schon hinkriegen, schließlich hatte ich es ja auch geschafft, Palmon Jarvus' Sohn aus den Klauen einer Sekte zu befreien.
(Die Kirche der Reinheit – kam sie vielleicht als verborgene Kraft hinter dem Attentat auf mich in Frage? Auch eine Möglichkeit, die ich nicht völlig außer Acht lassen durfte. So weltabgewandt sich die Lichtjünger auch geben mochten, so konnten sie deshalb trotzdem über exzellente und weitreichende Verbindungen verfügen.)
Und wenn Sorana doch nicht meinetwegen sterben musste, sondern das Motiv für diese Tat ganz woanders zu suchen war?
In Soranas Umfeld nämlich?
Ich musste zugeben, mich nie besonders für das interessiert zu haben, was sie in dem Reisebüro getan hatte, in dem sie angestellt gewesen war.
Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht, schloss dann einige Momente lang die Augenlider. Ich versuchte mich zu konzentrieren und etwas Ordnung in das Chaos zu bringen, das in meinem Bewusstsein herrschte. Im Hintergrund hörte ich die Stimme Humphrey Bogarts im amerikanischen Original. (Um ihn verstehen zu können, hatte ich mich eigens einem Hypnoschulungsprogramm in alten Sprachen unterzogen, was mir hernach auch noch den Vorteil eingebracht hatte, sämtliche Namen von Arzneimitteln sowie sämtliche Computer-Termini in perfektes Erdeanisch des 35. Jahrhunderts übersetzen zu können.) Bogarts Worte wirkten wie eine Art Meditationsmusik im Hintergrund. Ich hatte sie dutzendfach gehört, kannte jede ihrer Bedeutungsnuancen inklusive ihres historischen Kontextes, aber jetzt wurde daraus nichts weiter als ein undeutliches Gemurmel im Hintergrund.
Für mich stand fest, dass der System Error an Bord des VXR-Gleiters ein Teil des Attentats war. Aber warum erst nach meinem Aufbruch aus New Manhattan? Warum nicht vorher? Wieso hatten der oder die Unbekannten nicht bereits durch eine Explosion im Gleiter-Hangar dafür gesorgt, dass ich außer Gefecht gesetzt wurde?
Es hat einen Versuch gegeben!, erinnerte ich mich. Der Hangarschott, der dich um ein Haar zerquetscht hätte ...
Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Das war der Beginn gewesen. Der erste Mordversuch. Wenn dem so war, dann schied Palmon Jarvus als verdächtiger Hintermann aus. Die Kirche der Reinheit ebenfalls, denn die konnte erst nach meinem Einsatz auf Malkatua auf mich aufmerksam geworden sein.
Blieb BARETTO.
Ein Konzern, dessen Arme sehr weit reichten. Eine Firma, die es sich zum Teil leisten konnte, ihre eigenen Gesetze zu machen. Eine Macht für sich, in deren inneren Zirkel allerhöchstens die spionierende Konkurrenz – aber wohl kaum die Behörden – Einblick hatten.
"Systemüberprüfung", wandte ich mich über Cybersensor an das System meiner Wohnung. "Ich möchte, dass sämtliche Speicher nach einem unbekannten Datensuffix durchsucht werden."
>Befehl wird ausgeführt>, meldete die Pseudostimme meinen Gehörnerven.
"Ich möchte, dass für diese Untersuchung ein Maximum an Ressourcen verwendet wird."
>Wird bestätigt.>
Ich wartete. Schließlich teilte mir das SYSTEM mit, was ich schon wusste. Dass nämlich bei einer SYSTEMüberprüfung durch Caminaros Leute ein Virus gefunden und eliminiert worden war. Eine Kopie des Virus war zu Untersuchungszwecken erzeugt und auf einen Datenträger gespeichert worden.
>Sie können vollkommen beruhigt sein>, versicherte mir das SYSTEM. Aber ich traute ihm nicht mehr.
Ich ließ mir in meiner Sichtanzeige anzeigen, bei welcher Anwendung der Killervirus zum ersten Mal in mein SYSTEM hineinkopiert worden war.
Es war beim Aufruf eines CyberSpiels mit der Bezeichnung MEGA KILLER geschehen.
Ein Killerprogramm im Gewand eines harmlosen Ballerspiels.
Was für eine passende Tarnung!, dachte ich.
*
In den nächsten Tagen ging ich daran, meine Flucht vorzubereiten. Ich hatte keine Lust darauf zu warten, dass Lugan Caminaro mir in aller Ruhe den Strick drehte. (Haben diese altirdischen Sprachbilder nicht etwas sehr Poetisches an sich?).
Aber noch mehr Sorgen als dieser eifrige Beamte des Barcana Police Departments machte mir jene bislang unbekannte Macht, die mir den MEGA KILLER auf den Hals gehetzt hatte. Wer sich so viel Mühe gab, um mich umzubringen, der würde es wieder versuchen. Davon war ich überzeugt.
Ich musste hier weg, fort von Barcana, eine neue Identität annehmen und ein paar Haken kreuz und quer durch die besiedelte Galaxis schlagen. Vielleicht würde mein Verfolger aufgeben oder mich vergessen. Wieder und wieder ging ich die Liste der Leute durch, denen ich auf die Füße getreten war. Immer wieder blieb ich bei dem Namen BARETTO hängen. Dieser Konzern war ein Gegner, an den ich nicht heran konnte. Also blieb nur die Flucht. Allerdings musste ich dafür einige Vorbereitungen treffen.
Ich konnte mich während meines Hausarrestes zwar im GalaxyNet mehr oder weniger 'frei' bewegen, aber mit Sicherheit würden alle Aktivitäten, die ich dort unternahm, sorgfältig überwacht werden.
Ich musste mir also gut überlegen, mit wem ich überhaupt Kontakt aufnahm.
Andererseits konnte ich darauf setzen, dass die SYSTEM-Überprüfung durch Caminaro und seine Leute nicht so tiefgehend gewesen waren, dass dadurch die verborgenen Sektoren meines Rechners aufgespürt worden wären. Ich kannte die Software, die das Police Department benutzte. Sie taugte nicht viel. In den verborgenen Sektoren meines SYSTEMs schlummerten noch ein paar Anwendungen, mit deren Hilfe ich mir in aller Ruhe ein neues Ich zimmern konnte. Ich dachte bereits über einen Namen nach. Ich dachte an 'Sam Spade', den Helden aus THE MALTESE FALCON. Aber 'Spade Sam' klang auch nicht schlecht.
Ich wählte die verborgenen Sektoren an und erschrak.
>Zugriff verweigert!>, flötete mir die Pseudostimme des SYSTEMS in die Hörnerven.
Ich ballte vor Wut die Hände zu Fäusten.
Caminaro und seine Leute waren besser, als ich gedacht hatte. Trotz schlechter Software.
*
Drei Tage nach Soranas Tod besuchte mich Lugan Caminaro erneut.
"Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass der Staatsanwalt die Verschärfung Ihres Hausarrestes verAnlasst hat", erklärte er mir, während er in einem meiner Ledersessel Platz nahm und die Beine lässig übereinanderschlug.
Ich hob die Augenbrauen. "Heißt das, dass mir jetzt auch der GalaxyNet-Zugang gesperrt wird?"
"So ist es. Die Verdachtsmomente gegen Sie haben sich nach Ansicht der Staatsanwaltschaft verstärkt."
Ich lachte heiser auf. "Ich nehme an, Sie haben Ihr Möglichstes getan, um darauf hinzuarbeiten, dass genau das geschieht!"
"Sie schätzen mich völlig falsch ein, Morley."
"Nein, das glaube ich nicht."
"Ich bin nicht Ihr Feind. Aber die Lage, in der Sie sind, haben Sie sich zum Teil selbst eingebrockt. Schließlich waren Sie alles andere als kooperativ."
Ich schüttelte nur den Kopf und schwieg. Welch einen Sinn hätte es gehabt auszupacken? Ich versprach mir einfach keinen Vorteil davon. Es hatte nicht einmal Sinn, ihm von meinem Verdacht zu erzählen, den ich gegenüber dem BARETTO-Konzern hegte. Lugan Caminaro war sicher ein gründlicher Polizist. Aber er war nicht der Mann, der in eine Konzernzentrale spazierte, um dort eine Verhaftung vorzunehmen.
"Wir haben inzwischen die Überreste des VXR-Gleiters untersucht, mit dem Sie beinahe abgestürzt wären ..."
"Sind dabei neue Erkenntnisse zu Tage getreten?"
"Wie man's nimmt. Das Erkennungsprogramm gibt die Wahrscheinlichkeit, dass der Absturz absichtlich herbeigeführt wurde mit über 60 Prozent an."
"Ah, daher weht der Wind."
"Der Hangar in New Manhattan, aus dem Sie gestartet sind, gehörte einem Mann namens Son Greson."
Ich blickte auf. Palmon Jarvus war noch vorsichtiger gewesen, als ich vermutet hatte. Es musste ihm wirklich äußerst wichtig sein, dass keinerlei Verbindung zwischen ihm und mir nachzuweisen war.
"Ich sehe, dass Ihnen der Name Son Greson etwas sagt!", stellte Lugan Caminaro fest.
Ich zuckte die Achseln.
"Wem nicht? 'Geschäftsmann', so nennt er sich selbst. Wahrscheinlich aber hat er seine Finger in illegalen Technologie-Transfers."
Ein kaltes Lächeln erschien um Caminaros dünne Lippen, als er fortfuhr. "Bringen wir's auf den Punkt: Son Greson ist das, was man eine Unterweltgröße nennen könnte."
"Jeder weiß es, aber niemand kann ihm an den Kragen."
"Richtig, Morley."
"Wahrscheinlich eine Frage der Geschicklichkeit."
"Sie waren bis jetzt auch ganz geschickt, Morley."
"Worauf wollen Sie hinaus?"
Caminaros Stimme hatte den Klang von klirrendem Eis. "Was haben Sie mit Son Greson zu tun?"
"Gar nichts."
"Verkaufen Sie mich nicht für dumm, Morley."
"Sie können Greson ja selbst fragen, Caminaro!"
"Vielleicht wird das schon bald geschehen."
"Ach, ja?"
"Es könnte sein, dass der mächtige Greson bald frei zum Abschuss ist. Es gibt Gerüchte darüber, dass er einigen Leuten im illegalen Techno-Transfer-Syndikat unangenehm in die Quere gekommen ist. Die Diadochen scharren schon mit den Füßen ... Sie sollten nicht auf Gresons Hilfe bauen."
"Das tue ich auch nicht."
Caminaro sah mich einige Augenblicke lang nachdenklich an, dann wandte er den Kopf in Richtung meiner Leinwand. Dort lief gerade die Original-2-D-Fassung von 'Ben Hur'. Das unter Antik-Freaks als legendär geltende Wagenrennen war gerade in vollem Gang. Ich hatte den Ton abgestellt, als Caminaro den Raum betreten hatte. Aber das verzerrte Gesicht von Charlton Heston war auch so ziemlich eindrucksvoll.
"Ein eigenartiges Hobby haben Sie", kommentierte Caminaro, nachdem ihn das erbarmungslose Rennen offensichtlich trotz seiner Geringschätzung einige Momente lang gefangen genommen hatte. "Wie kann man nur so viel Geld in dieses alte Zeug stecken ..."
Ich verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.
"Noch ist das nicht strafbar", gab ich zu bedenken.
"Was sind das für dunkle Streifen da im Hintergrund?"
"Schäden bei der Magnetisierung halte ich für ausgeschlossen. Ich denke, diese Streifen entstanden durch den Verfall des Original-Datenspeichers. Man verwendete damals Celluloid ..."
"Verschonen Sie mich mit diesem Freak-Gerede." Er stand auf, trat nahe an die Leinwand heran und betastete sie dann vorsichtig. Dann lächelte er. "Komisch. Zuerst dachte ich, dass es Fäden wären, an denen Puppen hingen. Ich hab gehört, dass es so etwas damals auch gab ..."
Ich hörte ihm kaum zu.
Statt dessen hämmerte eine Frage in meinem Hirn und verlangte nach Antwort. Was hatte Palmon Jarvus mit Son Greson zu tun? Dass Jarvus derartige Verbindungen besaß, hatte ich nicht gewusst. Aber anders war es nicht erklärlich, dass Son Greson ihm seinen Gleiter-Hangar für ein konspiratives Treffen zur Verfügung gestellt hatte.
Mit einer ruckartigen Bewegung wirbelte Lugan Caminaro herum. Hinter ihm musste Charlton Heston sich gerade eines wütenden Peitschenschlags erwehren.
"Son Greson werden Verbindungen zum BARETTO-Konzern nachgesagt", stellte er fest. "Wir haben in einigen verborgenen Sektoren Ihres Systems Software zum Generieren falscher Identitäten sichergestellt, wie Sie inzwischen gemerkt haben dürften. Ein Teil der Identitäten, die damit generiert wurden, konnten unsere Spezialisten rekonstruieren."
Ich war froh, das Gesicht nicht sehen zu müssen, dass ich in diesem Augenblick machte. Offenbar hatte ich mein Gegenüber tatsächlich unterschätzt.
Caminaro fuhr fort: "Wir haben versucht ein Bewegungsraster von Ihnen zu erstellen, Morley. Es ergeben sich interessante Überschneidungen mit Standorten des BARETTO-Konzerns."
"Ich werde das nicht kommentieren", erklärte ich.
"Wussten Sie, dass ein Mann namens Palmon Jarvus genau wie Sie unter Hausarrest gestellt worden ist?"
"Nein ...", flüsterte ich.
Caminaro genoss meine Verblüffung und kostete das einige Augenblicke lang aus.
"Sie haben sich mit Jarvus in New Manhattan getroffen", sagt er dann. Es war eine Feststellung, keine Frage. "Interessiert Sie gar nicht, warum Jarvus verhaftet wurde?"
"Sie brennen doch darauf, es mir unter die Nase zu reiben!"
"Jarvus steht unter dem Verdacht, Industriespionage zu Ungunsten des GADRAM-Konzerns unternommen zu haben."
"Was Sie nicht sagen."
"Als Auftraggeber steht natürlich die direkte Konkurrenz in Verdacht."
"Also BARETTO."
"Sie sagen es. Es ist Zeit auszupacken, Morley!"
"Ach, kommen Sie!"
"Beispielsweise möchte ich gerne wissen, wofür Sie die 200 000 Galax bekommen, die jüngst auf einem Ihrer getarnten Konten eingegangen sind."
Ich machte eine wegwerfende Geste.
"Geben Sie sich keine Mühe, Caminaro."
*
Als Caminaro mich allein ließ, fühlte ich mich wie betäubt.
Ich dachte über Palmon Jarvus nach.
Was für ein gerissener Hund! Wenn er wirklich ein BARETTO-Man war, dann hatte er mich möglicherweise erst für seine persönlichen Zwecke ausgenutzt, um seinen Sohn aus den Fängen der Lichtjünger zu befreien, und mich dann eiskalt ans Messer geliefert.
Jarvus, BARETTO ...
Die Spur verdichtete sich.
Und mir blieb nichts anderes übrig, als die Flucht nach vorn.
Ich sah mir den Abspann von 'Ben Hur' an.
Es sollte lange dauern, bis ich so etwas wieder zu sehen bekam. Weder meine Leinwand noch die umfangreiche Sammlung an 2-D-Filmen konnte ich mitnehmen. Auch wenn die Überspielung der entprechenden Datenspeicher nur eines Mentalimpulses über meinen CyberSensor bedurft hätte – für etwaige Verfolger wäre diese Datenspur kaum zu übersehen gewesen.
Ich verließ mein Büro, ging in den benachbarten Aufenthaltsraum und blickte durch die Verglasung hinaus auf das Meer. Nebel hing über den Ruinen von Alt-B.
Du hast Wurzeln in Barcana geschlagen, dachte ich. Für einen wie dich ist das immer gefährlich!
Mit Hilfe eines Mentalimpulses teilte ich die transparente Wand.
Der kühle Meerwind blies in meine Wohnung.
Der Geruch von Salz und Seetang wirkte erfrischend. Die Meeresoberfläche befand sich zirka hundert Meter unter mir.
Die Höhe war schwindelerregend.
Einmal drehte ich mich noch um, bevor ich sprang.
Alles wirst du hier zurücklassen!, ging es mir durch den Kopf. Nichts wirst du mitnehmen, nicht einmal deinen Namen. Ich machte einen Schritt nach vorn und und trat ins Nichts. Buchstäblich verlor ich den festen Boden unter den Füßen, stürzte in rasendem Tempo der aus dieser Höhe betonharten Wasseroberfläche entgegen. Ich wusste genau, was in dieser Sekunde in Lugan Caminaros Dienststelle passierte. Zumindest konnte ich es mir ausmalen. Sobald mein CyberSensor die Wohnung verließ, schrillten dort die Alarmsignale. Ein unter Hausarrest stehender Verdächtiger auf der Flucht, das war ich jetzt. Während ich stürzte, betätigte ich einen winzigen Signalgeber unter dem Daumennagel meiner linken Hand. Die Anzeige im Gesichtsfeld meines linken Auges zeigte mir an, wie viele Meter mich jetzt noch von den sanften Wellen des Mittelmeeres trennten.
Ich aktivierte das Antigravaggregat unter meinen Schuhen, um den Aufprall so abzubremsen, dass ich ihn körperlich unversehrt überleben konnte. Das Aggregat war eine Spezialanfertigung, die die Möglichkeiten der im militärischen Bereich eingesetzten Typen erheblich überschritt. Aber selbst mit diesem Gerät waren Absprünge von über 50 Meter Höhe bei Erdgravitation kritisch, sofern man auf festem Grund aufkam. Eine Wasserlandung hatte ich noch nicht ausgetestet, aber ich nahm an, dass die Sache glimpflich über die Bühne ging. Wahrscheinlichkeitsrechnungen durch das SYSTEM hatte ich nicht anstellen können, denn mein Rechner wurde überwacht. Und wenn ich Caminaro, diesem schlauen Fuchs, entkommen wollte, musste ich auf den Überraschungseffekt setzen.
Auch wenn es für Caminaro und seine Leute an ihren Kontrollen jetzt vielleicht nicht so aussah – ich hatte mir alles sehr gründlich überlegt.
Das Agggregat hatte seine liebe Mühe, die mörderische Beschleunigung abzubremsen.
Der Aufprall war heftiger, als ich gedacht hatte. Ich tauchte tief in das blaugrüne Salzwasser hinein und deaktivierte sofort das Antigravaggregat. Schließlich wollte ich nicht Sekunden später förmlich aus dem Wasser herausgeschossen werden. Langsam stieg ich wieder an die Oberfläche, blickte mich um. Hoch ragte die Turmstadt Barcana aus dem Wasser empor. Sie warf eine lange Schattenbahn Richtung Alt-B.
Ich machte ein paar Schwimmzüge.
Dann griff ich mir an den Nacken, riss den CyberSensor heraus und schleuderte ihn von mir.
Leb wohl, Dak Morley!, dachte ich. Möge der Datensatz deiner Identität auf dem Grund dieses Meeres ruhen. (Das Zitat eines antiken Kulturschaffenden fiel mir in dieser Sekunde ein. 'Hasta la vista, Baby!'. Wer hatte das noch gleich gesagt? Schwarzenegger? Günter Grass? Eine deftige Sprache war damals offenbar en vogue gewesen.)
Ich stellte mir vor, wie Caminaro und seine Leute festellten, dass Dak Morley wahrscheinlich Selbstmord begangen hatte.
Aus der Ferne näherte sich pfeilschnell ein Gleiter. Mein Signalgeber unter dem Daumennagel hatte ihn über einen völlig separaten Datenkanal herbeigerufen. Auf dem nahen Mallorca hatte ich einzig und allein zu diesem Zweck einen Hangar angemietet, in dem dieses Gefährt auf seinen Einsatz gewartet hatte.
Der Gleiter bremste ab, senkte die Flugbahn. Es war ein kleines, wendiges Gefährt, nicht zu vergleichen mit dem VXR, der mir am Stahlbetongerippe des World Trade Centers zerschellt war. Es gab nur eine ziemlich enge Fahrerkabine, die für maximal zwei Personen Platz bot.
Der Gleiter begann mit dem Landeanflug.
Sein SYSTEM peilte meinen Signalgeber an.
Punktgenau senkte sich das Gefährt in einer Entfernung von kaum dreißig Metern von mir auf die Wasseroberfläche. Diese Distanz konnte ich leicht schwimmen. Der Autopilot hätte zwar auch eine noch punktgenauere Wasserlandung hinbekommen, aber ich wollte nicht in das Antigravfeld hineingeraten. Und so war ich auf Nummer sicher gegangen und hatte das Gleiter-SYSTEM entsprechend konfiguriert.
Ich kletterte an Bord.
Der Außenschott öffnete sich. Pitschnass ließ ich mich in den Schalensitz fallen, während der Gleiter ohne mein Zutun wieder abhob und mit Höchstgeschwindigkeit davonjagte.
Ich schloss die Augen.
Das Schlimmste hättest du hinter dir!, dachte ich.
Ein Irrtum.
*
In dem Gleiter war alles, was ich brauchte. Unter anderem auch ein nagelneuer CyberSensor, den ich mir sogleich in die kleine Öffnung an meinem Nacken steckte.
>Guten Tag, Greg Tabor>, begrüßte mich das SYSTEM.
Das war jetzt mein Name.
Ich würde mich schnell daran gewöhnen. So war es immer gewesen. Ich zog mir die zu 'Greg Tabor' passenden halborganischen Handschuhe an und setzte mir die Kontaktlinsen ein. Mit Greg Tabor hatte ich mir viel Mühe gegegen. Ich hatte ihn vor Jahren erfunden und ihm eine richtige Legende gegeben. Er wohnte nicht auf Mallorca, wo ich den Gleiter deponiert hatte, sondern in der Dar-es-Sahara. Ich hatte Greg Tabor dort eine Scheinidentität gegeben. Er hatte eine Wohnung besessen, ich hatte GalaxyNet- Anwendungen von seiner Residenz aus ebenso simuliert wie den Verbrauch an Wasser und Nahrungsmitteln. Auf die Dauer war das natürlich sehr aufwendig, aber jemand wie ich brauchte einen blitzschnell verfügbaren Rettungsanker. Und genau das war Greg Tabor für mich. Der Gleiter setzte mich in einem öffentlichen Gleiter-Terminal in Algier ab. Er würde zurück nach Mallorca in sein Depot fliegen. Eine reine Sicherheitsmaßnahme. Theoretisch war es ja möglich, dass meine Verfolger diese Flugbewegung registriert hatten und sich an meine Fersen zu heften versuchten. Aber so leicht würde ich es ihnen nicht machen. Ich dachte gar nicht daran. Schon um Soranas Willen, die völlig sinnlos gestorben war. Jedenfalls stellte es sich bislang für mich so dar. Ich wollte, dass ihr Gerechtigkeit widerfuhr. Vielleicht war da auch der Wunsch nach Vergeltung. Ein Wunsch, der etwas anderes beinahe überdeckte. Etwas, das ich mit aller Gewalt unter der Oberfläche zu halten versuchte. Die Ahnung nämlich, dass Sorana tatsächlich an meiner Stelle gestorben war.
In Algier benutzte ich ein öffentliches Transmitter-Terminal und hüpfte dann nach Dar-es-Sahara weiter. Ich hatte zunächst eine gewisse Scheu, wieder in das Flimmerlicht eines Transmitters zu treten. Schließlich hatte ich beim letzten Sprung dieser Art beinahe das Leben verloren. Aber diesmal ging alles glatt. Meine falschen Handlinien, Fingerabdrücke und Iris-Muster wurden von den Scannern an den Kontrollen anstandslos akzeptiert. Es gab keine Probleme.
Sei dir nicht zu sicher!, meldete sich eine skeptische Stimme in meinem Inneren. Deine Verfolger werden nicht so schnell aufgeben.
Vermutlich galt das sowohl für die Leute, deren Unwillen ich mir zugezogen hatte, als auch für Lugan Caminaro und seine Fahnder. Aber vielleicht hatte ich wenigstens einen Vorsprung. Mit etwas Glück hielt man mich sogar eine ganze Weile lang nach meinem Sprung aus dem Barcana-Turm für tot.
Dar-es-Sahara war eine Stadt, wie ich sie sonst kaum gefunden habe. Weder auf der Erde, noch im Iplan-Gebiet oder darüber hinaus. Und ich bin relativ viel herumgekommen. Daher kann ich es beurteilen.
Die Stadt bestand aus einer Reihe untereinander verbundener wabenförmiger Bauten, die von zahllosen Gleitern umschwirrt wurden. Die meisten dieser Gleiter gehörten zum öffentlichen Gleiter-Service. Sie wurden ferngesteuert, bewegten sich wie an unsichtbaren Fäden gezogen.
Um die eigentliche Stadt gab es ausgedehnte Grünanlagen. Auch hier dominierte die sechseckige Form. Jenseits dieser Parkanlagen lag der Strand des großen Sahara-Binnenmeeres, dessen blaugrünes Wasser aus dem Weltraum wie die Iris eines großen Auges aussah. (Ich hatte einmal die Gelegenheit dazu gehabt, das zu sehen. Im Transmitterzeitalter ist Raumfahrt eigentlich mehr etwas für die technologisch zurückgebliebenen Gebiete der Galaxis, etwa die Rand-Föderation oder die Äußeren Kolonien.)
Über meinen CyberSensor wählte ich den Rechner der Verwaltung von Dar-es-Sahara an und mietete mir ein Appartment. Ein öffentlicher Gleiter brachte mich zu der entsprechenden Wabe. Ich hatte den Gleiterflug einem Transmittersprung vorgezogen. Irgendwie saß mir der Schrecken noch immer in den Knochen, den ich empfunden hatte, nachdem ich nur durch Caminaros Eingreifen den Sprung vom World Trade Center in meine Barcana-Residenz überlebt hatte.
Ich wusste, dass es dafür jetzt keinen rationalen Grund mehr gab. Schließlich hatte ich alles getan, um wirklich jede Verbindung zu meinem vorherigen Leben zu kappen. Dak Morley war tot. Nicht mehr als ein paar Datensätze in einer Fahndungsdatei und ein Konglomerat von Erinnerungen in meinem Kopf würden von ihm bleiben.
Ich war jetzt Greg Tabor.
Mir war klar, dass ich mir die erfundenen Details seines Lebenslaufs noch genau einprägen musste. Zwar konnte ich sie mir jederzeit über meinen CyberSensor anzeigen lassen, aber der konnte während eines Verhörs natürlich angezapft werden. Und ich musste für jede nur denkbares Situation gerüstet sein. Früher hatte ich verschiedentlich die Identität von Toten benutzt. Das war noch etwas sicherer, als wenn man eine vollkommen fiktive Persönlichkeit aufbaute. Es existierte einfach mehr Datenmaterial und es wurde nicht so schnell angezweifelt, ob man wirklich der Betreffende war oder gewissermaßen unter falscher Flagge segelte. (Wer hatte dieses Sprachbild als erster benutzt? Errol Flynn oder Friedrich Schiller? Um die Frage zu beantworten, hätte ich wohl erstmal wissen müssen ob man unter dem Begriff 'Räuber' damals auch 'Piraten' fasste.)
Ich ließ den Gleiter eine große Runde über das ausgedehnte Sahara-Binnenmeer machen.
Ich dachte an Sorana.
Von ihr hatte ich ebenfalls nichts mitnehmen können. Nicht einmal ein Hologramm.
Du wirst dich damit abfinden müssen!, dachte ich. Die Vergangenheit existiert nicht. Nur die Gegenwart. Es gab keinen Sinn zurückzublicken, ja, es ist sogar lebensgefährlich.
Erinnerungen stiegen in mir auf, vermischten sich vor meinem inneren Auge. Ich sah Soranas Gesicht, ihr Lachen, den Glanz ihrer Augen. Ich sah andere Gesichter, Landschaften, Städte ...
Ein Chaos aus Bildern, Farben, Worten, Geräuschen.
Wer war ich?
Dieses Konglomerat aus Erinnerungsresten verschiedener Leben, die ich immer genau bis zu jenem Punkt geführt hatte, an dem ich mich nun auch wieder befand? Dem Punkt, an dem ich alle Verbindungen zurück in die Vergangenheit zu kappen gezwungen war?
Ein Rest blieb immer zurück.
Datenmüll. Wie die Mitochondrien im Erbmaterial.
Der Gleiter dockte schließlich an meinem Appartment an. Ich stieg aus und betrat mein neues Zuhause. Lange würde ich hier nicht bleiben, das stand für mich schon jetzt fest. Aber lange würde ich auch nicht den Namen Greg Tabor tragen.
Das Appartment wirkte unpersönlich. Es entsprach der gehobenen Norm und man vermisste keines jener Features, die dafür sorgen, dass man ein rundum angenehmes Leben führen kann.
Ich ließ mir vom Nahrungsmittelspender eine Mahlzeit zubereiten und stellte fest, dass ich an dem SYSTEM noch etwas nachjustieren musste, um es auf die speziellen Bedürfnisse meiner Geschmacksnerven auszurichten. Die Wände ließen sich größtenteils transparent machen, genau wie ich es auch aus Barcana gewohnt war. Bei der Anmietung des Appartments hatte ich darauf geachtet, einen offenen Blick auf den Sahara-See zu haben. Ich mochte diese Aussicht einfach. Und ich fand, dass eine Drei-D-Projektion kein Ersatz für die Wirklichkeit war. Für die corporale Variante der Wirklichkeit, um genau zu sein.
Ein paar Stunden lang schlief ich wie ein Stein.
Als ich erwachte, war es Nacht. Die Sterne funkelten über der fruchtbaren Naturlandschaft, die vor 2000 Jahren noch eine Wüste gewesen sein soll. Der Mond stand als großes Oval am Himmel. Sein Licht spiegelte sich im Binnenmeer. Bei sehr klarer Sicht konnte man die Energiekuppel von Luna City sehen, zumal dann, wenn Meteoriten auftrafen und dadurch Effekte hervorgerufen wurden, die von der Erde aus wie Funkenflug aussahen.
Ich aktivierte meinen Zugang zum GalaxyNet über den CyberSensor. Anstelle der Anzeige im Gesichtsfeld meines linken Auges wählte ich allerdings ein großes Holodisplay.
Ich suchte nach dem MEGA KILLER – jenem Cyperspiel, mit dessen Anwendung das Verhängnis vermutlich begonnen hatte.
Lange hatte ich damit gezögert.
Schließlich hätte ich schon längst nach dem MEGA KILLER fahnden können. Aber die Erinnerung an das, was geschehen war, hatte mich davor zurückschrecken lassen, Ich musste vorsichtig sein. Es war nicht gesagt, dass die Hersteller oder Vertreiber des Spiels überhaupt etwas mit dem Virus zu tun gehabt hatten, der das SYSTEM meiner Residenz in Barcana so manipuliert hatte, dass daraufhin Sorana Opfer einer tödlichen Falle geworden war. Möglicherweise hatte der eigentliche Urheber des Virus dieses Spiel einfach nur als eine Art Transportmittel benutzt. Ein geschickter Programmierer konnte so etwas hinbekommen.
Meine Chancen, über dieses Spiel etwas mehr über die Hintergründe des Mordanschlags zu erfahren, der eigentlich mir gegolten hatte, waren also denkbar gering. Andererseits stellte der MEGA KILLER eine der wenigen Spuren da, die ich in diesem Fall überhaupt hatte.
Schon deswegen musste ich ihr nachgehen.
Die GalaxyNet-Recherche des SYSTEMS dauerte verdächtig lange. Ich wartete die ganze Zeit über auf den Klang der Pseudostimme.
Als sie sich schließlich meldete, verkündete sie eine Überraschung.
"Eine interaktive Anwendung mit der Bezeichnung MEGA KILLER ist nicht verfügbar."
Error! (So hätten antike Programmiersprachen die Angelegenheit auf den Punkt gebracht.)
"Ergebnis bitte überprüfen!", forderte ich ungläubig.
Aber auch eine mehrmalige Überprüfung ergab kein anderes Suchergebnis. Nicht der geringste Hinweis war noch im GalaxyNet auf ein Spiel mit der Bezeichnung MEGA KILLER zu finden. Hersteller und Vertreiber schien es nie gegeben zu haben.
Ich ließ einen der Schalensitze aus dem Fußboden herausklappen und ließ mich dort hineinsinken.
Das kann nicht sein!, durchzuckte es mich.
>Wünschen Sie weitere Recherchen, Benutzer Greg Tabor?"
Ich schüttelte den Kopf, ohne daran zu denken, dass dieses SYSTEM noch nicht so konfiguriert war, dass es auch derartige Äußerungen richtig interpretieren konnte. Also setzte ich ein leises "Nein!" hinzu.
Die Darstellung des Holodisplays verschwand.
Ich ließ den Schalensitz herumschwenken und blickte hinaus auf das Sahara-Meer.
Und dabei dachte ich darüber nach, ob das, was ich gerade erfahren hatte, nun eine gute oder eine schlechte Nachricht war.
Ich schlief in dem Schalensitz ein. Die ersten Strahlen der Sonne, die über den blauen Horizont des Sahara-Sees krochen, weckten mich. Ich blinzelte und genoss den Sonnenaufgang. Ein einzigartiges Farbensapiel, das mir half, die Gedanken einfach mal etwas treiben zu lassen.
Etwas tauchte aus einem der gewaltigen Schatten heraus, die die riesigen, sich in kleinste Wabeneinheiten gliedernden Gebäudekomplexe von Dar-es-Sahara warfen. Zunächst beachtete ich es gar nicht weiter. Es schien sich um einen der unzähligen Gleiter zu handeln, die die Stadt umschwirrten.
Als das Ding von den Sonnenstrahlen erfasst wurde, bestätigte sich meine Vermutung.
Der Gleiter flog einen Bogen. Noch war er ziemlich allein am Morgenhimmel von Dar-es-Sahara. Eine erste Biene, die sich aus ihrem Stock heraustraute.
Der Gleiter flog so weit auf den See hinaus, dass er für einige Augenblicke kaum noch zu sehen war. In einer gebogenen, an eine Sinus-Kurve erinnernden Bahn kehrte er dann zurück, näherte sich unaufhaltsam.
Ich starrte dem Gefährt entgegen, konnte das Kennschild des öffentlichen Gleiterverkehrs von Dar-es-Sahara erkennen.
Das Ding fliegt direkt auf dich zu!, ging es mir durch den Kopf, während ich wie angewurzelt dastand und mich gleichzeitig einen Narren schimpfte. (Du spinnst, Dak! Das ist völlig unmöglich. Vermutlich leidest du schon unter Verfolgungswahn und glaubst, dass jeder Luftzug ein versuchtes Attentat darstellen könnte ...)
Die Distanz verringerte sich zusehends.
Ich zögerte noch einen Augenblick, starrte fassungslos der Vorderfront des Gleiters entgegen.
Er war unbemannt, wurde nur vom Autopiloten seines SYSTEMS gesteuert.
Kurz bevor das Gefährt mit voller Geschwindigkeit auf die transparente Wand aufprallte, floh ich in den kleinen Flur, in dem sich die Zugänge zu Bad, WC und appartmenteigenem Transmitter befanden.
Der Gleiter drückte die transparente Wand aus Mandarium ein. Der ohrenbetäubende Laut einer gewaltigen Detonation war dann zu hören. Ich spürte die Hitzewelle, den Druck, sprang in den Transmitter und ließ mich wegbeamen, während hinter mir die Hölle losbrach.