Читать книгу Verliebt in ein Gespenst: 5 Romantic Thriller - Alfred Bekker - Страница 6
Sie tanzte für das Böse
Оглавлениеvon Carol East
"Es ist vollbracht!" sagte das Gesicht draußen vor dem Fenster des fahrenden Zuges und wollte noch etwas hinzufügen, aber Jane Reed schrie entsetzt auf und - erwachte.
Die Mitreisenden schauten sie irritiert an. Ihr war das peinlich, aber sie konnte es jetzt nicht mehr rückgängig machen.
Anscheinend war sie eingeschlafen und hatte schlecht geträumt.
Sehr schlecht sogar!
Zögernd schielte sie zum Zugfenster zu ihrer Rechten. Die Nacht war hereingebrochen. In der Ferne zogen einsame Lichter vorüber. Die leisen Gespräche der Mitreisenden, die ihr Interesse an Jane wieder verloren zu haben schienen, wirkten durch das monotone Rattern der Räder auf ihren eisernen Schienen verzerrt und unwirklich.
Bald bin ich wieder daheim, dachte Jane, um sich wieder zu beruhigen.
Daheim?
Ihre Unruhe und auch Angst waren nicht ganz unbegründet. Kein Wunder, wenn sie plötzlich einschlief und dabei Alpträume bekam. Viele Jahre war sie nicht mehr in ihrer Heimatstadt gewesen. Warum hätte sie ihr auch nur einmal einen Besuch abstatten sollen? Nachdem ihre Eltern nicht mehr lebten, gestorben, als Jane noch ein Kind gewesen war, und sich die Verwandten nie um sie gekümmert hatten...
Sie war im Waisenhaus der Stadt aufgewachsen. Dort hatte sie auch ihre große Jugendliebe kennengelernt: Frederic Squad.
Der Gedanke an ihn versetzte ihr einen Stich. Unwillkürlich verkrampfte sich ihre Hand in der Nähe des Herzens.
Frederic, was ist eigentlich aus dir geworden, in all den Jahren? Ja, vielleicht bist du der wahre Grund, warum es mich so zu meiner Geburtsstadt zieht? Obwohl ich dort eine freudlose Kindheit verbracht habe.
Aber du warst stets ein Lichtblick gewesen, Frederic. Wir haben uns geliebt, wirklich geliebt. Ich weiß es heute so deutlich wie nie zuvor. Aber du wirst mich wohl eher hassen als lieben - inzwischen. Weil ich dich damals verließ, sobald ich mein erstes Angebot als Tänzerin bekam.
Du hast es nicht verstanden, obwohl du das Gegenteil behauptet hast. Ich habe den Schmerz in deinen Augen gesehen - den Schmerz, mich für längere Zeit zu verlieren. Vielleicht sogar für immer? Trotz deinem jungenhaften Lachen, sah ich den Schmerz. Ich kann diese Augen, diesen Blick, nie mehr vergessen.
Bin ich deshalb auf dem Weg dorthin?
Sie schüttelte verwirrt den Kopf und schaute wieder zum Fenster.
Dieses Gesicht... Es war so real erschienen. Auf einmal war es dagewesen. Und es hatte deutlich gesagt: "Es ist vollbracht!"
Was ist vollbracht?
Sie schüttelte abermals den Kopf, daß die langen, seidig glänzenden Haare flogen.
Die Leute schauten wieder zu ihr hin. Deshalb tat sie so, als wollte sie ihre langen Haare nur in den Nacken schütteln, und griff danach.
Kurz legte sie sich die Hand in den Nacken. Das tat sie immer, wenn sie sich beruhigen wollte. Es wirkte.
Nein, hatte sie wirklich geschlafen? War das wirklich ein Alptraum gewesen?
Sie spähte hinaus, jetzt nicht mehr zögernd, sondern ganz offen. Irgendwie erwartete sie, daß dieses unheimliche Gesicht wieder auftauchte und weitersprach. Sie wollte wissen, was dieses Gesicht noch hatte sagen wollen, ehe sie es vertrieben hatte.
Das Gesicht kam nicht mehr.
Das Zug ratterte durch ein Waldgebiet. Die Bäume schienen immer näher zusammenzurücken, wie um den Zug aufzuhalten. Die Äste und Zweige waren wie schwarze Hände, und es schien nicht der Wind zu sein, der sie peitschte, sondern sie schienen wie selbständige Wesen nach dem Zug greifen zu wollen.
Weil Jane darin saß.
Sie zuckte zusammen. Der Alpdruck verschwand wieder.
Was ist bloß los mit mir? fragte sie sich bang. Werde ich allmählich verrückt?
Ein Wunder wäre das schließlich nicht, dachte sie voller Trauer. Es blieb damals nicht bei dem Angebot für ein kleines Ballett auf einer noch kleineren Bühne irgendwo in der Provinz. Es war nur eine Zwischenstation. Ich machte Karriere. Innerhalb von nur knapp drei Jahren war ich die international meist gefeierte Primaballerina. Es war wie ein wunderschöner Traum. Ich durfte tanzen und tat eigentlich Tag für Tag überhaupt nichts anderes mehr. Bis ich Thomas traf.
Er hatte so etwas Magisches. Er war ein Mensch, den man niemals mehr wieder vergaß, auch wenn man nur ein einziges Mal Kontakt mit ihm gehabt hatte.
Plötzlich stand er vor mir, als ich in meine Garderobe zurückkehrte. Ich war verschwitzt und mit meinen Kräften so ziemlich am Ende und wollte einfach nur meine Ruhe haben, sonst nichts. So sehr ich den Ruhm sonst auch genießen konnte: In diesem Augenblick wollte ich nur noch allein sein.
Aber die scharfe Anrede blieb mir sozusagen im Hals stecken. Es interessierte mich nicht mehr, wie er hier überhaupt hereingekommen war und was er sich außerdem erlaubte, hier auf mich zu warten...
Wortlos ging ich hinter die spanische Wand und zog mich dort aus. Ich frottierte mich mit einem Badetuch kräftig ab, von Kopf bis Fuß, wie ich es nach jedem Auftritt tat. Und dann verzichtete ich ausnahmsweise auf die erfrischende Dusche. Ich zog mir einfach nur frische Sachen an, die schon bereitlagen, und trat wieder vor ihn hin.
Er strahlte mich an: Ein schlank-muskulöser, braungebrannter Mann, sehr geschmackvoll gekleidet, mit einem gepflegten Schnurrbart und stahlblauen Augen, in denen man sich verlieren konnte.
Ja, es war wie Magie, daß sich Jane Reed vom ersten Augenblick an so zu ihm hingezogen gefühlt hatte. Oder war es eher diese verblüffende Ähnlichkeit mit Frederic gewesen, ihrer großen Jugendliebe, die sie verleugnet hatte, nur um Karriere als Tänzerin zu machen?
Sie wußte in diesem Moment, daß sie niemals mehr von diesem Mann wieder loskommen konnte. Bis zum Lebensende. Obwohl sie ihn nicht einmal liebte.
Was war das sonst gewesen, wenn nicht... Liebe?
Er hatte es ihr gesagt, und sie hatte es geglaubt, vorbehaltlos: "Wir sind ganz einfach füreinander bestimmt, ganz ohne Wenn und Aber!"
Er hatte sie sanft am Arm genommen und sie vor den großen Spiegel geführt.
Da standen sie beide. Ein strahlendes Paar.
Ja, es war Jane so erschienen, als würde sie beide eine leuchtende Aura umgeben.
Beide waren brünett. Beide waren schlank und wirkten durchtrainiert. Jane dank des harten Trainings als Ballerina - und der Fremde?
"Siehst du, was ich meine?" fragte er sie und deutete mit dem Kinn in den Spiegel. Er legte den Arm um sie und zog sie sanft an sich, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Und Jane, die jahrelang nur das Tanzen im Kopf gehabt hatte, bei Tag und auch bei Nacht, wehrte sich nicht dagegen. Sie fühlte sich wie jemand, der aus einem Traum erwachte - um einen neuen Traum zu beginnen...
Nun, es wurde tatsächlich ein Traum, einer, wie man ihn schöner wohl niemals träumen konnte. Ein Traum wie vom Paradies auf Erden.
Dabei hatte sie nicht einmal ja gesagt, als sie Thomas Prescoll gefragt hatte: "Siehst du ein, daß wir keine andere Wahl haben, und willst du meine Frau werden?" Er hatte sie dabei gar nicht direkt angesehen, sondern nur durch den Spiegel. Sie hatte den Mund geöffnet, um wenigstens eine der mindestens tausend Fragen zu stellen, die ihr schlagartig in den Sinn gekommen waren, aber kein Laut hatte ihren bebenden Mund verlassen, und all diese Fragen waren auf einmal wie weggewischt gewesen.
Sie war Jane Prescoll geworden, ganz einfach so. Es war unglaublich schnell gegangen. Und sie war von der ersten Sekunde ihrer Begegnung an niemals mehr auch nur in die Nähe einer Bühne gekommen. Tanzen war für sie absolut tabu geworden. Selbst ihr Training war für sie sozusagen gestorben gewesen.
Alles, für das sie mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Seele hatte leben wollen, war schlagartig völlig ohne Bedeutung geworden.
Sie war von nun an nur noch Jane Prescoll gewesen, die Frau eines der reichsten Männer der Welt, eines Magnaten, der mindestens so geheimnisumwittert gewesen war wie reich.
Der absoluten Traumhochzeit war dieses Leben wie im Paradies gefolgt. Thomas Prescoll hatte ihr auch den geringsten Wunsch von den Augen abgelesen...
Aber sie hatte ihn niemals geliebt, niemals, keine Sekunde lang. Wenn sie mit ihm zusammengewesen war, hatte sie nicht an ihn gedacht, sondern an - Frederic.
Oh, Frederic, kannst du mir jemals verzeihen, was ich unserer Liebe angetan habe? Vielleicht nur - ein bißchen?
Der Zug ratterte dahin, der Wahrheit entgegen, und die Gedanken an die Vergangenheit verblaßten wieder.
Sie war jetzt sicher, daß es ihre jahrelang unterdrückte Sehnsucht nach Frederic war, die sie zu ihrer Geburtsstadt trieb - jetzt, da ihr Mann Thomas Prescoll so überraschend gestorben war.
Ich bin frei, Frederic, wieder frei. Einst entschied ich mich für den Tanz und gegen unsere Liebe. Dann entschied ich mich für das Leben im Paradies, an der Seite von Thomas Prescoll. Jetzt ist er tot, so überraschend gestorben wie für mich das Tanzen. Er legte sich abends ins Bett und wachte niemals mehr auf. Die Ärzte standen vor einem Rätsel, aber die genaue Untersuchung hat erwiesen, daß ich gegen jeden Verdacht erhaben bin.
Und jetzt bin ich auf dem Weg zu dir, Geliebter...
Darf ich das jemals wieder zu dir sagen: Geliebter?
Und da erschien das Gesicht wieder. Es war wie ein Reflex, nicht viel mehr. Und es verzerrte sich zu einem grausamen Lächeln, bevor es wieder verschwand.
* * *
Jane erreichte ihre Heimatstadt noch am selben Abend. Keinem hatte sie gesagt, daß sie überhaupt vorhatte, hierherzureisen. Das hatte sie nicht für nötig gefunden.
Was hielt sie noch dort, wo sie als Jane Prescoll gelebt hatte?
Nein, sie wollte es genauso zurücklassen wie einst die Tanzerei: Sozusagen von heute auf morgen.
Denn nachdem die Polizei ihr mitgeteilt hatte, daß sie gegen geglichen Verdacht erhaben war, hatte der feierlichen Beisetzung der sterblichen Überreste von Thomas Prescoll nichts mehr im Wege gestanden. Der Leichnam wurde freigegeben. Die ganze Zeremonie ging vorbei wie ein Alptraum, den man irgendwie hinter sich bekommt, ohne daß Einzelheiten im Gedächtnis hängenbleiben.
Überhaupt: Wenn Jane zurückdachte an die vergangenen Jahre, erschien ihr alles irgendwie unwirklich. Wenn sie davon erzählt hätte, wäre es ihr so vorgekommen, als würde sie aus dem Leben einer anderen erzählen.
Nein, nichts und niemand hatte sie mehr halten können.
Und jetzt stand sie hier auf dem Bahnhof ihrer Geburtsstadt, der sich in den Jahren ihrer Abwesenheit gewaltig verändert hatte. Alles war größer und moderner geworden, aber auch sauberer, um nicht zu sagen: steriler. Dabei hatte es nämlich das gewisse Etwas verloren, das nötig war, damit man sich wirklich daheim fühlte.
Jane kam sich ein wenig verloren vor, neben ihrem leichten Gepäck stehend. Sie war hierhergereist. Die Stadt war ihr Ziel gewesen. Und nun, wo sie hier stand, wußte sie eigentlich gar nicht mehr so recht weiter...
Sie hatte nur das Notwendigste mitgenommen, ganz entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten. Es hatte nicht schnell genug gehen können. Außerdem: Was sollte sie mit all den Dingen aus einem ganz anderen Leben, wenn sie sozusagen wieder ganz von vorn anfangen wollte?
Ganz von vorn anfangen? Ja, ging das denn überhaupt? Konnte man wirklich ungeschehen machen, was einst geschehen war?
Auf einmal hatte sie große Bedenken. Die ganze Zuversicht war vergessen. Das Gefühl der Verlorenheit verstärkte sich nur noch.
Sie schaute sich um. Es herrschte nur wenig Betrieb im Bahnhof, und es begegnete ihr kein einziges Gesicht, das ihr bekannt vorkommen konnte.
Da trat jemand aus dem Halbdunkel des Hintergrundes genau auf sie zu.
Jane erschrak, denn für einen Augenblick mußte sie annehmen, es sei der Geist ihres verstorbenen Mannes, aber der Fremde war viel älter und nur so ähnlich gekleidet.
Der Fremde lächelte sie aufmunternd an. Aber das beruhigte Jane keineswegs, denn der Mann bleckte dabei leicht die schneeweißen Zähne, und irgendwie erschien es Jane wie bei einem Raubtier, das zubeißen wollte.
Sie widerstand dem Impuls, die Flucht vor dem Fremden zu ergreifen. Dabei beruhigte sie sich mit dem Gedanken: Was könnte mir schon hier, in aller Öffentlichkeit, widerfahren?
"Willkommen in der alten Heimat, Mrs. Prescoll. Na, was sagen Sie zum Aufstieg dieses verschlafenen Nestes zu einer modernen Kleinstadt? Ich darf sagen, daß Ihr Mann daran nicht ganz unschuldig ist."
"Mein Mann?" echote Jane überrascht.
"Ja, gewiß doch. Wußten Sie das denn nicht?"
"Ich habe mich kaum um die Geschäfte meines Mannes gekümmert", wich sie aus.
Meines Mannes? Diese Worte zerdehnte sie in Gedanken und lauschte ihnen nach. Irgendwie klangen sie - unecht. Ja, gewiß, sie war Jane Prescoll, geborene Reed, unleugbar, vor dem Gesetz getraut.
Vor dem Gesetz! betonten ihre Gedanken, aber nicht vor Gott!
Es war das erste Mal, daß es ihr überhaupt bewußt wurde.
Sie war in einem sehr strengen Waisenhaus aufgewachsen. War das der Grund einer gewissen Flucht vor einem allzu christlichen Weltbild?
Jetzt bedauerte sie es zutiefst. Und außerdem störte es sie, daß der Fremde von ihrem Mann sprach, als würde der noch leben.
Sie fügte rasch hinzu: "Gott habe ihn selig!" und beobachtete die Reaktion des Fremden.
Der wirkte - erschrocken. Obwohl er sich halbwegs zu beherrschen verstand.
Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, aber kein weiteres Wort verließ seine bebenden Lippen.
Jane lächelte jetzt. Die Furcht fiel von ihr ab wie eine Last. Es beruhigte sie, daß es ihr gelungen war, den Fremden zu verunsichern - wie auch immer.
"Sie kannten meinen Mann? - Gott habe ihn selig!" Sie betonte die letzten Worte ganz besonders, und tatsächlich, sie hatte sich keineswegs geirrt. Es war die Erwähnung von Gott, schon die bloße Nennung des Begriffes, was in dem Fremden sichtliches Unbehagen erzeugte.
"Äh, ja, sehr gut sogar, gnädige Frau. Wir waren sozusagen gute Freunde, obwohl ich bei ihm sozusagen im Sold stand. Und er hat es mir sehr ans Herz gelegt, alles zu tun, um Ihnen zu helfen, wann immer Sie der Hilfe bedürfen."
"Dann möchte ich mich in aller Form bei Ihnen bedanken - allein für die noble Absicht. Allerdings, ich benötige gottlob nicht Ihre Hilfe, wenngleich ich gern darauf zurückgreifen werde, sobald sich Bedarf anmeldet."
Sie lächelte liebenswürdig, aber unverbindlich, nahm ihr leichtes Gepäck auf, nickte dem Fremden noch einmal grüßend zu und ging quer durch die Bahnhofsvorhalle. Ihre Schritte wirkten sicher und ließen keineswegs vermuten, daß sie im Grunde genommen immer noch nicht wußte, wohin sie sich tatsächlich wenden sollte.
Ich bin hierhergekommen, um mit allem abzuschließen, was zwischen meinem damaligen Abschied und heute geschehen ist, dachte sie in einem Anflug von Zorn. Und jetzt begegnet mir als erstes ein solcher Vertreter genau dieser Zeit dazwischen, die ich zu vergessen trachte.
Aber gerade dieser besondere Vertreter des zu verdrängenden Teils der Vergangenheit ließ sich ganz und gar nicht so leicht abschütteln. Er holte auf und wirkte dabei ganz aufgeregt.
"Um alles in der Welt, gnädige Frau, was habe ich denn falsch gemacht? Ich versichere Sie, daß ich völlig uneigennützig ganz und gar zu Ihren Diensten stehe. Ich war und bin ein großer Verehrer Ihres Mannes Thomas Prescoll, aber das ist nicht allein der Grund meiner Wertschätzung Ihnen gegenüber, Mrs. Prescoll. Sehen Sie es einfach als eine Art persönliche Verbundenheit. Es ist ganz sicher mehr als nur das übliche Beileid..."
Jane zeigte deutlich genug, daß sie sich absolut nicht für das interessierte, was der Fremde ihr zu sagen hatte, um ihn endlich wieder zum Verstummen zu bringen.
Da kann ja jeder kommen! dachte sie trotzig. Mein Mann war bei vielen bekannt, und es gibt mindestens zehntausend Menschen in aller Welt, die sich ungeniert rühmen, der beste Freund von ihm zu sein. Leider ist es nicht mehr möglich, ihn um Bestätigung zu bitten. Und letztlich interessieren mich die Freunde meines verstorbenen Mannes überhaupt nicht mehr. Hier will ich wieder Jane Reed sein. Jane Prescoll will ich hinter mir lassen. Da gibt es nichts, worauf ich stolz sein könnte. Ganz im Gegenteil. Ich habe begonnen, mich eher dafür zu - schämen. Wenn ich nur an Frederic denke...
Sie machte ein trotziges Gesicht, obwohl ihr im Moment eher zum Heulen zumute war.
Der Fremde war nicht nur einfach lästig, sondern in ihrer Vorstellung wurde er sozusagen zur Inkarnation von all dem Negativen, das sie zur Zeit in den Geschehnissen der letzten Jahre sah.
Jane schaute sich suchend um und entdeckte das Büro des Bahnhofsvorstehers. Dorthin wandte sie sich jetzt.
Der Fremde folgte aufgeregt. Er suchte anscheinend wieder nach Worten, um Jane irgendwie doch noch zu beruhigen und ihre grenzenlose Ablehnung seiner Person gegenüber zu überwinden, aber seine Lippen mahlten nur hilflos. Es fiel ihm offenbar nicht das Rechte ein.
Jane ließ vor der Eingangstür zum Büro ihr Gepäck einfach fallen und trat ein.
Der Bahnhofsvorsteher war noch da. Er saß hinter seinem antiken Schreibtisch, vertieft in einen wahren Berg von Papieren, und schreckte hoch, als Jane so unvermittelt vor ihm erschien.
Eigentlich war sie nur zu ihm gekommen, um sich offiziell und in aller Form über die Belästigung durch den Fremden zu beschweren. Aber: Endlich ein vertrautes Gesicht! dachte sie erfreut und lachte unwillkürlich. Es klang fast wie eine Befreiung.
Der Bahnhofsvorsteher stutzte. Und dann erkannte auch er Jane.
"Jane Reed, unsere Primaballerina!" entfuhr es ihm.
Er schlug prompt die Hand vor den Mund, als sei ihm etwas entschlüpft, was er im nachhinein als ungebührlich empfand.
Spontan streckte Jane ihre rechte Hand aus.
"Ich bin so froh, endlich ein vertrautes Gesicht zu sehen!"
Jetzt lachte auch er und ergriff zögernd Janes Hand.
"Mein Gott, Sie haben... haben sich ja überhaupt nicht verändert! Als wären Sie keine Minute älter geworden. Als wären Sie gerade erst abgereist und..." Er schöpfte tief Atem, und dann brach es in ehrlicher Freude aus ihm hervor: "Allerherzlichst willkommen - zurück in der alten Heimat, Miß Reed!"
Er erschrak.
"Oh, Verzeihung, Miß... äh... Ich muß ja jetzt sagen... äh..."
"Nein, nein, das paßt schon! Hier war ich Jane Reed, und ich bin eigentlich nur deshalb zurückgekommen, um es wieder zu werden. Ich bin Ihnen also keineswegs gram, wenn Sie mich nicht Mrs. Prescoll nennen. Ganz im Gegenteil."
Der alte Bahnhofsvorsteher drückte bewegt ihre Hand. Er schüttelte zum wiederholten Male den Kopf.
"Ich kann es einfach nicht fassen. Überhaupt nicht verändert, kein bißchen... Die ganze Stadt hat nur noch von Ihnen gesprochen, als Sie so berühmt wurden. Wir alle waren furchtbar stolz auf Sie. Aber dann... Es kam so plötzlich. Und dann stand es in allen Zeitungen. Sie haben geheiratet und gaben dafür alles andere auf. Wir waren regelrecht traurig darüber."
Schon wieder gewann er den Eindruck, eigentlich genau das Falsche zu sagen, und rief erschrocken aus: "Oh!"
Jane lachte herzlich.
"Nicht doch! Sie haben ja so recht. Sehen Sie es einfach als Schicksal an, daß alles so gekommen ist. Und so ist es nur logisch, daß ich wieder hier vor Ihnen stehe. Sie allein sollen entscheiden, was Ihnen lieber ist: Die junge Witwe Mrs. Prescoll - oder die wiedergeborene Miß Jane Reed!"
Auch er konnte wieder lachen.
"Das ist doch überhaupt keine Frage, Miß Reed. Noch einmal: Herzlich, herzlich willkommen! Ich glaube, es gibt keinen einzigen Menschen in der ganzen Stadt, der sich nicht über Ihr Kommen freut, wenn er es erfährt."
Jane winkte ab. "Das braucht's gar nicht." Sie zögerte. Dann sagte sie irgendwie traurig: "Naja, vielleicht gibt es ja doch einen, der sich absolut nicht darüber freuen kann?"
Er wußte sofort, wen sie meinte. Auch ohne Namen. War er doch dabei gewesen, damals, als Jane die Stadt verlassen hatte, hier, auf diesem Bahnhof. Niemals war sie zurückgekehrt, bis auf den heutigen Tag nicht.
Der Fremde, der Jane bei der Ankunft offenbar schon erwartet hatte, trat vor und räusperte sich verlegen.
Jane erinnerte sich erst jetzt wieder an ihn. Sie hatte ihn über die Wiedersehensfreude mit dem alten Bahnhofsvorsteher glatt vergessen.
Sie fragte sich auf einmal, woher dieser Fremde überhaupt gewußt hatte, daß sie hierhergefahren war? Nein, sie war hundertprozentig sicher, daß sie es niemandem gesagt hatte. Sie war völlig überraschend aufgebrochen. Ja, sie hatte sich regelrecht davongestohlen...
Aber dieser Mann hier - hatte sie ganz offensichtlich bereits erwartet...
* * *
Der alte Bahnhofsvorsteher kannte den Fremden. Das war nicht zu übersehen. Jane beobachtete genau seine Reaktionen. Erfreut war der Bahnhofsvorsteher nicht unbedingt, den Fremden hier in seinem Büro zu sehen. Aber er hatte offenbar auch nichts dagegen.
"Mr. Brooks?" fragte er statt einer Begrüßung.
Aha, der Fremde hieß also Mr. Brooks. Erst jetzt fiel Jane auf, daß der Mann sich nicht einmal vorgestellt hatte. Er hatte lediglich erwähnt, ein alter Freund ihres verstorbenen Mannes zu sein. Das war eigentlich schon alles. Also war Mißtrauen doch durchaus angebracht?
Und wer war dieser Mr. Brooks ansonsten? Das hieß: Welche Rolle spielte er inzwischen hier, in dieser Stadt?
Mr. Brooks nickte dem Bahnhofsvorsteher zur Begrüßung nur knapp zu und bemühte sich dabei um ein freundliches Lächeln.
"Nun, Mr. Owns, ich bin nur hier, um Mrs. Prescoll zu begrüßen und ihr meine unumschränkte Hilfe anzubieten. Ich sehe es als meine wichtigste Pflicht an, ihr sozusagen jeden Wunsch von den Augen abzulesen."
Endlich fiel Jane der komplette Name des alten Bahnhofsvorstehers wieder ein: John Owns.
"Ein etwas schwaches Versprechen, das Mr. Brooks hier gibt", wandte sie ungewollt schnippisch ein. "Würde er wirklich jeden Wunsch von meinen Augen ablesen wollen, hätte er gewiß den deutlichen Wunsch nicht übersehen, daß ich ganz ohne seine Hilfe auskommen will."
Eigentlich hätte Mr. Brooks jetzt beleidigt sein müssen. Das wäre zumindest eine einigermaßen normale Reaktion gewesen. Aber Mr. Brooks lächelte auch weiterhin freundlich und schaute dabei John Owns, den Bahnhofsvorsteher, und nicht Jane an.
Das empfand Jane wie eine Aufforderung an den Bahnhofsvorsteher, endlich für einen guten Leumund zu sorgen.
John Owns kam dem tatsächlich nach.
Er räusperte sich erst in die hohle Hand. Dann sagte er: "Nun, ich glaube, da liegt ein kleines Mißverständnis vor, Miss Reed. Ich nehme an, Sie kennen Mr. Brooks überhaupt nicht?"
"Nein, gewiß nicht, und er hat sich mir nicht einmal vorgestellt!"
"Tja, wissen Sie, Miss Reed, das tut mir ehrlich leid. Äh, nun, Mr. Brooks ist nicht nur der Haupteigentümer und Leiter des größten Hotels am Ort, sondern auch der offizielle Verwalter des Carmichael-Anwesens. Das ist hier allgemein bekannt. Soviel man sonst noch weiß, hat Ihr verstorbener Mann Thomas Prescoll dieses Anwesen vor Jahren schon erworben und total renovieren lassen. Es heißt hier, in der Stadt, daß er es ausschließlich Ihretwegen erworben hat, Miss Reed. Das bedeutet, jetzt gehört es ausschließlich Ihnen, und ich neige zu der Ansicht..." Sein Blick irrte zwischen Mr. Brooks und Jane hin und her. Er atmete tief durch und fuhr fort: "Ich neige zu der Ansicht, daß er Sie hier deshalb empfangen hat, um Ihnen das vielleicht mitzuteilen? Vielleicht sogar, um Ihnen das Anwesen persönlich übergeben zu können?"
"Das Carmichael-Anwesen?" echote Jane überrascht.
Ja, das war der offizielle Ausdruck dafür. Im Volksmund war es allerdings geblieben, was es ursprünglich gewesen war: Schloß Carmichael, Residenz des ehrwürdigen Lord Carmichael und seiner erlauchten Familie.
Obwohl es schon beinahe fünfzig Jahre her war, daß Lord Carmichael seinen Titel verloren hatte. Oder sollte man besser sagen: Er hatte ihn für Geld verkauft?
Aber das war mehr ein Gerücht gewesen. Beweise hatte niemand dafür.
Jedenfalls war es danach der Familie Carmichael nicht gerade besser ergangen. Sie waren mehr und mehr verarmt. Ein Skandal hatte am Ende den anderen gejagt. Und weil kein Geld für Arbeiten an dem Anwesen mehr übrig war, verfiel alles zusehends. Bis schließlich nur noch eine weitgehend unbewohnbare Ruine daraus geworden war.
Und jetzt fiel es ihr tatsächlich wieder ein: Ihr Mann hatte es ihr damals mitgeteilt. Er hatte behauptet, Mitleid mit der ehemaligen Adelsfamilie zu haben und für die Schloßruine einen erheblich überhöhten Betrag zahlen zu wollen, um die Familie damit wieder einigermaßen zu sanieren. Wenn auch zu dem Preis, daß sie für immer alles verloren, was sie noch mit ihren Vorvätern verband.
Und er hatte behauptet, dies alles eigentlich nur zu tun, um Jane eine besondere Freude zu bereiten.
Wenn sie eines Tages in ihre Geburtsstadt zurückkehrte, sollte sie sozusagen das vollkommene Erbe derer von Carmichael antreten. Sie sollte dort residieren, wo auch der Name der ganzen Stadt herstammte: Im Carmichael-Anwesen.
Scherzhaft hatte er noch hinzugefügt: "Wer weiß, vielleicht habe ich mit dem Anwesen nicht nur die alten Machtstrukturen für dich erworben, sondern auch das Anrecht auf den Namen selbst? So darfst du dich dann eines Tages zu recht so nennen: Lady Carmichael!"
Er hatte gelacht wie über einen besonderen Witz.
Jane hatte es ganz und gar nicht als lustig empfunden.
Und dann hatte sie alles wieder vergessen. Ganz radikal sogar.
Wie war das denn möglich? Wieso fiel ihr das jetzt erst wieder ein?
Und sogar an den Namen von Mr. Brooks erinnerte sie sich jetzt wieder. Ihr Mann hatte ihr damals gesagt: "Wenn es soweit ist, wende dich vertrauensvoll an Mr. Brooks. Er wird dir ein guter Freund in allen Lebenslagen sein." Jedes Wort war so wach in ihre Erinnerung zurückgekehrt, als hätte sie es soeben erst gehört.
"Und du, Thomas?" hatte sie gefragt.
Sein Gesicht hatte sich für Sekunden verfinstert. Er hatte sich von ihr abgewendet. Und dann hatte er gesagt: "Ich werde zu diesem Zeitpunkt nicht mehr sein."
"Wie meinst du das?" hatte sie ausgerufen.
Er hatte sich ihr wieder zugewendet und gefaßt erwidert: "Gibt es nicht für uns alle einmal ein Ende? Was währt schon ewig? Und am Ende müssen wir alle unseren Preis bezahlen. Niemand bleibt je verschont."
Seltsame Worte waren das gewesen. Er hatte sie direkt anschließend für viele Tage verlassen. So, als würde er sich vor einer Fortsetzung des Gesprächs regelrecht fürchten.
Gewiß, er war öfter für Tage verschwunden: Immer dann, wenn er geschäftlich zu tun gehabt hatte...
Jane hatte sich niemals dafür interessiert, welcher Art diese Geschäfte gewesen waren.
Diesmal war es aber anders gewesen. Hatte sie es deshalb wieder vergessen? Hatte sie es regelrecht - verdrängt?
Und jetzt hätte sie gern gewußt, welcher Art eigentlich immer die Geschäfte ihres verstorbenen Mannes gewesen waren, wenn er für Tage und zuweilen sogar für Wochen scheinbar spurlos verschwand. Wenn sie damals nach dem Aufenthaltsort ihres Mannes gefragt hatte, war ihr nur ausweichend geantwortet worden. Bis sie daran jegliches Interesse verloren hatte.
Sie hätte jetzt gern erneut gefragt, aber sie war sich ziemlich sicher, daß Mr. Brooks dafür der absolut falsche Gesprächspartner war. Selbst wenn der etwas wußte: Warum sollte er es ihr nach all dieser Zeit erklären?
Sie mißtraute ihm nach wie vor! Und deshalb fragte sie ihn endlich: "Woher hatten Sie eigentlich gewußt, daß ich ausgerechnet mit diesem Zug komme?"
Sein Lächeln wirkte auf einmal verzerrt. Aber er zögerte keineswegs mit der Antwort: "Sie sind Mrs. Prescoll, vergessen Sie das nicht. Ihr Mann ist einer der reichsten Männer der Welt, ein Industriemagnat mit großem wirtschaftlichem und somit auch politischem Einfluß. Es ist wohl kaum denkbar, unter solchen Umständen, daß Sie problemlos auch nur einen Schritt machen können, ohne dabei gesehen oder gar - beobachtet zu werden."
Jane fühlte sich daraufhin sehr unbehaglich. An solche Dinge hatte sie all die Jahre niemals gedacht.
Da waren so viele Dinge, die sie überhaupt nie bedacht hatte, und sie betrachtete ihn und fragte sich erneut, wieso sie sich sogar an jene doch nicht unwichtige Szene niemals wieder erinnert hatte - bis heute?
* * *
Der alte Bahnhofsvorsteher John Owns hatte am Ende alles getan, um Janes Mißtrauen zu zerstreuen, was Mr. Brooks betraf.
Jane hatte sich dabei wie in Trance gefühlt. Alles war so unwirklich, als hätte sie eine Droge genommen.
Was für ein eigenartiges Leben, das hinter ihr lag... Als hätte sie alles dies nur geträumt. Vieles erschien ihr im nachhinein wie schlecht erfunden.
Wieso hatte sie das niemals gestört? Wieso waren ihr niemals Fragen in den Sinn gekommen? Hatten sie der unermeßliche Reichtum und ihr persönlicher Nutzen daraus so sehr betäubt?
Ja, sie konnte jetzt überhaupt nicht mehr verstehen, wieso sie das Tanzen ganz einfach aufgeben konnte, ohne fürderhin auch nur einen Gedanken mehr daran zu verschwenden?
Sie fühlte sich auf einmal wie jemand, der sich verzweifelt bemüht, aus einem unbegreiflichen Traum zu erwachen - und das einfach nicht schaffte.
Immer, wenn sie glaubte, sie sei eigentlich schon wach, mußte sie erschreckt feststellen, daß es nur ein neuer Traum war, der sie gefangenhielt.
Deshalb war sie hergekommen. Das glaubte sie jetzt ganz sicher. Es war ihr so vorgekommen, als sei die Stadt Carmichael, die harte Wirklichkeit ihrer persönlichen Vergangenheit, alles dies, was sie an Leid in dieser Stadt hatte erfahren müssen... Als sei dies ihre letzte Chance.
Und Frederic?
Was war mit ihrer einzigen großen Liebe?
Sie hatte sie aufgegeben, dem Tanzen zuliebe. Um hernach das Tanzen so aufzugeben, als habe es überhaupt niemals eine Bedeutung für sie gehabt?
Jane hätte schreien mögen, voller Schmerz und vor allem: voller Furcht.
Aber sie tat nichts dergleichen. Sie lenkte sich ab davon mit den Gedanken: Wo soll ich mich eigentlich jetzt noch hinwenden? Was soll ich noch tun, wo ich doch weiß, daß es eigentlich keinerlei Entrinnen mehr für mich gibt?
Sie war sozusagen aufs Geratewohl losgefahren und hatte überhaupt nichts geplant. Eine sehr unüberlegte Flucht, die einfach hatte schiefgehen müssen.
Und jetzt war es Abend.
Wohin hätte sie sich wenden sollen?
Vielleicht an das Waisenhaus, in dem sie eine so freudlose Kindheit verbracht hatte? Wäre das die Chance gewesen, die sie sich erhoffte?
Nein, niemals wieder dorthin! antwortete sie sich selbst.
Egal, wie man sie dort empfangen hätte: Es hätte ihrer Meinung nach eigentlich nur verlogen sein können.
Oder sollte sie vielleicht - Frederic anrufen und ihn um Hilfe bitten?
Vor diesem Gedanken erschrak sie regelrecht. Nein, das war sicher die schlechteste aller Lösungen. Dafür hatte sie viel zuviel Angst, daß er ihr einen Korb gab.
Was war denn überhaupt inzwischen aus ihm geworden? Lebte er noch hier, in dieser kleinen, unbedeutenden Stadt namens Carmichael? Was war ihm inzwischen widerfahren?
Vielleicht ist er sogar verheiratet und hat mich längst vergessen? fragte sie sich bang. Und falls er sich dann doch an mich erinnern sollte... Vielleicht tat er es voller Zorn oder sogar... mit Haß in seinem Herzen - dort, wo er einst Liebe verspürt hatte?
Sie hätte es verstehen können.
Und sie wagte nicht einmal, Mr. Owns oder gar Mr. Brooks nach ihm zu fragen. Weil sie die Antwort zu sehr fürchtete.
Die konnte doch nur negativ ausfallen. Oder?
Da erschien es ihr nun wirklich als das kleinere Übel, sich letztlich doch diesem Mr. Brooks anzuschließen und seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auch wenn sie das noch Minuten zuvor als völlig undenkbar erachtet hätte.
Es ist ja nur vorübergehend! redete sie sich ein.
"Bitte zum Hotel!" bat sie sich allerdings aus. "Es mag ja sein, daß Thomas mir mit dem Carmichael-Anwesen eine ganz besondere Freude hat machen wollen, aber das interessiert mich jetzt nicht mehr im geringsten. Ich bin auch dessentwegen überhaupt nicht hier."
Mr. Brooks zupfte die buschigen Augenbrauen nach oben und fragte erstaunt: "Weswegen denn sonst?"
Jane blieb ihm die Antwort schuldig. Was hätte sie denn auch sagen sollen? Die Wahrheit?
Als ob sie die selber so genau gekannt hätte...
Ja, sie fuhr mit ihm zum Hotel. Wenn sie all dem Gesagten wenigstens einigermaßen vertrauen konnte, war sie jetzt, nach dem Tode ihres Mannes, sogar Miteigentümerin des Hotels. Auch wenn dieser Mr. Brooks die Anteilsmehrheit besaß.
Dennoch hatte Jane keineswegs vor, dort länger als nur eine Nacht zu bleiben.
Im Grunde genommen bereute sie es inzwischen bitter, daß sie überhaupt in ihre alte Heimatstadt Carmichael gekommen war. Es war in der Tat keine gute Idee gewesen und vor allem überhaupt keine Lösung.
Nein, hier würde sie sicherlich keine Antwort auf die tausend Fragen finden, die sie jahrelang verdrängt hatte und die inzwischen mit einer Wucht auf sie eindrangen, als wollten sie sie zerschmettern.
Nur, sie fühlte sich im Moment wirklich außerstande, sich einfach in den nächsten Zug zu setzen und die Rückreise anzutreten.
Aber morgen! nahm sie sich fest vor. Erst einmal muß ich ein paar Stunden schlafen. Dann fühle ich mich wieder fit. Dann kann ich auch wieder klarer denken. Und dann ist immer noch Zeit, eine endgültige Entscheidung zu fällen.
Nur, daß sie das Carmichael-Anwesen nicht haben wollte, das wußte sie auch jetzt schon. Daran würde nichts etwas ändern können. Davon war sie überzeugt.
Denn wenn sie dort einzog... Das wäre für sie so gewesen, als würde sie der altehrwürdigen Familie Carmichael etwas streitig machen, was untrennbar mit ihr und mit der ganzen Geschichte dieser Stadt, ja, der ganzen Umgebung, zusammenhing.
Sie begann sogar, mit dem Gedanken zu spielen, das Anwesen an die Familie wieder zurückzugeben. Als so eine Art Kulturschenkung. Auch wenn diese Familie inzwischen längst in alle Winde zerstreut war.
Vielleicht war sie das der Stadt und ihren Bewohnern sogar noch eher schuldig als der Familie Carmichael? Vielleicht würde es die Bürger der Stadt Carmichael wieder dazu bringen, die eigene Vergangenheit nicht länger zu verdrängen und wieder stolz darauf sein zu können?
Was das betraf, war allerdings längst noch nichts entschieden. Jane nahm sich vor, sich dabei Zeit zu lassen.
Falls sie es überhaupt sobald in Angriff nahm.
Denn vordringlich erschien ihr im Moment, so schnell wie möglich dieser Stadt wieder den Rücken zu kehren. Dann sah man weiter.
Gleich morgen schon...
* * *
Frederic Squad war gerade im Begriff, zu Bett zu gehen, als das Telefon klingelte. Mißmutig hob er ab.
Es war der Bahnhofsvorsteher John Owns. Frederic erkannte ihn an seiner Stimme, denn Mr. Owns sagte nur einen einzigen Satz: "Sie ist wieder da!" Das genügte.
Frederic legte sofort wieder auf. Er drückte den Hörer so fest auf die Gabel, als hätte er Angst, er könnte sich selbständig erheben und die Stimme des Bahnhofsvorstehers wieder zu ihm dringen lassen. Damit der ihm mehr sagen konnte. Vielleicht Dinge, die Frederic nicht hören wollte?
Eine Weile starrte er auf das Telefon wie auf einen bösen Feind.
Der Bahnhofsvorsteher meldete sich nicht mehr. Erst als Frederic das begriffen hatte, entspannte er sich ein wenig. Er nahm die Hände vom Telefonhörer und krampfte sie ineinander.
Er starrte durch den Raum, ohne ihn zu sehen. Sein Blick war in ferne, inzwischen vergessen geglaubte Vergangenheit gerichtet. Er sah - sie!
Jane tanzte. Sie lachte dabei ihr glockenhelles Lachen. Sie sah ihn an, als würde sie nur für einen tanzen - für ihn.
Jane bewegte sich leicht wie eine Feder. Die Gesetze der Schwerkraft schienen für alle Menschen zu gelten, außer für sie.
Ihr durchtrainierter Körper war beweglich, als hätte Jane nicht Knochen und Gelenke wie jeder normale Mensch. Sie tanzte. Es war nicht der Tanz einer Königin, sondern es war sogar noch mehr. Es war der Tanz einer - Göttin des Tanzes. Sie verzauberte alle mit ihrem Tanz. Selbst Leute, die normalerweise überhaupt kein Interesse am Ballett fanden... Sie ließen sich verzaubern. Sie waren unfähig, ihre Blicke von ihr zu lösen, von ihren anmutigen Bewegungen, wenn sie scheinbar über das Parkett schwebte, schwerelos, biegsam und dennoch - für eine Frau ungewöhnlich kraftvoll.
Frederic stöhnte laut vor Schmerz, der sich tief in seine Brust fraß, und sprang auf. Er ballte seine Hände zu Fäusten und wollte sie wie drohend erheben, aber sie schienen Zentner zu wiegen und sanken kraftlos herab.
Das Bild der tanzenden Jane verblaßte.
"Sie hat alles aufgegeben", murmelte er tonlos vor sich hin. "Erst gab sie mich auf, dann sogar das Tanzen. Sie wurde Mrs. Prescoll, die kalte, unnahbare, völlig zurückgezogen lebende Frau des superreichen Magnaten Prescoll, dieses geheimnisumwitterten Mannes...
Was hat sie so werden lassen?"
Das war eine Frage, die er sich immer wieder gestellt hatte, all die Jahre hindurch.
Und immer wieder hatte er sich dabei ertappt, daß er den Telefonhörer aufgenommen hatte, um anzurufen...
Wen und wieso? Jane? Die Jane, wie er sie gekannt hatte?
Nein, seine Jane war tot. Sie war einer Person gewichen, die kalt und leblos erschien. Ja, eine Art lebende Tote, die nur so aussah wie Jane, aber nichts, überhaupt nichts, mit dieser gemeinsam hatte.
Jane hatte nicht nur getanzt, weil es ihr Freude gemacht hatte. Jane war sozusagen die Inkarnation des Tanzes gewesen. Jane und das Tanzen, das waren sozusagen eine untrennbare Einheit gewesen.
Jane hatte immer getanzt. Im Waisenhaus hatte man es ihr verboten. Sie war immer wieder hart bestraft worden, weil sie dieses Verbot so schmählich mißachtet hatte.
Für die Nonnen im Waisenhaus war jeglicher Ausdruck von Freude ein Ausdruck der Sünde gewesen. Sie trugen das Bild vom demütig leidenden Gläubigen in ihren Herzen, von der Sorte von Gläubigen eben, die nur die demütige Ehrfurcht vor dem Allmächtigen kannten und alle Kräfte auf gottgefällige Arbeit verwendeten. Tanzen, das war für sie die Ausgeburt der Hölle. Tanzen, das war die Verschwendung von Arbeitskraft im Dienste des Herrn. Tanzen, das mußte verboten, jegliche Anwandlung dahingehend im Keim erstickt werden.
Trotz aller Härte war es ihnen bei Jane nicht gelungen. Nein, sie hatten Jane nicht brechen können, weder als Kind, noch als Heranwachsende.
Bis zu ihrer Flucht aus Carmichael.
Ja, gewiß, später hatte Frederic das immer denken müssen: Jane ist nicht einfach nur abgereist, sondern sie ist - vor dieser kalten Härte geflohen. Nicht vor mir und unserer Liebe. Unsere Liebe war zwar groß gewesen, aber nicht groß genug, um diesen unstillbaren Durst zu überwiegen, den Jane empfunden haben mußte. Sie, der man alles verboten hatte, was ihr eigentliches Leben bedeutete, hatte einen so immensen Nachholbedarf, daß sie letztlich nur noch eines hatte tun können: Tanzen und nur noch tanzen!
Umso unverständlicher war schließlich für jedermann die plötzliche Heirat mit diesem Thomas Prescoll und die damit verbundene völlige Abkehr von allem gewesen, was ihr stets am wichtigsten gewesen war.
Jetzt hatte sie eigentlich genauso gelebt, wie es im Sinne ihrer Erziehung im Waisenhaus von Carmichael gewesen war. Oder?
Frederic hatte es bis heute versäumt, die Nonnen des Waisenhauses dahingehend um ihre Meinung zu fragen. Deren Meinung interessierte ihn nämlich schon lange nicht mehr.
Schließlich war auch er von ihnen erzogen worden. Er hatte seine Eltern genauso früh verloren wie Jane. Und auch ihm war widerfahren, daß sich keine Verwandten um sein Schicksal geschert hatten. Sie waren erst später wieder aufgetaucht, wie aus dem Nichts: als er das Waisenhaus längst hinter sich gebracht hatte und zu einem angesehenen Bürger der Stadt avanciert war.
Aber dann hatte er umgekehrt sie nicht mehr kennen wollen.
Denn wenn er etwas verabscheute, dann waren es Leute, die nur für ihren Vorteil lebten. Selbst wenn diese Leute eigentlich die eigenen Verwandten waren.
Er pflegte in diesem Zusammenhang sogar zu sagen: "Verwandte, das ist etwas, was dir die Natur in die Wiege legt. Dafür kannst du nichts. Du hast keine Wahl. Nur Freunde, die kannst du sorgfältig aussuchen. Deshalb sind gute Freunde viel wichtiger!"
Frederic war seinen Weg gegangen, und er hatte geglaubt - ja, er hatte es gehofft! -, Jane Reed für immer aus seinem Herzen verdrängt zu haben.
Ein einziger Satz hatte es zunichte gemacht und ihm in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, daß es ihm niemals möglich sein würde: "Sie ist wieder da!"
Und jetzt stand er da, der erfolgreiche Bankangestellte, der es bis zum Direktor gebracht hatte. Er, der stets besonnene und wenn nötig auch harte Manager, fühlte sich zurückversetzt in jene Zeit direkt nach dem Abschied von Jane.
Sie hatte überhaupt nichts mehr von sich hören lassen. Hatte sie all ihre Schwüre vergessen?
Er hatte gelitten, sich sogar mit Selbstmordgedanken getragen.
Irgendwann und irgendwie war es ihm gelungen, zu sich selbst zurückzufinden, um dieses unerträgliche, ganz persönliche Jammertal zu verlassen. Für viele Jahre.
Und jetzt fühlte er sich genau dahin zurückversetzt, mitten hinein.
Er hätte schreien und heulen mögen, aber er tat nichts dergleichen. Er stand nur da und zitterte.
Sie war wieder da. Das war das einzige, was jetzt noch zählte.
Ach, wie gern hätte er den alten Bahnhofsvorsteher wieder angerufen, um ihn zu fragen, wo er sie hätte finden können. Aber es fehlte ihm einfach die Kraft dazu.
Vielleicht wollte sie ja auch überhaupt nicht, daß er sie fand?
Vielleicht hatte sie ihn gar niemals richtig geliebt? Vielleicht war er damals ja nur ein kleiner Lichtblick gewesen in einem ansonsten überaus tristen Leben - und mehr nicht?
Dann hatte sie ihn für immer vergessen. Dann war es ihr womöglich sogar peinlich, wenn er sie wiedersehen wollte?
Sonst hätte sie sich doch irgendwann von allein bei ihm gemeldet - während all dieser Zeit?
Er sank auf den Sessel neben dem Telefonschränkchen zurück und barg das Gesicht in beiden Händen.
Frederic Squad schämte sich nicht seiner bitteren Tränen.
* * *
Für Jane war die Fürstensuite bereits vorbereitet, aber sie lehnte es ab, so fürstlich untergebracht zu werden. Als Mr. Brooks darauf bestehen wollte, zeigte sie sich empört.
Das verfehlte nicht seine Wirkung. Mr. Brooks lenkte ein und überließ Jane selbst die Wahl des Zimmers.
Jane entschied sich für ein eher bescheidenes Einzelzimmer im zweiten Stock und ließ es sich nicht nehmen, ihr leichtes Gepäck persönlich hinaufzubringen. Es war ihr gleich, wenn sie dadurch Mr. Brooks und vielleicht auch die anderen Angestellten verärgerte.
Es ist alles nur vorübergehend! redete sie sich immer wieder ein. Nur eine einzige Nacht. Dann werde ich wieder abreisen.
Und wohin?
Darüber machte sie sich überhaupt keine Gedanken. Noch nicht. Sie verschob es auf den morgigen Tag.
Endlich allein auf ihrem Zimmer, machte sie Abendtoilette und legte sich gleich ins Bett. Sie war sicher, kein Auge zutun zu können, aber darin irrte sie sich gewaltig. Kaum hatte sie nämlich die Decke bis zum Kinn hochgezogen, als sie auch schon eingeschlafen war.
Ein tiefer, traumloser Schlaf, der jäh unterbrochen wurde.
Sie schlug die Augen auf und fühlte sich hellwach. Irgendwo schlug eine Kirchturmuhr. Unbewußt zählte sie mit. Die Uhr schlug zwölfmal.
Mitternacht.
Es war nicht völlig dunkel in dem Zimmer. Die vorgezogenen Übergardinen ließen ein diffuses Licht herein, in dem die Möblierung wie die Schatten geduckter Monster wirkte.
Jane war noch niemals ängstlich gewesen. Dafür hatte sie seit ihrer frühesten Kindheit zuviel ertragen müssen. Wäre sie auch nur im geringsten labil gewesen, wäre sie daran zerbrochen. Umso unverständlicher war ihr selbst dieses bislang ungekannte Gefühl von Beklemmung, das in ihr aufstieg. Sie starrte in das düstere Zimmer und bemühte sich, diese Beklemmung zu überwinden. Es wollte ihr nicht gelingen.
Und da wurde das diffuse Licht auf einmal stärker, aber ohne die Möbel besser auszuleuchten, damit endlich der Eindruck verschwand, es handele sich in Wirklichkeit um sich duckende Monster aus einer anderen, grausamen Welt.
Ein Schatten vor der Wand, hoch wie der Schatten eines Mannes.
Was war das? In Wirklichkeit ein Schrank, eine Vitrine, ein Spiegel...?
Nein, vorher war da kahle Wand gewesen. Jane war sich darin vollkommen sicher, obwohl sie sich für die Einrichtung des Zimmers kaum interessiert hatte, bevor sie zu Bett gegangen war.
Eine kahle Wand, und in den Schatten kam auf einmal Bewegung. Er näherte sich dem Bett.
Janes Augen weiteten sich entsetzt. Sie wollte schreien, aber die Stimme versagte ihr den Dienst.
Am Fußende blieb der Schatten stehen.
Das Licht im Zimmer wurde heller. Ein eigenartiges Strahlen, das immer noch die Einrichtung unberührt ließ, sondern sich scheinbar nur auf den Schatten konzentrieren wollte.
Aus dem Schatten wurde allmählich die Gestalt eines Mannes, hochgewachsen, schlank-muskulös, von unbestimmbarem Alter. Das feingeschnittene, markante Gesicht wurde geziert von einem eigentlich zu großen Schnurrbart. Jane hatte ihn im Grunde genommen nie gemocht, diesen Schnurrbart, obwohl sie immer wieder hatte zugeben müssen, daß er ihm gut stand - ihrem Mann Thomas Prescoll.
Und jetzt entrang sich ihrer Kehle doch ein greller Schrei.
Ja, er war es: Thomas Prescoll - der tote Thomas Prescoll. Er sah genauso aus, wie Jane ihn zuletzt gesehen hatte, aufgebahrt, nach der Obduktion durch die Gerichtsmedizin wieder so hergerichtet, daß man die Obduktionsspuren nicht sehen sollte...
Nur waren die Augen jetzt geöffnet und nicht länger geschlossen.
Tote Augen, die Jane anstarrten, ohne sie eigentlich sehen zu können.
Jane schrie erneut. Das würde man hoffentlich im ganzen Hotel hören?
Sie lauschte in die anschließende Stille hinein.
Diese Stille blieb vollkommen. Keine Schritte näherten sich von draußen. Der Verkehr vor dem Hotel schien vollkommen zum Erliegen gekommen zu sein.
Es war Mitternacht, mitten in einer Kleinstadt, die um diese Zeit eigentlich viel lebhafter hätte sein müssen. Aber Jane kam es so vor, als befände sie sich mitsamt dem Hotel in einer anderen Welt, in der andere Gesetze herrschten.
In der ein Toter wiederauferstehen konnte?
Und was wollte er von ihr?
Jane rang mühsam um ihre Beherrschung. Sie schrie nicht wieder, sondern fragte: "Was willst du von mir?"
Ihre Stimme klang dabei leicht hysterisch. Was wunder!
Der Tote war für sie gegenständlich. Vielleicht war es ja trotzdem nur ein Trugbild, erzeugt von ihrer überreizten Phantasie? Obwohl seine Erscheinung so absolut real wirkte? Aber - warum sollte sie ihn nicht ansprechen?
Und der Tote antwortete sogar: "Du bist also tatsächlich gekommen, Jane, in diese Stadt? Es ist die Stadt deiner Vorväter. Wußtest du das? - Deine Eltern mußten sterben. Es gehörte zum großen Plan."
"Was für ein Plan?" rief Jane erschrocken aus.
Ihre Gedanken gerieten durcheinander: Was sollte das?
Sie war auf einmal überzeugt davon, nur böse zu träumen. Das war wieder so ein Traum, aus dem man nicht erwachen konnte, so sehr man sich auch bemühte.
Sie lachte heiser.
Ja, ein Traum, mehr nicht. Und ihr konnte überhaupt nichts geschehen. Wenn sie sich nur bemühte, nicht vollends den Verstand zu verlieren. Ja, gewiß, dann war sie ungefährdet, sowohl an Leib, als auch an Seele.
"Der große Plan!" bestätigte die Erscheinung. "Denn du, Jane, bist die Auserwählte. Es muß sie immer wieder geben, die Auserwählten, um die Macht zu erhalten. Zeit spielt dabei keine Rolle, und auch Einzelschicksale sind unbedeutend. Über Jahrhunderte entstand das Geschlecht der Reeds, ohne daß die Mitglieder dieses Geschlechts jemals von ihrer Manipulation erfuhren. Bis in deine Generation, Jane."
"Was ist das denn für ein Unsinn?" rief Jane aus.
"Nein, Jane, kein Unsinn! Ich bin hier, um es dir zu erklären. Das gehört mit zu meiner Aufgabe innerhalb des großen Plans."
"Du willst mir weismachen, nichts sei zufällig geschehen, sondern - geplant? Meine Eltern...? Umgebracht?"
"Es war ihr Schicksal, dich zu erzeugen, nachdem über all diese Generationen hinweg das Talent immer konzentrierter wurde."
"Welches Talent?"
Jetzt lachte er heiser. Dabei wirkte er ganz und gar nicht mehr wie ein lebender Toter.
Jane blinzelte verwirrt.
Ja, jetzt wirkte Thomas Prescoll, als wäre er niemals gestorben.
Konnte es denn sein, daß...?
Sie wagte es gar nicht, den Gedanken bis zum Ende zu denken.
Und dann verwarf sie ihn wieder: Nein, es war unmöglich, daß der Tod von Thomas Prescoll nur vorgetäuscht worden war! Sie hatte ihn persönlich in seinem Bett gefunden, am Morgen. Sie hatte persönlich den Arzt alarmiert. Sie war dabei gewesen, als man den Leichnam weggebracht hatte. Thomas Prescoll war gründlich untersucht worden. Eine Obduktion wurde sogar an seinem Leichnam vorgenommen, um die Todesursache festzustellen.
Jane hatte sich nicht einmal dagegen verwahren können. Die Obduktion war aufgrund einer höchstrichterlichen Verfügung durchgeführt worden.
Was ging hier vor? War das ein lebendiges Wesen da am Fußende des Bettes? So eine Art Double für ihren verstorbenen Mann?
Was war der Sinn davon?
Auf einmal war sie wütend. Sie wollte die Decke zur Seite werfen, aufspringen und dem Spuk ein Ende bereiten. Sie wollte dieses Double ihres verstorbenen Mannes mit Prügeln aus dem Zimmer jagen.
Sie war durchaus in der Lage, es mit einem Mann aufzunehmen. Sie war für eine Frau ungewöhnlich durchtrainiert und bewegte sich mit einer für einen normalen Menschen unvorstellbaren Geschmeidigkeit...
Der Mann lachte amüsiert.
Er sah sie nur an, und Jane war unfähig, auch nur einen Finger zu rühren.
"Es ist zweckslos, sich dagegen zu wehren, Jane. Es ist bereits vollbracht."
Waren das nicht auch die Worte dieses fremden Gesichtes gewesen, das ihr im Traum erschienen war, während der Fahrt hierher?
Sie zweifelte auf einmal daran, daß sie dabei wirklich geträumt hatte.
Es ist vollbracht? Ja, was denn überhaupt?
"Das Schicksal deiner Familie hat sich erfüllt. Du bist die letzte in einer langen Kette von Generationen. Betrachte es wie eine besondere Züchtung, auch wenn ich diesen Ausdruck verabscheue."
"Du meinst... meinst das - Tanzen?"
"Ja, was denn sonst? Es geht nur darum, schon seit Jahrhun-derten. Immer nur die größten Tanztalente wurden miteinander gekreuzt. Bis du geboren wurdest. Deshalb bist du so eine absolut begnadete Tänzerin. Nur deshalb. Oder hast du wirklich geglaubt, das sei Zufall? Nein, solche Zufälle gibt es nicht. So etwas wird immer vorausbestimmt."
"Aber - von wem?"
Er lächelte nachsichtig. "Ich bin nicht dazu da, dir darüber Aufklärung zu geben. Du wirst es selbst herausfinden, ganz zwangsläufig. Dann, wenn die Zeit reif ist dafür. Jetzt bin ich nur hier, um dich grundsätzlich aufzuklären. Du bist gekommen, ohne gerufen zu sein. Das beweist, daß du deinem Schicksal gehorchst. Alles ist so, wie es sein soll."
"Dann gehörte auch dein Tod zu diesem - Plan?" fragte sie zweifelnd.
Er nickte.
"Viel mehr jedoch als mein Tod gehörte mein Leben zum Plan. Ich war das letzte Glied sozusagen. Ich holte dich weg von der Bühne, damit du niemals mehr dein Talent vor all diesen Unwürdigen unter Beweis stellen konntest. Ohne daß du dies als Verlust empfinden konntest. Erinnerst du dich meiner Worte, daß wir füreinander bestimmt seien - ganz ohne Wenn und Aber? So war es, Jane. Unser beider Schicksale haben sich verwoben, und selbst dies haben sie nicht dem Zufall überlassen. Der große Plan ist fast erfüllt, und du bist hergekommen, rechtzeitig zum Finale."
"Sage mir nur noch eines: Wieso mußtest du sterben?"
Sein Lächeln wurde zur Maske.
"Dies ist meine eigene Sache. Es war mein sehnlichster Wunsch gewesen, einer der reichsten Männer der Welt zu werden und damit einer der einflußreichsten Männer überhaupt. Ich wünschte mir darüber hinaus auch die Perfektion meines Körpers - und eine so perfekte Frau, wie du eine bist. Man gewährte mir alle diese Wünsche. Ich durfte sogar dein Ehemann werden. Ein ganz besonderes Privileg, das keinem Normalsterblichen jemals zustehen sollte. Weil du nicht bestimmt bist für diese."
"Was ist denn sonst meine Bestimmung?" schob Jane sofort nach. Sie ahnte, daß das Gespräch kurz vor seinem Ende stand, und sie wollte noch so viel wie möglich erfahren.
Dabei hatten ihre zweifelnden Gedanken keinen Platz mehr. Es fehlte ihr einfach die Zeit dazu.
Im Moment war Jane völlig egal, ob dies hier nur ein böser Traum oder ob diese Gestalt ein Lebender war, von Unbekannten geschickt, nur um dieses Gespräch zu führen.
"Deine einzige Bestimmung ist die Erfüllung des großen Planes!" antwortete er orakelhaft. "Und ich bin gestorben, weil ich endlich für alles, was ich erhalten hatte, bezahlen mußte. Ich hatte meine Seele dafür verpachtet..."
Das waren seine letzten Worte. Seine hochgewachsene Gestalt wurde durchsichtig - und verschwand.
Jane sah es ganz deutlich, obwohl sie es immer noch nicht glauben wollte.
Der Spuk war vorbei. Sie warf die Decke beiseite und sprang aus dem Bett. Sie eilte zu der Stelle, wo die Gestalt gestanden hatte.
Dabei war es ihr, als würde sie noch ein nachwehender eisiger Hauch streifen.
Sonst war da nichts mehr.
* * *
Drogen! dachte sie zunächst.
Aber wann sollte man ihr diese verabreicht haben? Sie hatte seit ihrer Ankunft am Bahnhof weder etwas getrunken, noch etwas gegessen. Sie hatte einfach weder Hunger, noch Durst verspürt.
Auch jetzt hatte sie überhaupt kein Bedürfnis in dieser Richtung.
Sie ging zum Lichtschalter und betätigte ihn.
Nichts geschah. Es blieb so düster wie zuvor.
Sie trat ans Fenster und teilte die Übergardine.
Draußen war nichts zu sehen, außer einer dichten Nebelwand, die das Hotel eingepackt hielt wie mit Watte.
Ja, kein Geräusch drang hindurch.
Jane fühlte sich wie in einem Traum, und gleichzeitig erschien ihr alles auf eine phantastische Weise real.
"So wie die ganzen Jahre hindurch!" gab sie mit bebender Stimme zu. "Mit dem Unterschied, daß es mir jetzt endlich bewußt wird."
Sie ließ sich auf das Bett sinken und zog die Stirn kraus.
Noch einmal ließ sie die Worte der Erscheinung in ihrer Erinnerung aufklingen.
Ihres Wissens nach hatte sich in ihrer ganzen Vorfahrenschaft kein einziger Tänzer befunden. Oder hatte man es ihr nur verheimlicht?
Wie war das mit ihren Eltern gewesen?
Sie waren gestorben, bevor Jane bewußt zu denken vermocht hatte. Angeblich ein Unfall. Sie konnte sich überhaupt nicht an sie erinnern. Es gab lediglich ein paar alte Fotos, die immer noch von den Nonnen des Waisenhauses aufbewahrt wurden.
Wenn es zum Plan gehörte, daß ihre Eltern so früh sterben mußten, dann gehörte es vielleicht auch zum Plan, daß die Nonnen sie erzogen?
Aber das ergab doch überhaupt keinen Sinn: Wenn das Tanzen wirklich ihre große Bestimmung war, warum hatte man da zugelassen, daß die Nonnen alles taten, um genau diese Neigung mit aller Härte zu unterdrücken?
Sie schüttelte den Kopf.
Vielleicht würde sie eine der Antworten bei den Nonnen vom Waisenhaus selbst finden? Aber irgendwie bezweifelte sie das. Sie neigte viel eher zu der Ansicht, daß die genauso unwissende Ausführende waren wie alle anderen.
Wie sogar ich selbst! dachte sie.
Der große Plan, wer immer auch dahinter stand... Wenn ich den Worten glauben darf, werde ich bald erfahren, worum es tatsächlich geht.
Sie stand auf.
Frederic!
Zum ersten Mal wieder dachte sie an ihn. Schlagartig kamen dabei Schwindel auf. Sie mußte sich wieder auf das Bett sinkenlassen.
Frederic!
Sie wußte auf einmal, daß es ein hilfloses Unterfangen war, diese Stadt jemals wieder verlassen zu wollen, bevor sie wenigstens mit ihm auch nur ein einziges Mal gesprochen hatte.
Ja, gehörte auch das mit zum sogenannten großen Plan?
Sie konnte und wollte es nicht glauben. Obwohl... Sie hatte der Erscheinung gegenüber verschwiegen, warum sie so aus scheinbar freien Stücken in diese Stadt gekommen war, nach all diesen Jahren. Nein, das hatte nun wirklich nichts mit diesem großen Plan zu tun, sondern viel eher mit - Frederic.
Und sie konnte und wollte nicht glauben, daß auch er in diesem ominösen Plan auch nur die geringste Rolle spielen sollte.
Eines schien ihr dabei sogar rechtzugeben, ein äußerst wesentlicher Umstand sogar: Wenn sie wirklich das Ergebnis einer Art Menschenzüchtung über Jahrhunderte war, von der die Betroffenen selbst niemals etwas gemerkt haben sollten, dann spielte so etwas wie Liebe sicherlich niemals eine echte Rolle zwischen all ihren Vorfahren.
Somit gehörte es eher zum sogenannten großen Plan, daß sie die große Liebe zwischen Frederic und ihr so sehr verraten hatte...
Und sie war auf einmal fester als je zuvor überzeugt davon, daß sie tatsächlich deshalb nach Carmichael zurückgekehrt war, um diese große Liebe wiederzufinden...
Sollten die großen Unbekannten doch annehmen, daß sie hier eine andere Bestimmung suchte. Jane wußte es jetzt besser - und wollte es vorsichtshalber für sich behalten.
Ganz egal, was Frederic davon halten würde.
Denn die wahre Liebe ist unabhängig davon, ob sie erwidert wird! dachte Jane überzeugt. Die wahre Liebe bemüht sich trotzdem. Aber sie lehrt einen auch würdigen Verzicht, wenn sie aussichtslos bleibt. Denn viel wichtiger als das eigene Glück ist für die wahrhaft Liebende letztlich das Glück dessen, den sie liebt!
Doch bevor ich sicher sein kann, daß Frederics Liebe zu mir für immer erloschen ist, brauche ich Gewißheit. Ich darf mich nicht mehr länger vor dieser Entscheidung drücken.
Sie nahm den Hörer des Zimmertelefons auf und wählte die Nummer der Rezeption, um sich nach draußen verbinden zu lassen. Jane wollte den Bahnhofsvorsteher anrufen, um ihn nach Frederic zu fragen. Selbst wenn der alte John Owns um diese fortgeschrittene Zeit nicht mehr an seinem Schreibtisch saß, so erreichte sie gewiß jemand anderes, der ihr vielleicht die Adresse oder gar die Telefonnummer von Frederic geben konnte.
Aber die Leitung blieb tot.
Jane hämmerte mit dem Finger auf der Hörergabel herum und lauschte in die Hörermuschel.
Nichts.
Als sei das Telefon überhaupt nicht angeschlossen.
Vielleicht Stromausfall - und das nicht nur hier, im Hotel?
Sie ging wieder ans Fenster und zog die Übergardine auseinander.
Die Nebelwand war dicht und unbeweglich.
Jane öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus.
Es war zu hoch, um durch das Fenster das Hotel zu verlassen. Sie lauschte in die vollkommene Stille hinein.
Der Nebel leuchtete aus sich heraus. Von ihm stammte dieses diffuse Licht, das fast ungehindert sogar die Übergardine durchdrang.
Schaudernd schloß Jane das Fenster wieder. Sie schaute in Richtung Telefon. Nein, es blieb ihr nichts anderes übrig, als hinunterzugehen. Es war wohl kaum anzunehmen, daß dieser Mr. Brooks Verständnis dafür hatte, wenn sie Frederic anrufen wollte, aber vielleicht konnte sie wenigstens erfahren, was überhaupt passiert war?
Dieser Nebel und scheinbar überall kein Strom mehr...
* * *
Frederic hatte sich überwunden. Es war ihm tatsächlich gelungen, sich wenigstens soweit zusammenzunehmen, daß er wieder in der Lage war, mit John Owns, dem Bahnhofsvorsteher von Carmichael, zu telefonieren.
Der alte Mann war tatsächlich noch in seinem Büro. Das war sicher kein Zufall. Als hätte er auf diesen Anruf gewartet.
Frederic gab sich Mühe, seine Stimme ganz gefaßt klingen zu lassen.
"Wo ist sie? Wie sieht sie aus?"
Mr. Owns antwortete ruhig: "Sie sieht aus, als sei sie keine Minute gealtert. Als wäre sie durch die Zeit gereist und habe die ganzen Jahre auf diese Weise übersprungen. Als sei gar nichts inzwischen geschehen."
"Wo ist sie jetzt?" wiederholte Frederic bang.
"Im Hotel. Ihr gehört ja jetzt ein Teil davon. Sie hat diesen Teil geerbt von ihrem verstorbenen Mann. Mr. Brooks war hier, um sie abzuholen. Sie hat ihn überhaupt nicht erkannt und war sehr verwundert, überhaupt abgeholt zu werden. Wenn ich das richtig verstanden habe, mißtraut sie ihm."
"Und trotzdem ging sie mit ihm?"
"Was blieb ihr anderes übrig? Sie wirkte am Ende erschöpft - zu erschöpft, um gleich wieder abzureisen. Obwohl ihr das offenbar lieber gewesen wäre."
Bloß nicht! schrieen Frederics Gedanken.
Ja, er war entschlossen, sie zu sprechen oder sie vielleicht sogar aufzusuchen. Er wollte wissen, wie sie zu ihm stand. Denn er wußte jetzt, daß er keine Sekunde aufgehört hatte, sie zu lieben.
Er hatte eine andere kennengelernt. Er hatte sie geheiratet. Er hatte gemeinsam mit ihr ein Kind. Aber diese Ehe war von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Sie hatte keine Schuld daran. Die Scheidung war unvermeidlich gewesen. Einzig und allein er selbst war schuld daran. Weil er nur geheiratet hatte, um endlich Jane zu vergessen.
Nein, er konnte und wollte nicht mehr leben, ohne endlich Gewißheit zu haben.
Warum hatte sie ihn verschmäht? Warum hatte sie sich niemals mehr gemeldet?
Und vor allem: Warum schließlich war sie zurückgekommen?
Zu ihm?
Nein, das schied offenbar aus, wenn er den Worten von Mr. Owns Glauben schenken wollte. Anscheinend wäre sie am liebsten gleich wieder abgereist. Ganz ohne ihn zu sprechen.
Hatte sie denn wenigstens einmal nach ihm gefragt?
Er fragte Mr. Owns danach.
"Nur indirekt", gab der ziemlich ausweichend Auskunft.
"Im Hotel also ist sie jetzt? Also gut, ich werde versuchen, sie dort anzurufen."
"So spät noch? Es ist kurz nach Mitternacht."
Frederic schaute auf die Uhr. Tatsächlich! Das war ihm überhaupt nicht bewußt gewesen.
"Und Sie sind noch im Dienst?" fragte er.
"Ja, warum denn nicht?" Mr. Owns lachte leise, und Frederic wußte endgültig, daß er tatsächlich nur seinetwegen geblieben war. Weil er auf diesen Anruf gewartet hatte.
Guter alter Mr. Owns! dachte Frederic bewegt.
Mr. Owns war damals dabeigewesen, als sie sich verabschiedet hatten. Reiner Zufall eigentlich. Damals war Mr. Owns noch lange kein Bahnhofsvorsteher gewesen. Und als Jane weggefahren war, hatte Mr. Owns Mitleid mit dem zurückgebliebenen Frederic gezeigt. Er war zu ihm gekommen und hatte ihn zu einem Drink eingeladen. Einfach so.
Frederic war der Mann von Anfang an sympathisch gewesen. Und der Beistand von Mr. Owns hatte sogar wahre Wunder gewirkt.
Seitdem war Mr. Owns für ihn so eine Art väterlicher Freund. Er hatte nichts dagegen, daß Mr. Owns ihn vertraulich duzte und er umgekehrt Mr. Owns respektvoll siezte.
Und das gleiche Vertrauen hatte anscheinend auch Jane zu Mr. Owns.
Seltsam! dachte Frederic.
"Ich werde Sie auf dem Laufenden halten!" versprach Frederic.
"Ich bitte sogar darum!" erwiderte Mr. Owns gespielt grimmig.
Frederic legte auf.
Die Telefonnummer des Hotels wußte er auswendig. Er tippte sie ein.
Die Leitung blieb tot.
Frederic runzelte die Stirn, drückte kurz die Gabel, ließ wieder los und wählte erneut.
Tote Leitung.
Einen Moment zögerte er. Dann rief er die Störungsstelle an. Die war auch nachts erreichbar.
"Einen Moment bitte!" versprach man ihm. "Können wir Sie zurückrufen?"
Frederic gab seine Nummer an und legte wieder auf.
Er saß neben dem Telefon und wartete wie im Fieber.
Es dauerte zwar nur wenige Minuten, aber diese Minuten erschienen ihm wie eine Ewigkeit.
Wieso ist das Hotel ausgerechnet heute nacht nicht erreichbar? fragte er sich zum wiederholten Male.
Er konnte es sich nicht erklären. Aber er wollte auch nicht an einen bloßen Zufall glauben.
Die Störungsstelle rief zurück.
"Das Hotel ist zur Zeit nicht erreichbar. Die Verbindung ist unterbrochen."
"Dann tun Sie doch etwas dagegen!" forderte Frederic ungewollt grob.
Die Dame von der Störungsstelle gab sich leicht eingeschnappt: "Tut mir leid, aber diese Nacht nicht mehr. Uns liegt kein Antrag des Hotels vor. Wir werden uns morgen früh wieder bemühen. Ihnen wünschen wir noch eine angenehme Nacht."
Sie hängte einfach auf.
Frederic starrte auf den Hörer in seiner Hand und versuchte sekundenlang vergeblich, seine Gedanken zu ordnen.
Kein Zufall! hämmerte es hinter seiner Stirn.
Was denn sonst? tauchte zwangsläufig die Frage auf.
Zuerst rief er wieder Mr. Owns an. Dieser schien den Hörer bereits in der Hand gehabt zu haben, denn er meldete sich schon beim ersten Freizeichen.
Frederic erzählte es ihm und schloß: "Ich werde persönlich hinfahren!"
"Moment, Frederic, es ist nach Mitternacht! Du willst das wirklich tun?"
"Und ob!" Frederic legte ohne einen weiteren Kommentar auf und ging seine Jacke holen.
Bevor er seine Wohnung verließ, läutete das Telefon. Er wußte nicht, wer es war. Wahrscheinlich Mr. Owns. Aber er würde sich sowieso nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen. Von keiner Macht der Welt. Dessen war er fest entschlossen.
Darum ließ er das Telefon auch läuten und eilte zu seinem Wagen.
* * *
Im Hotelgang war es feucht-kalt, und irgendwie roch es modrig. Als wäre dieser Gang in Wirklichkeit unterirdisch.
Es brannte kein Licht, und dennoch herrschte auch hier dieses diffuse Leuchten, das Jane den Weg zeigte.
Entschlossen schritt sie in Richtung Fahrstuhl. Aber erst, als sie ihn erreichte, wurde ihr bewußt, wie unsinnig das war. Wenn nicht einmal das Licht brannte...
Kopfschüttelnd ging sie daran vorbei zur Treppe.
Das Treppenhaus lag hinter einer Tür. Zögernd griff Jane nach der Türklinke. Sie hielt inne. Ein Gedanke war ihr gekommen.
Irgendwie wirkte alles hier anders als bei ihrer Ankunft. Gerade so, als habe man sie im Schlaf verschleppt und...
Eigentlich ein völlig absurder Gedanke, denn so tief und fest hatte sie ihr Lebtag niemals geschlafen, daß man das mit ihr hätte machen können. Andererseits waren inzwischen so viele seltsame Dinge geschehen, daß sie eigentlich mit allem rechnete und kaum mehr etwas für unmöglich hielt.
Sie wandte sich von der Tür ab und ging ein Stück in den Gang zurück.
Der schwere Teppichboden dämpfte ihre Schritte. Ja, er sah genauso aus wie bei ihrer Ankunft. Falls man das in diesem unwirklichen Licht überhaupt beurteilen konnte.
Sie bückte sich und tastete darüber. Er fühlte sich klamm an. Als habe man hier seit langer Zeit nicht mehr gelüftet.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie sich wieder aufrichtete. Das Gefühl der Beklommenheit wurde schier unerträglich.
Entschlossen wandte sie sich an die nächstbeste Tür und hieb die Türklinke herunter. Sie stieß die Tür einfach auf.
Nichts und niemand hielt sie bei ihrem Tun auf.
Der Raum lag offen vor ihr.
Zögernd trat sie ein. Auch hier herrschte dieses allgegenwärtige diffuse Licht.
Mit einer fahrigen Bewegung rieb sich Jane kurz über die Augen. Aber das änderte nichts. Der Eindruck blieb:
Das Zimmer wirkte vergessen und jahrelang nicht mehr benutzt. Überall lag fingerdick der Staub, auch am Boden. Die Fensterscheiben waren blind vor Schmutz, die Gardinen hingen in Fetzen herab.
Jane war sicher, daß sie zu Staub zerfielen, wenn man sie nur berührte.
Eine Fensterscheibe zeigte ein Loch. Niemand hatte es geschlossen, nicht einmal mit Pappe. Dahinter war dieser träge, schwere Nebel, der alles unter sich begraben hatte.
Jane zog sich wieder in den Gang zurück und schloß die Tür hinter sich.
Sie ging ziellos den Gang entlang und öffnete eine beliebige andere Tür.
Fast dasselbe Bild.
Moder und Vernachlässigung überall.
Zumindest dieses Stockwerk hier war lange Zeit nicht mehr benutzt worden. Und wieso war das bisher niemandem aufgefallen? Handelte es sich nicht um das führende Hotel am Ort?
Zu Janes Zeit hatte es noch gar nicht gestanden. Es war eines der Neuerungen, die es hier inzwischen gab.
Wenn sie es richtig verstand, hatte sogar ihr Mann den Bau veranlaßt.
Das gehörte anscheinend mit zu diesem ominösen Plan? dachte sie ergrimmt.
Alles gehörte zu diesem Plan. Jeder schien manipuliert zu sein, als Spielball von Mächten, die es vorzogen, vorläufig noch unerkannt zu bleiben.
Und Thomas Prescoll war einer ihrer Führer gewesen?
Oder war auch er nur - eines der Opfer gewesen, sozusagen von der privilegierteren Sorte?
Jane schmeckte die Vorstellung ganz und gar nicht, Spielball irgendwelcher Kräfte zu sein, die nach Belieben über sie verfügten.
Bisher hatte sie es nicht gemerkt, und wer es nicht merkt, der kann auch nichts dagegen unternehmen. Inzwischen hatte sich das geändert. Und dennoch: Welche Chance hatte sie denn überhaupt, sich dem Willen dieser Mächte zu widersetzen? Wie es aussah, waren deren Möglichkeiten sehr weitreichend, auch wenn ihre Motive ganz und gar unklar blieben.
Aber Jane nahm sich fest vor, nicht untätig zu bleiben. Sie wollte sich nicht ängstlich in ihrem Zimmer verkriechen und warten, bis diese unheimliche Nacht endlich vorbeiging.
Um vielleicht am nächsten Tag einfach abzureisen?
Nach allem, was sie bisher erfahren hatte, würde das sicher nicht im Sinne derer liegen, die für alles verantwortlich zeichneten - vielleicht sogar für den Tod ihrer Eltern!
Allein der Gedanke daran schickte eisige Schauer über ihren Rücken.
Jane ging wieder in Richtung Treppenhaus. Als sie am Fahrstuhl vorbeikam, zögerte sie kurz. Nein, die Anzeigen leuchteten nicht. Es gab immer noch keinen Strom im Hotel.
Sie öffnete die Tür zum Treppenhaus. Feuchtkalter Modergeruch wehte ihr entgegen, aber davon ließ sie sich nicht abschrecken.
Jane trat auf die Treppe und ging nach unten.
Die Tür oben hatte sie offengelassen. Jetzt schwang diese scheinbar selbständig zu. Sie knarrte dabei unangenehm laut in den Angeln und fiel schließlich mit einem dumpfen Knall ins Schloß. Das klang im Treppenhaus fast wie der Einschlag einer Bombe. Jane zuckte unwillkürlich zusammen.
Aber sie beherrschte sich und stieg tiefer hinab.
Sie erreichte den ersten Stock. Ihr Zimmer lag im zweiten Stockwerk. Das Foyer des Hotels mit Rezeption lag im Erdgeschoß. Es hatte bei ihrer Ankunft insgesamt einen recht guten Eindruck gemacht. Ein Hotel der gehobenen Klasse, obwohl praktisch kein Betrieb geherrscht hatte. Jane hatte dies der fortgeschrittenen Stunde zugeschrieben.
Im ersten Stock blieb sie stehen, denn sie hörte etwas, was sie zunächst nicht einordnen konnte.
Es drang von weiter unten zu ihr herauf. Kam es aus dem Foyer des Hotels?
Es war ein eigenartiges Rumoren, als würden Menschen dort unten geschäftig umhergehen und sich mit gedämpften Stimmen unterhalten.
Alles in Jane sträubte sich dagegen, weiter hinabzusteigen, und dennoch tat sie es. Jane handelte jetzt wie unter einem geheimen Zwang. Der war stärker als ihre Furcht.
Im Erdgeschoß blieb sie kurz stehen.
Ja, gewiß, die Geräusche hatten ihren Ursprung hinter der Tür zum Foyer.
Die Treppe ging weiter nach unten, in das erste Kellergeschoß. Aber Jane verließ hier schon das Treppenhaus. Sie öffnete mit zitternder Hand die Tür und zog sie zunächst nur halb auf. Sie zögerte noch ein wenig. Jetzt waren die Geräusche viel stärker, weil sie nicht mehr durch die geschlossene Tür gedämpft wurden.
Endlich hatte sie den Mut, hinauszusehen.
Das Hotel hatte sich mit gespenstischem Leben gefüllt. Auch hier war dieses diffuse Leuchten. Menschen gingen geschäftig umher. Es war so, wie die Geräusche es hatten vermuten lassen. Keiner achtete auf Jane, die in das Foyer hinaustrat.
Hinter ihr schwang die Tür scheinbar selbständig zu. Es kümmerte sie nicht mehr. Sie blieb stehen und schaute sich um.
Die Menschen wirkten in diesem seltsamen Licht unnatürlich bleich. Bei manchen hatte Jane den Eindruck, als würden ihre Augen glühen.
Alle machten sie den Eindruck, als würde ein ganz besonderes Ereignis bevorstehen.
Was war es?
Auch hier herrschte dieser unangenehme Geruch von modriger Feuchtigkeit.
Jane hatte nur ihr Nachtgewand an. Sie spürte die Kälte, ignorierte sie jedoch.
In ihrem Nachtgewand mußte sie doch auffallen? Wieso achtete überhaupt niemand auf sie?
Jetzt strebten sie in eine ganz bestimmte Richtung. Jane erinnerte sich, daß Mr. Brooks erwähnt hatte, dort befänden sich die Konferenzräume und auch Platz für eine größere Veranstaltung.
Ging es denn um eine solche Veranstaltung?
Jedenfalls schien es den Leuten nichts auszumachen, daß der Strom ausgefallen war. Sie taten ganz so, als sei alles in bester Ordnung.
Jane ging entschlossen in Richtung Rezeption.
Dort war niemand. Der Platz hinter dem Tresen erschien verwaist.
Sie schlug auf die Klingel. Jemand schien Watte hineingestopft zu haben. So klang sie.
"He!" rief Jane aus, "ist da niemand?"
Tatsächlich, die hintere Tür öffnete sich, und Mr. Brooks trat persönlich heraus. Er sah nach Jane und lachte erfreut, als er sie erkannte.
"Alles zu Ihrem Besten?" erkundigte er sich beflissen.
"Ganz und gar nicht!" antwortete Jane und runzelte ärgerlich die Stirn. "Der Strom ist ausgefallen - zum Beispiel!"
Er winkte lachend ab. "Nicht doch, Mrs. Prescoll, davon werden wir uns doch nicht ärgerlich machen lassen? Das ist eine Kleinigkeit, eine vorübergehende mißliche Erscheinung sozusagen. Wir haben Notstrom, wie Sie sehen, und der reicht eben für die Notbeleuchtung. Mehr brauchen wir ja nicht. Irgendwann wird die Nacht wieder vorbei sein, und das Tageslicht wird jede künstliche Beleuchtung unnötig machen. Finden Sie nicht auch?"
Erst jetzt schien er zu bemerken, daß Jane im Nachtgewand vor ihm erschienen war. Er schien es unpassend zu finden, sagte aber nichts in dieser Richtung. Er lächelte nur nachsichtig.
"Aber ich wollte telefonieren und..."
Er winkte mit beiden Händen ab.
"Das hängt ebenfalls mit dem Stromausfall zusammen. Keine Sorge, Mrs. Prescoll, bis zum Morgen wird sicherlich alles behoben sein. Dann können Sie jeden anrufen, wie es Ihnen beliebt. So lange jedoch..." Er zuckte mit den Achseln. Eine irgendwie hilflos anmutende Geste. "Es ist ja schon spät. Vielleicht sollten Sie so lange noch schlafen? Äh, nur ein Vorschlag, mehr nicht..." Er betrachtete sie von oben bis unten und zeigte jetzt deutlicher, daß er ihr Aufzug für unpassend hielt.
Jane war das gleich. Sie konnte diesen Mr. Brooks nicht ausstehen. Wenn sie die Erscheinung ihres verstorbenen Mannes nicht geträumt hatte und wenn nur ein Bruchteil dessen stimmte, was die Erscheinung ihr mitgeteilt hatte, dann gab es keinen Zweifel mehr daran, daß dieser Mr. Brooks eine ganz entscheidende Rolle in diesem undurchsichtigen Spiel spielte.
Jane wandte sich brüsk ab und ging zum Ausgang. Sie ahnte, was sie erwartete, aber sie wollte es genau wissen: Sie versuchte, den Ausgang zu öffnen, aber das war nicht möglich.
Selbst wenn sie einen der schweren Sessel im Foyer genommen hätte, um damit die Scheibe zu zertrümmern: Draußen war das schwere Scherengitter heruntergelassen. Es gab kein Entrinnen.
Zornig wandte sie sich Mr. Brooks zu, doch dieser war wieder verschwunden.
Das ganze Foyer hatte sich inzwischen geleert.
Aber die vormalige Ruhe war damit längst nicht wieder eingekehrt. Das Raunen vieler Stimmen drang zu Jane hin. Sie hatten sich alle irgendwo im Hintergrund versammelt, dort, wo nach Angaben von Mr. Brooks auch eine größere Versammlung Platz hatte.
Zum ersten Mal störte es Jane, daß sie hier unten im Nachtgewand herumlief. Aber sie wollte nicht extra auf ihr Zimmer zurückkehren, um dort etwas anderes anzuziehen - um danach erst ihre Neugierde zu befriedigen.
Denn es interessierte sie inzwischen brennend, was das für eine Versammlung war.
Sie schritt an der Rezeption vorbei und erreichte die hintere Tür. Das war eher ein breites Tor als eine Tür. Es war bedeckt mit reichen Intarsien.
Jane konnte allerdings keine Einzelheiten sehen, weil das diffuse Licht das nicht zuließ.
Das breite Tor war geschlossen. Aber die Versammlung war zweifelsohne genau dahinter.
Jane schaute sich im großzügigen Foyer um. Inzwischen war sie die einzige hier unten.
Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, woher das scheinbar allgegenwärtige Licht stammte.
Eine Notbeleuchtung? Mr. Brooks hatte es jedenfalls behauptet.
Jane wandte sich wieder dem breiten Tor zu. Sie vermißte die Türklinke und drückte vorsichtig mit beiden Händen dagegen.
Das Tor gab nicht nach.
Jane suchte nach einem Öffnungsmechanismus.
Es war, als wären ihre Aktivitäten auf der anderen Seite des breiten Tores bemerkt worden, denn irgendwie schwoll das Raunen an.
Jane wurde nervöser. Das Herz schlug ihr wieder bis zum Hals.
Was geht hier vor? fragte sie sich zum wiederholten Male. Und jetzt war sie auf einmal ganz sicher, daß sie hinter diesem verschlossenen Tor mindestens eine der Antworten finden würde.
Nur, wie konnte man es öffnen?
Kaum hatte sie diesen Gedanken zuende gedacht, als ein schmaler Spalt entstand, durch den das Licht sickerte. Das war mehr Licht als im Foyer, viel mehr sogar.
Jane schrak unwillkürlich zurück.
Die beiden großen Torflügel schwangen gespenstisch lautlos auf, nach innen. Dahinter war es so hell, daß Jane sekundenlang geblendet war.
Als sich ihre Augen an diese Lichtfülle gewöhnt hatten, blinzelte sie in den Versammlungsraum hinein.
Das war viel mehr eine Halle als ein Raum. Aber das Licht konzentrierte sich nur auf einen schmalen Streifen, der direkt am Eingang begann. Außerhalb dieses Streifens war nichts und niemand erkennbar.
Mit dem Öffnen des Eingangs war das Raunen schlagartig verstummt. Bleierne Stille lastete jenseits des Lichtes.
Janes Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie zögernd eintrat. Sie hatte dabei das Gefühl, als würde sie von tausend Augen beobachtet. Eine Situation wie in einem besonders schlimmen Alptraum. Dazu paßte haargenau, daß sie immer noch ihr leichtes Nachtgewand anhatte, sonst nichts.
Aber irgendwie machte ihr genau das am wenigsten aus.
Schließlich gehörte es zu jedem ordentlichen Alptraum, nicht wahr?
Und wie in jedem Alptraum, so gab es auch in diesem hier kein Entrinnen.
Sie trat ein, obwohl sie es im Grunde gar nicht wollte. Doch all ihr Sträuben nutzte nichts.
Kaum war sie weit genug in diesen Lichtstreifen vorgedrungen, als die beiden Torflügel langsam wieder zuschwangen.
Jane stieß einen leisen Schrei aus und brachte das Kunststück fertig, sich herumzudrehen. Aber es gelang ihr nicht, zurück in das Foyer zu fliehen. Als wäre sie in eine zähe Masse eingepackt, die ihre Bewegungen zu stark behinderten.
Sie reckte ihre Arme, als wollte sie nach dem Foyer greifen, als wäre dort die Rettung vor etwas, was sie nicht verstehen konnte.
Unaufhaltsam schwangen die breiten Torflügel zu, um ihre Flucht endgültig unmöglich zu machen.
Sie schaute zum verschlossenen Hoteleingang hinüber.
Und da war es ihr auf einmal, als wäre dort im gleichen Augenblick Frederic aufgetaucht.
Sie wollte seinen Namen schreien, aber da schlugen die Torflügel mit einem dumpfen Knall zusammen.
Jane starrte auf die Innenseite des reichverzierten Tores. Im grellen Licht konnte sie jetzt Einzelheiten der Intarsien erkennen. Es waren obszöne Darstellungen von Sodomie und Menschenopfern.
Schaudernd und angewidert wandte sich Jane davon ab und dem schmalen Lichtstreifen zu.
Sie wußte, daß man von ihr erwartete, diesen Streifen entlangzuschreiten, auch wenn es ihr niemand gesagt hatte. Es war zu offensichtlich.
Zaudernd setzte sie einen Fuß vor den anderen. Der Lichtstreifen wuchs weiter, mit jedem Schritt, den sie tat.
Noch war das Ziel nicht erkennbar.
Janes Schritt wurde sicherer. Sie bewegte sich dennoch lauernd, leicht geduckt, fast wie eine Mensch gewordene Raubkatze, als wollte sie jederzeit bereit sein zur Flucht. Dabei versuchte sie vergeblich zu erkennen, was sich außerhalb des grellen Lichts befand. Doch dies hatte sich in Dunkelheit gehüllt, und sie war zu sehr geblendet, um diese Dunkelheit mit ihren Blicken durchdringen zu können.
Bis Jane ihr Ziel erreichte.
Sie wußte es, als das Licht sich ausbreitete.
Am Eingang erlosch es, und dort, wo Jane jetzt stand, breitete sich ein greller Lichtkegel aus, der seinen Ursprung in mehreren Scheinwerfern an der hohen Decke der Halle hatte.
Von wegen Stromausfall! dachte Jane bitter.
Jetzt war ihr klarer denn je, daß sie alles nur deshalb erlebt hatte, weil man sie hier erwartete. Seit ihrer Ankunft am Bahnhof. Vielleicht sogar noch früher?
Es war wahrlich naiv gewesen, anzunehmen, sie könnte heimlich nach Carmichael kommen. Da war dieses unheimliche Gesicht gewesen, das ihr erschienen war. Dann Mr. Brooks...
Sie war sicher, daß Mr. Brooks auch hier war. Er war einer der wichtigsten Mitglieder dieser Versammlung.
Aber das wichtigste Mitglied dieser Versammlung war ganz und gar sie, Jane!
Und deshalb stand sie inmitten des Lichtkegels.
Die Versammelten erwarteten etwas von ihr, ausgerechnet von ihr, und sie ahnte längst, was es war: Sie erwarteten, daß sie endlich zu tanzen begann.
Warum und wieso ausgerechnet hier und unter solchen Umständen, das war im Moment eigentlich von sekundärer Bedeutung. Wesentlich war für Jane nur eins: Sie wollte es nicht!
* * *
Frederic fuhr auf direktem Wege zum Hotel. Unterwegs begegneten ihm wenig Autos. Carmichael war des Nachts im wahrsten Sinne des Wortes ein ziemlich verschlafenes Städtchen.
Er dachte nur noch an Jane. Ihr Bild war unauslöschlich in seinem Gedächtnis, und wohin er auch schaute, sah er immer nur ihr süßes Gesicht.
Deshalb war er ganz froh darum, daß auf den Straßen der Stadt so wenig los war. Vielleicht hätte er andernfalls sogar einen Unfall gebaut?
Das Hotel war ein großes, herrschaftliches Gebäude mit allerlei Zierrat. Eines der führenden Hotels des Landes sogar, wurde behauptet. Seine Erbauer hatten sorgfältig darauf geachtet, es in das allgemeine Stadtbild zu integrieren, daß man fast meinen konnte, es sei schon so alt wie die anderen altehrwürdigen Häuser der Innenstadt.
Eigentlich war es das erste Mal, daß Frederic daran überhaupt einen Gedanken verschwendete. Irgendwie hatte er die Tatsache, daß es dieses Hotel gab, bisher stets aus seinem Bewußtsein verdrängt. Vielleicht deshalb, weil er wußte, daß Thomas Prescoll für den Bau verantwortlich zeichnete?
Alles, was mit Jane zusammenhing, seit ihrem Abschied, war von ihm mehr oder weniger verdrängt worden. Er hätte bis heute noch das erste Wort mit seiner Exfrau über dieses Thema reden sollen.
Überhaupt, ich habe eigentlich viel zu wenig mit ihr geredet? dachte er mit einem Anflug von Bedauern. Nein, sie konnte wahrhaftig nichts dafür, daß unsere Ehe schiefging. Ich war nicht der Richtige für sie. Jetzt darf sie glücklicher sein, da sie einen anderen gefunden hat.
Das einzig Schmerzliche dabei blieb die Tatsache, daß er durch die Scheidung weitgehend seinen Sohn verloren hatte. Er war gerichtlich der Mutter zugesprochen worden.
Die Gedanken daran verloren sich wieder, als er seinen Wagen abstellte und ausstieg.
Einen Moment lang wirkte er unschlüssig. Er schaute an dem hohen Gebäude empor. Sämtliche Fenster waren dunkel.
Stirnrunzelnd ging Frederic zum Haupteingang.
Das Scherengitter war heruntergelassen worden.
Das war zumindest ungewöhnlich.
Aber neben dem Scherengitter war ein Klingelknopf. Wenn man zu später Stunde kam, konnte man den Portier herausklingeln.
Frederic versuchte es, aber es gab keine Reaktion.
Er spähte durch das Gitter hindurch und versuchte, im Foyer etwas zu erkennen.
Alles stockfinster. Gab es denn das? Ein Hotel, in dem keine einzige Lampe brannte?
Mehrmals klingelte Frederic. Ohne Erfolg.
Es war ihm, als wäre das Foyer mit Nebel erfüllt. Mehr als eigenartig.
Frederic trat ein paar Schritte zurück und betrachtete die Fassade.
Da erst fiel ihm das Schild neben dem Eingang auf: "Wegen Renovierungsarbeiten vorübergehend geschlossen!"
Als hätte es vorhin noch gar nicht da gehängt...? Wie hätte er es denn übersehen können?
Frederic schüttelte den Kopf. Renovierungsarbeiten? Das Hotel machte nicht den Eindruck, als hätte es das nötig. Zumindest von außen nicht.
Und Mr. Brooks? Hatte er denn etwas davon gesagt? Wie konnte er denn Jane das Hotel anbieten, wenn das gar nicht geöffnet war?
Frederic schüttelte mißbilligend den Kopf. Er spähte wieder durch das Scherengitter.
Da, ein Licht! Und in diesem Licht glaubte er für einen Augenblick - Jane zu sehen!
Er schrie: "Jane!", aber da war der Spuk auch schon wieder vorbei.
Nur ein Trugbild? Hatte er etwas gesehen, was ihm seine Einbildung vorgegaukelt hatte? War sozusagen der Wunsch Vater des Gedankens geworden, so sehr, daß er gewissermaßen Gespenster sah?
Damit konnte sich Frederic nicht zufriedengeben. Zähneknirschend wandte er sich vom Haupteingang ab. Er begann, nach einem anderen Weg ins Innere des Gebäudes zu suchen. Er schritt die Hausfassade ab und betrachtete die Fenster im Erdgeschoß.
Sie waren allesamt vergittert. Niemand würde da einsteigen können. Und ohne Leiter würde er nicht bis in den ersten Stock klettern können. Obwohl: Auch dort waren sämtliche Fenster fest geschlossen.
Frederic gab dennoch nicht so schnell auf. Er kam zu der halbhohen Mauer, die das Grundstück neben und hinter dem Hotel begrenzte. Er war sportlich genug. Für ihn wäre die Mauer kein Hindernis. Außerdem würde er auf der Mauer stehend ein Fenstersims im ersten Stock erreichen können.
Er sicherte kurz nach allen Seiten. Niemand würde ihn bei seinem Tun beobachten. Keine Menschenseele befand sich im Moment auf der Straße.
Er kletterte entschlossen hinauf, auf die Mauer, und von dort auf das Fenstersims.
Frederic war sogar entschlossen, die Scheibe einzudrücken, um in das Innere zu kommen. Es war ihm egal, daß er damit wie ein gemeiner Einbrecher handelte. Er konnte nur noch an Jane denken, und in ihm war das Gefühl tief verwurzelt, daß sie seine Hilfe benötigte.
Die ganze Angelegenheit war ihm nämlich mehr als verdächtig.
Er versuchte zuerst, das Fenster ohne rohe Gewalt zu öffnen, aber dafür war es zu gut gesichert.
Frederic schmiegte sich eng dagegen, um nicht herunterzufallen, und zog seine Jacke aus. So hatte er das einmal in einem Fernsehkrimi gesehen. Er wickelte die Jacke um seine rechte Hand, sicherte noch einmal nach allen Seiten, und dann schlug er zu. Er drosch immer heftiger auf die Fensterscheibe ein, bis ihm der Arm bis zur Schulter schmerzte, aber es gelang ihm nicht, die Scheibe zu zertrümmern.
Schweratmend hielt er ein.
Wie war das denn möglich? Das war doch kein normales Glas?
Als hätte man Panzerglas verwendet!
Mit eng zusammengekniffenen Augen betrachtete er den Fensterrahmen, wo das Glas eingesetzt war. Das dürftige Licht reichte zwar kaum aus, um genug erkennen zu lassen, aber Frederic sah dennoch bestätigt, was er befürchtet hatte: Das Glas war ungewöhnlich dick. Vielleicht war es sogar kugelsicher? Es war vergleichbar mit dem Glas vor Bankschaltern.
Da würde er sich eher den Arm brechen, bevor er auch nur einen Riß zu verursachen vermochte. Es war völlig aussichtslos, in dieses Gebäude einbrechen zu wollen.
Wütend sprang Frederic auf die Mauer zurück und von dort auf das Grundstück dahinter.
Er zog die Jacke wieder an.
Wann hatte man jemals davon gehört, daß ein Hotel so abgesichert war? Die schienen sich ja ganz besonders vor Einbrechern zu fürchten. Was war im Innern denn dermaßen wertvoll, daß sich ein solcher Aufwand überhaupt lohnte?
Oder gab es einfach etwas, was man unter allen Umständen verbergen wollte?
Hinter der Mauer war es so dunkel, daß man kaum die Hand vor den Augen sehen konnte. Frederic tastete sich am Haus entlang und erreichte so eine breite Verandatür. Durch sie konnten die Hotelgäste in das parkähnlich angelegte hoteleigene Gelände hinausgehen. Wahrscheinlich gab es sogar einen Swimmingpool für die wärmere Jahreszeit. Nur konnte Frederic in dieser Dunkelheit das nicht sehen.
Überhaupt eigenartig, daß so wenig Licht von der Straße über die Mauer herüberkam. Als würde über der Mauer noch eine unsichtbare, aber lichtschluckende Wand existieren.
Frederic bekam unwillkürlich eine Gänsehaut, als er das dachte.
Er probierte, durch die Verandatür einzusteigen. Aber auch sie war fest verschlossen.
Abermals zog er die Jacke aus und wickelte sie sich um die Hand. Er schlug zu.
Es war nicht anders als beim ersten Versuch: Auch hier hatte man offensichtlich Panzerglas verwendet!
Kopfschüttelnd gab es Frederic auf. Er zog die Jacke wieder an und spähte durch die Scheibe, um vielleicht doch noch etwas zu sehen.
Aber das Hotel schien tatsächlich leer und verwaist zu sein.
Wirklich wegen Renovierungsarbeiten geschlossen?
Und wohin hatte Mr. Brooks dann Jane gebracht? Wieso hatte er nichts davon erwähnt und hatte sowohl sie, als auch Mr. Owns in dem Glauben gelassen, sie hierherbringen zu wollen?
Frederic hatte auf einmal echt Angst um Jane. Er eilte durch die Dunkelheit zur Mauer zurück und kletterte darüber. Auf der Straße angelangt, klopfte er sich erst einmal den Staub aus dem Anzug. Dann schritt er schnurstracks zur nächsten Telefonzelle.
Er hoffte, daß er Mr. Owns noch erreichen konnte.
Der Bahnhofsvorsteher schien seinetwegen sogar Nachtschicht eingelegt zu haben. Er hob schon wieder beim ersten Freizeichen ab.
"Das Hotel ist wegen Renovierungsarbeiten geschlossen!" platzte Frederic aufgeregt heraus.
"Wie bitte?" Auch Mr. Owns war überrascht darüber. Aber dann hatte er rasch eine Erklärung parat: "Das hat sicher nichts zu bedeuten, Frederic. Schließlich ist Mr. Brooks der Leiter und Jane ist Miteigentümerin. Was spricht dagegen, daß sie dort übernachtet, obwohl das Hotel zur Zeit geschlossen ist? Die Renovierungsarbeiten müssen ja nicht sämtliche Zimmer des Hotels betreffen."
"Außer diesem Schild weist nichts darauf hin", gab Frederic zu bedenken. "Es gibt keinen Schuttcontainer, nichts."
"Vielleicht sollen die Arbeiten ja auch erst beginnen?"
Der hat auf alles eine Antwort! dachte Frederic enttäuscht. Aber er ließ dennoch nicht locker: "Alles ist dunkel und tot. Ich habe versucht, zu klingeln. Ohne Ergebnis. Es scheint überhaupt keinen Strom in diesem Gebäude zu geben, und telefonisch ist es auch nicht mehr erreichbar. Ich habe hineingespäht, und für einen Augenblick war mir so, als hätte ich Jane gesehen..."
Mr. Owns kam ein Gedanke: "Du wirst doch hoffentlich nicht auf die Idee kommen und einen Einbrecher spielen zu wollen?"
Frederic lachte humorlos. "Ihre Warnung kommt zu spät, Mr. Owns. Ich habe es bereits versucht."
"Das ist nicht wahr!" rief Mr. Owns erschrocken aus.
"O doch, und ob! Allerdings ohne Erfolg, wie ich Ihnen verraten darf. Haben Sie schon mal erlebt, daß ein normales Hotel anstatt normaler Fensterscheiben - Panzerglas verwendete? Sogar für die Verandatür?"
"Panzerglas?" echote Mr. Owns ungläubig.
"Einbruch mit Sicherheit auszuschließen!" betonte Frederic. "Entweder die Gäste von diesem Hotel sind ganz besonders wertvoll, oder man hat anderes vor seinen Mitmenschen zu verbergen."
"Na, man muß ja nicht immer alles so theatralisch sehen", meinte Mr. Owns leichthin.
"Nein", bestätigte Frederic ungerührt, "aber hätten Sie vielleicht eine andere Begründung?"
Anstatt einer Antwort fragte Mr. Owns: "Was hast du jetzt vor, Frederic? Du willst doch nicht etwa den Rest der Nacht vor dem Hotel verbringen?"
"Was bleibt mir denn anderes übrig?"
"Dann werde ich zu dir kommen!" entschloß sich Mr. Owns spontan. "Ich habe mir jetzt schon mehr als die halbe Nacht um die Ohren geschlagen. Auf diese paar Stunden bis zum Hellwerden kommt es jetzt auch nicht mehr an."
Frederic sah keine Chance, ihn davon abzubringen. Deshalb versuchte er es schon gar nicht.
* * *
Jane spürte ein seltsames Kribbeln in den Beinen. Sie schaute an sich hinab. Es war gerade so, als wollten sich ihre Beine selbständig machen, als wollten sie einfach zu tanzen beginnen, ganz ohne ihr Zutun.
Erschrocken schaute sie wieder auf.
"Tanzen!" sagte jemand jenseits der Mauer aus Licht. War es nicht die Stimme von Mr. Brooks?
Eine andere Stimme wiederholte: "Tanzen!"
Eine dritte kam hinzu: "Tanzen!"
Weitere mischten sich ein: "Tanzen!"
Ein ganzer Chor entstand: "Tanzen!"
Es wurden immer mehr, und sie wurden immer lauter. Männer und Frauen. Alle befanden sich jenseits der Lichtinsel, in deren Mitte Jane stand, im Nachtgewand, ganz ohne Ballettschuhe, mit diesem unangenehmen Kribbeln in den Beinen, das sie nur mühsam unterdrücken konnte.
"Tanzen!" brüllte es um sie herum infernalisch laut.
Jane preßte unwillkürlich beide Hände gegen die Ohren. Ein hoffnungsloses Unterfangen, auf diese Weise dieses Brüllen und Schreien um sie herum dämpfen zu wollen.
"Nein!" schrie sie, wurde aber mühelos überstimmt.
Nein! wiederholten ihre Gedanken gequält. Ich will nicht tanzen, nie mehr! Es hat mir nur Unglück gebracht. Ich hätte bleiben müssen, bei Frederic, bei meiner großen Liebe. Ich habe mein Leben zerstört, mit diesem verfluchten Tanzen. Und niemand kann mich dazu mehr zwingen. Niemand! Und vor allem nicht - ohne Musik...
Was das betraf, wurde dem sofort entsprochen. Als habe man zwar ihren Schrei überhört, jedoch nicht ihre Gedanken.
Schlagartig verstummte der infernalische Chor jenseits des Lichtes. Leise Musik klang auf. Sie schwoll allmählich an, als würde sie aus weiter Ferne zu Jane hindringen und sich langsam nähern.
Jane ließ die Arme sinken. Sie schloß die Augen. Die Musik erreichte ihre Ohren, hüllte sie ein, wie mit einem unsicht-baren Schleier. Die Musik ließ Jane erbeben, unterdrückte ihre auflehnenden Gedanken, rann heiß durch ihre Adern - und verstärkte jenes unangenehme Kribbeln in ihren Beinen.
Nur, dieses Kribbeln war auf einmal gar nicht mehr unangenehm.
Ihre Lunge weitete sich zu einem tiefen Atemzug. Sie stieß die Luft wieder aus, mit einem leisen Seufzer. Sie breitete die Arme auseinander, machte damit eine anmutige Bewegung, als wollte sie sich sogleich in die Luft erheben. Eine Bewegung wie von einem Vogel, nein, wie von einer Göttin der Lüfte, die ihre Flügel ausbreitete.
Ihre Beine bewegten sich, ihr schlanker Körper bog sich hin und her. Jane hielt die Augen geschlossen. Es war alles nur ein Traum. Sie wußte nicht einmal mehr, ob es ein angenehmer Traum war oder ein Alptraum. Es war der Traum vom Tanzen, vom grenzenlosen Tanzen. Wie nur eine wahre Göttin des Tanzes es vermochte.
Es war der Traum von Schwerelosigkeit, der Jane wie ein aufgeregter Vogel flattern ließ. Ihre Beine wirbelten. Ihr Körper schien jeglicher Schwerkraft spotten zu können. In den Grenzen des Lichtkegels flatterte Jane hin und her. Sie wirbelte um sich selbst, flog in weiten Sprüngen einmal hierhin und einmal dorthin.
Nicht Luft schien ihre unsichtbaren Flügel zu füllen, sondern die Musik selbst, um ihr den nötigen Auftrieb zu geben.
Jane atmete tief im Rhythmus der Bewegungen. Sie brauchte nicht zu denken, um zu tanzen. Sie brauchte nur die Zügel zu lockern, und ihr Körper verselbständigte sich regelrecht.
Es gab nichts Vergleichbares. Keines Menschen Auge hatte je etwas gesehen, was perfekter war. Nicht, wenn es das Tanzen betraf.
Jane, das war sozusagen der Tanz in Person. Das war nicht Einklang mit der Musik, sondern das war Musik sichtbar gemacht.
Das war nicht Darstellung des Körpers, sondern das war lebendig werden von Klängen, die allein durch sie erst zur wahren Genialität gelangten.
Jane tanzte, obwohl sie es jahrelang nicht getan hatte. Ganz ohne Training, ganz ohne die geringste Übung zwischendurch.
Aber sie hatte nichts verlernt. Ganz im Gegenteil. Jane tanzte göttlicher denn je zuvor. Sie tanzte, als würde sie gar nicht von dieser Welt stammen. Es schien unmöglich, daß dies Wirklichkeit sein konnte und nicht einfach nur der herrlichste Traum des Tanzens. Und doch: Es war Jane! Es war Jane auf dem absoluten Höhepunkt ihres Könnens!
Sie hatte sich dagegen wehren wollen, aber das Tanzen war ihr Schicksal. Sie war dazu bestimmt, ja sogar auserwählt. Die Erscheinung ihres verstorbenen Mannes hatte es ihr erklärt. Dies war ein Schicksal, dem man auch mit aller Macht der Welt nicht mehr entrinnen konnte.
Und sie vermochte sich auch überhaupt nicht mehr daran zu erinnern, wieso sie sich überhaupt dem widersetzen sollte?
Was wäre der Sinn gewesen?
Denn nicht nur die Zuschauer genossen es, sondern - vor allem: sie selbst!
Das Tanzen setzte in ihr ungeahnte Kräfte frei. Sie ermüdete gar nicht. Ihre Lunge pumpte unaufhörlich Sauerstoff, und ihr Körper hatte die Energien wie auf dem Höhepunkt ihres Tanztrainings vor Jahren.
Die vergangenen Jahre hatten nicht das Geringste davon vergehen lassen.
Wie war das möglich?
Es war genau diese einfache Frage, die sie aus diesem unbeschreiblichen Traum schlagartig auftauchen ließ.
Jane erstarrte mitten in der Bewegung. Sie schaute sich um, verwirrt wie eine gerade Erwachende.
Langsam ließ sie die Arme sinken. Die Musik zog sich wieder zurück. Sie klang jetzt, als würde sie wegen dem jähen Abbruch weinen.
Jane schaute trotzig drein.
Und sie stellte sich im stillen erneut die entscheidende Frage: Wie ist es möglich, daß ich das in solchem Maße immer noch schaffe, ganz ohne Training?
Da löste sich aus dem Schatten jenseits des Lichtes eine Gestalt.
Es war Mr. Brooks. Er lächelte.
Wahrscheinlich sollte es freundlich wirken, aber auf Jane wirkte es diabolisch.
"Sie haben sich selbst übertroffen, Jane", behauptete er, während er näherkam. "Wir alle haben uns hier versammelt... sozusagen zum Test. Diesen Test haben Sie in grandioser Weise bestanden."
"Ganz ohne Training!" gab Jane schnippisch zu bedenken.
"Das war auch gar nicht nötig!" behauptete Mr. Brooks. Jetzt war sein Lächeln tatsächlich diabolisch, und es kam Jane nicht nur so vor. "Haben Sie das noch immer nicht begriffen?"
"Nein!" antwortete Jane.
"Sie verstehen also immer noch nicht, was hier vorgeht?"
"Nein!" wiederholte Jane. Es klang schriller als beabsichtigt.
"Dann haben Sie überhaupt noch keinen Gedanken daran verschwendet, welche wichtige Nacht uns allen bevorsteht?"
"Nacht?" echote Jane und zermarterte sich das Gehirn.
Und dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: "Walpurgisnacht!"
Sie war nicht sicher, ob sie es wirklich laut ausgesprochen hatte.
Mr. Brooks reckte weit seine Arme und rief aus: "Die Nacht der Nächte, und Sie werden der absolute Höhepunkt sein, als die Braut des Fürsten aller Fürsten! Als die Braut des eigentlichen Herrschers über die Welt!
Alles wurde perfekt für diese eine Nacht vorbereitet, über Jahrhunderte. Jede Walpurgisnacht hat ihren Höhepunkt. Für den diesjährigen Höhepunkt haben Deine Diener schier Unmögliches möglich gemacht, o erhabener Fürst. Die Mühen über die Jahrhunderte haben sich wahrlich gelohnt. Es ist vollbracht. Wir konnten uns soeben mit eigenem Augenschein davon überzeugen."
"Es ist vollbracht!" brüllte die Versammlung infernalisch. "Es ist vollbracht!" Es folgte rauschender Applaus. Das war so laut, daß Jane schon befürchten mußte, davon ihr Gehör zu verlieren. Verzweifelt preßte sie wieder die Hände gegen die Ohren.
Bis der Applaus verebbte.
Langsam ließ sie die Arme sinken.
"Meine Liebe, der kommende Tag ist bereits der dreißigste April. Schon die nächste Nacht werden Sie den Tanz der Tänze tanzen. Um unserem wahren Herrn zu gefallen. Sie haben uns soeben bewiesen, daß Sie wahrlich seiner würdig sind."
Sie schaute umher. Außer Mr. Brooks sah sie niemanden. Aber das war auch nicht notwendig. Denn sie wußte auch so, mit wem sie es zu tun hatte.
Verdammte Satansanbeter! dachte sie erzürnt und ballte die Hände zu Fäusten.
Wie ist es möglich, daß sie solche Macht auf Erden haben?
"Das Böse hatte schon immer die Macht!" klärte Mr. Brooks sie auf. Jetzt war klar, daß er ihre Gedanken lesen konnte. Und die anderen Satansdiener? "Wußten Sie das denn nicht?" fügte er als Frage hinzu.
Jane schüttelte unwillkürlich den Kopf.
"Ihr habt meine Eltern umgebracht, damit ich ins Waisenhaus kam. Was war denn der Sinn? Das Waisenhaus wird doch - von Nonnen geführt?"
Er lachte häßlich.
"Ja, gewiß, sie tragen zwar die Kluft der feindlichen Krieger, aber sie haben ihre eigene Art, die Botschaft ihres Herrn auszulegen. Was sie lehren, ist die Demut, die Aufopferung, die absolute Freudlosigkeit, das Leiden im Herrn. Aber das ist ganz und gar nicht im Sinne des Herrn, den sie dabei vortäuschen, nicht wahr? Damit dienen sie ganz und gar nicht ihm, sondern ganz im Gegenteil: Damit dienen sie der wahren Macht der Hölle und auf Erden, und das ist die Macht des Bösen. Was könnte sich der Herr der Finsternis denn mehr wünschen, als willfährige, in grenzenloser Demut gebeugte Diener?"
Er wollte sich schier ausschütten vor Lachen.
Und als er sich endlich wieder soweit beruhigt hatte, daß er weiterreden konnte, sagte er: "Dies war der richtige Ort für Sie, meine Liebe. Weil diese Sorte von Nonnen in der Regel keineswegs religiöse Gefühle erzeugen, sondern eher den Haß darauf schüren, wurdest du offen genug für unseren Einfluß. Du hast begonnen, uns zu gehorchen. Ganz ohne es auch nur zu ahnen. Du hast dein Talent in der Praxis des Tanzens vervollkommnet. Bis es uns genügte. Dann trat Thomas Prescoll, einer aus unserer Mitte, auf den Plan...
Training? Das war nicht mehr nötig, nachdem die Kräfte des Bösen die Kräfte deines Körpers ungehindert unterstützen durften!"
Abermals lachte er sein grausames, häßliches Lachen.
Die anderen Satansanbeter blieben stumm.
Das Licht, in dem Jane mit Mr. Brooks stand, verblaßte allmählich. Janes Augen blieben nicht mehr länger so geblendet, und die Gestalten der Teufelsanbeter schälten sich aus der Düsterkeit jenseits des Lichtes.
Sie alle starrten Jane aus blicklosen Augen an.
Sie waren keine normalen Lebenden, denn sie hatten allesamt ihre Seele verkauft. An ihren Herrn. An den Herrn der Finsternis. Deshalb wirkten sie schon zu Lebzeiten so, als wären sie völlig ohne Seelen. Wie leere Hüllen, herzlos und damit auch gnadenlos handelnd.
Die einzigen Gefühle, die diese noch hegen konnten, das war die begeisterte Ehrerbietung ihrem wahren Herrn gegenüber.
Schlagartig kam Jane wieder zu Bewußtsein, was Mr. Brooks gesagt hatte: Sie, Jane, sollte die Hauptfigur sein - schon in der kommenden Nacht. Sie sollte tanzen. Nicht für diese da, überhaupt nicht, um Menschen zu gefallen... Nein, sie sollte für den einen tanzen, den sie so sehr verehrten und in dessen Namen sie alles taten: Für die Personifizierung des Bösen! Für den Satan!
Schweigend ging Jane in Richtung Tor. Sie mußte hinaus. Sie hielt es keine Sekunde länger mehr aus hier.
Aber das Tor hielt sie auf. Sie entdeckte keinen Öffnungsmechanismus. Ihre Hände suchten zitternd.
Doch schon bei sanfter Berührung öffnete sich das Tor zur anderen Seite hin. Beide Flügel entpuppten sich als Schwingflügel, die sich ganz leicht betätigen ließen.
Jane stieß sie vollends auf und wollte hinaus, aber sie hielt inne und wandte sich ein letztes Mal um.
Der große Saal war leer. Nicht einmal Mr. Brooks war zu sehen. Die Deckenbeleuchtung brannte so normal, als wäre sie niemals erloschen.
Jane ging weiter.
Hinter dem Tresen bei der Rezeption stand ein Portier. Jane hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Sie war sich dessen sicher.
Der Portier blinzelte scheinbar überrascht, als er Jane im Nachtgewand sah.
Sie hatte keinen Blick mehr für ihn, sondern schaute zum Ausgang hinüber.
Das Scherengitter war immer noch unten, aber nichts behinderte länger die Lichter der Stadt.
Ja, gewiß! dachte Jane, es ist ja auch nicht länger nötig: Jetzt ist es tatsächlich vollbracht!
Nein, nicht ganz! berichtigte sie sich sogleich. Denn der eigentliche Höhepunkt war ja noch gar nicht gewesen: Der kommt erst in der kommenden Nacht.
Verspüre ich so etwas wie - Lampenfieber?
Nein! entschied sie. Es ist etwas anderes: Ekel, Widerwillen, auch Furcht. Es ist ein Alptraum. Es ist der schlimmste Alptraum, den sich ein Mensch ausdenken kann. Und für mich... ja, für mich wird dieser Alptraum grausige Wirklichkeit.
Und das schon in der kommenden Nacht.
* * *
Jane schritt zum Fahrstuhl und drückte den Knopf.
Alles war so, wie es in einem ordentlichen Hotel sein sollte. Der Fahrstuhl funktionierte, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt.
Der erste Teil des Alptraums ist also vorüber. Jetzt habe ich eine kleine Schonfrist, dachte sie zerknirscht.
Jane trat ein und ließ sich in den zweiten Stock bringen.
Im Gang angelangt, schaute sie sich suchend um. Nichts machte mehr den Eindruck, als sei alles schon seit Jahren nicht mehr benutzt worden.
Gezielt ging sie zu dem Zimmer, das sie in der Nacht schon einmal geöffnet hatte.
Es war nicht abgeschlossen. Als hätte man die Tür extra nicht verschlossen, damit sie Gelegenheit hatte, hier nachzusehen.
Das Zimmer hinter der Tür machte einen durchaus ordentlichen Eindruck. Genauso wie ihr eigenes Zimmer.
Sie erreichte auch dieses und ließ sich einfach rücklings auf das Bett fallen.
Die Deckenbeleuchtung brannte ganz normal.
Jane blieb nicht lange liegen. An Schlaf war im Moment sowieso nicht zu denken. Sie stand wieder auf und trat ans Fenster.
Die Lichter der Stadt. Nichts behinderte sie. Auch hier nicht.
Sie öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus.
Die Luft war kühl. Es roch nach baldigem Regen.
Jane schauderte es, so leicht wie sie bekleidet war.
Einen letzten Blick nach unten warf sie noch. Dann wollte sie sich wieder zurückziehen.
Es blieb bei der Absicht, denn sie sah... Frederic!
Nein, diesmal war es kein Trugbild. Diesmal war es Wirklichkeit. Sie konnte ihn deutlich im Schein der Straßenlampe vor dem Hotel stehen sehen. Anscheinend hatte er gerade erst nach dem Portier geklingelt.
Und Frederic war nicht allein: Mr. Owns, der Bahnhofsvorsteher, war bei ihm.
Jane unterdrückte ihren Ruf nach Frederic und lehnte sich weiter vor, um besser zu sehen und zu hören, was da unten geschah.
Der Portier sprach durch das Scherengitter zu den beiden. Jane konnte ihn vom Fenster aus nicht sehen, aber sie hörte ihn: "Es tut mir leid, meine Herren, aber Sie können Mrs. Prescoll im Moment nicht sprechen. Mrs. Prescoll hat sich soeben erst auf ihr Zimmer zurückgezogen, und sie hat ausdrücklich darum gebeten, nicht gestört zu werden. Egal, wer es auch sein mochte!" betonte er.
"Und was ist mit diesen Renovierungsarbeiten, die angeblich hier durchgeführt werden sollen?" erkundigte sich Mr. Owns.
"Ich glaube, hier liegt ein Irrtum vor, werter Herr", antwortete der Portier befremdet.
"Und das Hotel ist keineswegs geschlossen?" erkundigte sich Frederic.
"Nein, keineswegs. Wie kommen Sie darauf?"
"Nun, ich habe versucht, hier anzurufen, um ein Zimmer zu bestellen. Das Hotel war nicht erreichbar."
Der Portier lachte leise. "Ach so, jetzt verstehe ich. Ja, gewiß, wir hatten einen kleinen Stromausfall. Aber das war nur vorübergehend. Seltsamerweise wurde auch die Telefonanlage davon betroffen, obwohl sie einen eigenen Stromkreis hat. Naja, ich kenne mich mit so einem technischen Kram nicht sonderlich gut aus. Aber jetzt ist der Schaden längst wieder behoben. Zum Glück!" fügte er rasch hinzu.
"Nun, ich bin persönlich hergekommen und wiederhole, daß ich ein Zimmer möchte."
"Ein Zimmer?" echote der Portier überrascht.
"Ja, gewiß, sie haben schon richtig gehört. Und lassen Sie mich nun hinein?"
"Äh, nein, bedauere, aber leider sind wir total ausgebucht. Ein vorübergehender Engpaß. Kein einziges Zimmer mehr ist frei. - Darf ich Sie beide nun bitten, sich wieder zurückzuziehen?"
Jane hatte genug gehört.
"Frederic!" schrie sie, und: "Mr. Owns!"
Beider Köpfe flogen förmlich herum.
"Jane!" rief Frederic. "Gottlob, du lebst!"
"Na, wäre es nicht zu übertrieben, etwas anderes anzunehmen?" tadelte sie scherzhaft.
Ach, sie freute sich so, ihn wiederzusehen.
Er war um Jahre gealtert, und diese Jahre waren nicht völlig spurlos an ihm vorübergegangen. Aber er sah nicht schlechter aus als damals. Ganz im Gegenteil: Es stand ihm ganz besonders, gereift zu sein!
Ja, sie freute sich so. Und er war nicht nur gekommen, um sie zu sehen, sondern er... ja, er hatte sich um sie gesorgt! Konnte das jemand, bei dem aus einstiger Liebe - Haß geworden war?
Oder gar Gleichgültigkeit?
Nein! entschied sie, und ihr Herz pochte so heftig wie bei einem jungen Mädchen kurz vor dem ersten Rendezvous.
"Man läßt uns nicht hinein!" beschwerte sich Frederic.
"Das läßt sich ändern!" versprach Jane voller Ingrimm. "Einen Augenblick bitte: Portier?"
"Ja, gnädige Frau?" ertönte es recht kleinlaut.
"Sofort machen Sie den beiden Herren auf und zeigen ihnen den Weg zu meinem Zimmer!"
"Äh, gewiß, sehr wohl, gnädige Frau! Das wird sofort erledigt!"
Jane wartete nur noch, bis das Scherengitter sich öffnete. Dann winkte sie Frederic noch einmal zu und zog sich zurück.
Ihre Hände verkrampften sich vor der Brust. Mein Gott, dachte sie, ich kann Frederic doch nicht im Nachtgewand empfangen.
Sie fühlte sich ganz durcheinander. Was sollte sie denn anziehen? Wieviel Zeit blieb ihr eigentlich, bis Frederic bei ihr war?
Frederic! Sie konnte es einfach nicht fassen. Die Jahre waren vergangen. Sie hatte sein Bild niemals vergessen. Er war so wach in ihrer Erinnerung geblieben... Und dennoch hatte sie so getan, als würde er überhaupt nicht existieren. Ja, schlimmer noch: Als hätte es ihn niemals gegeben. Als sei er nur ein Traum gewesen, den man nicht halten konnte und den man besser wieder vergaß.
Jetzt wußte sie, was das bewirkt hatte. Der Grund war nicht gewesen, daß ihre Liebe einfach nicht stark genug gewesen war...
"Wir waren beide zu unreif, damals. Wir haben die Liebe so übermächtig gespürt, aber wir haben sie nicht verstanden. Nur so konnte das Böse es schaffen, darüber zu siegen. Es hat von mir Besitz ergriffen."
Nein! widersprachen ihre Gedanken sogleich. Das Böse hatte keineswegs von ihr Besitz ergriffen, sondern lediglich - von ihrem Körper. Wäre es anders, hätte sie Frederic und ihre Liebe wirklich für immer verloren. Aber ihre Liebe war wach, und sie war es letztlich gewesen, die sie zurück nach Carmichael geführt hatte. Nicht etwa der Einfluß des Bösen, was die Diener des Satans gern glauben mochten.
Jane konnte sich einfach nicht entscheiden, was sie anziehen sollte. Sie war viel zu durcheinander. Alles das, was sie erlebte hatte... In den letzten Jahren, ja auch in den letzten Stunden. Es war viel zuviel für eine normale Frau, und es war auch viel zuviel für Jane.
Und so kam es, daß plötzlich die Tür aufgerissen wurde und sie immer noch händeringend da stand, nur angezogen im leichten Nachtgewand.
Frederic hatte noch nicht einmal geklopft. Er hatte es einfach vergessen. Denn er war mindestens ebenso durcheinander wie sie.
Er starrte sie an wie einen Geist, aber wie einen Geist, der alle Sehnsucht der Welt verkörperte und sich gerade anschickte, greifbare Wirklichkeit zu werden.
"Frederic!" schluchzte Jane auf, und er eilte zu ihr hin und nahm sie wortlos in seine Arme. Er drückte sie ganz fest.
Jane klammerte sich an ihn, als wollte sie ihn niemals wieder loslassen, ihr ganzes Leben nicht mehr.
Mr. Owns blieb draußen. Er schloß diskret die Tür und bezog davor Posten.
Tränen standen in seinen Augen. Er konnte sich nicht erinnern, daß er jemals in seinem Leben etwas so Schönes erlebt hatte wie dieses Wiedersehen der beiden sich Liebenden. Und er wußte: Das hier ist die wahre Liebe, die nur wenigen Menschen begegnet. Sie wird über alles andere siegen, denn nichts kann stärker sein.
Davon war er in diesem Moment fest überzeugt.
* * *
"Komm einfach mit mir!" forderte Frederic zärtlich. "Möglichst weit fort von hier!"
Jane lächelte.
"Das würde ich gern, aber es geht leider nicht. - Noch nicht!" schränkte sie ein.
"Was bedeutet das?"
Jane suchte nach Worten. Wie sollte sie Frederic alles erklären? Würde er ihr denn glauben können?
Nein, es war alles viel zu phantastisch...
Jedoch: "Ich bin hergekommen - deinetwegen. Aber ich kann der Vergangenheit nicht einfach so ohne weiteres entfliehen, Liebster. Ich war die Frau des Magnaten Thomas Prescoll. Er hatte große Macht. Sein Imperium ist nicht mit ihm gestorben. Es lebt und fordert seinen Tribut."
"Und was bedeutet das für uns beide im Klartext?" fragte Frederic sichtlich enttäuscht.
Sie streichelte sein Gesicht. Es war ihr so vertraut. Sie genoß jeden seiner Züge. Es war das gleiche Gesicht, das sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Nur hatten die Jahre diese markanten Züge tiefer eingegraben.
"Frederic!" flüsterte sie und erbebte. Eine Träne stahl sich in einen Augenwinkel. "Es wird alles gut. Das muß es! Denn ist die Liebe nicht göttlich? Ist Gott nicht selbst die Liebe?"
Er schüttelte den Kopf, weil er den Sinn dieser Worte nicht verstand.
Jane versuchte, es ihm zu erklären: "Wir waren in diesem Waisenhaus. Was man uns dort gelehrt hat, hatte nichts mit Liebe zu tun. Nur mit Leid und Entbehrung. Wir erfuhren keine Wärme. Aber ist es nicht Gott selbst, der die Liebe ist, die Wärme, die Geborgenheit? Verheißt uns der Himmel nicht alles Gute, alles Licht? Sollen die Guten der Erde nicht im Himmel die Engel sein, die weit ihre Flügel ausbreiten, losgelöst von aller irdischen Mühsal?"
Frederic verstand die Symbolik ihrer Worte immer noch nicht. Wie sollte er auch?
Bis Jane ergänzte: "Und was hingegen hat man uns in diesem Waisenhaus gelehrt? Sich in Demut zu ducken zum Beispiel. Nicht sich zu freuen, sondern zu leiden. Nicht zu lachen, sondern eher zu weinen. Und hat man uns dabei nicht auch gelehrt, dies sei zum Gefallen Gottes? Welchen Gottes?"
Frederic begann es zu ahnen, aber da er nichts von den Dingen wußte, die Jane widerfahren waren, verstand er natürlich nicht die ganze Tragweite ihrer Aussage.
Jane nahm sein Gesicht in beide Hände.
"Wenn du mich nicht unterstützen kannst, gegen das Leid und die Finsternis, mußt du mich wieder verlassen." Es klang traurig. "Ich habe ein schreckliches Schicksal zu ertragen, aber eines, dem ich mich nicht entziehen kann. Ich mußte erfahren, daß alles für mich vorausbestimmt ist. Sogar meine Eltern mußten sterben, damit ich in diesem Waisenhaus für das Böse vorbereitet werden konnte. Über Generationen hinweg hat man das Geschlecht der Reeds systematisch gezüchtet, um die beste aller Tänzerinnen zu erzeugen. Dies alles hat nur einen einzigen Grund, Liebster: Damit ich als diese Tänzerin heute nacht für das Böse tanze."
Jetzt war es heraus. Sie hatte es ihm jetzt einfach gesagt.
Frederic schaute sie erschrocken an. Er suchte in ihren Augen.
Vielleicht befürchtete er für einen Moment, Jane habe den Verstand verloren. Aber sie war Jane - seine Jane. Auch wenn es noch so irre klang, was sie sagte... Sie war seine Jane, und wenn sie es sagte, dann konnte es nur die Wahrheit sein.
Frederic atmete schwer.
Jane nahm ihre Hände von seinem Gesicht und ließ sie sinken.
Frederic schlug kurz die Augen nieder.
"Verzeih mir, wenn ich das erst einmal verdauen muß."
Er hob den Blick wieder.
"Hattest du wirklich gesagt, man habe die Kunst des Tanzens regelrecht - herangezüchtet? Und du seist das Ergebnis? Das sei dein Schicksal? Und alles nur für diese eine Nacht, die unmittelbar bevorsteht? Walpurgisnacht?"
Jane nickte traurig.
"Ich weiß selbst, wie verrückt es klingt. Die meisten Menschen wissen, daß es so etwas wie Teufelsanbeter gibt, aber eigentlich ist sich niemand im klaren darüber, was dies nun wirklich bedeutet. Gewiß gibt es bei denen auch Unterscheidungen. Nicht jeder, der sich einen Teufelsanbeter schimpft, ist auch wirklich einer. Vielleicht meint er es nur? Genauso wie nicht jeder, der vorgibt, im Namen Gottes zu reden und zu handeln, dies auch wirklich tut. Wir haben es im hiesigen Waisenhaus am eigenen Leib erfahren müssen - schmerzlich genug. Sie geben dort vor, Bräute Gottes zu sein. In Wahrheit sind sie Bräute eines ganz anderen Herrn. Man sagte mir, der habe die eigentliche Macht. Nicht nur in der Hölle, sondern auch auf Erden. Eine Macht allerdings, die nur dort wirken kann, wo Gott nicht ist. Und ist Gott nicht die Liebe?"
Frederic lächelte jetzt.
"Ich verstehe. Endlich. Du glaubst, nur die Liebe könnte diese Macht besiegen? Dann darf ich dich nicht im Stich lassen. Ich werde bei dir bleiben. Auch wenn die Teufelsanbeter versuchen sollten, mich umzubringen, damit ich deinen großen Auftritt nicht störe."
Jane schüttelte den Kopf. "Nein, das werden sie nicht wagen. Soviel habe ich begriffen. Sie haben das Geschlecht der Reeds über Jahrhunderte begleitet. Sozusagen unmerklich und unsichtbar. Sie haben Schicksal gespielt, und alles hat sich offensichtlich in ihrem Sinn entwickelt. Mr. Brooks, als einer ihrer mächtigsten Vertreter, hat mir erklärt, jede Walpurgisnacht habe ihren Höhepunkt. Der diesjährige Höhepunkt sei ich. Und die Teufelsanbeter gehen immer sehr sorgfältig vor. Sie überlassen nichts dem Zufall, sofern sie es vermögen, und ihre Möglichkeiten sind immens. Sie haben Macht und Einfluß. Das hast du an Thomas Prescoll gesehen. Das beweist allein schon die Tatsache, daß sie es vermögen, jahrhundertelange Vorbereitungen für eine einzige Nacht zu treffen. Nicht, weil sie unsterblich sind, sondern weil jede Generation von Teufelsanbetern sämtliche Aufgaben perfekt von der Vorgeneration übernimmt. Eine unglaubliche Organisation, wahrlich, die scheinbar keinerlei Beschränkungen unterworfen ist...
Scheinbar!" betonte sie noch einmal.
Und sie fuhr fort: "Aber sie werden dir kein Härchen krümmen. Sonst hätten sie das längst schon getan. Daß wir unsere Liebe zueinander entdeckt haben, ist für sie eine Art Panne. Es ist kaum anzunehmen, daß ihnen das entging. Aber sie wissen, daß es nichts nutzt, dich dafür umzubringen. Weil sie erfahrungsgemäß wissen, daß wahre Liebe auch den Tod überwindet. Ganz im Gegenteil: Unter gewissen Umständen wird der Tod erst recht zum unverbrüchlichen Siegel der Liebe für die Ewigkeit. Denn das einzige, was der wahren Liebe entgegentreten kann, ist menschliches Versagen. Das habe ich bewiesen, als ich dich verließ."
"Und wenn sie mich vorher umgebracht hätten, wärst du womöglich gar nicht gegangen?" vermutete Frederic. "Und wenn sie mich danach umgebracht hätten und du hättest es erfahren...? Dann wärst du lange vorher schon an den Ort unserer Liebe zurückgekehrt, und alles wäre ganz anders gekommen?" Diese Fragen bedurften nicht wirklich einer Antwort. Die Antwort fand er in sich selbst. Und sie leuchtete ihm ein: "Wer tot ist, macht keine menschlichen Fehler mehr. Die Liebe zu ihm wird unzerstörbar. Es ist diese Tatsache, der ich mein Leben überhaupt noch verdanke."
Jane weinte.
"Es tut mir so leid, daß ich alles dies erst jetzt begreife, daß es mir nicht vorher schon klar war. Ich habe einen schrecklichen Fehler begangen, damals, und habe damit dem Bösen endgültig die Gelegenheit gegeben, von mir Besitz zu ergreifen."
"Aber die Umstände beweisen, daß das Böse nicht vollkommen ist. So sehr es sich auch bemüht. Es gibt eine Chance dagegen, und sei sie auch noch so gering. Deshalb werde ich dich keine Sekunde lang mehr aus meinen Augen lassen!"
Dies war sein heiliges Versprechen.
Jane umarmte ihn spontan.
Ach, wie gern hätte sie trotz allem Frederic weggeschickt, allein nur aus Sorge um ihn. Obwohl ihr der Verstand sagte, daß er gemeinsam mit ihr nicht gefährdeter war als allein.
Aber konnte man da wirklich hundertprozentig sicher sein?
War es denn nicht auch das Wesen des Bösen, weitgehend unberechenbar zu handeln?
* * *
Mr. Owns bewies große Geduld. Er wartete vor der Zimmertür, bis Frederic wieder auftauchte.
Frederic gab sich sehr ernst.
"Es war ein Fehler, daß Sie mitgekommen sind, Mr. Owns. Ihr Leben ist dadurch in Gefahr."
Mr. Owns forschte in seinem Gesicht. Er fand dort keinen Grund, den Worten zu mißtrauen.
Mr. Owns erschrak.
Frederic fuhr fort: "Es ist besser, wenn Sie jetzt gehen, Mr. Owns, glauben Sie mir. Es ist zu Ihrem Besten."
"Ich werde die Polizei einschalten!" versprach Mr. Owns, nachdem er sich von seinem ersten Schreck erholt hatte.
Frederic schüttelte den Kopf.
"Das würde in diesem Fall nichts nutzen."
"Wieso nicht? Was geht hier vor?"
Sie unterhielten sich gedämpft miteinander, aus Furcht vor etwaigen Zuhörern.
"Ich werde Ihnen alles erklären, aber erst morgen: Jane und ich!" fügte er hinzu.
"Dann - dann ist mit euch beiden alles wieder in Ordnung?" fragte Mr. Owns bang.
Frederic lächelte warm.
"Ja, Mr. Owns, und Ihr Anteil daran ist nicht gerade gering, möchte ich behaupten." Sein Lächeln erstarrte. "Aber vielleicht ist es genau das, was Sie in Gefahr gebracht hat?"
Der Bahnhofsvorsteher glaubte jetzt, die Zusammenhänge zu verstehen.
"Aha, dieser Mr. Brooks, nicht wahr? Schließlich ist Jane die Prescoll-Erbin, sozusagen mit allem drum und dran. Die Prescoll-Erbin darf keinen anderen lieben. Das ganze Prescoll-Imperium schaut auf sie, und sie muß diesen Erwartungen genügen. Wehe, wenn nicht!"
"So ähnlich, Mr. Owns!" sagte Frederic ausweichend.
Für den Bahnhofsvorsteher stand es damit fest. Mehr Bestätigung brauchte er gar nicht.
"Ich wünsche euch beiden alles erdenklich Gute, und ich wünsche mir selbst nichts sehnlicher, als daß ihr beide über all die Zwänge siegen werdet, die das Erbe unserer Jane auferlegt."
"Unserer Jane" hatte er gesagt. Frederic war es nicht entgangen.
Bewegt umarmte er Mr. Owns zum Abschied.
Der alte Bahnhofsvorsteher war wirklich mehr als ein Freund: Er war wie die wahrhaftige Inkarnation des Vaters, den beide als Kinder hatten entbehren müssen.
Wenn es allein die Liebe ist, die als einzige das Böse und sogar den Tod besiegt, dachte Frederic, dann werden die Satansdiener es auch nicht wagen, Hand an ihn zu legen. Denn Liebe, das ist nicht nur die Liebe zwischen Mann und Frau, sondern die Zuneigung als solche, als die positivste Empfindung also, zu der Menschen je fähig sind.
Ja, das dachte Frederic im stillen, als Mr. Owns davonschritt. Er war überzeugt davon, daß die Zuneigung zwischen ihnen und dem alten Mann darüber entschied, daß Mr. Owns kein Härchen gekrümmt wurde.
Frederic wandte sich erst ab, als Mr. Owns bereits mit dem Fahrstuhl nach unten fuhr.
Gemeinsam mit Jane trat er ans Fenster und wartete, bis Mr. Owns auf der Straße erschien.
Nichts und niemand hielt den alten Mann auf.
Jane weinte gerührt. Sie hatte das Abschiedsgespräch zwischen Frederic und dem alten Bahnhofsvorsteher mitbekommen. Sie wußte, was in Frederic in diesem Augenblick vorging - und empfand gleiches.
Mr. Owns schien ihre Blicke zu spüren, denn er wandte sich ihnen zu und winkte.
Sie winkten auch ihm zu und warteten, bis er jenseits der Straßenbeleuchtung verschwand.
"Es wird ihm nichts geschehen!" sagte Frederic zuversichtlich.
"Das glaube ich auch!" Jane floh in seine Arme. Sie hielten sich ganz fest.
Und dann legten sie sich gemeinsam auf das Bett, immer noch engumschlungen, als hätten sie Angst davor, wieder getrennt zu werden. Wo sie doch so lange voneinander getrennt gewesen waren.
Sogleich schliefen sie ein.
Es war ein tiefer, zunächst traumloser Schlaf. Den hatten sie sich redlich verdient.
Schließlich stand ihnen eine wichtige Nacht bevor.
Es sollte die Nacht der Entscheidung sein.
Die Träume kamen später, kurz bevor sie erwachten. Und es waren schlimme Träume.
Jane tanzte, und die Satansdiener waren in ihren Träumen abscheuliche Monster. Der Satan erschien sogar persönlich, als das abscheulichste aller Ungeheuer, feuerspeiend, schleimig, besitzergreifend.
Jane war seine Braut.
Dazu war sie bestimmt worden, und alles Sträuben nutzte ihr nichts.
Die Braut des Schrecklichsten aller Schrecklichen, der Verkörperung aller Qualen, von allem Leid und allem Elend, des Bösen überhaupt.
Damit sie am Ende mit ihm einfuhr in das grausige Reich der Hölle...
Dies war der Punkt, an dem Jane mit einem Schrei erwachte.
Ihre Gedanken waren so durcheinander, daß sie eine Weile brauchte, um sie zu ordnen.
Die Frage blieb: Ja, was war eigentlich tatsächlich - nach ihrem Auftritt?
Was sollte danach mit ihr geschehen?
Sie wandte den Kopf.
Und mit Frederic?
Auch er war jetzt wach. Er schaute sie so erschrocken an, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
* * *
Es war bereits Abend. Die Dunkelheit von Walpurgisnacht hatte sich auf die Stadt niedergesenkt.
Jane bedurfte keiner Aufforderung. Sie stand auf und zog sich an. Frederic folgte ihrem Beispiel.
Als sie gemeinsam in das Foyer des großen Hotels traten, wurden sie bereits stumm erwartet. Von der Versammlung der Satansdiener, zumindest einem wichtigen Teil davon.
Auch Mr. Brooks war selbstverständlich anwesend.
Er grinste breit, als er Janes ansichtig wurde. Aber seine Miene wurde abweisend, als er Frederic betrachtete.
Dennoch, niemand sagte etwas dagegen, daß Jane Frederic mit dabei haben wollte. Genauso, wie sie es vermutet hatte.
Obwohl sie manch bangen Blick bemerkte, denn mancher der Satansdiener sah ihre gemeinsame Sache gefährdet.
Aber die Tatsache, daß sich Jane ohne Murren scheinbar in ihr Schicksal fügte, beruhigte sie andererseits. Zeigte es ihnen doch, daß Frederic das kleinere Übel war. Hätten sie Frederic von ihrer Seite fortgerissen und hätte Jane sich daraufhin gesträubt, wäre das Übel sicherlich größer gewesen.
Die bangen Blicke verloren sich in neuem Optimismus, noch ehe Jane Mr. Brooks zu dessen Wagen gefolgt war.
Es war der gleiche alte Bentley, mit dem Jane am Abend zuvor von Mr. Brooks vom Bahnhof abgeholt worden war.
Frederic wartete auf keine Extraeinladung. Er stieg mit ein, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt.
Ist es sogar! dachte er trotzig und tauschte einen zärtlichen Blick mit Jane.
Mit seiner Jane!
Er hatte Angst vor dem Kommenden, vermochte dies jedoch meisterlich zu überspielen, um Jane nicht den Mut zu nehmen, sondern sie in ihrem Tun zu bestärken.
Obwohl auch er sich inzwischen inbrünstig fragte: Nach dem Tanz der Tänze für den Fürsten der Finsternis... Was würde dann mit Jane sein?
Für ihn war dabei die Frage nach dem eigenen Schicksal von zweitrangiger Bedeutung. Er hatte keine Bange um sich selbst, sondern nur noch um Jane.
Mr. Brooks fuhr nicht selbst. Er saß im Fond des großen Wagens, Jane und Frederic gegenüber. Das Gesicht des Fahrers hatte Jane bisher noch gar nicht gesehen. Weil sie einfach nicht darauf geachtet hatte.
Und dann waren sie angekommen - beim Carmichael-Anwesen.
Niemand hatte es ihr gesagt, aber Jane hatte es geahnt, daß hier der Höhepunkt der diesjährigen Walpurgisnacht stattfinden sollte. Nur deshalb war das Anwesen gekauft und wiederhergerichtet worden.
Der Wagen fuhr durch das breite Gittertor, das sich vor ihnen wie von Geisterhänden bewegt öffnete, über den weitgeschwungenen Kiesweg bis zu den Parkplätzen direkt vor dem Haus.
Nein, es war kein Haus, sondern es war - ein Schloß.
Jane hatte in Erinnerung, daß es selbst als Ruine noch herrschaftlich gewirkt hatte. Jetzt, nachdem man es hergerichtet hatte, daß es wieder aussah wie neu, wirkte es überhaupt nicht mehr herrschaftlich, sondern düsterer als man es sich jemals zuvor überhaupt nur hätte vorstellen können.
Wie hatte man das eigentlich geschafft?
Oder war es nicht das Schloß selbst, sondern nur die Atmosphäre, die im Innern des weiträumigen Parkgeländes herrschte?
Sie stiegen aus und folgten Mr. Brooks zu der breiten Ausfalltreppe, die hinauf zum Haupteingang führte.
Jane blieb kurz stehen und ließ ihren Blick in die Runde schweifen.
Die Dunkelheit war zwar längst hereingebrochen, aber überall brannten Lichter. Sie beleuchteten eine sehr karge Vegetation, die irgendwie krank wirkte. Als hätten die Boten des Frühlings vor der Umgrenzungsmauer gestoppt, um sich hernach schaudernd abzuwenden.
Sagte man nicht, daß dort, wo das Böse herrschte, Lebendiges sich zurückzog?
Außer Ungetier vielleicht...?
Ihr Blick blieb am Bentley hängen, dem sie eben erst entstiegen waren. Sie schaute dem Fahrer direkt ins Gesicht.
Ihrer Brust entrang sich ein Schrei des Entsetzens.
Das Gesicht... Ja, gewiß, es war genau dasselbe Gesicht, das sie am Fenster des fahrenden Zuges gesehen hatte!
Der Fahrer, dem dieses Gesicht gehörte, grinste breit. Dabei bleckte er die Zähne, als wollte er zubeißen.
Jane wandte sich schaudernd ab.
Frederic drückte beruhigend ihren Arm. Sie war ihm sehr dankbar darum, wich jedoch seinem fragenden Blick aus. Es war jetzt nicht die Zeit für Erklärungen.
Sie gingen gemeinsam hinauf und betraten die große Eingangshalle. Dort war die gesamte Dienerschaft des Schlosses versammelt. Sie verbeugten sich, als sie Jane sahen.
Mr. Brooks sagte: "Sie begrüßen so ihre neue Herrin: Die neue Lady Carmichael."
"Für wie lange?" fragte Jane sarkastisch. "Für eine Nacht vielleicht? Für diese eine Nacht?"
Sie hätte gern hinzugefügt: Und danach? Aber diese Frage verkniff sie sich. Darauf würde es ohnedies keine Antwort geben. Im Moment wenigstens noch nicht.
Nur noch wenige Stunden bis Mitternacht. Das heißt, nur noch wenige Stunden bis zu meinem Auftritt, dachte sie. Wie viele sind es eigentlich?
Sie hatte keine Uhr angelegt und ahnte, daß sie auch keine benötigen würde. Sie würde auch so rechtzeitig wissen, wann es soweit war.
Sie nickte der Dienerschaft grüßend zu und beeilte sich, durch das Spalier zu kommen. Mr. Brooks eilte ihr nach.
Nur Frederic schaffte es mühelos, mit Jane Schritt zu halten.
Mr. Brooks holte sie erst dann keuchend ein, als Jane nichts mehr dagegen hatte. Er deutete schweratmend die breit ausladende doppelte Freitreppe hinauf.
Dort war ihr Ziel?
Von der großen Galerie führten mehrere Türen ab. Mr. Brooks führte die beiden hinauf und steuerte auf eine ganz bestimmte Tür zu.
"Ihre Zimmerflucht ist bereit, Lady Carmichael!" erklärte er theatralisch.
Jane reagierte gar nicht darauf, sondern öffnete die Tür selber und trat ein.
Das erste Zimmer war ein antiker Salon, angefüllt mit Kostbarkeiten, gepflegt und geschmackvoll.
Frederic schloß hinter ihnen die Tür. Mr. Brooks trat nicht mit ein. Er blieb draußen. Anscheinend sah er seine Aufgabe vorläufig als erfüllt an.
Jane hätte lügen müssen, wenn sie behauptet hätte, daß ihr die Einrichtung hier nicht gefiel. Die Düsterkeit des Gemäuers, wie es von außen gewirkt hatte, spiegelte sich hier drinnen keineswegs wieder.
Die Tür zum nächsten Zimmer stand offen. Jane lief leichtfüßig hinüber.
War das erste Zimmer für persönliche Empfänge der Lady Carmichael gedacht, diente das nächste Zimmer ihr allein. Hier sollte sie sich aufhalten, vielleicht ein wenig lesen, wie die wohlgefüllte Bücherwand vermuten ließ, oder einfach nur ihren Gedanken nachhängen.
Das wurde sicher noch beflügelt durch die hübsche Aussicht in den Park hinaus.
Dann jedenfalls, wenn der Park wieder so war, wie er einst gewesen war: Voll blühendem Leben!
Im Moment allerdings verzichtete Jane lieber auf diesen Ausblick, weil sie der gegenwärtigen Düsterkeit der Außenwelt keine Chance geben wollte, die angenehmen Eindrücke hier drinnen zu zerstören.
Frederic sah sich um und konnte die stumme Begeisterung von Jane nur teilen. Wenn er nur nicht daran dachte, weswegen dies alles letztlich diente, und vor allem: wem!
Der wahre Fürst der Finsternis brauchte nicht nur eine Tänzerin, sondern eine Braut für diese eine Nacht. Und diese Braut sollte sozusagen standesgemäß sein.
Nur eine Lady Carmichael konnte das.
Nur deshalb sollte Jane die Lady sein.
Wie sie es selbst schon sarkastisch bemerkt hatte: für diese eine Nacht!
Frederic zweifelte jedenfalls keinen Augenblick daran. Er verlor sich nicht in hübsche Träume, sondern behielt die Wirklichkeit immer klar vor Augen.
Er sorgte sich um Jane, um seine einzig große Liebe.
Ich habe sie wiedergefunden. Doch nicht, um sie sobald wieder zu verlieren?
Nein, er konnte die Zuversicht von Jane nicht teilen. Wie stellte sie sich denn den Verlauf vor? Sie wollte tanzen, weil es ihr Schicksal war. Das hatte sie Frederic deutlich zu verstehen gegeben. Aber sie wollte auch, daß er dabei war.
Obwohl sie bisher noch nicht einleuchtend erklärt hatte, warum es so sein sollte.
Sogar den Satansdienern schien nicht ganz klar zu sein, was Jane damit beabsichtigte.
Frederic wagte es nicht mehr, sie danach zu fragen. Hätte Jane ihm alles genauestens auseinandersetzen wollen - freiwillig! -, hätte sie das längst getan.
Frederic blinzelte verwirrt. Er war so in Gedanken versunken gewesen, daß er gar nicht bemerkt hatte, daß Jane ihn die ganze Zeit beobachtete.
Sie lächelte zärtlich, nahm sein Gesicht in beide Hände und küßte ihn.
Er erwiderte ihren Kuß. Sie umarmten sich und liebkosten sich. Frederic vergaß für einen süßen Moment alles andere. Und auch Jane vergaß es.
Sie waren zusammen, und sie liebten sich mit jeder Faser ihres Daseins. Nur das schien überhaupt zu zählen.
Und selbst als der süße Moment wieder verging, blieb neue Zuversicht in Frederic.
Jane flüsterte ihm lächelnd zu: "Du mußt mir vertrauen, Liebster, und selbst wenn du das nicht schaffen solltest: Vertraue einfach unserer großen Liebe!"
Ihr Kuß war wie ein Siegel für diese Worte.
Er lächelte jetzt auch.
"Gewiß, das will ich tun!" versprach er, und er nahm sie abermals in seine starken Arme.
* * *
Im Ankleidezimmer quollen die Wandschränke schier über mit den schönsten Ballkleidern, die Jane jemals gesehen hatte.
Diese Pracht!
Ballkleider aus mehreren Epochen, verteilt über die Jahrhunderte, verteilt über die ganze Zeit, in der das Geschlecht derer von Carmichael in voller Blüte gestanden hatte. Und doch sahen die Kleider aus, als hätte sie noch nie zuvor eine andere Frau getragen.
Jane sah sie begeistert durch. Sie öffnete alle Schränke, tanzte von einem zum anderen, von einem Kleid zum anderen.
Frederic schaute ihr lächelnd zu. Er wünschte sich, dieses Glück würde ewig wären.
Und dann blieb Jane auf einmal stehen. Sie zog ein ganz bestimmtes Kleid heraus und betrachtete es andächtig.
Frederic kam neugierig näher.
Jane hielt das Kleid vor sich und trat vor den großen Spiegel. Ihr Gesicht wirkte wie verklärt.
"Was hältst du davon, Liebster?"
Sein Lächeln verstärkte sich. Er betrachtete seine Geliebte und ließ sich Zeit, bis Jane sichtlich ungeduldig wurde.
Dann sagte er: "Du bist unbeschreiblich schön, meine Jane! Niemals habe ich eine schönere Frau gesehen. Und es ist dieses Kleid allein, das dir gerecht wird!"
Es war das schönste Kompliment, das sich Jane wünschen konnte.
Glücklich betrachtete Jane sich und das Kleid im Spiegel.
"Ich werde es anziehen!"
Sie schickte Frederic einen seltsamen Blick.
"Für dich, Liebster, nur für dich!"
Die Worte verwirrten ihn.
Flugs zog sie das Kleid über, und als sie das getan hatte, drehte sie sich vor dem Spiegel. Es sah so aus, als würde sie in der Luft schweben, als brauchten ihre Füße den Boden nicht mehr zu berühren, so lange sie dieses Kleid anhatte.
Aus welcher Epoche mag es stammen? fragte sich Frederic. Er kam nicht darauf. Das Kleid war wie geschaffen für Jane. Sie und das Kleid schienen der Wirklichkeit entrückt zu sein - und der Zeit. Ja, sie wirkten beide zeitlos.
Fast eine untrennbare Einheit! dachte Frederic bestürzt. Ja, zuerst war er über diese Erkenntnis bestürzt. Aber Jane schwebte in ihrem Kleid umher. Sie drehte sich, war einmal hier und einmal da, drehte sich wieder, und ihre fließenden Bewegungen endeten in einer tiefen Verbeugung - vor ihrem Frederic.
Sie neigte wie in Demut das Haupt und flüsterte: "Für dich allein - mein Gebieter!"
Dann warf sie den Kopf in den Nacken und lachte schelmisch. Sie stand wieder auf, lachte ihren Frederic an, breitete die Arme aus, drehte sich noch einmal und schwebte zur Zwischentür.
Frederic folgte ihr. Er fühlte sich wie in Trance. In ihm war alles übermächtig - alles, was er für seine Jane empfand. Es gab ihm ungeahnte Kraft - und es schwächte ihn zugleich auf unbeschreibliche Weise. Wenn er hätte bleiben wollen, hätte er das gar nicht geschafft. Er mußte ihr folgen, ob er wollte oder nicht. Nur wenn er sich dem nicht widersetzte, blieb er stark.
Es ist die Kraft der Liebe! sagte er sich im stillen. Sie hat von uns beiden Besitz ergriffen, vor langer Zeit schon. Wir kennen uns schon von Kindesbeinen an. Diese Liebe ist nicht von heute auf morgen gekommen. Sie ist über die Zeit gewachsen. Aus zunächst kindlicher Zuneigung wurde die große Liebe, wie wir sie heute empfinden.
Die Satansdiener haben einen eklatanten Fehler gemacht, weil sie das nicht rechtzeitig verhindert haben. Offenbar haben sie zunächst überhaupt keine Gefahr darin gesehen. Weil sie so etwas wie wahre Liebe nicht für möglich gehalten haben. Denn es paßt ganz und gar nicht in ihr vom Bösen beherrschtes Weltbild.
Sie haben damals dafür gesorgt, daß Jane ins Waisenhaus kam - ausgerechnet in dieses bestimmte Waisenhaus. Sie haben tatenlos zugesehen, wie sich die Zuneigung zwischen ihr und mir entwickelt hat. Ja, wie sehr sie das damals unterschätzt haben... Sonst hätten sie es sogleich im Keim erstickt. Da wäre es noch Zeit gewesen. Heute ist es längst zu spät dafür. Das haben die Jahre der Trennung bewiesen: Das Böse hat es über diese Jahre keineswegs geschafft, über unsere Liebe zu siegen. Ganz im Gegenteil: Uns beiden ist bewußter geworden denn je, wie groß unsere gegenseitige Liebe wirklich ist!
Sie hat sich bewährt! jubelten Frederics Gedanken. Sie ist unverbrüchlich, weit über den Tod hinaus. Ist sie damit nicht - unbesiegbar?
Das war es, was ihm diese unbeschreibliche Kraft gab. Diese Kraft war so groß, daß er wußte, sie würde ihn praktisch unangreifbar machen für die Satansdiener und ihre negativen Energien, die in dieser Nacht eine besondere Rolle spielten.
Als Frederic hinter seiner Jane vor die Zimmerflucht der Lady Carmichael trat, war die Versammlung in der Vorhalle des Schlosses schon bereit.
Aller Augen waren auf Jane gerichtet.
Erst war es so still, daß man jeden Atem gehört hätte, aber keiner der Satansdiener atmete in diesem Moment. Sie hielten den Atem an, so überwältigt waren sie vom bloßen Anblick, den Jane ihnen bot.
Auf Frederic konnte in diesem Moment wirklich niemand achten. Selbst Mr. Brooks nicht, der mitten unter ihnen stand.
Dann ging ein Raunen durch die Versammlung. Die Satansdiener waren außer sich. Ihre kühnsten Erwartungen schienen sie übertroffen zu sehen.
Sie klatschten begeistert in die Hände.
Klatscht ihr nur! dachte Frederic. Seid nur begeistert! Ihr möget Angst gehabt haben, euren Herrn nicht ganz zufriedenzustellen. Jetzt ist diese Angst grenzenloser Erleichterung gewichen. Das ist auch gut so. Es soll so bleiben. Vorerst jedenfalls...
Jane drehte sich kurz nach ihm um, wie um sich zu vergewissern, daß er nicht von ihr wich.
Ihre Augen wirkten seltsam traurig, aber ihr Lächeln war zuversichtlich.
* * *
Alles war bestens vorbereitet. Das Fest aller Feste. Für alle, die das Böse anbeteten.
Walpurgisnacht!
Jane spürte, daß die Zeit reif war: Mitternacht!
Sie setzte sich an die Spitze der Versammelten und verließ vor ihnen das Schloß.
Frederic blieb bei ihr, wie ein Schatten.
Jane lächelte über diesen Vergleich. Nein, Frederic war kein Schatten. Er war in Wahrheit das Licht. Hier, in und um Schloß Carmichael, war alles verkehrt.
Normalerweise sind Feste dazu da, Freude zu verbreiten. Dieses Fest jedoch dient dem Bösen. Genauso wie die Schönheit kalt und abstoßend wirkt, wenn sie dem Bösen zu dienen beginnt...
Begreifen die Satansdiener denn nicht, daß ich deshalb so überwältigend auf sie wirke, weil die Liebe mich schön macht - in dieser Welt diesseits der Umgrenzungsmauer, wo eigentlich das häßliche Böse herrschen sollte?
Nein, sie begreifen es nicht. Weil auch sie nicht vollkommen sind. Denn wären sie es, wäre auch ihre Macht über die Welt längst vollkommen und alles Gute längst ausgemerzt.
Frederic lebt. Somit ist er der lebendige Beweis, daß es Grenzen für ihren Einfluß und ihre Macht gibt. Selbst wenn es zuweilen so erscheinen mag, als könnte sich kaum etwas ihnen widersetzen:
Wenn sie sogar in der Lage sind, eine einzige Nacht über Jahrhunderte vorzubereiten, mit aller Sorgfalt...
Jane führte sie hinter das Schloß, tief in den Park hinein. Sie wußte den Weg, als wäre sie ihn schon tausendmal geschritten, obwohl sie seit dem Umbau kein einziges Mal hiergewesen war. Sie spürte es, weil es ihre Bestimmung war - die Bestimmung des Bösen.
Inmitten des Parks war eine weite Tanzfläche geschaffen worden, kreisrund. Inmitten der Tanzfläche stand ein abscheulich anzusehender Götze als das Symbol des Fürsten der Finsternis.
Es war nicht erkennbar, aus welchem Material er bestand. Er wirkte so, als sei der Leibhaftige persönlich bereits da gewesen und sei anschließend zu diesem Götzenbildnis erstarrt.
Die glühenden Augen sahen Jane an, aber Jane erschauerte nicht vor diesem Blick, sondern sie verbeugte sich lachend.
Ungeniert betrachtete sie den Götzen. Es war ein ziegenbärtiges Monster, mit einem menschlichen Bein und einem Bocksbein, mit einem menschlichen Arm und dem Vorderbein eines Bockes. Die Bockshörner stachen spitz aus dem nonströsen Kopf.
Jane lachte erneut und verbeugte sich anmutig.
Die Satansdiener verhielten sich stumm. Sie stellten sich rings um den Tanzkreis auf.
Der Tanzkreis wurde erleuchtet von schwarzen, flackernden Kerzen. Irgendwie konzentrierten sie ihr Licht genau auf den Kreis, obwohl das allen Naturgesetzen zu widersprechen schien.
Jane schaute sich um.
Frederic hatte den Kreis nicht betreten. Er stand außerhalb, als sei der Kreis eine magische Zone, die für ihn verboten war.
Aber Jane empfand es nicht so, als sei es den Satansdienern gelungen, sie beide voneinander zu trennen. Nein, dazu war die Kraft der schwarzen Magie nun wirklich nicht mehr ausreichend.
Nicht einmal ein Leben wie im Paradies an der Seite von Thomas Prescoll hatte es geschafft, sie ihre große Liebe vergessen zu lassen. All diese Jahre waren stets überschattet gewesen vom grausamen Schmerz der verdrängten Liebe. Und jetzt, da sie Frederic und ihre Liebe wiedergefunden hatte, war dies das Ende von allem Schmerz der Entbehrung. Für alle Ewigkeit. Was auch geschehen mochte, mit ihr, mit Frederic, mit ihnen beiden... und durch wen auch immer!
* * *
Unter den Versammelten entdeckte Jane auch Leute in Gauklerkleidung. Sie standen ganz vorn. Deshalb konnte Jane sie auch sehen.
Es war offensichtlich, daß sie das Fest hatten eröffnen sollen. Jane wäre erst nach ihnen gekommen, als der Höhepunkt der Nacht.
Aber Jane hatte das Programm durcheinandergebracht, und niemand schien etwas dagegen zu haben, denn die Leute in Gauklerkleidung wurden aus ihrem Blickfeld verdrängt. Andere drängten sich vor.
Die Versammelten waren Vertreter aller menschlicher Rassen. Sie waren von überall hergekommen. Das waren die wahren Repräsentanten des Bösen auf Erden.
Vertreter des Bösen nicht nur aus den christlichen Religionsbereichen, sondern auch aus den Bereichen von allen anderen Religionen. Was Jane bewies, wie sinnlos eigentlich das Rangeln um den wahren Glauben war. Denn das Böse war sich übergreifend über alle Religionen und Weltvorstellungen schon längst einig geworden.
Jane betrachtete den Götzen. Konnte es sein, daß jeder in ihm einen anderen Götzen sah und zwar jeder ein eigenes Symbol, gültig in seiner eigenen Kultur?
Dann war dieser Götze nichts Gegenständliches, sondern eine Kraft, die auf alle gleichermaßen wirkte und stets das gewünschte Bild in ihrem Denken erzeugte.
Jane lachte wieder.
Es gab keine Musik und doch begann sie zu tanzen. Sie tanzte um den Götzen herum, näherte sich ihm und verbeugte sich tief, bis fast auf den Boden.
Auch jetzt klang keine Musik auf, als habe man sie vergessen. Aber sie war auch nicht notwendig, weil Jane auch so tanzen konnte.
Und genauso wie der Götze keine genau vorausbestimmte Gestalt hatte, sondern in jedem einzelnen Betrachter genau das Bild erzeugte, das seiner Vorstellung entsprach, so schien allein ihr Tanz sozusagen die dazu passende Musik in den Ohren der Zuschauer zu erzeugen.
Das war einzigartig in der gesamten Geschichte des Tanzes, und diese war schließlich so alt wie die ganze Menschheit.
Jane war wieder die Göttin des Tanzes, und immer wieder verbeugte sie sich vor dem Götzen als Symbol des Bösen, aber weil sie jedesmal dabei ihr glockenhelles Lachen ertönen ließ, wirkte keine ihrer Verbeugungen wahrhaft ehrerbietig, sondern eher wie - eine Verhöhnung.
Es dauerte eine Weile, bis es den Satansdienern bewußt wurde. Aber bis dahin war es für sie zu spät, sich ihrem Tanz zu entziehen.
Jane war das Ergebnis ihrer jahrhundertelangen Bemühungen. Sie war einer der größten Erfolge, die sie jemals erreicht hatten. Es war ihre klare Absicht gewesen, eines Nachts eine Tänzerin geschaffen zu haben, die so tanzte, daß es auf ihre Betrachter wie Magie wirkte.
Ja, es war gelungen, überdeutlich sogar, denn die Satansdiener selbst waren jetzt nicht mehr in der Lage, sich dieser Tanzmagie zu entziehen. Sie starrten wie hypnotisiert auf den Tanzkreis, in dem Jane scheinbar schwerelos umherwirbelte. Sie hörten genau die Musik, die gemäß ihrer jeweiligen Kultur scheinbar haargenau zu ihrem Tanz paßte, und obwohl sie einerseits zu ahnen begannen, daß hier etwas dabei war, ganz und gar schiefzulaufen, schauten sie andererseits untätig weiter zu, blieben sie unfähig, auch nur einen Finger zu rühren.
Bis der Götze zum Leben erwachte. Aus dem bloßen Symbol wurde die Inkarnation des Fürsten der Finsternis.
Jane tanzte unermüdlich, als sei sie während des Tanzes kein menschliches Wesen mehr. Als wäre sie von der eigenen Magie ihres Tanzes so sehr selbst erfaßt, daß es für sie keinerlei Begrenzung mehr gab.
Sie umtanzte den erwachenden Götzen, der die Arme ausbreitete und den monströsen Kopf in den Nacken legte.
Er ließ einen schaurigen Klagelaut ertönen.
Nein, es war keineswegs ein Laut der Verzückung, den alle Satansdiener im stillen erwartet hatten, sondern eher ein Laut - beispielloser Enttäuschung!
Hatten sie darauf wirklich jahrhundertelang hingearbeitet? Was mißfiel ihrem obersten Herrn?
Jane tanzte - und lachte dabei ihr glockenhelles Lachen. Ihr Tanz erzeugte in den Köpfen der Betrachter alles übertönende Musik...
Nein, alles konnte sie doch nicht übertönen: Den erneuten Klagelaut wahrlich nicht!
Die Inkarnation des Bösen senkte den Kopf. Aus den glühenden Augen mit den Schlitzpupillen schien jetzt Feuer zu züngeln. Dieser wahrhaft teuflische Blick suchte die Tänzerin, aber irgendwie war es ihm nicht möglich, sie zu fixieren. Jane entzog sich lachend. Sie schwebte einmal hierhin und einmal dahin. Sie bewegte sich, sie drehte sich, sie wirbelte umher, sie machte weite Sprünge - und war stets dort, wo man sie unmittelbar zuvor nicht vermutet hätte.
Und sie lachte immer lauter dabei, fast so laut wie die Klagelaute aus der unmenschlichen Kehle des Monströsen, die am Ende nicht mehr abreißen wollten.
Und dann verhielt Jane mitten in der Bewegung. Sie stand mit dem Rücken zu dem Monströsen, als brauchte sie keine Angst mehr zu haben vor seiner höllischen Macht.
Jane stand direkt vor Frederic, und dieser trat jetzt in den Tanzkreis, ohne daß es jemand verhindern konnte.
Das Monster brüllte und stieß dabei einen feurigen Schwall von Pech und Schwefel aus - mit orkanartiger Macht.
Jane stand unerschütterlich. Der Orkan vermochte es nicht einmal, sie zu beugen, geschweige denn, sie hinwegzufegen, wie es wohl die Absicht gewesen war.
Frederic blieb vor ihr stehen, und Jane verbeugte sich tief vor ihm.
"Mein Gebieter!" sagte sie dabei so deutlich, daß es jedermann verstehen konnte.
"Mein Gebieter!" wiederholte sie.
Frederic war kreidebleich. Er nickte.
"Jetzt verstehe ich dich, Jane! Du hast diesen Tanz getanzt... nicht für den Fürsten der Finsternis, ja, nicht einmal für die Satansdiener, die dies alles hier erst ermöglicht haben, in jahrhundertelanger Vorarbeit, über alle Generationen hinweg... Du hast nur getanzt für..." Er brach ab, schöpfte tief Atem, und dann brach es aus ihm heraus: "Du hast getanzt - nur für mich!"
Jane stand auf und nickte lächelnd.
"Ja, Liebster! Für dich und ganz im Zeichen unserer gegenseitigen Liebe, die uns beide für alle Zeiten verbindet. Durch sie sind wir gegenseitig Herren und Diener zugleich. Weil einer für alle Ewigkeit für den anderen da ist. Weil einer dem anderen für alle Ewigkeiten gehört, als der kostbarste Besitz, den man sich denken kann. Denn nur, wer dies zuläßt, ist wirklich in der Lage, die einzig wahre Liebe zu empfangen, zu empfinden - und auch zu geben."
Sie wandte sich an den Monströsen inmitten des Tanzkreises.
"Wie wäre es unter diesen Umständen überhaupt möglich, einem anderen Herrn zu dienen, nicht wahr?"
Das Monstrum brüllte schauerlich.
Unerbittlich fuhr Jane fort: "Liebe hat nichts mit dem Teufel zu tun, sondern sie ist das Gegenteil des Bösen. Liebe ist wahrhaft göttlich. Ja, ist nicht Gott selbst - die Liebe?"
Mit einem letzten Gebrüll erstarrte das Monstrum wieder zu jenem unbeweglichen Götzen, das es vorher gewesen war.
Doch damit erlosch keineswegs seine Macht: Ein Sturm kam auf. Heiß fauchte er über die große Lichtung. Die Versammelten hatten alle Mühe, sich gegen ihn zu stemmen, um nicht von den Füßen gefegt zu werden.
Jane erhob ihre Stimme, um den Sturm zu übertönen.
"Ich habe getanzt, um den Plan zum Abschluß zu bringen. Dieser Plan sollte zu einem der größten Siege des Bösen über das Gute führen, aber ich habe daraus eine der größten Niederlagen gemacht. Ich durfte den Tanz nicht verweigern. All mein Sträuben hätte sowieso nichts genutzt. Aber ich habe seinen Sinn verkehrt!"
Sie nahm Frederic bei der Hand.
"Frederic und ich sind mit unserer Liebe die Verkörperung des Guten, und das mitten unter euch. Wir sind im Zentrum eurer Welt des Bösen, wie ein glühender Nadelstich mitten in euer Herz, und das ist etwas, was der Fürst der Finsternis seinen Dienern niemals verzeihen wird."
Der Sturm wurde stärker. Die Satansanbeter schrieen panikerfüllt durcheinander.
Die ersten traten bereits die Flucht an.
"Ja, flieht nur!" rief Jane ihnen hinterher. "Glaubt ihr denn wirklich, ihr könntet euch dem Zorn eures obersten Herrn auf diese Weise entziehen? Glaubt ihr wirklich, es gäbe auch nur einen Ort auf dieser Welt, wo er euch nicht erreichen könnte?"
Sie atmete tief durch, und dann rief sie aus: "Nein, es gibt vor ihm keine Gnade für euch, denn er ist nicht der Gott der Liebe und Vergebung, sondern der Gott des Hasses und der schrecklichen Rache! Ihr habt ihn euch freiwillig erwählt. Seht nun, wie ihr damit zurechtkommt!"
Es klang sehr hart aus ihrem Munde, aber Frederic sah ihr an, daß sie ihr leidtaten - trotz allem.
Die Satansanbeter hatten jetzt nichts Furchteinflößendes mehr, sondern sie waren erbarmungswürdige Kreaturen, die um ihr Leben winselten.
Um mehr noch: Um ihre Seele!
"Es wäre verfehlt, ihnen besseres zu wünschen als das, was ihnen bevorsteht", murmelte Frederic brüchig. "Denn haben sie ihre Seele nicht schon längst verkauft - lange vor dieser Nacht? Sie haben ihr Seelenheil eingetauscht gegen Geld und Macht während ihres irdischen Daseins. Nicht dein Sieg stürzt sie letztendlich in dieses Jammertal, sondern ihre einstige Entscheidung für das Böse und gegen das Gute."
"Mein Sieg?" fragte Jane lächelnd. "Ich will es richtigstellen, Liebster, denn es ist - unser Sieg!"
Auch Frederic lächelte.
"Aber vielleicht ist auch das falsch? Ich möchte sagen: Es ist der Sieg - unserer Liebe!"
Sie standen inmitten des entfesselten Sturms, der ihnen nichts anhaben konnte, weil er für sie nicht bestimmt war.
Die Satansdiener verstreuten sich im wahrsten Sinne des Wortes in alle Winde.
Der Zorn des Teuflischen würde sie einzeln heimsuchen, unaufhaltsam. Wo auch immer sie sich verkriechen mochten.
Aber auch das herrschaftliche Schloß blieb nicht verschont. Vorher war es eine Ruine gewesen. Die Teufelsanbeter hatten daraus eine düstere Bastion des Bösen geformt, und jetzt, da ihr Einfluß hinweggefegt wurde von dem heißen Sturm wahrhaft teuflischer Entrüstung, entstand wieder die alte Ruine.
Die beiden Liebenden jedoch blieben ungestört, bis der Sturm sich wieder gelegt hatte und aus dem Götzen des Bösen endgültig ein lebloser, kalter Granit geworden war, übersäht mit Rissen, als würde er im nächsten Augenblick auseinanderbrechen, wenn man ihn nur einmal unvorsichtig berührte.
Jane und Frederic zeigten allerdings keinerlei Interesse mehr daran.
Hand in Hand schlenderten sie in Richtung Ruine.
"Es ist vorbei!" sagte Frederic froh.
"Ja, jetzt ist es wahrlich vollbracht!" rief Jane glücklich und erzählte Frederic von dem Gesicht, das ihr vor ihrer Ankunft in Carmichael erschienen war. Sie vergaß auch nicht zu erwähnen, daß es offenbar das Gesicht des Herrschaftschauffeurs gewesen war.
"Wohin Mr. Brooks wohl geflüchtet ist?" fragte Frederic.
Jane zuckte die Achseln. "Niemand vermag das wohl zu sagen."
"Bist du dir eigentlich darüber im klaren, daß du jetzt alles wieder verloren hast?" Frederic blieb stehen und faßte seine Jane an den Schultern.
"Natürlich, Liebster, denn das Imperium von Thomas Prescoll gehörte zum Imperium des Bösen, das heute nacht zerbrochen ist. Wir dürfen zwar nicht so kühn sein, anzunehmen, damit das Böse für immer besiegt zu haben, denn es wird sich anderswo erneut manifestieren - vielleicht sogar in alter Stärke. Aber wir müssen annehmen, daß mein Erbe genauso ruiniert ist wie das Schloß hier."
Sie schaute zu der Ruine hin.
"Ich werde das Schloß der Stadt schenken - falls die es überhaupt noch will - in diesem Zustand. Und das Hotel ebenfalls, falls genug Brauchbares davon übriggeblieben ist."
"Du bist ja überhaupt nicht traurig darüber, daß du alles wieder verloren hast?" fragte Frederic lächelnd.
Jane lachte übermütig wie ein Teenager.
"Nein, ganz und gar nicht, Liebster, denn ich habe ja gar nicht alles verloren."
"So?" fragte Frederic gedehnt.
"Nein, denn ich habe es nur eingetauscht in etwas, was viel wertvoller ist, wertvoller als alles, was die Welt zu bieten hat."
"Das wäre?"
"Als wenn du es nicht wüßtest!" tadelte sie lachend.
"Vielleicht will ich es nur noch einmal hören?"
"Kannst du denn nie genug davon kriegen?"
"Leider nein!"
"Also gut, Liebster: Ich habe das Schönste und Wertvollste zurückgewonnen: Unsere Liebe!"
"Ich auch!" sagte Frederic leise, und sie umarmten und küßten sich erneut.
Alles Böse, was sie erfahren hatten, war für immer vergessen. Die Jahre der Trennung waren vorbei, als wären sie nie gewesen.
Jane war davongefahren - und sie war zurückgekehrt.
Für beide war es jetzt gerade so, als sei das von einem Augenblick zum anderen geschehen.
Und sie schworen sich bei ihrer Liebe, daß es niemals mehr wieder einen Abschied geben würde!
In ihrem ganzen Leben nicht mehr - und sogar darüber hinaus!
Denn sie waren sicher: Gott war mit ihnen! Hatte er ihnen das nicht in unübersehbarer Deutlichkeit selbst bewiesen?
E N D E