Читать книгу Die Gemahlin des Bischofs: Tore aus Bronze 1 - Alfred Bekker - Страница 8
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ОглавлениеZwei Jahre zuvor, 967. Auf der Fernhandelsstraße nach Magdeburg.
In dieser Nacht schlief Willigis sehr schlecht.
Seine Klosterzelle bot nicht viel Komfort. Das einfache, harte Bett. Ein Stuhl, der kleine Tisch mit Papier und Schreibzeug, für den Fall, dass ihm etwas Wichtiges einfiel. Das konnten bestimmte Bilder sein, aber auch Steinbögen, die er auf das Papier bei der schlechten Beleuchtung einer Öllampe mit raschen Strichen skizzierte.
Dafür lag neben einer zugespitzten Gänsefeder auch immer ein Stück Kohle bereit. Oder Ornamente entstanden mit geübten Bewegungen. Oder auch nur einfach Fragen, dahingekritzelt, die sich mit dem Leben im Kloster beschäftigten.
Schließlich war auch häufiger der Name William dort zu finden, ein Problem, mit dem er sich öfter in der Nacht beschäftigte, als ihm lieb sein konnte.
Aber heute waren es andere Bilder, die vor ihm vorüberzogen.
Die Ereignisse lagen gut zwei Jahre zurück.
Er war zu Pferd in der Umgebung des Klosters unterwegs, ein ungewöhnliches Fortbewegungsmittel für einen Mönch. Aber, wie auch Abt Maurus zu sagen pflegte: Der Zweck heiligt die Mittel.
Es galt, eine rasche Botschaft in das nicht sonderlich ferne Braunschweig zu bringen, das einem Ministerialen des Kaisers galt, der sich dort seit einiger Zeit aufhielt. Hatte man ein gutes, ausgeruhtes Pferd zur Verfügung oder konnte möglicherweise nach einem scharfen Ritt noch einmal wechseln, war dieser Ritt innerhalb kurzer Zeit zu bewältigen. Genauer gesagt, in gut sechs Stunden.
Willigis hatte die Strecke in fünfeinhalb Stunden bewältigt, und der Ministeriale war so begeistert von seinem Parforce-Ritt, dass er ihm nach einer Erholungsnacht für den nächsten Tag zwei Pferde zur Verfügung stellte, die seinen Ritt zurück zum Kloster auf dem Berge in der gleichen Zeit ermöglichen sollte.
Aber dann traf er mit Volkold von Meißen zusammen.
In diesem Falle konnte man das fast wortwörtlich nehmen.
Etwa in den Wäldern bei der Hohen Borde und nur noch gut eineinhalb Stunden vom Kloster entfernt, strauchelte sein Pferd plötzlich und warf dabei seinen Reiter im hohen Bogen ab. Willigis bekam nicht mehr mit, wie es sich selbst überschlug und dann nach einer Weile, in der es noch mit den Beinen strampelte, erstarrte und bewegungslos dicht bei seinem ohnmächtigen Reiter lag. Es dauerte eine Weile, bis der Mönch wieder zu sich kam und verwundert um sich blickte. Das erste Pferd hatte er auf einem Hof in der Nähe der Ortschaft Hartbike zurückgelassen. Und als nun langsam die Erinnerung zurückkehrte, wurde ihm bewusst, dass sein zweites Pferd, mit dem er aus unbekanntem Grund verunglückt war – sich vermutlich den Hals gebrochen hatte und neben ihm verendet war.
Mit dröhnendem Kopf richtete sich Willigis langsam auf, wobei er sich an einem Baumstamm festhalten musste. Er atmete tief durch, während sich seine Umgebung um ihn drehte, und allmählich konnte er seine Schwindelgefühle überwinden, und auch sein Auge klärte sich allmählich. Dann begann der Mönch, seine Umgebung genauer zu untersuchen, fand den über den Weg gespannten Strick, der seinem Pferd zum Verhängnis wurde, und als letztes ein paar Halbstiefel, die aus einem Gebüsch am Wegrand ragten.
Um nicht wieder diesen stechenden Schmerz zu riskieren, der wie ein Messer blitzschnell bei raschen Bewegungen durch seinen Kopf schoss, ließ sich der Mönch langsam auf seine Fersen nieder, betrachtete diese Halbstiefel und kam zu dem Schluss, dass er wohl nicht der erste Reiter war, der hier verunglückte. Doch weder ein zweites Pferd war irgendwo zu erblicken, noch gab es Anzeichen für die Nähe von Straßenräubern, die diese Falle am hellen Tag errichtet hatten.
Mühsam gelang es ihm, den in den Stiefeln steckenden Mann aus dem Gebüsch und auf die Fernstraße zu ziehen. Es handelte sich ganz offensichtlich um einen Geistlichen, der in dem einfachen, schwarzen Habit der Benediktiner unterwegs war wie er selbst. Nur hatte er dieses jugendliche, aber jetzt sehr blasse Gesicht noch nirgendwo gesehen.
Irgendwie war Willigis erleichtert, dass er keinen verunglückten Bruder eines befreundeten Klosters vor sich hatte und überlegte gerade, wie er den Toten wohl hier an der Straße zurücklassen konnte oder ob es die christliche Pflicht gebot, ihn an Ort und Stelle zu beerdigen, als er ein leises Geräusch vernahm. Verwundert beugte er sich über den Körper des Mannes und bemerkte, dass die geschlossenen Augenlider des Verunglückten flatterten, als wollten sie sich jeden Augenblick öffnen.
Der Mann lebte also noch zweifelsfrei, und jetzt wurde Willigis sehr schnell aktiv. Er setzte sich unmittelbar neben den Ohnmächtigen, bettete den Kopf des Mannes auf seinen Oberschenkel und richtete ihn dabei etwas auf. Dann versuchte er, sich an die Lehren des Bruders Infirmarius zu erinnern. Er war nur sehr ungern bei dem Siechenmeister, um sich ein paar Dinge zur Wundbehandlung anzueignen, aber dabei hatte er ein wenig darüber erfahren, was man zur Wiederbelebung eines Menschen machte, der nicht Herr über seine Sinne war. Gerüche sollten helfen, vielleicht etwas Weihrauch verbrennen oder dem Ohnmächtigen etwas in die Nasenlöcher blasen.
Nun – das musste hier alles ausscheiden, denn Willigis hatte weder Feuersteine noch Stahl und Zunder dabei, um überhaupt ein Feuer entzünden zu können. Dann fiel ihm ein, dass auch Wasser sehr hilfreich war, aber er hatte auf seinem Ritt hier in der Nähe nichts dergleichen ausmachen können.
Also blieb nur ein Mittel übrig: Geduld. Das war zwar nicht eine seiner Stärken, aber hier half nichts anderes, und in der Position, mit dem Ohnmächtigen auf seinen Beinen, wartete er ab, was jetzt geschah.
Willigis lobte den Herrn, als er das Geräusch eines Fuhrwerks vernahm.
Eben lag der Wald um ihn noch in geradezu idyllischer Stille, nur gelegentlich vom Ruf eines einsamen Vogels unterbrochen. Jetzt aber knarrten da die hölzernen Räder auf dem ausgetrockneten Untergrund, eine Peitsche knallte, und schließlich vernahm er sogar den röhrenden Ruf eines Ochsen, der sich gegen sein Schicksal aufzulehnen schien.
Ein Fuhrwerk kam den Weg herauf, langsam, unendlich langsam.
Noch einmal ein Peitschenknallen, dann hörte das knarrende Geräusch auf, und als sich Willigis umdrehte, hielt das Ochsengespann nur wenige Meter von ihm entfernt an. Etwas schwerfällig kletterte jemand herunter und näherte sich ihm.
„Heda, was macht Ihr hier auf der Fernstraße? Man kommt ja nicht an Euch vorüber, ohne über Euch zu rollen!“
Der Mönch blickte in das breite, seltsam dumm blickende Gesicht eines kleinen Mannes, der den Ochsenkarren gelenkt hatte.
„Mein Freund, wenn du mir hier behilflich sein möchtest? Ich würde gern das Hindernis von der Straße räumen, aber wie du siehst, schaffe ich es nicht allein!“
Der Fuhrknecht schob die tütenartige Gugel vom Kopf in den Nacken, kratzte sich die wenigen Haare, und blickte erstaunt von dem Mönch zu dem Ohnmächtigen in seinem Schoß.
„Ist der tot?“, erkundigte er sich schließlich mit dumpfer Stimme und machte sicherheitshalber einen Schritt zurück, als ob der Tote möglicherweise gefährlich sein könnte.
„Nein, mein Freund, wir üben hier nur ein kirchliches Spiel Du weißt doch bestimmt, was eine Pieta ist, nicht wahr? Nun, mein Bruder im Geiste hier und ich wollten das einmal durchspielen, bevor wir es in unserem Kloster zur Aufführung bringen.“
„Pi – e – ta?“, antwortete der Fuhrknecht und kratzte sich noch heftiger am Kopf. „Was ist das, Herr?“
Willigis sah ein, dass er mit seinem Scherz den guten Mann überfordert hatte und gab ihm ein Zeichen.
„Hör mal, guter Mann, wir müssen den Herrn hier sofort zu einem Medicus bringen. Wie weit ist es bis Magdeburg?“, erkundigte er sich und schickte sich dabei an, den Ohnmächtigen so aufzurichten, dass er ihn schließlich auf den Wagen legen konnte.
„Magdeburg?“
„Ja, die große Stadt, mein Freund. Oder, wenn du das besser verstehst, Meideborg. Weißt du, wovon ich spreche?“
„Meideborg, ja, Herr, dahin bin ich auf dem Weg!“
„Wunderbar. Dann hilf mir, diesen Mann auf deinen Wagen zu laden und treibe die Ochsen an, so schnell sie laufen können.“
„Nach Meideborg, Herr?“
„Ja, zu einem Medicus. Der Mann ist krank!“
Der Fuhrknecht sah unsicher von dem Ohnmächtigen zu dem Mönch und schien zu überlegen, ob er den beiden Fremden wohl trauen konnte.
„Hör mir zu, guter Mann. Du siehst an unseren Gewändern, dass wir zum geistlichen Stand gehören. Der Ohnmächtige hier ist ein mächtiger Fürst, dem alle Klöster in Sachsen gehören. Er ist so etwas wie – wie der Papst von Sachsen, verstehst du? Und er wird dich segnen für deine Hilfe, so dass du gleich ins Paradies gelangst, auch wenn du nicht immer ein gottgefälliges Leben geführt hast. Das verstehst du doch, oder?“
„Der Papst, Herr? Wirklich der Papst? O du liebe Güte, was wird meine Alte dazu sagen! Der Papst auf meinem Ochsenkarren, aber wartet, Herr, ich will euch helfen!“, redete der Fuhrknecht plötzlich wie ein Wasserfall. Aber immerhin packte er nun entschlossen zu und half, den Ohnmächtigen auf sein Fuhrwerk zu betten. Als der Karren endlich wieder anruckte, entdeckte Willigis, der noch einmal den Ohnmächtigen untersucht und sein Habit geöffnet hatte, damit er besser Luft holen konnte, einen Steinkrug neben dem Fahrer auf dem Bock stehen.
„Sag einmal, guter Mann, ist das vielleicht Wein in deinem Krug dort vorn?“
„Ja, das ist ein guter Roter, Herr!“, antwortete der Fuhrknecht und hieb mit der Peitsche über die Köpfe der Ochsen, die sich jedoch davon nicht sonderlich beeindrucken ließen. Der gemütliche Zockeltrab brachte Willigis zur Verzweiflung, aber es war im Moment die einzige Möglichkeit, den Verunglückten in die Stadt zu schaffen.
„Gib ihn mir herüber, ich brauche ihn für den Ohnmächtigen!“, befahl er dem Fuhrknecht kurz.
„Ihr wollt meinen Wein ... dem Papst geben, Herr? Aber – das ist ein einfacher, saurer Wein, der eigentlich nur für unsereinen geeignet ist, doch nicht für ... für einen solch hohen Herrn!“, antwortete der Fuhrknecht verwundert.
„Gib mir den Krug einfach herüber und treibe deine Ochsen an. Alles andere werde ich schon richten!“ Der Mönch zog den Korken heraus und roch behutsam und schauerte zusammen. „Meine Güte, und das ist wirklich Wein? Ich hätte es eher für Katzenpisse gehalten!“
Bei diesen Worten drehte sich der Fuhrknecht um und musterte den Mönch erstaunt, der solche Ausdrücke benutzte. Aber schließlich schnalzte er noch einmal mit der Peitsche dicht über die Köpfe seiner Ochsen, griff zur Sicherheit auch zu dem langen Stab, mit denen er ihnen leichte Schläge versetzte, und tatsächlich fielen die Tiere für eine kurze Zeit in einen schnelleren Lauf.
Während nun Willigis etwas in seine Handfläche tropfte und dabei Mühe hatte, das Gleichgewicht auf dem hin und her schaukelnden Fuhrwerk zu halten, begann der Fuhrknecht auf eine sehr unmelodische Weise zu singen. Was er sang, konnte der Mönch beim besten Willen nicht erkennen, hielt es aber für eine eigene Interpretation von einem Kirchenlied und einem der von den fahrenden Sängern auf den Märkten vorgetragenen Weisen. Mit dem benetzten Zeigefinger rieb er unter der Nase des Ohnmächtigen entlang, berührte auch leicht dessen Lippen und freute sich über eine erste Reaktion. Ein Zittern der Lippen, leichtes Flattern der Augenlider waren erste Erfolge. Jetzt tropfte er in die kaum geöffneten Lippen etwas von dem Wein und lächelte, als die Gesichtsmuskulatur des Ohnmächtigen in Bewegung geriet. Noch einmal wiederholt, dazu die Öffnung des Kruges dicht an die Nasenlöcher gehalten, und der Mann schlug die Augen auf.
„Wer ...“, krächzte seine Stimme und versagte gleich darauf wieder.
„Bleib ganz ruhig liegen, wir bringen dich zu einem Medicus!“, sagte Willigis mit sanfter Stimme, die er sonst nur für Frauen und Kinder in dieser Tonlage benutzte.
Doch der Mann im schwarzen Habit versuchte jetzt mit aller Kraft, seinen Oberkörper aufzurichten – aber das gelang ihm nicht. Stöhnend sackte er wieder zurück.
Dann schien er seine Kräfte zu sammeln und erkundigte sich: „Was ... was ist passiert ... und wer ...“
„Ich bin Willigis, Mönch im Kloster zum Berge. Auf dem Rückweg von Braunschweig habe ich dich ohnmächtig auf der Fernhandelsstraße nach Magdeburg gefunden. Das geschah durch einen Unfall. Jemand hatte ein Seil quer über den Weg gespannt, mein Pferd stürzte und starb dabei, ich selbst wurde nach dem Sturz ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, entdeckte ich deine Stiefel, die aus einem Gebüsch ragten. Glücklicherweise kam dieser Fuhrknecht vorüber und wird uns nun zu einem Medicus schaffen.“
Der Fremde griff jetzt mit beiden Händen seitlich an die raue Seitenwand des Fuhrwerks und zog sich daran hoch, blieb aber in einer sehr unglücklichen Lage schräg hängen und versuchte, die langsam an ihm vorüberziehende Landschaft zu erkennen.
„Na, da ist er ja wieder wach!“, rief der Fuhrknecht vergnügt nach einem Blick über die Schulter. „Dann müssen wir nicht zu einem Heilkundigen?“
„Doch, das ist in jedem Fall besser!“, antwortete Willigis.
„Nicht nötig!“, antwortete aber der andere. „Ich kenne mich mit solchen Dingen aus!“
Mit diesen Worten löste er die rechte Hand von der Wagenwand und reichte sie dem Mönch. „Ich bin Volkold von Meißen. Wie es scheint, habe ich das Seil ebenfalls nicht gesehen und muss mir bei dem Sturz mächtig den Schädel gestoßen haben. Aber ...“
Er verstummte und begann sich mit raschen, fahrigen Bewegungen abzutasten. Dann ein erleichterter Seufzer, und mit der rechten Hand zog er unter seinem Habit ein kleines, zusammengefaltetes Pergament hervor. „Dem Himmel sei Dank – das Dokument haben sie mir nicht abgenommen!“
Willigis erkannte nicht, um was es sich dabei handelte, denn blitzschnell hatte es Volkold wieder in seinem Gewand verborgen.
„Nur ein Dokument? Und dafür der Überfall?“
„Nein, gewiss nicht!“, antwortete Volkold. „Ich bin zwar nur ein einfacher Pastor aus Meißen, aber mit einer wichtigen Aufgabe der heiligen Mutter Kirche betraut. Das Silber, das ich im Beutel bei mir trug, diente nur für die Reiseausgaben. Dass ich dabei stets sparsam verfahre, wird die Räuber erfreut haben. Wahrscheinlich ist das aber auch der Grund, dass sie einen Kirchenmann nicht noch genauer untersucht haben – der kleine Lederbeutel hing an dem Zingulum, dass ich ausnahmsweise über dem Habit trug, damit ich ihn leichter ergreifen konnte, ohne mein Dokument zu gefährden.“
„Konntest du denn jemand von der Bande erkennen, die dir aufgelauert haben?“, erkundigte sich Willigis neugierig.
Volkold zog die Schultern hoch, was ihm offenbar erneut Schmerzen bereitete, denn er verzog zugleich das Gesicht.
„Ich bin mir da nicht sicher. Als ich aufschlug, habe ich nichts mehr wahrgenommen. Irgendwann aber beugte sich ein Gesicht über mich und schien zu prüfen, ob ich noch lebte. Ich kann mich nur schwach daran erinnern. Die Augen schienen zu glühen – das Gesicht war schwarz – warte, ja, da war ein sehr starker, schwarzer Bart. Und mitten hindurch lief eine feuerrote Narbe, vom linken Auge, glaube ich ... oder war es das rechte? Heilige Madonna, ich weiß es nicht, es kann auch gewesen sein, als ich ohnmächtig war und mir das alles nur eingebildet habe!“
„Und jetzt? Warum kein Medicus? Mit solchen Dingen ist nicht zu spaßen – das war eine sehr lange Ohnmacht!“, gab Willigis zu bedenken, aber der andere machte nur eine abwehrende Handbewegung und lächelte.
„Keine Sorge, ich habe einen harten Schädel. Zudem weiß ich noch recht gut, was unser Infirmarius in solchen Fällen tat. Wir mussten uns erst einen Eimer mit eiskaltem Wasser gefallen lassen, den er einem Ohnmächtigen über den Kopf goss. Danach verordnete er eine eintägige Bettruhe, damit sich der Geist wieder beruhigen kann.“
„Mehr nicht?“, erwiderte der Mönch lächelnd.
„Nein, mehr nicht, und unser Infirmarius war ein wirklich gelehrter Mann, der gegen viele Krankheiten ein Mittel hatte. Aber jetzt wird mir, mit Verlaub, ein wenig übel!“, fügte Volkold plötzlich hinzu. Es gelang ihm im letzten Moment, seinen Oberkörper über die Wagenwand zu bringen, als sich sein Magen in einem heftigen Schwall entleerte.
„Jetzt wird ihm wohler!“, rief der Fuhrknecht fröhlich aus. „Das kenne ich gut, aber mit der Magenreinigung wird auch das Blut besser!“
„Ach, du bist wohl auch ein Bader, was?“, neckte ihn der Mönch, aber der Fuhrmann bewegte seinen dicken Kopf rasch bejahend.
„Das glaubt Ihr wohl nicht, was? Ja, ihr Mönche habt das große Wissen in den dicken Büchern, die ihr in den Klöstern abschreibt und weiterreicht. Aber unsereiner hat auch sein Wissen, das vom Großvater auf den Vater und den Sohn weitergegeben wird!“ Mit diesen Worten drehte er sich erneut zu seinen beiden Mitreisenden herum und tippte mit einer Geste, die wohl seine Pfiffigkeit unterstreichen sollte, an die Stirn.
„Hast du mit deiner Kunst schon Menschen geheilt?“, erkundigte sich Willigis.
Der Fuhrknecht lachte und ließ die Peitsche über seinen Ochsen knallen.
„Nein, das nicht, aber meine Ochsen! Ich habe ihnen schon einmal eine Kolik gemacht.“
„Oh, die armen Tiere!“, rief Willigis lachend aus. „Du hast den gesunden Ochsen eine Kolik gemacht? Und was passierte dann?“
Der Fuhrknecht wurde unsicher. „Nun, das sieht man doch jetzt, oder? Sie laufen wieder schnell wie der Wind und fressen munter!“
„Gut, das freut mich wirklich!“, antwortete der Mönch und klopfte dem Fuhrknecht anerkennend auf die Schulter.
„Dort vorn, wo die Fichten sehr eng beieinanderstehen, kannst du bitte anhalten!“, ließ sich nun Pastor Volkold vernehmen.
„Hier, mitten auf der Fernstraße?“, erkundigte sich der Fuhrknecht erstaunt.
„Nur für einen kurzen Moment!“
„Ah, jetzt verstehe ich. Der Magen ist entleert, aber nun geht es ans Pissen. Meinetwegen, Herr, auch mich drängt es, den Wein hinauszulassen!“
Damit lenkte er seine Zugtiere an den Rand dicht vor die Bäume, und noch bevor einer der beiden anderen abgestiegen war, hatte der Pastor scheinbar alle Schwäche abgeschüttelt, war vom Wagen herunter und gleich darauf zwischen den Bäumen verschwunden.
„Der hat‘s eilig!“, rief der Fuhrknecht lachend aus. „Aber so sehr genieren muss er doch wahrhaftig nicht! Ich weiß recht gut, wie das bei einem von Euch aussieht!“, rief er lachend und deutete auf Willigis Unterleib. Dabei machte er sich an seiner Bruche zu schaffen und entleerte gleich darauf seine Blase mit lautem Plätschern, während der Mönch, unangenehm berührt, ebenfalls zwischen den Bäumen verschwand.
Es dauerte ziemlich lange, bis Volkold zurückkehrte. Ein Blick in sein vergnügtes Gesicht zeigte Willigis, dass sein Glaubensbruder nicht nur einem menschlichen Bedürfnis nachgekommen war.
„Die Botschaft?“, erkundigte er sich flüsternd.
Der Pfarrer legte mit einer verschwörerischen Geste den Zeigefinger auf die Lippen und nickte nur. Dann knallte der Fuhrmann, die Ochsen ruckten an, und holpernd setzte sich das Fuhrwerk wieder in Bewegung, rollte auf die nicht mehr ferne Stadt an der Elbe zu. Wenig später hatten sie eine kleine Anhöhe ohne Bewaldung erreicht und konnten auf der nächsten Anhöhe bereits das Kloster erkennen.
„Meine Heimat!“, sagte Willigis und deutete hinüber. „Kloster St. Johannes der Täufer auf dem Berge mit Abt Maurus.“
„Und was machst du dort, wenn du nicht Kurier für die Kirche bist?“, antwortete Volkold lächelnd. „Und natürlich, wenn du nicht gerade eine Buchseite illuminierst!“
Als der Mönch unwillkürlich auf seine Finger sah, lachte der Pfarrer laut auf.
„Du hast auf den Nägeln noch deutliche Farbspuren. Da auch ein paar Tropfen Gold dazwischen sind, vermute ich mal, dass du die Kunst der Illumination erlernt hast!“
Willigis lächelte etwas gequält.
„Ja, das ist richtig, Volkold. Aber das ist für mich mehr ... Besinnungsstunde. Ich vergesse dann ganz meine Welt um mich herum und bin in Gedanken bei den Schriften, die ich da illuminiere.“
„Und welche Arbeiten liebst du noch im Kloster?“
„Die Steinmetzarbeiten. Und eigentlich alles, was mit dem Bauen zu tun hat. Ich bewundere die Baumeister, die in unserem Kloster tätig sind. Der Orden ist ja vor nicht langer Zeit vom Moritzkloster erst herübergezogen, weil der Kaiser an der Stelle des alten Klosters den Dom zu Magdeburg errichten lässt. So verbringe ich gern viel Zeit bei unserer Bauhütte und besuche, wenn es irgend passt, die Bauhütte am Dom.“
„Ah, jetzt sehe ich das Leuchten in deinem Gesicht, Bruder Willigis. Mir scheint, da liegt eine stille Leidenschaft und vielleicht sogar ein noch nicht entdecktes Talent? Wie weit reichen deine Kenntnisse vom Bau einer Kirche?“
Willigis zog die Schultern hoch und lächelte bei seiner Antwort.
„Nun, im Gespräch mit Meister Niclas habe ich mich gern ausgetauscht. Und man hat mich eingeladen, einmal kräftig mitzuarbeiten – und das habe ich, nachdem ich die Erlaubnis dazu eingeholt hatte, auch getan.“
„Das hört sich gut an. Wie mir scheint, hast du Talente, die gefördert werden sollten. Es wäre doch schade, wenn du dein Leben in den Mauern des Klosters fristen würdest.“
„Es ist nicht so, dass ich nach Höherem strebe, Bruder Volkold, glaubt das bitte nicht von mir. Aber wenn ich sehe, was ich mit meinen Händen schaffen kann, dann muss der Herr doch etwas mit mir beabsichtigt haben. Wenn ich das herausgefunden habe, werde ich mich darum bemühen, diese Kenntnisse zu vervollkommnen und sie in den Dienst des Herrn stellen.“
Der Pfarrer schien nachdenklich geworden zu sein.
„Wer weiß, was morgen geschieht. Aber da vorn werden sich unsere Wege trennen müssen, Bruder Willigis. Sobald es mir möglich ist, werde ich dich im Kloster besuchen.“
Der Fuhrknecht hatte seine Tiere an der Weggabelung angehalten, und die beiden Männer kletterten herunter und bedankten sich herzlich für seine Hilfe. Willigis hatte dabei eine Münze in der Hand, die er dem Mann in die Hand drückte. Der warf nur einen flüchtigen Blick darauf, und ein fröhliches Lächeln huschte über sein breites Gesicht.
„Danke Euch, Herr, und wenn Ihr wieder einmal eine Pi – ä –ta machen wollt – ich fahre hier regelmäßig zwischen Braunschweig und Magdeburg mit meinen Ochsen!“
„Ich danke dir, und Gottes Segen mit dir!“, erwiderte Volkold.
Die beiden sahen dem Fuhrwerk noch eine Weile nach, dann wandte sich der Pfarrer zu Willigis, legte ihm die Hand auf die Schulter und segnete ihn mit den folgenden Worten: „Bruder Willigis, der Herr allein weiß, ob du zur rechten Zeit gekommen bist, um mein Leben zu retten. Wenn das so sein sollte, dann werden sich unsere Wege wieder kreuzen. Mit den Worten aus einem der Briefe an die Römer, die sich mir unauslöschlich eingeprägt haben, möchte ich dir mit auf den Weg geben: O welche Tiefe des Reichtums sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Gerichte, und wie unerforschlich seine Wege! Denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass es ihm wieder vergolten werde? Denn von ihm und durch ihn und für ihn sind alle Dinge; ihm sei die Ehre in Ewigkeit! Amen.“
Die beiden umarmten sich freundschaftlich, dann ging der eine den Weg hinüber zu dem Kloster, während der andere auf einem fast versteckten, schmalen Feldweg in die Richtung eines in der Ferne erkennbaren Bauernhofes schritt.